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Das Haus am Deich – Unruhige Wasser (Das Haus am Deich 2) Das Haus am Deich – Unruhige Wasser (Das Haus am Deich 2) - eBook-Ausgabe

Regine Kölpin
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Roman

— Gefühlvoller Nordsee-Roman

„Atmosphärisch und mit viel Empathie“ - Nordwest-Zeitung

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Das Haus am Deich – Unruhige Wasser (Das Haus am Deich 2) — Inhalt

Vergiss niemals zu träumen!  

In ihrem Roman „Das Haus am Deich – Unruhige Wasser“ setzt SPIEGEL-Bestsellerautorin Regine Kölpin die dramatische Geschichte der Freundinnen Frida und Erna fort. Deren Träume von einer neuen Heimat, Liebe und einem erfüllten Leben machen diesen zweiten Band der dreiteiligen in Norddeutschland angesiedelten Saga zu einer fesselnden und atmosphärischen Lektüre.  
1951: Das Wirtschaftswunder bringt für Frida, die mittlerweile mit einem Unternehmer verheiratet ist, zwar Wohlstand – doch Glück sieht anders aus. Nicht nur kriselt es in ihrer Ehe von Anfang an, sie ist auch ein goldener Käfig für Frida, die sich nach Unabhängigkeit sehnt. Ihre Freundin Erna muss ebenfalls schmerzhaft erfahren, dass die Zeit Frauen kaum Freiheiten erlaubt. Glück erleben die Freundinnen nur mit ihren Kindern, vor allem den Töchtern Meike und Sanne, und im Haus am Deich mit seinem üppigen Garten, ihrem selbst geschaffenen kleinen Paradies, in dem Wunder möglich scheinen.  

Vor der atmosphärischen Kulisse Norddeutschlands entfaltet sich in „Das Haus am Deich“ das Schicksal zweier Frauen und ihrer Familien: wahrhaftig, atmosphärisch und bewegend!

Band 1: Das Haus am Deich – Fremde Ufer
Band 2: Das Haus am Deich – Unruhige Wasser
Band 3: Das Haus am Deich – Sicherer Hafen

€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 02.12.2021
432 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31734-4
Download Cover
€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 02.12.2021
320 Seiten
EAN 978-3-492-99984-7
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Leseprobe zu „Das Haus am Deich – Unruhige Wasser (Das Haus am Deich 2)“

Die wichtigsten Personen:

Margret und Ulrich Köhle – Fridas Eltern

Stine und Heinz von Geest – Ernas Eltern

Frida Köhle – Tochter der Köhles

Erna von Geest – Tochter der von Geests

Horst Hinrichs – Lebensmittelhändler

Focko Ewert – Fischer

Meike Hinrichs – Fridas Tochter

Peter Hinrichs – Fridas Sohn

Sanne von Geest – Ernas Tochter

Dr. Wilfried Hansen – Kinderarzt

Weitere wichtige Personen:

Fenna Donker – Freundin und Geliebte von Horst

Dr. Fakt – Arzt

Valerie Klaafs – Ex-Verlobte von Stefan Müller

Fräulein Sickermann – Leiterin vom Kastanienhof

Frau Schmalz – [...]

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Die wichtigsten Personen:

Margret und Ulrich Köhle – Fridas Eltern

Stine und Heinz von Geest – Ernas Eltern

Frida Köhle – Tochter der Köhles

Erna von Geest – Tochter der von Geests

Horst Hinrichs – Lebensmittelhändler

Focko Ewert – Fischer

Meike Hinrichs – Fridas Tochter

Peter Hinrichs – Fridas Sohn

Sanne von Geest – Ernas Tochter

Dr. Wilfried Hansen – Kinderarzt

Weitere wichtige Personen:

Fenna Donker – Freundin und Geliebte von Horst

Dr. Fakt – Arzt

Valerie Klaafs – Ex-Verlobte von Stefan Müller

Fräulein Sickermann – Leiterin vom Kastanienhof

Frau Schmalz – Nachfolgerin der Heimleitung vom Kastanienhof

Hanne und Jelko Ewert – Fockos Eltern

Frau Fischer – Ernas Chefin

Rudi Meiners – Leiter des Jugendamts

Herr Andres – Kommissar

Frau Andres – Freundin von Stine von Geest

Jo, Monika, Klaus und Seibold – FDJ-Mitglieder

Philipp Müller – historische Person. Wurde bei einer Friedensdemonstration in Essen erschossen


1951

Kapitel 1

Brauchst du noch lange?«, rief Horst von unten, und Frida hörte, wie der Kleiderbügel klapperte. Seine Stimme wurde ungeduldiger: „Der Film beginnt um acht Uhr. Erna will draußen vor dem Kino auf uns warten. Ein bisschen sollten wir uns sputen.“

Frida seufzte. Horst hatte ja recht, aber sie wusste einfach nicht, welches Kleid heute Abend das richtige war. Neuerdings brauchte sie eine Weile, um sich zu entscheiden, weil ein Großteil ihrer Kleidung zu eng wurde.

Ihr war zudem ständig übel, die neuerliche Schwangerschaft setzte ihr arg zu. Als sie mit der inzwischen neun Monate alten Meike in anderen Umständen gewesen war, hatte es sie nicht so sehr belastet wie jetzt.

Erwachte Frida in den Nächten, in denen sie ständig von ihren Albträumen heimgesucht wurde, ahnte sie, dass dieser Zustand mit ihrer großen Lüge zusammenhing. Eine Lüge, die sie wohl ihr ganzes Leben lang vertuschen und vor sich selbst verantworten musste.

Fridas Hand fuhr unwillkürlich zum Bauch, und sie strich sacht darüber, weil sie eben den Stoß des kleinen Fußes bemerkt hatte, so als wollte der Winzling ihr Trost zusprechen. „Wenn ich nur wüsste, wer dein Vater ist“, sagte sie leise. „Ist es Horst oder Focko?“

Frida dachte stets mit Wärme an die eine gemeinsame Nacht, die sie mit ihrer großen Liebe Focko hatte verbringen dürfen – und die vermutlich nicht folgenlos geblieben war.

„Horst darf nie davon erfahren“, murmelte sie, riss sich dann aber sofort zusammen, denn sie sollte sich wirklich beeilen. Focko war fort und schipperte Gerüchten nach irgendwo auf dem weiten Meer herum, weil sie ihn vertrieben und sich für die Ehe mit Horst entschieden hatte. Frida seufzte. Sie musste sich glücklich schätzen, in einem so schönen Haus wie dem ihren in Stollhamm zu leben!

Immerhin durfte sie sogar Klavier spielen. Denn im Flur stand ein Bechstein, den Horst ihr zu Weihnachten geschenkt und gegen das alte Instrument ausgetauscht hatte, obwohl dessen Töne noch immer wunderbar gewesen waren. Klavier zu spielen war Fridas große Leidenschaft. Sie war in Stettin sogar auf dem Konservatorium gewesen und hatte Pianistin werden wollen. Wäre nicht der Zweite Weltkrieg ausgebrochen und hätte alles zerstört.

„Liebes, bist du nun endlich so weit?“ Horst verlegte sich inzwischen aufs Säuseln, doch es klang dennoch ungeduldig.

„Ich komme sofort!“ Frida griff zu einem grauen Leinenkleid, das in der Taille etwas weiter geschnitten war.

Sie schlüpfte rasch hinein, schloss die weißen Knöpfe und fuhr sich mit den Fingerspitzen durchs Haar, das sie seit ein paar Wochen etwas kürzer und gestuft trug. Es war viel moderner als der langweilige Zopf, der sonst ihre Frisur ausgemacht hatte. Vor allem mit einem pfiffigen Hütchen verlieh es ihrem zarten Gesicht, das laut ihrer Freundin Erna dem von Ingrid Bergman glich, eine besondere Note.

„Ich warte!“, rief Horst.

Viel Lust verspürte Frida nicht, jetzt ins Kino zu gehen, weil sie es momentan vorzog, die Abende müde auf der Couch zu verbringen und ein paar Sachen für den Nachwuchs zu stricken.

„Liebes!“ Horst schien mit den Fingerspitzen auf dem Geländer herumzutrommeln.

Frida warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel und eilte die Treppen hinunter. Dabei stolperte sie über die eigenen Füße.

„Nicht so stürmisch!“ Horst stand schon in schwarzem Mantel und mit Hut im Flur. Er breitete die Arme aus und wollte sie auffangen, aber Frida konnte sich gerade noch am Handlauf festhalten und das Gleichgewicht zurückerlangen. Horst hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.

In der letzten Woche hatte er seine Horex verkauft und einen Opel Kapitän erstanden, während die meisten Menschen auf dem Land noch immer auf dem Zweirad oder mit ihren Fuhrwerken und Kutschen unterwegs waren. Sie aber konnten sich einen Wagen leisten!

Als Frida wegen des Opels die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hatte, war Horst ganz ruhig geblieben.

„Ich möchte ja nicht, dass meine schwangere Frau Motorrad fährt, und jetzt im Winter ist es zudem gefährlich, wenn nicht sogar oft unmöglich.“

Frida fand das sehr rücksichtsvoll, überhaupt erschien es ihr, als würde ihr Mann sich ernsthaft Mühe geben, damit ihre Ehe wieder funktionierte – und sie nahm es dankbar an. Horst half ihr mit einem liebevollen Lächeln in den dicken Wintermantel, obwohl er so lange hatte auf sie warten müssen. Draußen herrschten an diesem Februarabend Temperaturen um den Gefrierpunkt. „Nimm auch den Schal, wenn wir nach Hause kommen, wird es noch kälter sein.“ Während ihr Mann das vorschlug, griff er zur Garderobe und reichte ihn ihr. „Schläft Meike?“

Frida nickte. „Tief und fest. Frau Voigt sitzt in der Stube und strickt. Ich habe ihr eine Sinalco und ein paar Salzstangen hingestellt.“ Sie kicherte leise. „Aber wir sollten ihr nicht verraten, was wir uns im Kino ansehen, du weißt, wie sehr sie an den Lippen des Pastors hängt. Der hat sich am Sonntag von der Kanzel aus über Hildegard Knef sehr negativ geäußert. So wie du es schon erzählt hast. Nicht dass wir noch unser zuverlässigstes Kindermädchen verlieren. Das wäre schrecklich. Mir tut es ab und zu gut, mal frei zu haben. Die nächsten Jahre, mit zwei kleinen Kindern, werden noch anstrengend genug.“

Horst grinste nur und legte seinen Finger an die Lippen. „Ich schweige wie ein Grab. Lassen wir uns von diesem Skandal mal überraschen. Ich freue mich richtig darauf.“

Sie wollten sich heute nämlich im Metropol-Kino in Nordenham den Streifen „Die Sünderin“ mit Hildegard Knef anschauen. Keiner konnte sagen, wie lange er noch im Programm blieb. Das war für Horst erst recht ein Ansporn, ihn anzusehen.

„Es sind so viele aufgebracht“, sagte er jetzt begeistert. „Vor allem die Kirchen laufen Amok und predigen sogar von den Kanzeln gegen dieses ›Sündenwerk‹.“

Er hatte Frida gestern erst erklären müssen, was an dem Film so furchtbar war.

„Er glorifiziert angeblich Prostitution, Sterbehilfe und Selbstmord! Davon will ich mir wirklich selbst ein Bild machen. – Es gab sogar Stinkbombenangriffe und Ähnliches auf etliche Kinos.“

Horst hielt seiner Frau die Tür auf, und gemeinsam steuerten sie auf den Opel zu, den er direkt vor dem Haus auf der Straße geparkt hatte. Ihr Atem verflüchtigte sich in der kalten Abendluft, als sie zum Wagen eilten.

Frida kletterte auf den Beifahrersitz, und Horst startete den Motor. Er musste langsam fahren, denn die Straße glitzerte. „Könnte glatt sein“, murmelte er.

Frida schloss die Augen und ruhte sich aus, bis sie am Metropol-Kino, das in der Hansingstraße lag, ankamen.

Erna wartete schon vor dem hellen Gebäude und strahlte sie an. Sie sah blass aus und wirkte viel zu dünn. Dass sie sich noch immer nicht selbst um ihre Tochter Sanne kümmern durfte, setzte ihr arg zu, und das würde vermutlich auch nicht besser werden. So viele Anfragen zum Sorgerecht waren schon gescheitert – es war, als liefen sie mit dem Kopf gegen eine Wand. Ein Schicksal, wie es viele alleinerziehende Mütter teilten.

„Hallo, ihr beiden. Das wird ein spannender Abend, denke ich!“, begrüßte sie Frida und nahm sie fest in den Arm.

„Ich freue mich, dass wir mal wieder etwas zusammen unternehmen!“ Frida konnte ein Gähnen nicht verhindern, was ihre Antwort Lügen strafte. Erna musterte sie kurz, sagte aber nichts darauf, sondern drückte nur ihre Hand.

Horst ließ sie allein und ging zur Kasse. Er übernahm großzügig das Bezahlen. Die Platzanweiserin zeigte ihnen ihre Reihe mit säuerlicher Miene. „In den Film gehen nur junge Leute!“, schimpfte sie. „Alle ergötzen sich an der Nacktheit der Knef! Wie kann man als Schauspielerin bloß so tief sinken?“

Horst schenkte ihr ein freundliches Lächeln, aber keiner der drei erwiderte etwas. Das Kino war schon sehr voll, ihnen schlug der Duft von frischem Popcorn entgegen. Überall knisterte es, und leises Stimmengemurmel erfüllte den Saal. Fridas Herz schlug schneller, als sie die roten Samtsessel und die große Leinwand sah. Sie war vor dem Krieg mit ihrem Vater in einem Lichtspielhaus in Stettin gewesen und danach einmal hier mit Horst, als sie „Mein Freund Harvey“ geschaut hatten. So gesehen war ein Kinobesuch etwas ganz Besonderes, und sie beschloss, ihn mit allen Sinnen zu genießen und die Müdigkeit zu ignorieren.

Die drei schoben sich durch die Reihen zu den Sitzplätzen. Genüsslich lehnten sie sich in den Samtsesseln zurück und ließen die „Fox Tönende Wochenschau“ an sich vorüberziehen. Darin wurde über die aktuelle politische Situation berichtet, aber auch Sport- und Kulturereignisse kamen nicht zu kurz. Frida genoss zudem den kleinen Werbeteil für die demnächst anlaufenden Filme.

Dann ging nach der Eiswerbung das Licht an, und die Platzanweiserin stapfte, noch immer missmutig gestimmt und mit einem griesgrämig verzerrten Gesicht, mit ihrem Bauchladen und verschiedenen Eissorten durch den Kinosaal.

„Möchte jemand eins?“, fragte Horst, aber beide Frauen schüttelten die Köpfe.

Der Film zog Frida sofort in den Bann. Sie war von der jungen Marina, verkörpert durch die wunderschöne Hildegard Knef, hingerissen, und sie litt mit ihr, als sie sich verkaufen musste, um ihrem Geliebten die Augen-OP zu bezahlen. Frida mochte auch Gustav Forst, er glich äußerlich ein kleines bisschen Horst, wie er war, als sie sich damals in ihn verliebt hatte.

Dann die wunderbaren Landschaftsaufnahmen in Italien, bei denen sie direkt Fernweh bekam … Italien – das war ein heimlicher Traum von ihr. Einmal an den Gardasee. Nach Limone oder Bardolino! Frida hatte Bilder von dort gesehen. Aber es würde eine Utopie bleiben – und niemals würde sie jemandem davon berichten. Wie sollte sie denn dorthin kommen? Mit zwei kleinen Kindern und dem Haus am Deich, wo sie oft im großen Garten und beim Kleinvieh helfen musste, damit ihren Eltern die Arbeit nicht über den Kopf wuchs. Aber es war schön, sich den wunderbaren Bildern hinzugeben und den Film mit allen Sinnen zu genießen. Es war doch gut, dass sie mitgegangen war.

Die Geschichte wühlte Frida tatsächlich auf, vor allem das Ende berührte sie immens, als sich Alexander und Marina das Leben nahmen. Sogar ihr Mann wirkte leicht angefasst, wenngleich er seine Gefühle wie gewohnt mit lockeren Sprüchen zu übertönen versuchte.

„Da war ja mal wieder viel Wind um nichts oder a storm in a teacup, wie der Engländer sagen würde“, meinte er in lässigem Tonfall und fügte gleich hinzu: „Kommt, wir gehen noch etwas trinken und lassen den Film ein wenig sacken.“ Es war zwar schon spät, aber eine halbe Stunde konnte Frau Voigt sicher noch auf Meike aufpassen. Sie war Witwe und froh, etwas zu tun zu haben, was über ihre Aufgaben in der Kirche hinausging. Vermutlich schnarchte die Nachbarin sowieso schon auf dem Sofa.

Eigentlich hatten sie in das Traditionshotel Friesischer Hof gewollt, aber ausgerechnet heute war dort eine große geschlossene Gesellschaft, sodass sie umdisponieren mussten und das nächstbeste Lokal in der Nähe ansteuerten. Der Raum war mit Holzstühlen ausgestattet, die sich um runde Tische gruppierten. In der Mitte lagen weiße Spitzendeckchen, auf denen Blumenvasen drapiert waren. Rechts befand sich der Tresen. Daran lungerten finstere und tätowierte Gestalten, vermutlich Seemänner, die einen letzten Drink nahmen.

Am Stammtisch links ging es hingegen laut und fröhlich zu, dort feierten acht Männer offenbar einen Geburtstag. Die Luft war von Rauch geschwängert, und Frida fiel das Atmen schwer. Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre, so schnell es ging, nach Hause gefahren. Aber sie wollte Horst und Erna nicht vor den Kopf stoßen, und so hielt sie das Gegröle der Männer und die schlechte Luft eben aus. Hauptsache, sie hatte morgen keine Kopfschmerzen, schließlich wollte sie zu ihren Eltern nach Eckwardersiel fahren. Ihrem Vater ging es in der letzten Zeit gesundheitlich nicht gut.

Horst bestellte sich ein Bier. Erna zog ein Glas Sekt vor. „Ich muss morgen früh zum Arbeiten im Bekleidungsgeschäft sein, aber ein Glas Sekt geht immer. Und zu meiner Wohnung habe ich es ja nicht weit.“

Frida wählte lieber eine Sinalco und trank lustlos. Sie war unfassbar müde und hoffte, dass sie bald ins Bett gehen konnte. Diese Schwangerschaft war wirklich beschwerlich, und was würde wohl noch alles auf sie zukommen, wenn der Bauch erst dicker wurde?

„Und, meine Damen?“, fragte Horst, als er das Glas hob. „Wie skandalös fandet ihr den Streifen?“

„Man hat ihre Brust entblößt gesehen“, resümierte Erna. „Zwar nur kurz, aber für die Menschen, die auf Moral und Anstand pochen, reicht es, sich zu echauffieren. Ich fand es eher unspektakulär.“ Sie trank einen Schluck, bevor sie weitersprach. „Und das Thema Prostitution, Selbstmord und die viele nackte Haut mag ja einige abschrecken, aber ich fand auch das nicht schlimm. Keine Ahnung, worüber sich die Kirchen und die Leute so aufregen.“ Sie gähnte. „Was ich wirklich nicht mochte, war, dass die Knef die ganze Zeit erzählt hat und die Handlung ja eher im Hintergrund ablief.“ Sie schaute zu Frida, die skeptisch den Kopf wiegte. „Aber ergreifend war das Ende trotzdem, da geb ich dir recht. Ich habe nur nicht so nah am Wasser gebaut. Wahrscheinlich bin ich einfach abgestumpft.“

Frida wusste, was Erna meinte. Man hatte ihr mit Sanne das Liebste genommen, zudem hatte ihr Vater ihren Verlobten umgebracht und war straffrei davongekommen. Wie sollte sie da über eine gespielte Szene weinen?

Sie schwiegen eine Weile, aber der Film war auch am Nebentisch Thema, nur herrschte dort eine völlig andere Meinung vor. „Ich kann verstehen, dass man einen solchen Streifen mit allen Mitteln verhindern möchte“, keifte eine Frau, die ihren Hut nicht abgelegt hatte und sich mit einer kapriziösen Bewegung eine Zigarette anzündete. „Er ist einfach entsetzlich!“, regte sie sich weiter auf.

Frida konnte ein Schmunzeln kaum unterdrücken. Deutschland diskutierte also wieder, und wenn es auch nur über die entblößten Brüste der Knef war. Immerhin ein Anfang.

*

Margret Köhle schaute besorgt zu ihrem Mann Ulrich, der in der Küche saß und den Stuhl gerade näher an den Ofen schob. Er wirkte müde und ausgelaugt. Sie machte sich schon seit geraumer Zeit mächtige Sorgen um ihn. Er arbeitete einfach zu viel! Nur, was blieb ihnen anderes übrig? Nach der Währungsreform hatte es zwar wirtschaftlich einen Aufschwung gegeben, aber das merkte man in den Städten wohl mehr als auf dem Land. Hier ging alles langsamer und behäbiger, und sie mussten nach wie vor sehen, wie sie über die Runden kamen. Wobei wirklich viele Dinge einfacher geworden waren, vor allem mit Horst als Schwiegersohn, für den Geld keine Rolle spielte. So besaß Ulrich wieder ein Akkordeon, mit dem er abends oft musizierte und dann Seemannslieder durch die kleine Kate am Deich klangen. Gern spielte er das Südsee-Lied – As ick jung an Johren wär … – oder Rolling Home – Call all hands to man the capstan. Oft klangen die Melodien wehmütig und zeigten, in welch trauriger Stimmung sich Ulrich befand.

Margret zuckte zusammen, als sie die Stimme des Radiosprechers hörte, der gerade das Wetter verkündete.

„Immerhin bleibt es sonnig“, sagte sie.

Ulrich brummelte nur, ergänzte dann aber deutlicher: „Das ist auch das einzig Gute an dem Ding, dass ich weiß, ob ich eine Regenjacke mit zur Arbeit nehmen muss.“

Margret lächelte, sie kannte die Aversion ihres Mannes seinem Schwiegersohn gegenüber, der auch dieses neue Rundfunkgerät angeschafft hatte, weil Horst es bei seinen seltenen Besuchen nicht hatte ertragen können, wie schwierig der Empfang mit der alten Kiste war. Beim neuen Radio war das Hintergrundrauschen vollständig verschwunden.

Seit der Jahreswende hatten sie in der Kate sogar einen Telefonanschluss, was weiß Gott nicht selbstverständlich war, aber die Verabredungen mit ihrer Tochter erheblich erleichterte – es grenzte an Luxus. Ein Telefon besaßen nur sehr wenige Menschen. Lediglich der Bauernhof von Tant Meta in der Nachbarschaft verfügte über eines. Aber da hatte Horst nicht mit sich reden lassen. „Ihr wohnt so weit außerhalb. Wenn mal etwas passiert, müsst ihr schnell Hilfe holen können. Oder wollt ihr dann erst losziehen und ein Telegramm aufgeben?“

Margrets Blick wanderte erneut zu Ulrich. Er war am Morgen schon um vier Uhr aufgestanden, mit dem Rad Richtung Stollhamm gefahren und hatte dort begonnen, mit einem Bauern einen Stall auszubauen.

Jetzt saß ihr Mann mit aufgestützten Armen vor dem Ofen und starrte müde auf den Boden. Er atmete schwer und langsam.

„Ulrich, ich muss gleich kochen, weil Frida und Meike kommen“, sagte sie vorsichtig, denn dafür musste er seinen kuscheligen Platz räumen.

„Hast du gepetzt, dass ich müde bin?“, fragte er scherzhaft, aber er klang matt.

„Sie hat gefragt, und ich habe ihr die Wahrheit gesagt. Dir geht es seit Tagen immer schlechter“, antwortete Margret. Sie erntete nur ein weiteres Brummeln als Antwort. „Horst bringt die beiden gleich mit dem Wagen“, setzte sie noch hinzu.

Dass er jetzt einen besaß, erleichterte viele Dinge ebenfalls sehr. So gesehen war deutlich, dass es mit der jungen Bundesrepublik aufwärtsging, wenngleich die weltpolitische Situation nach Ulrichs Ansicht schon wieder besorgniserregend war, denn die Spannungen zwischen Ost und West verschärften sich zusehends. Ulrich ging sogar davon aus, dass in der neu gegründeten DDR die Grenzen bald abgesichert würden und ein unkompliziertes Reisen vom Osten in die BRD schwierig werden konnte. „Es hat schon begonnen mit dem Exodus, und es werden immer mehr. Lange sehen sie sich das nicht an, glaub mir!“

Aber darum wollte Margret sich jetzt nicht auch noch Gedanken machen. Ihr eigener kleiner Kosmos war genug mit Problemen behaftet. Fridas neuerliche Schwangerschaft, ihre unglückliche Ehe, Ulrichs Mattigkeit. Die immer noch so traurigen Gedanken an ihre verlorene Heimat … Margret schwankte oft zwischen dem Glücksgefühl, ein neues Haus und eine neue Heimat gefunden zu haben, und der unsäglichen Wut darüber, dass sie Stettin überhaupt hatten verlassen müssen.

„Aber meine Hoffnung sind Frida und Meike. Sie sollen es besser haben. Keinen Krieg. Keinen Hunger. Keine Flucht mehr. Ein Zuhause. Und dafür werde ich alles tun, was in meiner Macht steht.“ Sie zuckte zusammen, weil sie laut gesprochen hatte, aber Ulrich war schon wieder in sich zusammengesunken.

Margret entging sein leichtes Frösteln nicht. Sie schaute sich um, doch Türen und Fenster waren geschlossen, und in der Küche war es warm.

„Dir geht es wirklich schlecht“, sagte sie besorgt. „Du wirkst so, als hättest du dir etwas eingefangen.“

Ihr Mann fuhr erschrocken zusammen. „Ich bin müde, war ja heute früh hoch und habe mich etwas übernommen. Geht gleich schon wieder.“

Margret horchte auf. Das waren ungewohnte Worte aus dem Mund ihres Mannes, der stets hart arbeitete wie ein Ackergaul und sich nie beschwerte oder gar zugab, dass ihm etwas zu viel wurde. „Ich will, dass dieses Haus schön wird!“, sagte er stets. „Und dafür tue ich alles. Das hier soll ein so wunderbares Zuhause werden, dass dem in Stettin in nichts nachsteht und wo du endlich eine Heimat hast.“

Als ob man die neu bauen könnte, dachte Margret. Heimat ist doch eher ein Gefühl als ein Ort. Ulrich wusste, dass Margret noch nicht vollständig in der Wesermarsch angekommen war, und es rührte sie, wie sehr er sich darum sorgte, es ihr schön zu machen.

Leider hatte es den versprochenen Währungsausgleich noch immer nicht gegeben, und es war ausgeschlossen, die Ersparnisse anzuzapfen. Nach der Währungsreform waren die Guthaben der Geflüchteten vorerst eingefroren worden, und noch war unklar, wann und ob sie je wieder an ihr Geld kamen. Ulrich war jedoch fleißig, und so ging er auch hier zu Hause seiner Arbeit nach, organisierte Baumaterial, Farbe und was er brauchte, und werkelte nach Feierabend und an den Wochenenden am Haus herum.

Anfang November hatte er es endlich weiß gestrichen, sodass es jetzt zu einem wahren Schmuckstück geworden war. Die Zimmer unterm Dach hatte er ebenfalls ausgebaut, und seit dem dritten Advent besaßen sie sogar ein echtes Badezimmer mit fließendem Wasser und einer Badewanne auf vier Füßen. Sie hatten es hellblau gestrichen, und Margret war jedes Mal glücklich, wenn sie es betrat. Recht dürftig wirkten in der Kate einzig die Möbel, aber das konnten sie später noch ändern.

Margret legte Ulrich die Hand auf die Schulter. „Möchtest du dich kurz hinlegen? Ich mache mir wirklich Sorgen um deine Gesundheit.“

Ihr Mann schaute hoch, und sie erschrak. Seine Augen wirkten glasig und lagen in tiefen, dunklen Höhlen, sein Atem war schlecht und rasselte leicht. Er nickte stumm, und nun machte sie sich wirklich ernsthafte Sorgen. Noch nie in ihrer ganzen Ehe hatte er sich freiwillig mitten am Tag hingelegt. Noch nie!

Er schlich mit gebeugtem Oberkörper aus der Küche, und Margret hörte, wie er die Tür vom Schlafzimmer schloss.

Seufzend machte sie sich daran, die Steckrüben klein zu schneiden und die Kartoffeln zu schälen. Frida mochte diesen klassischen norddeutschen Eintopf, den sie hier in Butjadingen erst lieben gelernt hatte. Als alles auf dem Herd blubberte, hörte sie ein Auto, und kurz darauf fuhr Horsts Wagen auf den Hof.

Margret wischte sich die Hände an der karierten Kittelschürze ab und lief zur Haustür. Horst blieb im Wagen und winkte nur kurz, nachdem Frida mit Meike auf dem Arm ausgestiegen war und auf die Kate zueilte.

„Hallo Mutter!“, begrüßte Frida sie mit einem angedeuteten Küsschen rechts und links auf die Wange. „Ich bin froh, endlich wieder hier zu sein.“ Dann schaute sie sich um. „Ist Vater noch bei der Arbeit?“

Margret schüttelte den Kopf. „Nein, er hat sich hingelegt.“

„Er hat was?“, fragte ihre Tochter sofort nach. „Das passt so gar nicht zu ihm. Ist er etwa richtig krank?“

Margret zuckte mit den Schultern und blieb ihr die Antwort schuldig. „Nun kommt erst einmal rein, es ist kalt“, wich sie aus. „Ich habe Steckrüben gekocht. Sie müssten gleich fertig sein.“

„Lecker.“ Frida folgte ihrer Mutter durch den Flur in die Küche, wo sie Meike auf dem Boden absetzte und ihr das weiße Wolljäckchen und die Strickmütze auszog. Die Kleine hatte rosige Pausbacken und freute sich sehr, ihre Großmutter zu sehen. Sofort streckte sie Arme nach ihr aus, was Margret sehr rührte. Sie drückte die Kleine und saugte den frischen, leicht süßlichen Duft ihrer Haut in sich auf. Irgendwie schenkte ihr das bei all dem Kummer Trost. Meike krabbelte zum Küchentisch, denn dort hatte Margret eine selbst genähte Stoffpuppe für ihre Enkelin hingelegt. Sie bestand aus einem mit Schafswolle gefüllten Körper und einem Stoffgesicht, in das sie die kleine Nase mit einem Faden gearbeitet und Mund und Augen aufgemalt hatte. Von dem festen Köpfchen standen rote Wollfäden als Haare ab. Bekleidet war sie mit einem hellblau karierten Kleid.

Frida lächelte, als sie sah, wie die Augen ihrer Tochter leuchteten, während sie danach griff.

Margret stellte derweil die Teller auf den Tisch und legte zwei Löffel dazu. Dann kostete sie den Eintopf. „Er ist gar“, sagte sie zufrieden. „Und wunderbar würzig. Mal etwas anderes als immer nur Markklößchensuppe.“

„Will Vater nichts essen?“, fragte Frida, als sie sah, dass ihre Mutter kein drittes Gedeck auflegte. „Nun sag schon, was los ist! Langsam macht es mich nervös. Es ist ungewöhnlich, findest du nicht?“

Margret schwieg weiter und suchte in der Schublade nach der Suppenkelle. Aber es half nichts, sie musste ihre Sorgen in Worte fassen. „Es geht ihm schon seit Weihnachten nicht mehr gut. Sagte ich doch schon“, antwortete sie schließlich. „Seit er diese Mandelentzündung und anschließend die Bronchitis hatte. Und er immer weitergearbeitet und sich kein bisschen geschont hat.“

„Mir ist beim letzten Besuch bereits aufgefallen, dass er anders war“, sagte Frida nachdenklich. „Er war stiller als sonst. Und blass, aber es ist ja auch Winter. Doch als du am Telefon sagtest, er wäre unpässlich, habe ich mir wirklich Gedanken gemacht.“ Sie presste die Lippen zusammen.

Margret hatte die Kelle gefunden, hängte sie in den Topf und wuchtete ihn dann auf den Holztisch. Anschließend füllte sie die Teller auf. „Nimmst du Meike auf den Schoß?“, fragte sie.

Frida nickte und schnappte sich ihre Tochter.

Margret tauchte den Löffel in den Eintopf, führte ihn aber nicht zum Mund, sondern ließ ihn wieder sinken. „Er hat sich bei euren Besuchen immer sehr zusammengerissen“, fuhr sie fort, froh, endlich über ihre Sorgen sprechen zu können. Nun nahm sie doch einen Löffel Suppe und schluckte das Essen besonnen hinunter, bevor sie weitersprach. „Dein Vater war heute Morgen arbeiten, aber danach sah er zum Fürchten aus.“

„War er denn mal beim Arzt?“ Frida legte den Löffel beiseite und ruckelte Meike auf dem Schoß zurecht, weil sie nach dem Teller greifen wollte. Dann gab sie der Kleinen etwas vom Eintopf ab. Sie schmatzte sichtlich erfreut. „Meike mag Steckrüben wohl auch“, sagte sie. Dann wiederholte sie ihre Frage, weil ihre Mutter nicht geantwortet hatte. „Was ist denn jetzt? War er beim Arzt oder nicht?“

Margret schüttelte den Kopf. „Nein, er wollte nicht. Es war auch noch nie so schlimm wie heute. Wenn es morgen nicht besser ist, schicke ich ihn zu Doktor Fakt.“

Frida wirkte noch immer unzufrieden, aber schließlich wusste sie, wie störrisch ihr Vater sein konnte. Krank zu sein passte nicht in sein Weltbild, folglich ignorierte er es. Ulrich hatte immer durchgehalten. Als Fischer, als er sie damals mit einem ungewissen Ziel in den Westen reisen lassen musste, weil er zum Volkssturm einberufen worden war, und auch später, als sie dieses marode Haus fast ohne Geld bewohnbar machen mussten. Aufgeben und Schwäche zeigen war nichts, was Ulrich Köhle gut zu Gesicht stand.

Margret sah, dass Frida selbst gar nichts aß, sondern nur Meike fütterte. „Magst du nichts?“

„Mir ist ständig übel!“, gab Frida zu. Auch sie war erschreckend blass. Zwar war sie durch die Schwangerschaft etwas fülliger in den Hüften, aber sonst wirkte sie ausgezehrt. Margret war wegen der neuerlichen und so kurz auf die erste folgende Schwangerschaft noch immer schlichtweg entsetzt. Sie musterte ihre Tochter, und plötzlich war es, als wäre die See bei Sturmflut über die Deichkrone geschwappt, und sie vermochte nichts gegen die Wassermassen zu tun, die das Land überfluteten. War sie zwar einst der Ansicht gewesen, dass Focko der richtige Mann für ihre Tochter war, hatte sich das gewandelt, nachdem Frida von Horst schwanger geworden war und nun als seine Ehefrau ein wahres Luxusleben führen konnte. Sogar ein richtig gutes Klavier hatte sie. So war ihr Leben jetzt nun mal, und es war nicht zu ändern. Dazu war es zu spät.

„Die Schwangerschaft scheint dir nicht gerade gutzutun“, entwich es Margret, und sie wusste selbst, dass der Ton zu hart war. Aber auch dieses Thema belastete sie übermäßig, sodass sie jetzt übers Ziel hinausschoss. „Es ist zu dicht aufeinander! Warum musstest du auch gleich wieder schwanger werden, obwohl das erste Kind noch nicht mal aus den Windeln raus ist?“

„Es ist eben passiert. Und dieses Mal geht es mir nicht so gut“, gab Frida zu. „Aber das wird schon.“

Margret seufzte.

Schon immer hatte ihre Tochter alle Warnungen in den Wind geschlagen und war in ihr Verderben gerannt. Begonnen damit, dass sie die Stelle bei Horst Hinrichs angetreten hatte, obwohl klar war, dass er sie nur verführen wollte und mitnichten an ihre Fähigkeiten als Bürokraft glaubte. Dann die erste unverhoffte Schwangerschaft, die beide in diese vermaledeite Ehe gezwungen hatte. Nun war sie an einen Lebemann gebunden, der auf seine amourösen Abenteuer nicht verzichten wollte. Trotzdem hatte Frida an der Ehe festgehalten, um Meike ihr Zuhause nicht zu nehmen. Nur hatte sie zu allem Überfluss Trost bei Focko gefunden, der sie liebte, seitdem er Frida zum ersten Mal gesehen hatte.

Margret ahnte, dass Horst womöglich nicht der Vater des ungeborenen Kindes war. Dass ihre Tochter dieses Wagnis eingegangen war, fand sie unsagbar dumm.

Jedes Mal, wenn Margret darüber nachdachte, kroch in ihr eine heftige Wut hoch. Heute entlud sie sich so schlimm, dass sie vor sich selbst erschrak. Doch sie konnte sich nicht zurückhalten, und ihre Worte schwappten durch den Raum. Sie musste Gewissheit haben und es einfach aussprechen. „Dir geht es schlecht, weil du ein mieses Gewissen Horst gegenüber hast! Mir musst du nichts vormachen. Das Kind könnte ein Kuckuck sein, stimmt’s? Es ist auffällig, wie schnell Focko aus Butjadingen verschwunden ist. Seinen Vater in der Fischerei hat er genauso sitzen gelassen wie seine Verlobte Katrine. Und das, nachdem du eine Nacht allein in diesem Haus warst und ihr euch schon zuvor so sehr angeschmachtet habt, dass es peinlich war!“

Margret bereute ihre Worte schon, als sie sie ausgesprochen hatte. Aber sie konnte nicht aus ihrer Haut. Sie stöhnte auf bei dem Gedanken, wie verkorkst Fridas Leben war. Pianistin hatte Frida einst werden wollen. Und nun?

Nun saß ihre Tochter in einem Leben fest, das von einem Scherbenhaufen umgeben war. Weit weg vom Ziel ihrer Träume.

Das machte Margret genauso wütend wie die Tatsache, dass Ulrich ein Possenspiel mit seiner Gesundheit trieb und ebenfalls keine Warnung ernst nahm. Da waren sich die beiden ähnlich!

Frida hatte auf ihren Ausbruch noch nicht geantwortet, nagte aber an der Unterlippe. Meike wurde derweil unruhig, und sie setzte sie auf dem Boden ab, wo sie sogleich weiter mit ihrer Puppe spielte.

„Du hast recht, Mutter. Der Kummer und das schlechte Gewissen fressen mich auf, und ich glaube auch, dass mir die Schwangerschaft deshalb so zusetzt. Nur, welche Wahl bleibt mir? Ich kann Horst nicht die Wahrheit sagen und ihm meine Nacht mit Focko gestehen. Wem würde es auch nützen? Ich bin dankbar über jeden Abend, den er zu Hause bleibt und ich nicht fürchten muss, dass er nach einer anderen Frau riecht. So wie es früher oft genug der Fall war. Ich hoffe, das ist jetzt vorbei. Auch die Sache mit Fenna.“ Diese Liebschaft hatte Frida tief verletzt, weil sie Fenna als ihre Freundin angesehen hatte.

„Du bist seine Frau! In einer Ehe muss man das hinnehmen, der Mann hat bei allem das Sagen und die Freiheit!“, schoss es aus Margret heraus. Sie wusste, wie schwer das war, aber so war es nun einmal vorgesehen.

Frida schaute sie fassungslos an. „Das kannst du nicht ernst meinen, Mutter!“

Margret sog scharf die Luft ein. Es wurde Zeit, dass ihre Tochter endlich begriff, worum es im Leben ging. „Vermutlich haben Vater und ich dir nicht ausreichend klargemacht, auf was es in einer Ehe ankommt.“

Frida schüttelte den Kopf. „Ach, ich kenne doch diese blöden Ratschläge wie: Schütteln Sie Ihrem Gemahl das Kissen auf, damit er sich wohlfühlt. Oder: Beschweren Sie sich nicht, er ist Ihr Mann. Willst du mir das sagen, ja?“ Frida lachte bitter auf.

Margret wand sich. Ihre Tochter musste lernen, sich Horst unterzuordnen, wenn ihre Ehe funktionieren sollte. Es gab eben Ehemänner, die anders waren als ihr Ulrich.

„Vater würde sich niemals so benehmen wie Horst“, fuhr Frida auch schon fort. „Warum hättet ihr mir etwas anderes erzählen sollen als das, was ich erfahren habe? Gegenseitiger Respekt und all so etwas. Mit Vater ist das möglich, mit Horst nicht. Aber im Augenblick läuft es bei uns einigermaßen. Mal sehen, wie lange.“

„Du hast als Frau dafür zu sorgen, dass es in eurer Ehe funktioniert“, gab Margret scharf zurück. „Und wenn er abtrünnig ist, dann tu etwas, damit er es nicht mehr nötig hat, sich diese Zerstreuung woanders zu suchen!“

Frida legte den Löffel neben den Teller. Sie hatte den Eintopf noch immer nicht angerührt. „Mutter! Das kannst du doch wirklich nicht ernst meinen! Ich … ich …“

„Du hättest dich nicht mit Focko einlassen sollen, dann würdest du nicht in diesem Dilemma stecken!“ Margret konnte sich einfach nicht zügeln. „Halt jetzt bitte fest, was du hast. Das ist mehr, als andere sich erhoffen. Regle das mit deinem Mann, es ist deine Aufgabe als Frau, das weißt du.“

Margret wusste, dass ihre Worte hart waren, aber welche Wahl hätte ihre Tochter denn, wenn herauskam, dass sie ein fremdes Kind austrug? Horst würde sie auf die Straße setzen, das Jugendamt würde ihr Meike wegnehmen, denn als alleinerziehende Frau würde sie, wenn Horst sich dagegen auflehnte, kaum als Erziehungsberechtigte infrage kommen. So furchtbar es auch war: Frida musste an dieser Ehe um jeden Preis festhalten, wenn sie ihre Tochter nicht verlieren wollte.

Frida schnappte kurz nach Luft. „Ja, ich werde mich bemühen, dass Horst und ich miteinander auskommen, allein der Kinder wegen, aber ich werde niemals akzeptieren, dass er mich schlecht behandelt.“

Margret wusste, dass sie zu weit gegangen war. Sie schämte sich ihrer Härte. Was war nur in sie gefahren? Frida war doch ihr Kind, und sie sollte ihr helfen und sie nicht mit Vorwürfen überschütten. Aber dass die Probleme sich gerade zu einem riesigen Berg auftürmten, machte es nicht einfach für sie. Der Kloß im Hals wurde immer dicker, schließlich schlug Margret die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. „Entschuldige, das hätte ich nicht sagen dürfen“, schluchzte sie. Es überforderte sie alles maßlos. So saß Margret eine Weile stumm da, bis sie in der Lage war, wieder aufzusehen.

Ihre Tochter war aufgestanden, schaute aus dem Fenster zum Deich und knetete die Finger. Langsam wandte sie sich um. In ihrem Gesicht las Margret aber keine Wut, sondern maßlose Trauer. „Bitte sag so etwas nie wieder, Mutter“, begann sie ruhig. „Es wäre gut, wenn du das alles für dich behältst. Ich möchte Meike und auch das Kind in meinem Bauch nicht verlieren und schon gar nicht leben müssen wie Erna. Dafür nehme ich genug in Kauf, da brauche ich nicht auch noch Vorwürfe.“

Margret nickte stumm und war erleichtert, dass ihre Tochter ihr nicht gram war. „Versprochen“, sagte sie schließlich. „Es sind meine Enkel. Von mir wird niemand etwas erfahren. Niemals! Das verspreche ich dir.“

Beide fuhren zusammen, als sie lautes Husten aus dem Schlafzimmer hörten.

„Ich geh zu Vater.“ Frida eilte sofort aus der Küche.

Margret nahm derweil Meike hoch und folgte ihr mit einem unguten Gefühl. Ulrich saß, das Kissen in den Rücken gedrückt, im Bett und hatte die Augen geschlossen. Sein Gesicht war fahl, auf der Stirn perlte der Schweiß. „Was ist mit dir?“, fragte Margret sofort, aber ihr Mann winkte wie immer ab. „Nichts. Ich steh gleich auf, und dann esse ich von deinen wunderbaren Steckrüben“, sagte er und schob sich noch ein Stück höher.

„Vater, du bleibst liegen, und ich hole Doktor Fakt“, entschied Frida.

Meike legte den Kopf schief und lächelte ihren Großvater an. Dabei zeigten sich ihre ersten beiden Mausezähne.

Ulrich setzte sich auf die Bettkante, winkte seiner Frau und strich der Kleinen über das dunkle Lockenhaar.

„Lass mich kurz mit Frida allein“, bat er Margret. Sie war damit zwar nicht einverstanden, verließ aber den Schlafraum. Unruhig lief sie mit Meike auf dem Arm im Flur auf und ab.

Sie hörte leises Murmeln. Am liebsten hätte sie gelauscht, aber das wäre nicht recht gewesen. Für heute hatte sie genug Fehler gemacht.

Plötzlich schrie Frida laut auf. „Vater!“ Der grelle Ton schrillte in Margrets Gehörgang, blieb dort stecken und wiederholte sich auf schreckliche Weise wieder und wieder. Margret war erst unfähig, sich zu rühren, dann aber riss sie die Schlafzimmertür auf und sah ihren Mann, wie er sich ans Herz griff und den Kopf in den Nacken gelegt hatte. Seine Schlappen baumelten an den Füßen, bis sich der eine löste und mit einem klatschenden Geräusch auf den Boden fiel.

„Ulrich!“ Margret machte einen Schritt auf ihren Mann zu, Meike hatte die Ärmchen dicht um ihren Hals gelegt und drückte sie heftig.

Ulrichs Lippen wurden blau, das Gesicht fahl, und er begann zu röcheln. Er wirkte überrascht, griff sich an den Hals, als könnte er sich auf diese Weise Luft verschaffen, und fiel ihnen dann mit einem lauten Rums vor die Füße. Dabei löste sich auch der zweite Schlappen von seinem Fuß.

Ulrich wirkte noch, als wolle er etwas sagen, aber es kam ihm kein Ton mehr über die Lippen. Er klappte den Mund auf und zu, riss die Augen weit auf, und ihm entwich ein letzter stöhnender Laut.

Plötzlich war es still, und Margret glaubte, die Welt hätte aufgehört, sich zu drehen. Sie hörte nichts mehr außer dem Ticken der Wohnzimmeruhr, das ihr in diesem Augenblick einen Hauch von Sicherheit vermittelte.

Das passiert hier gerade nicht, schoss es durch ihren Kopf. Das träumst du nur. Gleich wachst du auf, und Ulrich spielt Rolling Home. Doch all das geschah nicht. Ulrich blieb mit halb geschlossenen Augen auf dem Boden liegen.

Frida versuchte verzweifelt, ihren Vater wieder zum Leben zu erwecken und in diese starren Augen den Glanz zurückzubringen. Sie drückte auf seinem Brustkorb herum, presste ihre Lippen wieder und wieder auf seine, aber das Leblose wich nicht aus seinem Gesicht.

Margret konnte und wollte nicht glauben, was sie da sah. Noch einmal redete sie sich ein, dass Ulrich gleich aufstehen und lachen würde. Sagen, dass alles nur ein Scherz war, denn er war noch viel zu jung zum Sterben, und sie hatten noch etliche Pläne. Die Fensterrahmen sollten doch gestrichen werden!

Margret drückte ihre Nase an Meikes Wange, nahm den süßlichen Kinderduft wahr, um noch immer nicht verstehen zu müssen, was hier gerade passierte.

Dann kam das Begreifen. Es begann, als Frida laut aufschluchzte und den Kopf auf den Brustkorb ihres Vaters sinken ließ. Und es kam mit einer Wucht, mit der Margret nicht gerechnet hatte. Plötzlich gaben ihre Beine nach, in ihrem Bauch fühlte es sich hohl an, und dann war da ein Schmerz in ihrem Kopf, den sie nur aushielt, indem sie ihn mit einem lauten und quälenden Schrei begleitete, der sie selbst genauso erschrecken ließ wie Meike, die sofort bitterlich zu weinen anfing. Margret versuchte ihre Enkelin zu beruhigen, aber es klang halbherzig. Wie sollte sie das Kind trösten, wenn es für sie selbst gerade keinen Trost gab? Wo ihr gerade die Hälfte ihres Lebens wegbrach? Ihr Mann. Ihr Ulrich. Die Liebe ihres Lebens.

„Vater, bitte komm zurück! Komm doch zurück!“, hörte Margret. „Komm zurück und lass uns nicht allein!“

Aber das tat er nicht. Ulrich war gegangen. Mitten aus dem Leben und viel zu früh.

Meike hatte plötzlich zu weinen aufgehört, so als wäre sie sich der besonderen Situation bewusst. Sie schaute hinunter zu ihrem Opa, der jetzt ganz friedlich aussah, und dann zu ihrer Mama, die tränenüberströmt neben ihrem Vater hockte.

„Bitte, öffne das Fenster, damit seine Seele fliegen kann“, sagte Frida leise, und Margret tat, wie ihr geheißen. Dann setzte sie Meike ab und half ihrer eigenen Tochter hoch. Plötzlich war sie wieder ganz ruhig, fast unterkühlt, aber sie hatte gelernt, dass man Schmerz auf diese Weise am besten ertrug. Nie hatte sie sich gehen lassen. Nie. Nicht auf der Flucht, nicht, als sie zuerst in der winzigen, dreckigen Kammer auf dem Hof in Eckwarderhörne hausen mussten. Und auch jetzt würde sie stark sein. So, wie man es von ihr erwartete. „Komm, Liebes. Vater ist von uns gegangen.“

Ihre Worte klangen hohl und falsch, aber es war die Wahrheit, die sie zwar ausgesprochen, aber noch lange nicht realisiert hatte.

Jetzt war sie allein in dieser immer noch fremden Welt. Geblieben waren ihr das Haus am Deich, ihre Tochter und zwei Enkel. Margret wusste noch nicht, ob das reichen würde.


Kapitel 2

Es war eine kalte Winternacht, als das Frachtschiff Esmeralda in Den Haag ablegte und sich auf den Weg nach Bremerhaven machte. Das Schiff stampfte durchs Wasser, es würde eine ruhige Nacht werden.

Focko lag in seiner schmalen Koje und starrte auf die Matratze, die sich auf dem Drahtgeflecht über ihm befand. Er konnte sogar von hier aus sehen, wie durchgelegen sie war.

„Nun sinn man nicht die ganze Nacht vor dich hin, sondern sieh zu, dass du Schlaf bekommst!“, sagte Focko zu sich selbst, doch das war leichter gesagt als getan.

Er war müde von der Arbeit am Hafen. Sie hatten einen Großteil der Fracht in Den Haag gelassen und führten nur noch wenig Ladung mit sich, die in Bremerhaven gelöscht werden würde.

Fockos Knochen schmerzten, und weil er nasse Füße bekommen und sich die Socken in den Schuhen eingerollt hatten, war seine Haut an den Knöcheln wund geworden. Das tägliche Einerlei der Matrosen und Hafenarbeiter. Trotzdem stellte ihn seine Arbeit immer wieder zufrieden. Fracht an Bord nehmen, übers Meer fahren und andere Länder sehen. Ladung löschen, und der Kreislauf begann von vorn.

Nein, er konnte jetzt nicht schlafen, dazu wühlte ihn diese Nacht zu sehr auf. Seit vier Monaten war er nicht mehr zu Hause gewesen. Vier Monate nur die See und fremde Gebiete, von denen er zuvor nicht einmal etwas geahnt, geschweige denn gewusst hatte. Er hatte damals in Bremerhaven gleich einen Heuerbaas gefunden, und so war er blitzschnell auf diesem Frachtschiff gelandet, mit dem sie schon am Folgetag in See gestochen waren.

Seitdem teilte er sich eine Kajüte mit sechs anderen Seemännern aus verschiedenen Nationen. Die Koje war schmal und hart, die Luft oft schlecht, und bei starkem Seegang hatte so mancher der Jungs zu kämpfen. Oft wurde er vom Schnarchen der anderen um den Schlaf gebracht, aber damit konnte er leben, weil er ohnehin kein Mensch war, der viele Stunden Ruhe brauchte, um den kommenden Tag gut zu überstehen.

Manchmal hatten sie lange keinen Hafen gesehen. Nur die Wellen, die das Schiff umspülten. Mal wurde es hin und her geworfen wie eine Nussschale, die den Kräften ringsumher nichts entgegenzusetzen hatte, dann wieder dümpelte es ruhig und erhaben durchs Wasser. Es gab Tage, da liebte Focko dieses Leben. Und es gab welche, an denen er es hasste.

Der Ankunft morgen in Bremerhaven sah er mit gemischten Gefühlen entgegen, denn die Seehafenstadt lag dicht an Butjadingen, und er würde brutal mit der Vergangenheit konfrontiert werden. Eine Vergangenheit, die ihm noch viel zu nah war, als dass er sie als abgeschlossen betrachtete. Zu sehr schmerzten die Erinnerungen.

Um es nicht allzu schlimm werden zu lassen – und vor allem, um nicht auf dumme Gedanken zu kommen und womöglich nach Eckwardersiel zu fahren –, hatte er beschlossen, nach dem Anlegen an Bord der Esmeralda zu bleiben und sich für die entsprechenden Wachen eingetragen. So würde er kaum bemerken, wie nah er Frida in diesem Hafen war. Seine Seemannskollegen waren ihm dankbar dafür, denn sie zog es an Land in die Kneipen und zu den Versuchungen, die dort an jeder Ecke lauerten.

Focko scheute sich auch, zurück nach Fedderwardersiel zu seiner Familie zu gehen. Er hatte sie mit seiner überstürzten Flucht genauso alleingelassen wie Katrine. Seiner Verlobten hatte er nur einen Abschiedsbrief geschrieben, weshalb auch seine Eltern wussten, wohin er verschwunden war. Katrine würde ihn vermutlich hassen, aber das war ihm egal.

„Ich könnte ihnen morgen aus dem Hafen aber zumindest eine Nachricht zukommen lassen, damit sie wissen, dass es mir gut geht“, murmelte er. Seine Stimme klang viel zu laut in der Kabine, und er schätzte sich glücklich, dass er gerade allein hier lag.

Focko hatte seinen Vater mit der Flucht sicher tief getroffen, denn jetzt musste er allein mit dem Kutter rausfahren und konnte nicht auf die Hilfe des Sohnes zählen. Sie besaßen einen hellblauen Fischkutter mit weißem Aufbau und waren täglich gemeinsam in See gestochen. Danach mussten die Netze geflochten werden und all so etwas. Aber er, der Fischersohn, war nicht mehr da, um seinem Vater unter die Arme zu greifen. Focko winkte ab, es war müßig, sich Vorwürfe zu machen. Er war noch jung und hatte ein Recht darauf, sein Leben frei und selbst zu gestalten. Obwohl er den kleinen Hafen in Fedderwardersiel und die anderen Fischer oft vermisste.

Doch die Vorstellung, mit ansehen zu müssen, wie Frida ihr Leben an der Seite dieses Filous Horst Hinrichs lebte, war unerträglich.

Focko stand auf, zog sich einen dicken Troyer über und ging an Deck. Vielleicht würde ihn die Weite des Meeres beruhigen und ihm einen Teil seines Seelenfriedens zurückgeben.

Über der ruhigen See lag Nebel, das Schiff stampfte noch immer in seinem Rhythmus durchs Wasser. Focko bohrte seine Augen in die feuchte Dunkelheit und genoss es, zuzusehen, wie sich die vorüberziehenden Nebelschwaden verdichteten, um sich anschließend wieder aufzulösen.

Als sie sich in einer besonders dichten Nebelbank befanden, ertönte das Typhon, das seinen Ton gespenstisch übers Meer schallen ließ. Von irgendwoher kam eine Antwort. Sie waren also keineswegs allein auf See, und doch erschien die Einsamkeit übermächtig.

Focko sog die kalte Luft tief ein, auch wenn sie in seiner Lunge brannte. Er war frei und hatte keineswegs vor, sich für immer mit schrecklichen Bildern zu quälen. Frida und er – das würde niemals etwas werden. Ein buntes Tuschebild, dessen Farben nach und nach verliefen und zu etwas Neuem wurden, was er aber noch nicht erkannte.

Seine Entscheidung war goldrichtig gewesen, das wurde ihm in diesem Augenblick bewusst. Er wollte für sich sein Glück suchen. Was blieb ihm auch sonst anderes übrig?

Für Focko war sein momentanes Leben zwar nicht die Erfüllung, aber durchaus in Ordnung. Er hatte andere Ziele gehabt, aber wenn sie unerreichbar waren, musste er es akzeptieren und neue Pfade einschlagen. Er würde deshalb so lange unterwegs sein, bis er sich ein Dasein an Land und mit einer anderen Frau als Frida vorstellen konnte. Sollte es ihm nie gelingen, dann war es eben so. Er mochte keine Zukunftspläne mehr schmieden, dann konnte er auch nicht enttäuscht werden.

Wieder durchquerte das Schiff eine dichte Nebelbank, und das Typhon schallte gespenstisch über das Meer.

Zuerst waren sie nach Amerika gefahren, und Focko hatte in New York die Freiheitsstatue gesehen. Er kannte die Häfen von Lissabon und Marseille, von Genua und Den Haag. Die anderen Jungs waren umhergezogen, hatten nichts anbrennen lassen, aber das war keine Option für ihn. Er wollte im Augenblick keine andere Frau, auch nicht für eine kurze Zeit, nur um sein Elend vergessen zu machen.

Es war ein raues Leben, das Focko sich ausgesucht hatte, aber es forderte ihn so sehr, dass er nicht allzu oft dazu kam, an Frida zu denken und an diese eine Nacht, die die schönste in seinem Leben gewesen war. Voller Hoffnung, dass doch noch alles gut werden würde. Voller Sehnsucht nach einer Zukunft für sie beide.

Focko ärgerte sich, dass seine Gedanken schon wieder bei seiner großen Liebe verweilten, aber er konnte sich einfach nicht dagegen wehren.

„Na, Focko, wieder am Herumdrömeln?“, unterbrach ihn eine vertraute Stimme.

Hein stellte sich neben ihn und legte ihm die Hand auf die linke Schulter. Er war ein guter Kumpel. Hein hatte im Krieg bei dem großen Bombenangriff im August 1944, als das Bremer Stephaniviertel in Schutt und Asche gelegt worden war, seine gesamte Familie verloren, und er war, genauso wie Focko, auf der Flucht. Auch Hein zog es vor, das Leben in den Häfen nicht zu sehr ausschweifen zu lassen, weil er noch immer seiner Frau gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte, selbst wenn sie nicht mehr lebte.

„Jo, da schippern wir nun durchs Mittelmeer, dann wieder über den Atlantik, jetzt über die alte Nordsee, und unsere einzige Freundin ist die See“, antwortete Focko.

„Nun, besser als gar nichts“, meinte Hein. Er kaute einen Priem, den er jetzt in hohem Bogen ins Wasser spuckte. „Komm rein, wir wollen kickern. Dazu brauchen wir dich.“ Er stieß ihn an. „Und weißt du, was ich gehört habe? Noch in diesem Jahr soll die Handelsmarine unter bundesdeutscher Flagge fahren dürfen. Ein historischer Augenblick, und wir sind dabei! Das kann ja auch nicht jeder von sich sagen.“

Focko zuckte unbeteiligt mit den Schultern. Es war ihm gleichgültig, unter welcher Flagge er vor Frida auf die Weltmeere floh. Hauptsache, er war fort, so weit es irgendwie ging. Er stemmte sich von der Reling hoch und folgte seinem Freund. Sein Leben war, wie es war: kickern, das Meer, Deck schrubben. Waren einladen, ausladen. Wache schieben. Er hatte es sich selbst ausgesucht.

*

„Ich möchte, dass du mich umgehend zu unserer Tochter Erna bringst!“ Stine von Geest war an diesem Nachmittag wieder mächtig in Fahrt und ruckelte mit ihrem Rollstuhl unruhig hin und her. Ihr Mann, Heinz von Geest, saß im Wohnzimmer der Vareler Villa, brütete über der Zeitung und bemühte sich, das Gekeife zu ignorieren, weil er seine freie Zeit genießen wollte. Er hatte die Kanzlei heute extra schon mittags verlassen. Das Feuer im Kamin knisterte wohlig, und die Flammen leckten gierig am frisch nachgelegten Holz.

Durch die paar Cognacs, die Stine nach dem Mittagessen regelmäßig zu sich nahm, wurde sie oft aggressiv und spulte meist dieselbe Litanei ab. Heinz kannte den gesamten Wortlaut schon auswendig. Mal leierte sie ihn langsamer, dann wieder schneller herunter. Er rollte schon jetzt innerlich mit den Augen, denn er konnte es einfach nicht mehr hören.

Besser, er reagierte gar nicht auf sie oder schenkte ihr einfach noch etwas nach, denn dann wurde seine Frau müde und zog ihren Drohungen ein Nickerchen vor.

Heinz wollte eben aufstehen und den Cognacschwenker holen, als sie mit der geballten Faust auf den Tisch hieb. „Ich sage es nur ungern ein weiteres Mal, aber ich möchte, dass du mich umgehend zu unserer Tochter bringst!“, wiederholte sie. Ihm waberte bei diesen Worten eine mächtige Fahne entgegen.

„Du weißt, dass das nicht geht“, antwortete er mit stoischer Ruhe. „Erna und wir gehen nun mal getrennte Wege.“ Er runzelte die Stirn und versuchte, gleichmütig zu bleiben. Seit seine Frau im letzten Herbst herausgefunden hatte, dass er für den Tod von Ernas Ex-Freund und dem Vater von Sanne verantwortlich war, glaubte sie ihn in der Hand zu haben, und drohte ständig, ihn zu verraten. Die Polizei hatte nämlich die Tatwaffe gefunden, und Stine wusste, dass es seine war. Doch Heinz war sich sicher, dass ihr keiner glauben würde, da ihr die Beweise für diese Behauptung fehlten. Niemand sonst wusste, dass er je eine Waffe besessen hatte, und er verfügte in den wichtigen Kreisen über einen ausgezeichneten Leumund, während Stine seit ihrem Selbstmordversuch, als sie mit dem nagelneuen VW Käfer gegen einen Baum gerast war, als überspannt galt. Von daher nahm er ihre Forderungen sehr gelassen.

„Ich will mein Kind zurück!“, beharrte sie weiter. „Ich habe sonst keins mehr. Kein einziges. Aber ich will Erna wiederhaben!“

Heinz hätte am liebsten auch mit der Faust auf den Tisch geschlagen, damit Ruhe herrschte, aber das würde die Sache nur noch verschlimmern. Am besten half Ablenkung.

„Stine, machst du uns bitte einen Kaffee? Ich möchte dazu eine Zigarre rauchen“, sagte er und blätterte ungerührt weiter.

„Ich werde gar nichts tun, dich aber bei Kommissar Andres verraten, wenn du nicht endlich tust, was ich dir sage!“, fauchte sie. „Und bestimmt kommt auch eines Tages diese Frau Klaafs zurück und will Rache üben!“

Heinz winkte ab. Valerie Klaafs war die Verlobte dieses kommunistischen Windhundes Stefan Müller, der seine Tochter Erna geschwängert und auch ihr die Ehe versprochen hatte. Valerie war Heinz in Bezug auf den Mord auf die Schliche gekommen und hatte ihn bei der Polizei angezeigt, aber selbstverständlich war sie gescheitert. Er war einfach pfiffiger als seine Gegner, und deshalb glaubte er nicht, dass er sie je wiedersehen würde. Und wenn doch … nun, er würde sich zu wehren wissen.

Heinz senkte genervt die Zeitung und schaute seine Frau an.

Wie armselig sie war, wenn sie ihn mit ihren wässrigen und roten Augen anblitzte! Andere Männer hätten sie längst in einem Sanatorium untergebracht, denn einfach war es schließlich nicht mit einer behinderten Frau. Sie war auf seine Gutmütigkeit angewiesen.

Aber es machte sich nach außen hin gut, wenn er so tat, als würde er sich äußerst liebevoll um sie kümmern, obwohl sie ihm nur noch ein Klotz am Bein war.

„Liebes, nun hör mir mal genau zu“, begann er in väterlichem Ton. „Ich wiederhole es nur ungern, aber du verstehst es ja sonst nicht. Also noch einmal ganz langsam: Wir haben abgemacht, dass Erna für uns nicht mehr existent ist. Die Gründe sind dir bekannt. Wir haben seit Tonis Tod nur noch einen Sohn.“

Stine öffnete den Mund, wollte offenbar widersprechen, aber Heinz hob die Hand. „Herold wird sicher bald aus dem Lager in Russland entlassen, dafür wird die Regierung unter Adenauer schon sorgen, und dann kann er unser Leben wieder bereichern. Und bis dahin“, er machte eine Pause, „bis dahin leben wir hier hübsch brav zusammen in unserer Villa. Du hast es doch gut! Sieh, wenn du mich wirklich verrätst, würde dir doch keiner glauben. Ich bin ein unbescholtener Mann …“

„Du warst ein Nazi durch und durch, bist ein Mörder, und das werde ich allen erzählen, die es wissen müssen“, schoss es aus Stine heraus, aber Heinz war diese Ausbrüche gewohnt und lächelte gönnerhaft.

„Liebes, das ist lange her, und es interessiert keinen, was ich unter Adolf gemacht habe, zumal ich doch diesen, wie sagt man heutzutage so schön, Persilschein habe. Und wem willst du es denn erzählen? Nicht einmal Frau Andres kommt noch zu dir.“

Dass er die einzige Freundin seiner Frau, die zudem die Gattin des Kommissars war, mit der Behauptung vertrieben hatte, Stine wolle ab sofort keinen Kontakt mehr, musste er seiner Frau auf keinen Fall auf die Nase binden. Aber es war besser so, damit sie wirklich nichts ausplauderte, denn Stine war manchmal unberechenbar.

„Die Alliierten richten die Naziverbrecher immer noch hin“, widersprach sie nun, aber ihre Stimme wurde schon unsicherer. So wie immer, wenn ihr die Argumente ausgingen.

Heinz fiel seine Frau unglaublich auf die Nerven, aber es galt, Ruhe zu bewahren. Also fuhr er in seinem überheblichen Ton fort: „Wenn man mich einsperrt, wirst du alles verlieren, das muss dir klar sein. Du glaubst doch nicht, dass Erna sich um dich kümmert, nachdem du sie mit Sanne hast fallen lassen? Da sitzen wir im selben Boot.“ Er räusperte sich, denn er bemerkte an Stines Mimik, dass sie immer mehr zurückruderte. Es gefiel ihm, Macht über sie zu haben.

Folglich konnte er noch eins draufsetzen: „Ich werde jetzt mal ganz deutlich werden: Wenn du mich ins Gefängnis bringst, gehst du mit unter. Weil du eine Mitwisserin bist. Und selbst wenn sie dich nicht anklagen, dann müsstest du trotzdem aus der Villa raus, denn wovon soll das alles hier finanziert werden, wenn nicht von mir und meinen Einkünften als Anwalt?“ Er lächelte sie hämisch an, und Stine begriff offenbar, dass sie mal wieder verloren hatte. Das immer gleiche Spiel mit den immer gleichen Worten. Sie lernte eben nicht dazu und war ihm rhetorisch unterlegen.

„Dein neues Zuhause wäre ein Sanatorium, wo du einsam und allein dein Dasein fristen wirst“, fuhr er genüsslich fort. „Ich denke, wir beenden unser Gespräch jetzt.“ Er hob die Zeitung wieder an.

Stine bewegte sich nicht von der Stelle, aber er wusste genau, dass seine Worte sie getroffen hatten. Er hatte sie mal wieder beeindruckt und vor allem eingeschüchtert. So sollte es sein. Er war der Herr im Haus.

Stine würde ihre Drohung ohnehin nie wahr machen, dafür fürchtete sie ihn zu sehr. Aber ihr den damit verbundenen Verlust aufzuzeigen war ihm wie immer eine besondere Freude gewesen.

„Machst du uns bitte jetzt einen starken Kaffee?“, fragte er. „Deine Hände sind schließlich nicht gelähmt. Und ich schenk dir schon mal einen neuen Cognac ein.“

Zufrieden bemerkte Heinz, dass der Rollstuhl in die Küche rollte.

Regine Kölpin

Über Regine Kölpin

Biografie

Regine Kölpin, geb. 1964 in Oberhausen (Nordrhein-Westfalen). Die Autorin lebt seit ihrer Kindheit in Friesland an der Nordsee. Regine Kölpin schreibt für namhafte Verlage (mit Gitta Edelmann auch unter dem Pseudonym Felicitas Kind) Romane, Geschenkbücher und Kurztexte. Ihre Bücher waren mehrere...

Pressestimmen
Nordwest-Zeitung

„Atmosphärisch und mit viel Empathie“

katikatharinenhof

„Regine Kölpin gelingt es erneut, ihre Leser:innen mit jeder Seite an das Buch zu fesseln und gibt ihnen die Möglichkeit, das Jahrzehnt von Aufschwung und Veränderung hautnah mitzuerleben. Die ein oder andere emotionale Achterbahnfahrt,Träume, Nordseefeeling und ein Hauch von Nostalgie inbegriffen.“

sommerlese.blogspot

„Mitreißender Roman mit der lebensnahen Atmosphäre der 50er Jahre.“

Wilhelmshavener Zeitung

„Ein echter Frauenroman, ein Schmöker. Regine Kölpin zieht geschickt einen Spannungsboden, der die Leserinnen mit ihren Protagonistinnen mitfühlen und -fiebern lässt“

nadine_dietz

„Ich habe mich sehr auf die Fortsetzung über das turbulente Leben der Freundinnen Frida und Erna gefreut. Ich befand mich sofort wieder in der Geschichte, die 1951 zur Wirtschaftswunderzeit erzählt. Die historischen Ereignisse wurden wieder sehr detailliert und infornativ erzählt. Die jungen Frauen waren mir noch vertraut und ich konnte mich gut in sie hineinversetzen. Dazu trägt auch der bildhafte, lockere und emotionale Schreibstil bei.“

Kreiszeitung Wesermarsch

„Regine Kölpin weiß, wie sie ihr Publikum fesseln kann.“

Jeversches Wochenblatt

„Auch der zweite Band der Saga ist ein echter Frauenroman, ein Schmöker. Regine Kölpin zieht geschickt einen Spannungsbogen, der die Leserinnen mit ihren Protagonistinnen mitfühlen und -fiebern lässt.“

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