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Das Haus der Perlen – Glanz des Glücks (Perlen-Saga 2) Das Haus der Perlen – Glanz des Glücks (Perlen-Saga 2) - eBook-Ausgabe

Charlotte Jacobi
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Roman

— Historischer Roman nach der wahren Geschichte des königlich-bayerischen Hofjuweliers
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Das Haus der Perlen – Glanz des Glücks (Perlen-Saga 2) — Inhalt

Eine schicksalsvolle Familiensaga im München des 19. und 20. Jahrhunderts von SPIEGEL-Bestsellerautorin Charlotte Jacobi

Eine glanzvolle Ära bricht an

München, 1888: Seit vier Jahrzehnten führt die Familie Thomass das renommierte Juweliergeschäft am Marienplatz, auch die 19-jährige Henya berät seit Kurzem die Kundschaft. Das „Haus der Perlen“ ist die erste Adresse für hochwertiges Geschmeide, sogar Erzherzogin Marie Therese kauft dort ein. Als Henya auf Hinweise zu einem alten Familiengeheimnis stößt, muss sie feststellen, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Auch der angehende Goldschmied Jakob, der Henya nicht mehr aus dem Kopf geht, ist an der Lösung des Rätsels interessiert. Die Spur führt ihn bis an die ferne Perlenküste Australiens. Gelingt es den beiden, das Geheimnis zu lüften und die Zukunft des Unternehmens zu sichern?

Perlen für den bayerischen Königshof 

Erzählt nach der Geschichte des Juweliers vom Münchner Marienplatz: Das Geschäft mit der Aufschrift „Carl Thomass – Hofjuwelier und Goldschmiede“ im Herzen der Stadt lockt nach wie vor Münchner Bürger:innen und Tourist:innen aus aller Welt an. Sogar Gäste aus Australien, Amerika, Asien oder dem arabischen Raum wollen edelste Tradition mit nach Hause nehmen (weitere Informationen finden Sie unter www.juwelier-carlthomass.de). Wie das Juweliergeschäft zum Lieferanten für den Königshof wurde und dass es in Deutschland Perlenfischer gab, erzählt Spiegel-Bestsellerautorin Charlotte Jacobi in ihrer Perlen-Saga.

Nach den Erfolgen „Die Villa am Elbstrand“, „Die Douglas-Schwestern“ und „Die Patisserie am Münsterplatz“ erzählt die SPIEGEL-Bestsellerautorin Charlotte Jacobi nun die bewegte Geschichte eines Münchner Juweliergeschäfts in drei Generationen und öffnet ein Panorama über zwei Jahrhunderte deutscher Geschichte.


Die Bände der Reihe: 

Band 1: Das Haus der Perlen – Schimmern der Hoffnung

Band 2: Das Haus der Perlen – Glanz des Glücks

Band 3: Das Haus der Perlen – Strahlen der Liebe

€ 14,00 [D], € 14,40 [A]
Erschienen am 01.06.2023
432 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-31812-9
Download Cover
€ 11,99 [D], € 11,99 [A]
Erschienen am 01.06.2023
432 Seiten
EAN 978-3-492-60412-3
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Leseprobe zu „Das Haus der Perlen – Glanz des Glücks (Perlen-Saga 2)“

Teil 1

Juli 1888 bis März 1889

Kapitel 1

Der anmutige Schimmer der kostbaren Perlen und der Glanz des Goldes in den ersten Strahlen der Morgensonne zogen die junge Frau wie magisch an. Die siebzehnjährige Henriette Julia Schmerler, die von allen nur „Henya“ genannt wurde, war am letzten Montag im Juli des Jahres 1888 in aller Herrgottsfrühe aufgestanden, um beim Bäcker Brötchen für sich und ihren Vater zu kaufen. Frankfurt am Main war gerade erst dabei, zu erwachen, die Straßen stellenweise menschenleer, und der bekannte Juwelier Robert Koch hatte noch [...]

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Teil 1

Juli 1888 bis März 1889

Kapitel 1

Der anmutige Schimmer der kostbaren Perlen und der Glanz des Goldes in den ersten Strahlen der Morgensonne zogen die junge Frau wie magisch an. Die siebzehnjährige Henriette Julia Schmerler, die von allen nur „Henya“ genannt wurde, war am letzten Montag im Juli des Jahres 1888 in aller Herrgottsfrühe aufgestanden, um beim Bäcker Brötchen für sich und ihren Vater zu kaufen. Frankfurt am Main war gerade erst dabei, zu erwachen, die Straßen stellenweise menschenleer, und der bekannte Juwelier Robert Koch hatte noch geschlossen. Henya stand vor seinem Schaufenster und blickte wie schon so oft verträumt auf den bezaubernden Perlenschmuck dahinter. Dabei riss sie ein Stückchen aus einem der noch warmen Brötchen und schob es sich in den Mund. In der Spiegelung sah sie ihr eigenes, recht fraulich gewordenes Gesicht, das von goldenen Locken umrahmt wurde. Wie sie wohl mit solch schönem Perlengeschmeide am Hals aussehen würde?

Vom Besitzer des Uhrmacher- und Juweliergeschäfts hieß es, er sei der „Cartier Deutschlands, der Königs- und Fürstenhäusern Diademe anmisst“. Bereits dreimal hatte sich Henya wegen ihrer Leidenschaft für Perlen bei Herrn Koch als Verkäuferin beworben, doch bisher war leider nie eine Stelle für sie frei gewesen.

Stattdessen erledigte sie seit dem Ende ihrer Schulzeit Büroarbeiten für ihren Vater Valentin, der Rechtsanwalt war. Diese Tätigkeit war natürlich sehr weit entfernt von ihrem Traum, mit Perlen zu arbeiten.

Deren zauberhafter Glanz und innerer Schein wirkten auf Henya stets elegant und geheimnisvoll zugleich. Ihre Faszination dafür war familiär bedingt: Ihr Großvater, Opa Cornelius, stammte aus einer Familie von Flussperlenfischern im Auftrag des sächsischen Landesfürsten. Damals zu ihrer Einschulung hatte er ihr einen wunderschönen Armreif aus den schimmernden Kugeln geschenkt, den sie immer noch wie ihren Augapfel hütete.

„Ich selbst war nie gut im Perlenfischen“, hatte der Großvater ihr damals erzählt – deshalb war er wohl Rechtsanwalt geworden. „Dafür aber mein jüngerer Bruder. Dein Großonkel Moritz ist inzwischen in Australien durch Perlmutt reich geworden.“

„Kommt er uns mal besuchen?“, hatte Henya damals gefragt.

Mit etwas traurigem Gesichtsausdruck hatte Cornelius den Kopf geschüttelt. „Weißt du, Australien ist weit fort, auf der anderen Seite der Erdkugel.“

Dann war er Henyas entrücktem Blick auf die Perlen des Armbands gefolgt, und sie erinnerte sich noch heute, über ein Jahrzehnt später, an Cornelius Schmerlers Worte: „Perlen sind ein faszinierendes Geschenk der Natur, man hat sie quer durch die Jahrhunderte geschätzt, als Schmuckstücke und Zeichen von hohem Ansehen. Das war schon vor viertausend Jahren in China so, bei den alten Ägyptern in den Tagen von Kleopatra, im antiken Griechenland und auch im Römischen Reich. Angeblich haben britische Perlen Julius Cäsar zum Englandfeldzug bewogen. Im Mittelalter waren die kostbaren Kügelchen ein Symbol der Liebe zu Gott, sie werden ja auch im Neuen Testament erwähnt: ›Und die zwölf Tore waren zwölf Perlen, je eines der Tore war aus einer Perle, und die Straße der Stadt reines Gold wie durchsichtiges Glas.‹ So heißt es in der Offenbarung des Johannes. Christliche Herrscher haben Perlen deshalb als Zeichen für ihre Macht eingesetzt.“

„Ich habe gehört, dass auch Napoleon die Perlen geliebt hat“, war Henya eingefallen, und der Großvater hatte anerkennend genickt.

„Das ist richtig. Nach der Geburt seines Sohnes schenkte der Feindeskaiser seiner zweiten Frau Marie-Louise von Österreich eine exklusive Perle. Sie hieß La Regente. Vor Kurzem wurde der französische Kronschatz veräußert, da hat sie der berühmte Juwelier Fabergé ersteigert. Inzwischen soll sie ihm die Perlensammlerin Fürstin Jussupowa abgekauft haben. Sicher für eine Menge Geld! La Regente ist nämlich eine der größten Perlen der Welt. In Napoleons Besitz befand sich auch ein weiteres, sehr berühmtes Exemplar: La Peregrina, die hat man vor zweihundert Jahren in Panama gefunden. Zuerst gehörte sie der spanischen Krone, dann schenkte Prinz Philipp II. sie Maria Tudor, der damaligen Königin von England. Von Napoleon ging sie wohl an Queen Victoria.“

„Ich werde meine Perlen nie hergeben, Opa Cornelius“, hatte Henya versprochen, und bisher war sie dem Gelöbnis treu geblieben.

„Na, Henya, planst du einen Überfall?“, riss eine Männerstimme sie aus ihren Erinnerungen, und sie fuhr erschrocken herum.

„Carli“, rief sie erfreut, als sie den sehr hochgewachsenen, braunhaarigen Endzwanziger in eleganter Kleidung mit Zylinder auf dem Kopf erkannt hatte.

Sie gönnte sich eine herzliche Umarmung, es gab ja keine Zeugen, und außerdem war Carl Thomass junior für sie wie ein großer Bruder.

„Du bist ja noch mehr in die Höhe geschossen“, meinte sie – dabei war davon auszugehen, dass er bei ihrem letzten Treffen vor gut vier Jahren bereits ausgewachsen gewesen sein musste. Damals war Henya aus Anlass des sechzigsten Geburtstages von Carlis Vater bei der Familie in München zu Besuch gewesen. Kommerzienrat Georg Carl Thomass, ein alter Freund ihres Großvaters, war in der Bayernmetropole nicht nur ein stadtbekannter Juwelier, sondern auch ein politischer Kopf: Er saß als Abgeordneter der linksliberalen Fortschrittspartei im Landtag und wirkte im Münchener Magistrat mit. Zudem gehörte er zu den Mitbegründern der dortigen Trambahngesellschaft und der Dampfschifffahrtsgesellschaft Würmsee in Starnberg.

In Carl Thomass’ Haus am Marienplatz hatte Henya als Kind so manche Ferien verbringen dürfen. Dabei war ihr von den vier Juweliersöhnen der älteste – und schüchternste –, der nun hier vor ihr stand, am meisten ans Herz gewachsen. Carl Otto August Thomass war von jeher Carli genannt worden, um seinen Vornamen von dem des Vaters unterscheiden zu können.

„Und du wirst immer schöner“, sagte er etwas verlegen.

Mit Schmeicheleien konnte Henya nicht gut umgehen, daher fragte sie ablenkend: „Was führt dich nach Frankfurt?“

„Du“, entgegnete Carli zu ihrem Erstaunen. „Ich war schon bei euch, euer Hausdiener sagte, du bist beim Bäcker, da dachte ich, ich geh dir ein wenig entgegen. Irgendwie muss das erst noch einsickern, dass du jetzt alt genug bist, allein durch die Stadt zu gehen.“

„Das ist lieb“, fand Henya, und sie machten sich auf den Weg zum Haus ihres Vaters.

„Hast du wieder ein bisschen von Perlen geträumt?“, erriet Carli und deutete über die Schulter zurück auf Kochs Juweliergeschäft.

„Ertappt“, gab Henya zu. „Wie waren denn deine drei Wanderjahre?“

„Aufregend. Ich habe so viel gesehen und erlebt, das müssen wir alles mal in Ruhe besprechen“, schlug er vor. „Aber ich bin endlich Meister.“

„Und jetzt möchtest du in Wien eine eigene Goldschmiede eröffnen?“, vergewisserte sich Henya. „Das hattest du doch vor.“

Ihr Freund seit Kindertagen schüttelte den Kopf. „Das geht nicht. Vater möchte spätestens nächstes Jahr in den Ruhestand gehen. Meine Brüder haben mich angefleht, in München zu bleiben und seine Nachfolge als Juwelier anzutreten. Die wollen das nämlich auf gar keinen Fall tun. Keiner von den dreien!“

Darüber war Henya ein wenig erstaunt. „Es muss doch traumhaft sein, ein solch wunderbares Geschäft übernehmen zu dürfen!“

Der frischgebackene Goldschmiedemeister schüttelte den Kopf. „Eugen und Ludwig haben mit der Juwelierskunst herzlich wenig am Hut. Die sind inzwischen Braumeister, haben ihr Handwerk in Pilsen gelernt. Mein dritter Bruder Fritz hat zwar auch die Ausbildung zum Goldarbeiter durchlaufen, aber er ist viel zu unstet – also bleibe nur noch ich als Geschäftsnachfolger. Deshalb habe ich eine Bitte an dich.“

Henya sah erstaunt zu ihm auf. „An mich?“

„Ich weiß, dass du davon träumst, mit Schmuck zu arbeiten. Vaters bisherige Verkäuferin Elise Kolb will sich ebenfalls aufs Altenteil zurückziehen. Mit Mitte sechzig hat sie das ja wirklich verdient. Wir finden beide, dass du eine geeignete Nachfolgerin wärst.“

Henya sah ihn verblüfft an.

„Natürlich würdest du ein eigenes Zimmer mit Ankleidekammer bei uns im zweiten Stock bekommen“, fügte er rasch hinzu.

„Wie wunderbar!“, stieß Henya hervor.

Was für ein Angebot! Sie konnte ihr Glück kaum fassen, auch wenn die Fußstapfen des Verkaufsgenies Elise Kolb sehr groß waren. Und dann gab es da ja leider ein noch viel schwerwiegenderes Problem.

„Es wird bestimmt nicht einfach werden, meinen Vater zu überzeugen, mich gehen zu lassen.“

***

„Ausgerechnet in diesen unruhigen Zeiten!“

Der dreiundvierzigjährige Rechtsanwalt Valentin Schmerler furchte die Stirn, als seine Tochter Henya ihm am Frühstückstisch im Beisein von Carli Thomass ihren Wunsch mitteilte. Sie wusste, dass der politisch interessierte Rechtsanwalt sich derzeit ohnehin oft Sorgen machte, denn für das Deutsche Reich war es bisher ein turbulentes Jahr gewesen. Am 9. März hatte Kaiser Wilhelm I. im Alter von fast einundneunzig Jahren in Berlin sein Leben ausgehaucht. Dessen ältester Sohn, Kronprinz Friedrich Wilhelm, war sein Nachfolger geworden – selbst jedoch schwer an Kehlkopfkrebs erkrankt und unfähig zu sprechen. Nach nur neunundneunzig Tagen hatte der Tod am 15. Juni auch den erst Sechsundfünfzigjährigen ereilt. Dessen Sohn Wilhelm II. war daraufhin mit neununddreißig der dritte Kaiser des Jahres 1888 geworden. Das Gefühl der Unsicherheit hatte das Reich aber noch nicht verlassen. Allenthalben schwelten Unruhen. Kein Wunder also, dass Valentin Schmerler seine Tochter am liebsten in seiner Nähe wusste.

„Mein Vater, meine vier Brüder und ich werden alle auf Henriette achtgeben“, versuchte Carli, den Anwalt zu beruhigen.

Der legte sein Marmeladenbrötchen ab und sah seiner Tochter seufzend in die Augen. „Ich wusste ja im Grunde, dass der Tag irgendwann kommen würde. Aber ich hatte insgeheim gehofft, du heiratest einen schmucken Frankfurter und bleibst in der Nähe. Dich jetzt nur noch ganz selten zu sehen, das wird ungewohnt sein. Und für mein Büro muss ich natürlich auch eine Nachfolgerin finden.“

Valentin Schmerlers Gattin war bereits 1872, im Alter von nur zweiunddreißig Jahren, an der Cholera gestorben. Damals war Henya erst ein Jahr alt gewesen, daher besaß sie keine eigenen Erinnerungen an ihre Mutter. Eine neue Frau hatte der Vater bisher nicht gefunden, er würde seine Tochter also gewiss sehr vermissen, denn bis auf den Hausdiener und die Köchin wäre er nach Henyas Fortgang allein im Haus. Das bereitete ihr zwar ein schlechtes Gewissen, aber vielleicht würde diese Einsamkeit Valentin Schmerler ja auch dazu bewegen, mit mehr Eifer nach einer neuen Lebensgefährtin zu suchen.

„Du hast schon recht, dir deinen Traum zu erfüllen“, räumte er nun zu Henyas Erleichterung ein. „Mein Adoptivvater hat früher auch hart dafür kämpfen müssen, Jura studieren zu dürfen. Die Familientradition hätte es eigentlich verlangt, dass er als Erstgeborener Perlenfischer wird.“

„Dann darf ich gehen?“, fragte Henya vorsichtig, so als könnte ihr Vater es sich anders überlegen, wenn sie ihre Stimme zu sehr erhob.

„Du darfst“, entgegnete er mit einem milden Lächeln.

Und als sie ihm vor Freude um den Hals gefallen war, wischte sich Valentin Schmerler verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel.

Henya sah strahlend zu Carli, der ebenfalls sehr erleichtert dreinblickte. Nun würden sie bald gemeinsam in München für die Weiterführung des bekannten Juweliergeschäfts verantwortlich sein. Was für eine wunderbare Herausforderung!

***

Schon am übernächsten Tag näherte sich der Zug mit Carli Thomass und Henya Schmerler an Bord München. Nach dem Abschied am Bahnsteig waren die Augen der jungen Frau zunächst ganz verweint gewesen. Es war ihr sehr schwergefallen, ihren Vater, den Hausdiener und die einstige Amme, die inzwischen Köchin im Hause Schmerler war, hinter sich zu lassen. Doch sie freute sich trotz der Wehmut auf ihr verändertes Leben in der Bayernmetropole.

„Schade, dass der neue Frankfurter Bahnhof erst im August fertig wird“, meinte Carli bedauernd. „Der Baustelle nach zu urteilen, muss er ja geradezu gigantisch werden.“

Das hatte Henya auch gehört. Durch das stark erhöhte Aufkommen an Reisenden in den letzten Jahren war die Kapazität der drei Westbahnhöfe Frankfurts, von denen aus sie heute noch abgereist waren, zunehmend unzureichend geworden. Wann immer Henya mit ihrem Vater verreist war, hatte ein furchtbares Gedränge geherrscht. Die benötigte neue Zentralstation auf dem ehemaligen Galgenfeld war in fünfjähriger Bauzeit als Kopfbahnhof verwirklicht worden und sollte am 18. August eröffnet werden.

„Das stimmt, er wird wohl der größte Europas sein“, sagte Henya, „aber schon jetzt ist klar, dass selbst seine Größe nicht ausreichen wird.“

„Woher weißt du das?“, wunderte sich Carli.

„Der Berliner Architekt Schwedler ist ein Mandant meines Vaters“, erklärte sie. „Den Architekturwettbewerb vor sieben Jahren hat Herr Schwedler zwar nicht gewonnen, sein Entwurf wurde aber immerhin Zweiter von über fünfzig.“

„Und wer war der Sieger?“

„Ach, so ein Universitätsbaumeister aus Straßburg im Elsass. Den hat man dann auch mit der Planung und Baudurchführung des Empfangsgebäudes beauftragt. Aber Herr Schwedler durfte als Stahlbaufachmann die drei Bahnhofshallen konstruieren. Die Einweihung wird sicher sehr feierlich. Da wäre ich wirklich gern dabei gewesen.“

„Na, feierlich wird es in München auch bei unserer Ankunft“, tröstete sie Carli. „Seit vorgestern findet dort eine Feier zum hundertsten Geburtstag von König Ludwig I. statt. Eigentlich hätten die Münchner das Fest schon vor zwei Jahren veranstalten wollen, Ludwig I. wurde ja 1786 geboren. Aber 1886 war ans Feiern natürlich nicht zu denken.“

„Weil damals König Ludwig II. im Starnberger See umgekommen ist?“, mutmaßte Henya.

Carli nickte. „Genau, deshalb wurde die Feier verschoben. Dafür wird es jetzt umso aufwendiger werden. Den Höhepunkt soll heute ein Festzug bilden.“

Henya spürte ein Kribbeln im Bauch. München würde sich bei ihrer Ankunft also von seiner aufregendsten Seite zeigen.

***

Carli hatte nicht zu viel versprochen. Es wimmelte nur so von Passanten in Festtagslaune, als er und Henya zu Fuß vom Münchner Bahnhof auf den knapp anderthalb Kilometer langen Weg zum Wohnsitz seiner Familie am Marienplatz waren.

Eine viertel Million Menschen lebten mittlerweile in der „Schönen an der Isar“, hatte Henya gelesen. Und Tausende hatten sich heute zu dem drei Kilometer langen Festzug mit Ziel Odeonsplatz formiert. Es ging zu wie beim Fasching: Schauspieler und Studenten waren in historische Kostüme geschlüpft, Reiter saßen auf Kamelen, Vereine und Gewerbetreibende präsentierten Themenwagen, die Spirituosenhersteller hatten eine riesige dampfende Punschschüssel gefüllt.

Und plötzlich hörte Henya ein animalisches Trompeten, das sie zunächst sehr erschreckte. Sie folgte dem exotischen Klang mit dem Blick und sah zum ersten Mal in ihrem Leben leibhaftige Elefanten! Beim Festumzug präsentierte sich die Gruppe der Kauf- und Handelsleute mit einem Wagen, zu dem acht jener Großtiere gehörten. Den Anfang machte ein Elefantenbulle, auf dessen Rücken eine Kunstreiterin saß.

„Das sind indische, erkennt man an den kleineren Ohren“, erklärte Carli. „Sie sind eine Leihgabe von Carl Hagenbecks Zirkus.“

Schließlich defilierten die Tiere in der Ludwigstraße vor einem mit vielen Orden behangenen Mittsechziger mit Vollbart, der wohlwollend über die Tiere schmunzelte.

„Ist das Prinzregent Luitpold?“, vergewisserte sich Henya.

Carli nickte. „Ja, er herrscht zwar erst seit zwei Jahren, aber man merkt bereits, dass er nicht nur an wirtschaftlichem Aufschwung interessiert ist. Ihm ist auch die Kultur wichtig.“

Henya wusste, dass Prinz Luitpold Bayern regierte, da der eigentliche Thronfolger des vor zwei Jahren verstorbenen König Ludwig II., dessen Bruder Otto, schon seit seiner Jugend geisteskrank und damit regierungsunfähig war.

Vor dem Siegestor kreuzte eine als Drache dekorierte Straßenlokomotive den Tross.

Carli schüttelte grinsend den Kopf. „Das Ding gehört der Münchner Eisenindustrie, soll angeblich ein Symbol dafür sein, dass der Mensch die Naturgewalten im Griff hat.“

„Wie viel Mühe man sich damit gegeben hat“, staunte Henya.

Als „der Drache“ nun Feuer spie, sprich Dampf abließ, scheuten jedoch die Elefanten. Trompetend richteten sich die erschrockenen Riesen auf. Instinktiv griff Henya nach Carlis Arm, und es beunruhigte sie, dass er ebenfalls Angst im Blick hatte. Das Verhalten der Elefanten ließ auch viele andere Zuschauer in Panik geraten, Schreie ertönten. Durch diese Unruhe wurden die Tiere jedoch noch aufgeregter. Sie waren an den Vorderbeinen mit Ketten gebändigt, doch die zerrissen nun, und die Elefanten liefen wild trompetend durch die Ludwigstraße. Im Nu waren zahllose Zuschauer am Boden, über diese stürzten die übrigen Fliehenden. Und dann raste einer der Elefanten direkt auf Carli und Henya zu, die von der panischen Menschenmasse eingekeilt waren. Das konnte doch unmöglich Gottes Plan sein, dachte sie verzweifelt, dass er erst vorgab, ihr den Traum von der Arbeit mit Perlen zu erfüllen, nur um sie dann von einem wild gewordenen Tier aus dem fernen Indien tottrampeln zu lassen!


Kapitel 2

„Mein Gott, diese Perlen erinnern ja an die Farbe von schmackhaftem Kakao.“

Als Alice Joas, geborene Derbishire, diesen Satz auf Englisch hervorstieß, klang sie begeistert. Mit liebevollem Blick sah ihr neunzehnjähriger Sohn Jakob zu, wie seine Mutter fasziniert ein Paar Ohrringe mit zwei matt schimmernden, schokoladenfarbenen Perlen betrachtete, die unter je einer hübschen, mit Gold veredelten Diamantblume angebracht waren. „Das hast du ganz wundervoll gestaltet, Darling.“

„Die Perlen sind aus Tahiti, das Gelbgold hat vierzehn Karat“, antwortete der Goldarbeiterlehrling ebenfalls auf Englisch.

Die inzwischen Achtundvierzigjährige stammte aus Eccles in der englischen Grafschaft Lancashire und hatte ihren einzigen Sohn zweisprachig aufgezogen.

„Da wird sich die Frau deines Meisters aber freuen, dass du ihr so etwas Schönes zum Abschied schenkst“, meinte sie und gab Jakob die von ihm gefertigten Ohrringe zurück.

„Die Materialien hat der Seniorchef mir natürlich zur Verfügung gestellt“, erläuterte er. „Aber ich habe die Erlaubnis, es ihr zu geben, nachdem sein jüngster Sohn eine Fotografie davon angefertigt hat. Ein Dankeschön hat sie ja wirklich verdient, schließlich hat sie ihn vor drei Jahren überredet, mich als Lehrling in der Goldschmiede aufzunehmen.“

„Sonst wäre ich ihr auch böse gewesen“, scherzte Alice Joas, „immerhin ist Ursel meine beste Freundin.“

Da hörten sie einen Schlüssel in der Tür, und Mutter und Sohn zuckten gleichermaßen erschrocken zusammen.

„Ist das Daddy?“, flüsterte Jakob alarmiert.

Eigentlich hätte er eines Tages den Stoffhandel seines Vaters Martin Joas übernehmen sollen. Doch seit seiner Jugend war es sein Traum gewesen, Goldschmied zu werden. Eine Tante hatte ihm noch kurz vor deren plötzlichem Tod alles über Schmuck im Allgemeinen und Perlen im Besonderen erzählt. Dass Jakob vor drei Jahren auch noch ausgerechnet bei der Familie Thomass seine Ausbildung begonnen hatte, war seinem Vater Martin erst recht ein Dorn im Auge gewesen. „Ich hasse die Sippschaft, die haben meinem seligen Bruder das Leben ruiniert“, hatte er gebrüllt. „Wenn du bei denen anfängst, brauchst du dich hier gar nicht mehr blicken zu lassen.“

Wegen dieses Hausverbots suchte Jakob seine Mutter nur noch heimlich in der Mittagspause auf, wenn sie davon ausgehen konnten, dass ihr Mann geschäftlich zu tun hatte. Doch heute schien er unerwartet mitten am Tag nach Hause gekommen zu sein.

„Bist du das, Martin?“, rief Alice aufgeregt.

„Ja, ich habe meinen Lagerschlüssel vergessen“, hörten sie die sich nähernde Stimme des Stoffhändlers.

Seine Mutter hatte Jakob Würstchen gebraten und zum Glück befanden sie sich deshalb noch in der Küche. Diese lag im Parterre, und daher konnte er nun durch das Fenster fliehen. Dabei kam ihm seine Sportlichkeit zugute, im Sommer trainierte er in einem Ruderverein, im Winter frönte er dem Eislauf.

Er landete auf dem Gehsteig der Landwehrstraße und hastete außer Sichtweite – da stand plötzlich ein zitternder Elefant vor ihm!

***

Henya und Carli atmeten erleichtert auf. Im letzten Augenblick war der rasende Dickhäuter von einem der prächtig gekleideten Reiter des königlichen Chevaulegers-Regiments mit blankem Säbel zurückgetrieben worden. Pferdewiehern mischte sich mit aufgeregtem Trompeten – den anderen Elefanten widerfuhr durch weitere Chevaulegers Ähnliches, weshalb die aufgescheuchten Großtiere in zwei Gruppen auseinanderstoben und in die Seitenstraßen rasten.

„Lass uns hier verschwinden“, keuchte Carli. „Wir nehmen einen Umweg zum Marienplatz.“

Henya folgte ihm mit weichen Knien. Bei ihrem Versuch, in ein Seitengässchen zu gelangen, wurden sie mehrmals von Menschen in Todesangst angerempelt, sodass Carli schließlich schützend den linken Arm um Henya legte, mit dem rechten trug er ihren Koffer und seine eigene Reisetasche.

Die Panik musste sich ausgeweitet haben, denn selbst in den kleinen Gassen waren die Schreie noch zu hören. Immer wieder begegneten ihnen aufgeregt fliehende Menschen, einmal galoppierte ein herrenloses Pferd mit Schaum vor dem Mund an ihnen vorbei, weshalb sie sich ängstlich in einen Hauseingang pressen mussten.

Und schließlich sahen sie einen schönen blonden Mann, der einen der Elefanten an einem Seil durch eine leere Gasse führte. Dieser trottete brav neben dem Jüngling her. Zur Belohnung reichte er dem Tier eine Nuss, nach der es mit seinem Rüssel griff, um sie sich ins Maul zu schieben.

„Jakob“, rief Carli nun, der den Tierführer zu kennen schien.

„Willkommen zurück“, antwortete ihm der Blondschopf von der anderen Straßenseite aus. „Könntest du deinem Vater und Frau Kolb ausrichten, dass ich mich etwas verspäte? Das verirrte Kerlchen hier muss zurück in seinen Stall auf der Theresienwiese.“

„Das mache ich“, stimmte Carli zu. „Pass gut auf den Elefanten auf, die Leute sind ziemlich hysterisch gerade.“

„Danke, hast was gut bei mir.“ Der junge Mann verneigte sich leicht und lächelte Henya freundlich zu, bevor er mit dem friedlichen Elefanten an der Leine weiterging.

„War das ein Zirkuswärter?“, fragte sie neugierig, während sie Carli weiter in Richtung Marienplatz folgte, nicht ohne sich noch einmal nach dem blonden Mann umzudrehen. Er tat dasselbe und schmunzelte, als ihre Blicke sich trafen.

Carli lachte auf. „Nein, Jakob Joas ist seit drei Jahren Lehrling bei Vater. Er hat mich in der Goldschmiede vertreten, solange ich auf der Walz war.“

„Und wie kommt es dann, dass er einen Elefanten bändigen kann?“

„Er ist der tierliebste Mensch der Welt. Besonders die exotischen haben es ihm angetan, seit seiner Jugend liebt er deshalb Zoos und den Zirkus, ist oft dorthin ausgebüxt“, erzählte Carli. „Er ist einfach ein Abenteurer und viel mutiger als ich. Wenn er Anfang nächstes Jahr dran ist, seine Wanderjahre anzutreten, will er ferne Lande besuchen. Seine Mutter kommt aus England, deshalb spricht er die Sprache absolut fehlerfrei, das wird es ihm natürlich einfacher machen.“

In diesem Augenblick hörten sie in der Ferne einen Schuss und sahen sich erschrocken an.

Carli wirkte äußerst besorgt. „War das bei Jakob Joas?“

Henya schüttelte hastig den Kopf. „Das kam aus einer anderen Richtung.“ Sie hoffte inständig, dass nur in die Luft geschossen worden war.

 

Als sie endlich den Marienplatz erreichten, der bis vor fünfunddreißig Jahren Schrannenplatz geheißen hatte, herrschten dort ebenfalls große Aufregung und Furcht. Auch hier liefen herrenlose Pferde umher. Doch der vertraute Anblick des imposanten Wohnsitzes der Juwelierdynastie Thomass beruhigte Henya ein wenig. Das fünfstöckige Haus mit der Nummer eins, so hatte Carlis Vater ihr einmal erzählt, war früher die Alte Hauptwache gewesen. Inzwischen nannten es die Münchner das Thomass-Gebäude oder „Haus der Perlen“. Mit jedem Schritt, den sie darauf zugingen, fiel die Aufregung ein wenig mehr von Henya ab.

Carli wandte sich an einen Gendarm, der an ihrem Haus vorbeiging: „Grüß Gott, Herr Lehner, wissen Sie, was aus den Elefanten geworden ist?“

„Sie haben Menschenwälle in der Brienner Straße und auf dem Odeonsplatz durchbrochen, am Residenzplatz wurden Passanten an die Wand getrieben, die haben in ihrer Verzweiflung mit Regenschirmen auf die Elefanten eingeschlagen – dadurch wurde deren Wildheit natürlich noch vermehrt. Alles ist schreiend geflüchtet – in rasender Eile“, berichtete der Schutzmann. „Selbst meine Kollegen und das Militär konnten dem nicht mehr standhalten. Die Tiere sind über den Max-Joseph-Platz geflohen – bis zum Hofgraben. Drei Elefanten haben das Haupttor der Königlichen Münze durchbrochen und sind in das Gebäude eingedrungen. Einer soll ins Hofbräuhaus gerannt sein, andere sind in ein Häuschen an der Baumstraße eingebrochen, wo sie eine Wohnung verwüstet haben. Über den Alten Hof und den Viktualienmarkt rannten sie dann zum Gärtnerplatz. Erst in der Auenstraße konnten die Tiere am Ende wieder eingefangen werden – durch die Feuerwehr und eine Abteilung der Kavallerie. Mindestens ein Elefant wurde aber erschossen.“

Henya seufzte mitleidsvoll auf. Das war wohl der Schuss gewesen, den sie vorhin gehört hatten. Das arme Tier! „Gab es auch menschliche Todesopfer?“, fragte sie.

Der Polizist schüttelte zu ihrer Erleichterung den Kopf. „Bisher nicht, aber zahlreiche Beinbrüche sind vorgekommen. Ich muss mal weiter, bis bald, die Herrschaften.“

„Das war Polizeioffiziant Hannibal Lehner“, erklärte Carli. „Meine Tante hat ihm hier nebenan eine Wohnung im fünften Stock vermietet.“

Henya wusste von früheren Besuchen, dass die Familie Thomass mittlerweile auch das Haus mit der Nummer zwei gekauft hatte. Einst hatte sich im Erdgeschoss das bekannte Gasthaus Zum Goldenen Lamm befunden, heute verkaufte dort Otto Hierneis, der Mann von Carl Thomass seniors jüngster Schwester, Damen- und Herrenwäsche, Krawatten und Handschuhe. Teilweise bewohnten zwar auch Verwandtschaft und Personal der Familie Thomass die zahlreichen Wohnungen der zwei fünfstöckigen Gebäude hier im Herzen Münchens, doch Carl senior und seine jüngste Schwester Anna hatten etliche Mieter untergebracht, die ihnen monatlich gewiss erkleckliche Summen zahlten.

Da kam aus dem ersten Haus aufgeregt ein etwa fünfunddreißigjähriger Mann in Livree gestürmt, in dem Henya den dunkel gelockten Hausdiener Sebastian Heiland erkannte.

„Herr Thomass, wir haben uns schon Sorgen gemacht“, rief er und nahm Carli augenblicklich dessen Reisetasche und Henyas Koffer ab. „Was war ich erleichtert, als ich Sie durch das Fenster gesehen habe. Und das Fräulein Schmerler ist auch wohlauf. Seien Sie herzlich willkommen!“

„Danke, Herr Heiland“, strahlte Henya.

Sie mochte den Hausdiener, der ihr bei ihren Ferienbesuchen öfter ein Gutsel zugesteckt hatte.

„Ist mein Vater in der Werkstatt?“, erkundigte sich Carli.

„Ich glaube, ja. Darf ich Ihr Gepäck schon hinaufbringen?“, bot Herr Heiland beflissen an.

„Ja, vielen Dank“, erwiderte Carli und wandte sich an Henya. „Sollen wir gleich Vater aufsuchen?“

„Sehr gern.“

Als sie das Geschäft betraten, war Henya einmal mehr überwältigt von dem dortigen Sortiment: Edelsteine von leuchtend Rot über geheimnisvoll Grün bis zu Nachtblau funkelten verlockend, Perlen schimmerten, umrahmt von glänzendem Platin, Gold und Silber – das alles in Verbindung gebracht durch feinste Juwelierskunst.

Sie wusste von Carli bereits, dass das Ladengeschäft in den letzten Jahren noch ausgebaut worden war. Neben dem selbst gefertigten Schmuck bot Patriarch Thomass auch zugekaufte Galanteriewaren an. Dabei handelte es sich um kleinere modische Gebrauchsgegenstände wie Parfümflakons, an Kettchen getragene Riechfläschchen, Puderdosen, auffällige Knöpfe, Armbänder, Schnallen, Tücher, Schals und Fächer.

Des Weiteren befanden sich nun sogenannte Bijouteriewaren im Sortiment: Glasschmuck, Dosen, Leuchter und Uhrgehäuse.

Viel Zeit, all das zu bewundern, hatte Henya nicht, denn nun wurden sie sogleich freudig erregt von einer äußerst gepflegten Mittsechzigerin begrüßt: Elise Kolb. Bei ihren Ferienbesuchen hatte die Verkäuferin der neugierigen Anwaltstochter aus Frankfurt erzählt, wie man die verschiedensten Kundentypen beriet: wohlhabende Damen, die sich anziehend machen wollten für Bewunderer oder sich einfach selbst etwas Schönes gönnten, Herren, die auf der Suche nach beschwichtigendem Schmuck für ihre Ehegattin waren – oder nach etwas Betörendem für eine heimliche Geliebte. Und die erfüllendsten Gespräche drehten sich laut Frau Kolb um die Ringe für jene, die sich auf den hoffentlich glücklichsten Tag in ihrem Leben vorbereiteten.

„Es ist so schön, dass du es bist, die mich ersetzen wird“, betonte sie nach der herzlichen Begrüßung. „Du liebst den Schmuck und hast ein Gespür dafür, was zu wem passt.“

„Oh, ich kann Sie keinesfalls ersetzen, Ihnen höchstens nachfolgen“, beeilte sich Henya zu sagen. „Ich muss noch so viel lernen.“

„Keine Angst, im Notfall steh ich dir auch nach dem ersten September noch für Fragen zur Verfügung“, versprach Elise Kolb. „Ich wohne ja gleich nebenan im zweiten Haus des Seniorchefs. Außerdem war ich anfangs genauso unsicher wie du. Mir war bang, ich werde das nie so gut können wie meine Vorgängerin Marie Joas, Gott hab sie selig.“

Bei der Erwähnung jenes Namens verdunkelte sich sowohl der Gesichtsausdruck der Verkäuferin als auch der Carlis. Die verstorbene ältere Schwester des Seniorchefs musste etwas ganz Besonderes gewesen sein. Obwohl Henya selbst damals erst drei Jahre alt gewesen war, erinnerte sie sich vage an die große Trauer, die Maries Tod Anfang 1874 auch bei ihrem Vater und Opa Cornelius ausgelöst hatte. Von der Köchin der Familie hatte Henya einst erfahren, dass Carl Thomass das Zimmer seiner Schwester nach deren Ableben hatte verriegeln lassen und seit fast anderthalb Jahrzehnten nichts daran geändert worden war. „Als ob er auf ihre Rückkehr wartet – oder auf ihren Geist“, hatte die Köchin mit gesenkter Stimme erzählt. Henya erinnerte sich daran, dass es ihr in der Folge stets mulmig gewesen war, an dem verschlossenen Zimmer der verstorbenen Marie vorbeizugehen.

Verkäuferin Elise Kolb meinte nun: „Marie war der gütigste Mensch der Welt, hat mir seinerzeit jede Angst genommen und mir vor ihrer Hochzeit mit Tuchhändler Joas noch alle Kniffe des Schmuckverkaufs beigebracht.“ Dann versicherte sie Henya: „Wir beide haben ja über einen Monat lang Zeit, dass ich dasselbe für dich tun kann.“

„Ist mein Vater in der Werkstatt?“, fragte Carli.

Doch Frau Kolb schüttelte den Kopf. „Er ist vorhin rausgegangen, um zu schauen, was das da für ein Tumult auf dem Marienplatz ist.“

Wie aufs Stichwort bimmelte in diesem Augenblick das Glöckchen über der Ladentür, und Kommerzienrat Thomass senior kehrte in sein Geschäft zurück. Trotz seines gediegenen Alters von vierundsechzig Jahren, edlem Anzug und Zylinder hatte er noch etwas Schelmisch-Jungenhaftes im Gesicht, wenn er lächelte.

„Was für eine Tragödie da draußen, die armen Elefanten. Ich bin froh, dass dir und meinem Erstgeborenen nichts passiert ist, Henriette“, meinte er nach der freundlichen Begrüßung. „Schön, dass du Carli hilfst. Meine übrigen drei Söhne wollen ja in Bier machen. Sie haben wohl einfach zu viel von meiner lieben Frau Ursel. Tja, so ist das eben, wenn man die Tochter eines Schäfflers heiratet.“

Henya wusste, dass Ursula Thomass’ wohlhabende Eltern zu Lebzeiten Holzfässer hergestellt hatten und mit sämtlichen Bierfabrikanten bekannt gewesen waren. Ursel pflegte jene Verbindungen immer noch. Ihre Liebe zur Welt der Bierherstellung schien auf ihre Söhne Eugen und Ludwig abgefärbt zu haben. Aber auch Juwelier Carl senior mischte dort mit. Auf Anraten seiner Frau hatte er sich schon vor über anderthalb Jahrzehnten an der Umwandlung der Firma Löwenbräu zur Aktiengesellschaft beteiligt, wie Henya in einem Brief von Carli berichtet worden war.

Der wandte sich mit einem Augenzwinkern an seinen Vater: „Na ja, beschweren kannst du dich ja wirklich nicht über Mutter, du verdankst ihr doch im Grunde all das hier, oder? Die Ablösesumme von viertausendfünfhundert Gulden für den florierenden Betrieb deines Lehrmeisters hättest du dir vor vierzig Jahren nie leisten können – ohne Mutters Mitgift. Gerade mal vierundzwanzig Jahre alt und von den Wanderjahren zurück.“

Carl Thomass senior legte scherzhaft einen Finger auf den Mund. „Pst, erinnere deine Mutter bloß nicht daran. Das steigt ihr noch zu Kopf. Da wir gerade von ihr sprechen, sie wartet bestimmt schon ungeduldig darauf, dir dein Zimmer zu zeigen, Henriette.“

 

Kurz darauf folgte Henya Carli durch das Treppenhaus auf den nach Bohnerwachs duftenden Holzstufen nach oben. Die zwei privat genutzten Wohnungen der Familie Thomass befanden sich nicht im ersten Stock, obwohl andere Hausbesitzer meist jene Etage als eigene Residenz wählten. Aber Carlis sparsamer Vater hatte die sogenannte Beletage für gutes Geld an einen Kaufmann vermietet und residierte selbst im Stockwerk darüber.

Die linke Wohnung enthielt Küche, Bad, Bibliothek, Salon und zwei Schlafzimmer. In der rechten befanden sich drei weitere Schlaf- sowie ein Studierzimmer und zwei zusätzliche Bäder.

Kaum hatte Carli die Tür zur linken Wohnung in der zweiten Etage geöffnet und Henya in den hohen, mit kostbaren Perserteppichen ausgelegten Wohnungsflur geführt, kam seine Mutter Ursula Thomass, geborene Holzapfel, aus der Bibliothek und eilte ihr mit ausgebreiteten Armen entgegen. Die Neunundfünfzigjährige trug ein Trachtenkleid und hatte das weizenblonde Haar zu einem Knoten zusammengebunden. Liebevoll drückte sie Henya an ihre stattliche Brust.

„Ja, Madl, mei, dass du endlich da bist! Komm mit, ich zeig dir dein Zimmer. Mein Mann hat es zum ersten Mal seit Jahren geöffnet und zur Verfügung gestellt, es gehörte mal seiner Schwester Marie.“

Henya erschauderte ein wenig bei der Vorstellung, in das Zimmer einer Frau zu ziehen, das seit deren Tod unverändert geblieben war.

Charlotte Jacobi

Über Charlotte Jacobi

Biografie

Charlotte Jacobi ist das Spiegel-Bestseller-Pseudonym der Autoren Eva-Maria Bast und Jørn Precht. Eva-Maria Bast ist Journalistin, Leiterin der Bast Medien GmbH und Autorin zahlreicher Sachbücher, Krimis und zeitgeschichtlicher Romane. Sie erhielt diverse Auszeichnungen, darunter den Deutschen...

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