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Das Herz des Menschen

Das Herz des Menschen - eBook-Ausgabe

Jón Kalman Stefánsson
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Roman

„Poetisch und berührend.“ - (CH) Berner Zeitung

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Das Herz des Menschen — Inhalt

Jón Kalman Stefánsson gehört zu den wichtigsten isländischen Gegenwartsautoren. Sein neuer Roman „Das Herz des Menschen“ erzählt die Geschichte des "Jungen", seines sensiblen, aufmerksamen Helden, der nach einem dramatischen Unglück in einem Fischerort wieder zu sich kommt: Während vor der Küste auf dramatische Weise ein großes Handelsschiff versinkt, widmet er sich voller Neugier den Romanen von Charles Dickens und wird bei erster Gelegenheit von der leidenschaftlichen Ragnheidur verführt. Als er aber zwei rätselhafte Briefe von der rothaarigen Alfheidur erhält, macht er sich mit dem Boot auf zu ihr, um herauszufinden, was sie ihm wirklich sagen will. „Jón Kalman Stefánsson schreibt Geschichten wie das Leben selbst, mit großer Meisterschaft gelingt ihm ein großes Werk. Sein Roman ist wie der Rhythmus des Herzens – der Anfang von allem.“ Morgunbladith

€ 11,99 [D], € 11,99 [A]
Erschienen am 27.02.2013
Übersetzt von: Karl-Ludwig Wetzig
416 Seiten
EAN 978-3-492-96168-4
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Leseprobe zu „Das Herz des Menschen“

Die Romantrilogie Himmel und Hölle,
Der Schmerz der Engel und Das Herz des Menschen
ist den Schwestern Bergljót K. Þráinsdóttir (1938–1969)
und Jóhanna Þráinsdóttir (1940–2005) sowie María
Karen Sigurðardóttir gewidmet


Das sind die Geschichten,
die wir erzählen sollten


Der Tod ist weder Licht noch Dunkelheit, er ist nur alles andere als Leben. Manchmal stehen wir Sterbenden in ihrer letzten Stunde bei und sehen zu, wie das Leben aus ihnen weicht; jedes Leben ist ein Universum, und es tut weh zu sehen, wie es verschwindet, wie es sich von einem Moment auf [...]

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Die Romantrilogie Himmel und Hölle,
Der Schmerz der Engel und Das Herz des Menschen
ist den Schwestern Bergljót K. Þráinsdóttir (1938–1969)
und Jóhanna Þráinsdóttir (1940–2005) sowie María
Karen Sigurðardóttir gewidmet


Das sind die Geschichten,
die wir erzählen sollten


Der Tod ist weder Licht noch Dunkelheit, er ist nur alles andere als Leben. Manchmal stehen wir Sterbenden in ihrer letzten Stunde bei und sehen zu, wie das Leben aus ihnen weicht; jedes Leben ist ein Universum, und es tut weh zu sehen, wie es verschwindet, wie es sich von einem Moment auf den anderen in Nichts verwandelt. Jedes Leben verläuft anders, flach und ereignislos bei den einen, reich an Abenteuern bei anderen, und dennoch ist jedes einzelne Bewusstsein eine Welt, die von der Erde bis in den Himmel reicht. Wie aber kann etwas so Großes einfach verschwinden, zu einem Nichts werden, von dem nicht einmal Schaum oder wenigstens ein Echo zurückbleibt? Es ist schon lange her, dass jemand zu unserer Schar gestoßen ist, wir sind blutleere Schatten, nein, weniger als Schatten, und es ist furchtbar, tot zu sein und dennoch nicht sterben zu dürfen, das ist für niemanden gut. Immer wieder haben einige von uns versucht, sich davonzumachen, haben sich vor immer größer werdende Autos geworfen oder wollten sich von wütenden Hunden zerfleischen lassen, aber die Hundezähne schnappten durch uns hindurch wie durch Luft. Wie kann man denn weniger als nichts sein und sich gleichzeitig an alles erinnern, tot sein und sich doch lebendiger fühlen als je zuvor? Abends siehst du uns auf dem Friedhof hinter der Kirche kauern, die sich seit einem Jahrhundert an dieser Stelle befindet, wenn es auch verschiedene Gebäude waren – unsere Kirche, in der Pastor Þorvaldur leider ohne großen Erfolg versucht hat, Vergebung für seine Schwächen zu finden, denn die Stärke eines jeden Menschen wird ausschließlich an seinen Schwächen gemessen, daran, wie sie sich an ihnen bewährt. Inzwischen ist die mit Wellblech verkleidete Kirche aus Holz längst verschwunden, und an ihre Stelle ist eine andere aus Stein getreten, dem Baumaterial aus den Bergen, was sehr gut passt, denn an solchen Orten sollte man eine Kirche entweder dem Himmel oder den Bergen nachbilden. Die einzigen Momente, in denen wir einen Anflug von Frieden finden, sind die auf dem Friedhof. Hier glauben wir das Murmeln der Toten unten in der Erde zu vernehmen, einen fernen Nachklang guter Gespräche. So kann die Verzweiflung einen täuschen. Diese friedlichen Augenblicke sind nach und nach mehr geworden, sie scheinen auch länger zu dauern, sind von Sekundenbruchteilen auf Sekunden angewachsen. Es geht uns nicht direkt gut, aber die Worte halten uns warm, sie geben uns Hoffnung; denn wo es Worte gibt, da gibt es auch Leben. Empfange sie, und es gibt uns. Nimm sie auf, und es gibt Hoffnung. Das sind die Geschichten, die wir erzählen sollten. Geh nicht weg!


In einem alten arabischen Buch der Heilkunst
heißt es, das menschliche Herz bestehe
aus zwei Kammern, von denen die eine
Glück heißt und die andere Verzweiflung.
Welcher sollen wir glauben?


I


Wo hören die Träume auf, wo fängt die Wirklichkeit an? Die Träume kommen von innen, sie sickern aus der Welt hervor, die wir alle in uns tragen, wahrscheinlich verdreht und verzerrt, aber was ist nicht verdreht, was ist nicht schief? Heute liebe ich dich, morgen hasse ich dich – wer immer derselbe ist, belügt die Welt.
Der Junge liegt lange mit geschlossenen Augen da, unsicher, ob Tag oder Nacht herrscht, ob er wacht oder schläft. Er und Jens sind auf etwas Hartes gestoßen. Erst haben sie Hjalti verloren, den Knecht, der sie von Nes begleitet hat. Sie haben den Sarg mit Ásta über Berge und Heiden geschleppt. Dann waren Jens und der Junge auf etwas Hartes gestoßen. Wie viel Zeit ist seitdem vergangen? Wo befindet er sich? Zögernd öffnet er die Augen, denn man weiß nicht sicher, was einen nach dem Schlafen erwartet, Welten ändern sich in einer Nacht, Leben erlöschen, der Abstand zwischen den Sternen wächst, und das Dunkel breitet sich aus. Er öffnet zögernd und vorsichtig die Augen und liegt in einem von Mondlicht erhellten Zimmer, liegt in totenbleichem Mondlicht da, und auch das Gesicht von Hjalti, der auf einem Stuhl sitzt und den Jungen reglos ansieht, ist unangenehm bleich. Neben dem Bett steht Ásta, und ein kühler Hauch geht von ihr aus.
Du kommst wohl immer mit dem Leben davon, sagt Hjalti langsam.
Ja, es gibt immer jemanden, der bereitsteht, ihm wieder auf die Beine zu helfen, sagt Jens. Er sitzt im Bett neben dem des Jungen, und das Mondlicht hat ihm eine Totenmaske geschneidert.
Aber jetzt hilft dir keiner, sagt Ásta.
Nein, sagt Jens, er hat es auch nicht verdient.
Was hätte er auch vorzubringen, welches Recht hat er, zu leben?, fragt Hjalti.
Der Junge öffnet den Mund, um zu antworten, um etwas zu sagen, aber etwas Schweres lastet auf seiner Brust, so schwer, dass er kaum sprechen kann, und dann beginnen sie zu verschwinden, sie lösen sich langsam auf, das Mondlicht wird zu endlosem Schnee und das Zimmer zu einer kalten Heide, die die Welt ausfüllt. Der Himmel ist eine dicke Eishöhle über allem.


II


Lassen sich die Augen gefahrlos öffnen? Vielleicht hat er gar nicht geschlafen, vielleicht dauert nur das Sterben so lange. Er hört weder den Wind noch das Pfeifen über den Schneewehen, und er spürt auch die Kälte nicht. Ich bin wohl im Schnee eingeschlafen, das ist der Schlaf, der zum weichen, tröstenden Tod wird. Ich kann nicht mehr gegen ihn ankämpfen, denkt der Junge, und jetzt hilft mir auch keiner mehr. Ásta hat ja recht, warum kämpfen, wenn das Beste sowieso vorbei ist? Aber ich soll doch Unterricht bekommen. Gísli, der Schulrektor, soll mir etwas beibringen, ist es da nicht Verrat, zu sterben? Muss ich nicht doch weiterkämpfen? Und liegt er nicht in einem Bett? Es fühlt sich an wie ein weiches Bett, komisch. Vielleicht liegt er in seinem Bett in Geirþrúðurs Haus und hat alles nur geträumt, den ganzen Marsch mit Jens durch Sturm und Schnee, aber kann man so viel Schnee wirklich träumen, so viel Wind, so viele Leben und Tode, sind Träume groß genug für all das? Er kann die Augen nicht öffnen, die Lider sind schwer wie Steinplatten. Er versucht, seine Umgebung zu ertasten, schickt die Hände auf Entdeckungsreise, aber die sind genauso nutzlos wie die Augen, er fühlt sie nicht einmal, vielleicht sind sie tot, abgestorben, die Kälte hat sie abgefressen, und sie liegen wie ein Haufen kleiner Stöcke im Schnee. Jens, wo bist du?, denkt oder murmelt er, sinkt dann wieder in Schlaf zurück, wenn es denn Schlaf ist und nicht der Tod, sinkt in Ruhe, sinkt in Albträume.


III


Hast du dir überlegt, ob du leben oder sterben willst?, fragt sie. Die Frau oder das Mädchen hat rote Haare, die Toten sind rothaarig.
Ich weiß es nicht, antwortet er, ich bin mir nicht sicher, ob ich den Unterschied kenne, und ich weiß auch nicht, ob er überhaupt so groß ist.
Ich werde dir einen Kuss geben, sagt sie, dann spürst du den Unterschied. Wenn du bei dem Kuss nichts fühlst, bist du ganz sicher tot.
Sie tritt nah an ihn heran, beugt sich über ihn, ist so rothaarig, dass es kaum wahr sein kann, und ihre Lippen sind warm und weich. Wo ist Leben, wenn nicht in einem Kuss?


IV


Halbdunkel herrscht um den Jungen, als er aufwacht, eigentlich kaum mehr als Dämmerlicht. Er liegt in einem weichen Bett unter einer warmen Decke, die nach Frühlingsluft duftet. Da sind auch seine Hände, sie warten treu und geduldig auf ihn, die Kälte hat sie nicht abgefressen, er kann sie anheben und die Finger bewegen, ein wenig steif sind sie, wie taube Greise, aber dort, wo sie hingehören.
Bestens, murmelt er.
Hinter Gardinen zeichnen sich zwei Fenster ab, und ganz in der Nähe hört er tiefe Atemzüge. Er sammelt Mut und Kraft, um sich auf die Ellbogen zu stützen und sich dann umzublicken. Er befindet sich in einem recht geräumigen Zimmer, in dem ein weiteres Bett steht. Darin liegt ein Mann und atmet, es ist Jens. Sie haben also beide überlebt. Doch wie findet man heraus, dass man lebendig und nicht tot ist? So offensichtlich ist das nicht immer. Er denkt nach, hebt dann den Zeigefinger der Rechten, beißt fest hinein und fühlt, dass es wehtut. Demnach sollte der Finger am Leben sein; das ist doch schon mal was. Bedeutend schwerer fällt es ihm aufzustehen, ihm wird schwindlig, und er sollte besser liegen bleiben. Der Mensch hat einen grundlegenden Fehler begangen, als er sich auf die Hinterbeine aufrichtete; damit hat das Tauziehen zwischen Himmel und Hölle angefangen. Der Fußboden ist kalt, und der Junge geht steifbeinig zu Jens hinüber, beugt sich über ihn, beobachtet seine Atemzüge und setzt sich dann beruhigt auf die Bettkante. Gut, dass dieser schwierige, schweigsame Mensch am Leben ist, da wird seine Schwester nicht bei fremden Leuten angebunden und getreten.
Der Junge hört jemanden kommen, und eine kleine Frau tritt ein. Ihr Gesicht ist so streng, als würde sie nichts Gutes vom Leben erwarten.
Du bist wach, stellt sie fest. Könnte sie die Frau aus dem Traum sein, die ihn geküsst hat, trotz ihrer strengen Miene und obwohl sie mindestens zwanzig Jahre älter ist?
Was bin ich?, fragt er.
Woher soll ich das wissen?
Ich meine, wo?
Im Haus des Arztes in Sléttueyri. Wo solltet ihr denn sonst sein?
Das ist nicht die Stimme aus dem Traum. Diese Frau ist kein Traum, sondern eher ein Strick, fest und hart.
In Sléttueyri, wiederholt er langsam, wie um den Geschmack dieses Namens zu prüfen, zu dem sie zwei Tage und Nächte unterwegs waren, und die Ruhe nach dem Sturm. Er hat es also geschafft. Er und Jens haben es geschafft. Und Hjalti?
Sie stützt die Hände in die Hüften, ihre Augen stehen eng beieinander, und sie wirkt ungeduldig, vielleicht weiß sie, wie kurz das Leben eines Menschen ist; der Himmel wechselt die Farbe, und schon ist er tot.
Wir haben es also geschafft, sagt der Junge, als würde er mit sich selbst reden.
Sieht so aus, sagt die Frau.
Aber wie sind wir hier hereingekommen und … ins Bett? Ich meine, Jens und ich. Ich erinnere mich an nichts.
Du erinnerst dich nicht? Dafür hast du aber viel geredet.
Ich habe geredet?
Hast angefangen, sobald du ins Warme gekommen bist. Zu verstehen war kaum etwas, und obendrein wolltest du wieder raus in die Kälte, und zwar splitterfasernackt. Wir mussten dich festhalten. Ja, ihr wart nackt. Wir mussten euch doch die steif gefrorenen Sachen ausziehen und euch warm rubbeln.
Sie ist an die Fenster getreten, zieht mit einer raschen Bewegung die Vorhänge auf, und das Tageslicht strömt herein.
Wo ist Hjalti?, fragt der Junge, als er sich halbwegs an die Helligkeit gewöhnt hat.
Hjalti, wiederholt sie auf dem Weg nach draußen. Ich habe keine Ahnung. Dein Gerede hat zehn Männer in die Nacht hinausgejagt, und sie sind nur knapp einer Lawine entgangen.
Warte, ruft der Junge, als sie ihm den Rücken zudreht.
Als ob ich dafür Zeit hätte, sagt sie und geht.
Sie lässt die Tür angelehnt, ihre kurzen, schnellen Schritte entfernen sich, kurz darauf sind leise Stimmen zu hören. Jens atmet so flach, dass man es Stille nennen könnte, als wäre der große Mann endlich mit dem Leben versöhnt. So kann uns der Schlaf täuschen. Wie lange haben sie geschlafen? War es Nacht, als sie auf das Haus stießen? Der Junge steht vorsichtig auf, die Beine tragen ihn, aber sie fühlen sich nicht gut an, sind beträchtlich gealtert, das rechte bestimmt um Jahrzehnte. Draußen ist es einigermaßen hell, es dürfte auf Mittag zugehen, das heißt, er hat mindestens zwölf Stunden geschlafen, kein Wunder, dass er so benommen ist. Es ist bedeckt, weiterer Schneefall scheint aber nicht bevorzustehen, es ist windig und kalt, hier und da lässt der Wind den Schnee aufstieben, wie zum Zeitvertreib, aber in keiner Richtung ist die Sicht verdeckt, da liegt das Meer, bleigrau und schwer, und wälzt sich zwischen den Bergen. Er schaut nach rechts, wo sich der offene Ozean ausbreitet, weniger aufgewühlt in seiner Unendlichkeit. Die Berge sind weiß, zu weit weg, um bedrohlich zu wirken, völlig weiß, bis auf einige Felsgürtel, die pechschwarz sind wie Tore zur Hölle. Er fährt sich leicht mit der Fingerspitze über die Lippen, als wollte er einem Kuss nachspüren. War das nur ein Traum, der Kuss, die Stimme, die roten Haare, die Wärme?
Es ist kalt am Fenster. Frost und Schnee hauchen durch die dünne Scheibe. Er sieht ein paar schneeverklebte Gebäude, kalte Gehäuse, die Leben enthalten. Er beugt sich vor, und da kommt die Kirche ins Blickfeld. Ob Ásta da drin liegt und darauf wartet, endlich unter die Erde zu kommen? Und wo mag Hjalti sein? Der Junge späht nach draußen, als hoffe er, Hjalti zwischen den verschneiten Häusern herumhuschen zu sehen, vielleicht auf der Suche nach Bóthildur.
Das Leben dreht sich darum, einen anderen Menschen zu finden, mit dem man zusammenleben möchte, und anschließend diesen Fund zu überleben, heißt es in einem berühmten Buch, und das hört sich geistreich an, aber es greift zu kurz, denn es muss doch viel schwerer sein, allein zu leben als mit einem anderen Menschen. Wir kommen allein zur Welt, und wir sterben allein, da wäre es schrecklich, auch noch allein zu leben.
Der Junge versucht an Ragnheiður zu denken, die Tochter von Friðrik, der Tryggvis Handelsniederlassung führt. Sie wollte im Sonnenschein ausreiten. In diesem Moment kommt jemand mit schweren Schritten die Treppe herauf. Der Junge will schnell ins Bett zurück, unter den Schutz der Decke, bleibt aber stehen, will wieder zum Fenster, hält doch wieder inne und steht mitten im Zimmer, als ein Mann mittleren Alters eintritt. Die Dielen knarren unter seinem massigen Leib, er ist recht beleibt, hat eine Halbglatze, aber mächtige Koteletten, trägt ein Wolljackett samt Weste, die Nase ist auffällig gerötet, die stahlblauen Augen liegen tief in den Höhlen und lassen die Nase noch größer erscheinen.
Es stimmt also, du bist aufgewacht, stellt er fest. Seine Stimme klingt dunkel, ein bisschen verbraucht oder abgenutzt, und er seufzt müde.
Gut, dass du dich ausruhen konntest, sagt eine Frau, die an die Seite des Mannes tritt. Sie ist einen Kopf kleiner und bedeutend jünger als er, vielleicht zwanzig Jahre. Sie ist schlank, hat üppiges, blondes Haar und eine so offene Miene, dass der Junge gleich wieder an Sonnenschein, Sommer und helle Juninächte denkt. Ob die noch einmal wiederkommen? Die andere Frau, die so hart ist wie ein Strick, lehnt am Türrahmen und verschränkt die Arme über ihrem üppigen Busen. Na, scheint ihr Augenausdruck zu sagen, da seht ihr’s. Und was jetzt?
Einige Augenblicke steht der Junge ungeschützt in der Mitte des Zimmers, in der wollenen Wäsche eines anderen, die ihm viel zu groß ist; das Leben scheint sich alle erdenkliche Mühe zu geben, ihn kleinzumachen. Der Mann schiebt den Daumen in den Hosenbund, macht Jaja, und die blonde Frau sagt: Ruh dich aus. Da trottet er zum Bett und legt sich hin.
Du hilf mal bei der Suppe, sagt sie, ohne den Blick von dem Jungen zu wenden. Die andere Frau öffnet die verschränkten Arme und verschwindet, es sind nur noch ihre Schritte zu hören, die sich entfernen.
Und du solltest am besten liegen bleiben, sagt die blonde Frau zu dem Jungen, nimmt auf der Bettkante Platz und altert mit dem Näherkommen. Kleine Fältchen wie Spuren von den Krallen der Zeit in ihrem Gesicht.
Ólafur möchte dich kurz untersuchen, anschließend darfst du uns gern von eurer Wanderung erzählen und von der armen Ásta. Die Leute denken und sprechen kaum von etwas anderem, seit ihr mit einem Knall, wie man wohl sagen darf, hier im Dorf erschienen seid, du und der andere Mann. Sie wirft schnell einen Blick zu Jens hinüber.
Mich untersuchen?, fragt der Junge und weiß nicht recht, wie er liegen soll.
Entschuldige, du kennst uns ja gar nicht, sagt die Frau. Das ist Ólafur, der Arzt hier in der Gegend und mein Mann. Sie hebt den einen Arm fast wie einen Flügel in seine Richtung, und der Mann verneigt sich kurz und lächelt, während sein Blick den Jungen forschend durchdringt.
Ich bin Steinunn, sagt sie und steht auf, um ihrem Mann Platz zu machen. Er setzt sich schwerfällig aufs Bett, stöhnt leise, als würde ihm das aufrechte Stehen schwerfallen, dieses ewige zermürbende Tauziehen, und beginnt dann damit, den Jungen abzutasten. Er stellt ihm knappe, zielgerichtete Fragen.
Ja, ich kann die Füße bewegen. Nein, die Hände fühlen sich nicht taub an. Ja, ich habe Schmerzen im Hals. Müde? Ja, und schlapp.
Gut, sagt Steinunn schließlich, und ihr Mann erhebt sich, um ihr wieder den Platz zu überlassen.
Der Knabe ist so jung, sagt er, der hält noch so gut wie alles aus. Ruhe, ordentliches Essen, Wasser, Kälte meiden – und in einer Woche oder zehn Tagen wird er wieder ganz auf dem Damm sein.
Du bist so jung, sagt Steinunn.
Jung sein ist schön, sagt Ólafur, dauernd Veränderungen. An einem Tag ist man so, am nächsten ganz anders. Wir sollten alle jung sein und niemals altern, uns nie von der Zeit ins Bockshorn jagen lassen.
Du magst doch gar keine Veränderungen, sagt seine Frau und schüttelt leicht den hellen Kopf.
Ist mit Jens alles in Ordnung?, fragt der Junge leise und kraftlos.
Jens. Der Lange heißt also Jens, stellt Ólafur fest. Nun ja, er ist übler dran als du, das kann man nicht bestreiten. Er hat Erfrierungen.
Übler dran?, fragt der Junge zögernd. Er ist also nicht außer Gefahr?
Außer Gefahr? Wann ist der Mensch je außer Gefahr?, fragt Ólafur. Ich habe getan, was ich konnte, aber er wird sicher hinken. Vielleicht Schlimmeres.
Schweigen macht sich breit. Als würden sie die letzten Worte überdenken: Vielleicht Schlimmeres. Was bedeutet das, wie schlimm ist Schlimmeres, wie weit ist das Leben vom Tod entfernt?
Der Junge zögert und fragt dann: Hjalti habt ihr nicht gefunden? Er traut sich endlich zu fragen, denn Menschen leben, solange wir die Frage nicht stellen, Schweigen ist nicht gefährlich; aber wir kommen auf etwas zu sprechen, und schon ist jemand gestorben.
Hjalti, sagt Ólafur, blickt schnell seine Frau an, dann zum Fenster hinaus. Du hast viel von diesem Hjalti geredet. Darum haben wir die Männer in den Sturm geschickt. Zehn Mann alles in allem. Álfheiður hat sie ganz schnell zusammengeholt. Nacht und Sturm und Lawinen – so hat’s ausgesehen, sagt er, sieht den Jungen an und wiederholt: So und nicht anders hat’s ausgesehen.
Als ob er das nicht wüsste, sagt seine Frau leise und sieht den Jungen ebenfalls an. Schöne Augen hat sie, wie alte, warme Sterne. Es waren doch dieselbe Nacht und derselbe Sturm, durch die sie hergekommen sind.
Ólafur holt einen Stuhl von der Wand und setzt sich, nickt: Ja, natürlich, du hast recht, sie wurden ja förmlich hier hereingeweht, und ich bin so erschrocken, dass ich das letzte Glas Sherry dieses Winters verschüttet habe. Weg ist der gute Tropfen, dahin der leckere Geschmack!
Er trommelt mit seinen eher kurzen Fingern auf sein Knie und pfeift vor sich hin.
Ólafur und ich, sagt Steinunn erklärend, waren noch wach und haben Korrespondenz erledigt, und dann kamt ihr …
Und zwar mit Getöse, wirft Ólafur ein.
Getöse kann man es nennen, stimmt sie zu.

Jón Kalman Stefánsson

Über Jón Kalman Stefánsson

Biografie

Jón Kalman Stefánsson, geboren 1963 in Reykjavík, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern Islands. Er arbeitete in der Fischindustrie, als Maurer und Polizist, bevor ihm mit „Himmel und Hölle“ (2009) der internationale Durchbruch gelang. Seither wurde sein Werk in zahlreiche Sprachen übersetzt...

Pressestimmen
Sonntag (CH)

„Isländischer Sturm aus Gedanken und Gefühlen.“

Kölner Stadt-Anzeiger

„Mit seinem bildstarken, bisweilen ins Poetisch-Meditative changierenden Stil, von Karl-Ludwig Wetzig kongenial ins Deutsche übertragen, unterläuft Jón Kalman Stefánsson jegliche Dramatik und steigert sie so umso mehr, lässt uns bis in die Nebenrollen hinein eine Vielfalt von ungewöhnlichen, überzeugenden Charakteren erleben.“

(CH) Berner Zeitung

„Poetisch und berührend.“

Mokka - Das Magazin für das westliche Münsterland

„Ein weises Buch von großer erzählerischer Kraft und mit einer betörend poetischen Sprache, an der auch die einfühlsame Übersetzung großen Anteil hat.“

Altmühl-Bote

„Unnachahmlich, mit wie viel Empathie Stefánsson seine Figuren zeichnet, mit welcher Poesie er die Geschehnisse beschreibt.“

Kleine Zeitung

„eine hoch poetische, melancholische Erzählung von Liebe, Kälte, Sehnsucht.“

Annabelle

„Wunderschön erzählt.“

Neue Presse

„Poetisch, dabei lakonisch knapp geschrieben, hallen seine Gedanken über das Leben und die Worte lange nach.“

SWR2 Die Buchkritik

„Jón Kalman Stefánsson ist ein meisterlicher Epiker.“

SWR 2 Die Buchkritik

„Jón Kalman Stefánsson ist ein meisterlicher Epiker. Er schreibt ausdauernd, poetisch und packend.“

Westdeutsche Allgemeine

„Stéfanssons Prosa ist ein Panorama der Liebe, der Trauer des Glücks.“

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