Das kleine Café auf Spitzbergen Das kleine Café auf Spitzbergen - eBook-Ausgabe
Roman
— Ein gefühlvoller Neubeginn im arktischen Norwegen mit Eisbären und polarer WildnisDas kleine Café auf Spitzbergen — Inhalt
Ein Café-Liebesroman zum Wohlfühlen unter der goldenen Mitternachtssonne nördlich des Polarkreises. Für Fans von Barbara Erlenkamp
Kate kann es kaum glauben, als ihr Londoner Alltag durch eine unerwartete Erbschaft durcheinandergebracht wird: Eine unbekannte Großtante hinterlässt ausgerechnet ihr ein kleines Café auf Spitzbergen. Ohne jeden Zweifel will Kate das Geschäft ganz schnell verkaufen und in ihr gewohntes Umfeld zurück. Angekommen im leuchtenden Polarsommer der Arktis begegnet sie am gleichen Abend dem sehr attraktiven Hotelier Tore. Jedoch stellt sich dieser nicht nur als heißer Flirt heraus, sondern auch als der gnadenlose Käufer des Cafés. Kate, die sich mit Tores Ideen rund um sein neues Projekt so gar nicht anfreunden kann, bricht im letzten Moment die Verhandlungen ab. Sie entschließt sich, auf den Spuren der Großtante das wilde Spitzbergen zu erkunden und das Café zu retten. Aber diese Rechnung hat sie ohne ihre Gefühle für Tore gemacht ...
Leseprobe zu „Das kleine Café auf Spitzbergen“
Kapitel 1
Das Erste, was Kate sah, als sie völlig übermüdet die kleine Ankunftshalle des Flughafens von Longyearbyen auf Spitzbergen betrat, war ein riesiger Eisbär, der über der Gepäckausgabe thronte. Natürlich.
Fast hätte sie gelacht.
Wenn sie jedes Mal ein englisches Pfund bekommen hätte, wenn ihr in den letzten Wochen jemand etwas von diesen Tieren erzählt hatte, wäre sie jetzt eine reiche Frau. Gibt es da wirklich Eisbären? Sieh dich bloß vor den Eisbären vor! Hast du keine Angst vor Eisbären? Hoffentlich siehst du dort auch einen Eisbären. Ihre [...]
Kapitel 1
Das Erste, was Kate sah, als sie völlig übermüdet die kleine Ankunftshalle des Flughafens von Longyearbyen auf Spitzbergen betrat, war ein riesiger Eisbär, der über der Gepäckausgabe thronte. Natürlich.
Fast hätte sie gelacht.
Wenn sie jedes Mal ein englisches Pfund bekommen hätte, wenn ihr in den letzten Wochen jemand etwas von diesen Tieren erzählt hatte, wäre sie jetzt eine reiche Frau. Gibt es da wirklich Eisbären? Sieh dich bloß vor den Eisbären vor! Hast du keine Angst vor Eisbären? Hoffentlich siehst du dort auch einen Eisbären. Ihre Bekannten und Kollegen an der Uni in London hatten kein anderes Thema mehr gehabt.
Dabei hatte Kate an kaum etwas anderes gedacht als an Spitzbergen. Die Reise, die vor ihr lag, und ihre völlig unerwartete Erbschaft. Und natürlich ihre verstorbene Großtante, von deren Existenz sie bis vor drei Wochen nichts gewusst hatte.
Kate seufzte. Tante Charlotte war ihre letzte lebende Verwandte gewesen. Sie wünschte, sie hätte sie kennengelernt.
Eisbären hatten in ihren Überlegungen eher eine untergeordnete Rolle gespielt. Aber, ja, offensichtlich gibt es hier welche, dachte sie mit einem schiefen Lächeln und nickte dem ausgestopften Exemplar am Gepäckband freundlich zu.
Das Tier hatte glänzendes, weißliches Fell und einen gedrungenen, kräftigen Körper mit riesigen Tatzen, die in langen, schwarzen Krallen endeten. Der verhältnismäßig kleine Kopf des Bären war ihr zugewandt. Fast hätte sie ihn streicheln wollen. Stattdessen schauderte sie unwillkürlich, denn seine lebenden Artgenossen streiften auf der Insel umher und stellten eine ernste Gefahr dar.
Es war ihr ein völliges Rätsel, wie Großtante Charlotte auf die Idee gekommen war, sich ausgerechnet an diesem merkwürdigen Ort, so verflixt weit im Norden niederzulassen und ein Café zu eröffnen!
Immer mehr Menschen strömten aus dem Flugzeug in die kleine Halle und drängten ans Gepäckband. Kate sah allerlei bunte, offensichtlich teure Outdoorbekleidung: Parkas, Funktionshosen, Skipullover und neu glänzende Wanderschuhe. Aufgeregte Stimmen in verschiedenen Sprachen rollten über sie hinweg und viele der Touristen zückten das Handy, um den eindrucksvollen Eisbären zu fotografieren.
Andere Mitreisende standen entspannt im Hintergrund und sahen angesichts des allgemeinen Trubels eher gelangweilt aus. Kate vermutete, dass dies die Einheimischen waren. So wie Tante Charlotte, schoss es ihr durch den Kopf.
Vielleicht war es albern, aber ein wenig fühlte sie sich ihnen verbunden, diesen Leuten, die hier am Ende der Welt in der Arktis lebten, in der nördlichsten Stadt vor dem Nordpol.
Jedenfalls bin ich nicht bloß eine Touristin, dachte sie mit heimlichem Stolz und lächelte. Tante Charlotte war einer dieser Menschen gewesen und ich habe ihr Café und ihre Wohnung geerbt. Kate schob sich eine blonde Strähne hinter ihr Ohr, die sich aus dem langen Zopf gelöst hatte.
Dennoch verkniff sie sich den Impuls, den Eisbären auch zu fotografieren, so wie die anderen. Das konnte sie immer noch bei ihrem Rückflug nächste Woche machen, damit sie in London einen Beweis zum Vorzeigen hatte.
Zumindest schien ihr Outfit mit Jeans, rotem Wollpullover, roten Turnschuhen und weißer Steppjacke, nicht völlig verkehrt zu sein, wenn sie die Einheimischen betrachtete. Das Packen für diese Woche hatte ihr Kopfzerbrechen bereitet, im Juli sprach man auf Spitzbergen vom Polarsommer, mit Durchschnittstemperaturen kaum über null Grad.
Das hatte sie sich im hochsommerlichen London nur schwer vorstellen können.
Das Gepäckband setzte sich endlich in Gang und Kate erkannte ihren kleinen schwarzen Rollkoffer gleich bei den ersten Stücken. Mit dem Koffer in der Hand drehte sie sich um in Richtung Ausgang und ging mit den anderen Reisenden zu den beiden wartenden weiß-blauen Flughafenbussen, die man durch die großen Panoramascheiben schon von weitem sehen konnte. Flybuss stand auf Norwegisch an den Anzeigeschildern. Der Flughafen war wirklich überschaubar, überhaupt nicht zu vergleichen mit London-Heathrow.
Plötzlich entdeckte sie eine zierliche, brünette Frau, in einer leuchtend pinkfarbenen Windjacke, die ein Schild mit Kates Namen hochhielt und suchend in die Menge der Ankommenden blickte.
„Hallo“, grüßte Kate überrascht, als sie vor ihr stoppte. „Ich bin Kate Sullivan. Warten Sie wirklich auf mich?“ Vielleicht war es eine Verwechslung, sie hatte keine Abholung vereinbart.
„Hallo“, antwortete die Fremde freundlich. „Hast du im Bamse Bed & Breakfast gebucht?“
Kate nickte.
„Super! Ich bin Marie, die Inhaberin. Ich hatte sowieso am Flughafen zu tun, da dachte ich, ich hole dich gleich ab. Das ist viel besser, als mit dem Bus zu fahren.“ Ihr Englisch war fließend, aber Kate hörte einen leichten französischen Akzent.
Kate war mit einem Meter siebzig nicht besonders groß, aber Marie war noch einen Kopf kleiner als sie. Sie hatte wilde brünette Locken und ein herzförmiges, sommersprossiges Gesicht, das fröhlich strahlte.
Kate mochte sie auf Anhieb.
„Das ist wirklich nett von dir, danke“, antwortete Kate und unterdrückte mühsam ein Gähnen. In der vergangenen Nacht hatte sie im Flughafenhotel kaum Schlaf bekommen. Sie hatte sich ihren Besuch auf Spitzbergen bedrückend und traurig ausgemalt, immerhin ging es um den Nachlass ihrer vor kurzem verstorbenen Großtante. Und kalt natürlich, dies war schließlich die Hocharktis.
Aber als die beiden Frauen aus dem Flughafengebäude hinaustraten, begrüßte sie ein leuchtend blauer Himmel und strahlender Sonnenschein. Kate dachte zum ersten Mal, dass es vielleicht schön sein könnte, etwas mehr über diese abgelegene, wilde Insel zu erfahren.
Die Luft war unglaublich klar, man konnte kilometerweit sehen.
Kate atmete tief ein. Sie hatte das Gefühl, dass sie noch nie so frische, reine Luft geatmet hatte.
Der Flughafen lag auf einer kleinen Landzunge direkt am Wasser. Über den breiten, blau glitzernden Fjord hinweg sah Kate auf der gegenüberliegenden Seite eine Kette von dramatisch gezackten, vereisten Bergen.
Sie hielt sich im Allgemeinen nicht für besonders empfänglich für Naturerlebnisse. Natürlich war sie schon an einem hübschen See gewesen und sie mochte die weiten Hügellandschaften Englands. Meist waren allerdings Orte voller Geschichte mehr nach ihrem Geschmack. Doch die unberührte, stille Schönheit der weiten arktischen Landschaft machte einen tiefen Eindruck auf sie. Sie fühlte sich ganz klein.
Kate deutete in Richtung Berge: „Das sieht toll aus.“
Marie stimmte sofort zu. „Das ist der Eisfjord. Ich genieße den Ausblick jedes Mal, wenn ich zum Flughafen komme. Vielleicht kannst du während deines Aufenthaltes eine Schiffstour machen, das ist im Sommer ein großartiges Erlebnis.“
Kate nickte unbestimmt. Sie hatte sich bei ihrem Aufenthalt zwar nur um das Geschäftliche kümmern wollen, aber warum eigentlich nicht? Vielleicht würde sie sich dann ihrer unbekannten Großtante etwas näher fühlen.
Marie deutete auf einen kleinen, leicht zerbeulten roten Wagen auf dem Parkplatz und die beiden Frauen stiegen ein.
„Wohnst du schon lange hier?“, fragte sie, während Marie losfuhr.
Marie schüttelte den Kopf. „Erst seit drei Jahren. Ich brauchte einen Neuanfang und als ich während einer Reise herkam, hörte ich, dass das Bed & Breakfast zum Verkauf steht. Ich habe all meine Ersparnisse zusammengekratzt und seither bin ich hier. Ich habe es keinen Tag bereut.“
Sie sah zu Kate und schenkte ihr ein breites, zufriedenes Lächeln. „Für mich ist Spitzbergen der zauberhafteste Ort auf der Welt. Ich bin jeden Tag dankbar dafür, dass ich hier leben kann.“
Kate räusperte sich. Sie wusste nicht so recht, was sie darauf antworten sollte. Auch wenn die Insel durchaus ihren Reiz hatte, kam ihr das übertrieben vor. Aber vielleicht war es Maries Art, etwas überschwänglicher zu sein. Kate sah sich selbst eher als den zurückhaltenden, vorsichtigen Typ.
Marie schien um die dreißig, etwa in ihrem Alter, schätzte Kate. Ziemlich jung für jemanden, der einen Neuanfang brauchte.
Hast du nicht ebenso vor, Altes hinter dir zu lassen?, fragte eine mahnende leise Stimme in ihr.
Das ist etwas völlig anderes, sagte Kate sich entschlossen. Sie wollte schließlich nicht am Ende der Welt ein neues Leben beginnen. Nichts könnte ihr ferner liegen.
Das Bed & Breakfast entpuppte sich als charmantes zweistöckiges rotes Holzhaus. Vor dem Haus befand sich eine breite Holzterrasse, auf der gemütlich und einladend aussehende Palettensofas standen, die mit dicken Polstern und Fellen bedeckt waren. Über dem Eingang hing ein etwas windschiefes Schild aus Treibholz, auf dem in großen grünen Lettern Bamse Bed & Breakfast und darunter Velkommen geschrieben stand.
Ein riesiger braun-weißer Polarhund erhob sich bei ihrem Eintreffen von der Terrasse, leckte Marie schwanzwedelnd die Hand und ging dann auf Kate zu, um sie neugierig zu beschnüffeln.
Unwillkürlich zuckte Kate zurück.
„Das ist Muffin, sie ist eine ganz Liebe, keine Angst“, erklärte Marie kichernd. „Sie ist eine Alaskan Malamute-Hündin und kommt ursprünglich von der Schlittenhundefarm ein paar Kilometer außerhalb der Stadt. Leider hat sie als Schlittenhund kein Talent gezeigt, sie ist viel zu eigensinnig, deshalb habe ich sie adoptiert und ihr ein neues Zuhause gegeben. Hier darf sie die Chefin sein.“
Kate lachte und streichelte die große Hündin zaghaft.
„Gut für dich“, sagte sie zu ihr. Manchmal führte Eigensinn eben auch zum Ziel. Selbst wenn Professor Webster und Michael das anders sahen. Sie seufzte, als sie an ihren Ex und ihr letztes Gespräch dachte. Die Trennung war überfällig gewesen und sie hoffte, dass Michael das irgendwann einsehen würde.
Kates Zimmer bestand aus einem weißen Doppelbett mit passendem Nachttisch und einem Kleiderschrank. Vor dem Fenster, das in Richtung der hohen Berge hinter dem Tal von Longyearbyen hinausging, gab es einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen und in einer Ecke befand sich ein blauer Ohrensessel mit einer Leselampe. Über dem Bett hing eine Fotografie von einem eindrucksvollen grünen Nordlicht über einer tief verschneiten Hütte. Die Einrichtung wirkte fröhlich skandinavisch und modern. An das Zimmer schloss sich ein blitzsauberes helles Duschbad an.
Hier werde ich mich bestimmt wohlfühlen, hatte Kate spontan beim Betreten des Zimmers gedacht.
Obwohl sie völlig übermüdet war, ging sie nach dem Auspacken noch einmal die Treppe hinunter in das große Empfangszimmer zu ihrer Vermieterin. Marie hatte sie so freundlich zum Kaffee eingeladen, das hatte sie nicht ausschlagen können.
Sie bedienten sich beide am Kaffeeautomaten, der direkt an der Rezeption stand, dann gingen sie hinaus auf die Terrasse und setzten sich auf die Palettensofas. Muffin folgte ihnen.
Die Sonne schien, aber Kate war froh, dass sie ihre warme Jacke mit hinuntergebracht hatte.
Marie trug nur einen blau-weiß gestreiften Norwegerpullover, der allerdings ziemlich kuschelig wirkte und sie bestimmt warmhielt. Nun lehnte sie sich entspannt zurück, setzte mit einer dramatischen Geste eine große Sonnenbrille auf und hielt ihr Gesicht in die wärmenden Strahlen.
„Ist das nicht ein herrlicher Sommertag?“, fragte sie und seufzte zufrieden.
Mit einigem Abstand gab es mehrere kleine, bunte Holzhäuser, dennoch war es still. Über ihnen am Himmel kreischten die Möwen.
Kate lächelte. Es war ein ganz anderes Gefühl von Sommer, draußen bei etwa fünf Grad eine Tasse Kaffee zu trinken, aber es gefiel ihr irgendwie.
Eine Weile schwiegen sie einvernehmlich.
„Was bringt dich nach Longyearbyen? Machst du Urlaub? Oder kommst du wegen der Arbeit her?“, fragte Marie plötzlich interessiert.
„Nein, etwas ganz anderes“, erklärte Kate. „Meine Großtante ist gestorben und ich kümmere mich um ihren Nachlass, ich bin die Alleinerbin.“
„Das tut mir sehr leid“, sagte Marie sofort mitfühlend.
Kate winkte ab. „Schon gut. Ich kannte sie nicht. Es ist nur schade, dass ich sie auch nicht mehr kennenlernen kann.“
„Was hast du denn geerbt?“
„Sie hat hier in Longyearbyen ein Café betrieben und ich – “
„Moment mal.“ Marie nahm überrascht ihre Sonnenbrille ab und richtete sich auf. „Du bekommst Charlottes Café? Du bist eine Verwandte von Charlotte?“ Ihre Stimme überschlug sich aufgeregt.
Kate nickte verwirrt. „Ihre Großnichte.“
Marie sprang auf. „Warum hast du das nicht gleich gesagt?“, fragte sie und schloss Kate herzlich in die Arme.
Kate war im ersten Moment zu verblüfft, um sich zu rühren. Dann erwiderte sie die Umarmung unbeholfen.
In Maries Augen glitzerten Tränen, die sie ungeduldig wegwischte. „Das ist so schön, dich kennenzulernen! Charlotte war ein wunderbarer, lieber Mensch und eine wirklich gute Freundin. Ich werde sie sehr vermissen. Viele Menschen in Longyearbyen werden das.“
Kate fühlte sich berührt von Maries Kummer über den Tod ihrer Tante. Sie hatte das Gefühl, dass eher sie mit ihr Mitleid haben sollte als umgekehrt. Sie hatte Charlotte gekannt und gemocht. Bestimmt konnte sie ihr mehr über sie erzählen.
„Wie war sie denn so?“, fragte sie vorsichtig.
„Sie war ein wunderbarer Mensch, ein echtes Original“, antwortete Marie und lächelte nun wieder. „Sie war zwar fast fünfzig Jahre älter als ich, aber ich schwöre dir, bei ihrer Energie und ihren wilden Ideen habe ich mich manchmal gefühlt, als wäre ich die Ältere.“
Marie lachte herzlich bei der Erinnerung und Kate stimmte mit ein.
„Sie war ein verrücktes Huhn und immer voller Tatendrang. Außerdem hat sie sich sehr für die Gemeinde eingesetzt.“
„Ist ihr Grab in der Nähe? Ich würde es gerne besuchen und ein paar Blumen niederlegen.“
„Nein, man kann nicht auf Spitzbergen bestattet werden, da der Boden die meiste Zeit des Jahres komplett gefroren ist. Dafür müsstest du aufs norwegische Festland nach Tromsø fliegen.“ Marie schüttelte den Kopf. „Über Spitzbergen heißt es auch, man kann hier weder geboren werden noch sterben. Wir haben nur ein kleines Krankenhaus, deshalb müssen Schwangere vor dem Entbindungstermin oder Schwerkranke ausgeflogen werden.“
„Verstehe.“ Kate wurde klar, wie wenig sie bislang über Spitzbergen wusste.
„Was hast du mit dem Café vor? Willst du es selbst betreiben?“, erkundigte sich ihre Vermieterin neugierig.
Kate schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, auf keinen Fall. Ich bin Geschichtswissenschaftlerin in London, mein Leben findet dort statt. Deswegen treffe ich mich morgen mit einem Anwalt, der aus Tromsø herfliegt, und einem Kaufinteressenten. Ich hoffe sehr, dass alles schnell über die Bühne geht.“
„Ach so“, sagte Marie langsam. Sie wirkte merkwürdigerweise enttäuscht. „Und weißt du schon, wer der Kaufinteressent ist?“
Kate schüttelte den Kopf. „Den Namen kenne ich noch nicht, ebenso wenig wie die weiteren Details. Das werde ich alles erst mit dem Anwalt besprechen.“
„Spannend“, antwortete Marie. „Na, dann hoffe ich, dass er oder sie nett ist und das Café in Ehren halten wird. Charlotte verdient einen würdigen Nachfolger. Das Café war schließlich ihr Lebenswerk und ist in der Gemeinde eine echte Institution gewesen.“
Als Kate aus tiefem Schlummer erwachte, fühlte sie sich einen Moment völlig benommen. Das Zimmer war gleißend hell. Sie hatte keine Vorstellung davon, wie lange sie geschlafen haben mochte und tastete gähnend nach ihrer Armbanduhr. Elf Uhr.
„Mist“, rief sie laut. War es bereits Mittwochvormittag? Um zwölf Uhr war sie mit dem Anwalt und dem Käufer in einem Restaurant verabredet.
Aber dann sah sie auf ihr Handy und stellte fest, dass es elf Uhr am Dienstagabend war. Erleichtert drehte sie sich noch einmal um.
Das Zimmer wurde von goldenem Sonnenlicht geflutet, als wäre es mitten am Tag. Sie hatte vergessen, vor dem Schlafengehen das Verdunkelungsrollo herunterzuziehen, das in Longyearbyen an den meisten Schlafzimmerfenstern angebracht war. Manche klebten auch Alufolie in ihre Scheiben, um im Sommer die ständige Sonne abzuhalten, hatte Marie ihr erzählt.
Verrückt, das war also die Mitternachtssonne, die den ganzen Sommer über nicht mehr untergehen würde. Davon zu lesen, war eine Sache, es selbst zu erleben, eine völlig andere. Der Himmel war genauso tiefblau wie bei ihrer Ankunft, sie sah kein einziges Wölkchen. Kate hätte schwören können, es wäre mitten am Tag.
Plötzlich war sie hellwach und eine kribbelnde Unruhe erfasste sie. Übermütig sprang sie aus dem Bett und zog ihre Sachen über, die sie wenige Stunden zuvor auf dem Ohrensessel abgelegt hatte. Sie bürstete schnell ihr hellblondes Haar und band es zu einem Pferdeschwanz. Dann griff sie nach ihrer Jacke und war startklar. Kurz überlegte sie, ob sie etwas Lippenstift auflegen sollte, aber verwarf den Gedanken sofort wieder. Es war mitten in der Nacht und ihr würde vermutlich ohnehin niemandem mehr begegnen.
Marie hatte ihr berichtet, dass Longyearbyen einer der sichersten Orte der Welt war, es gab so gut wie keine Kriminalität und sie könne jederzeit einen Spaziergang machen. Sie solle sich nur unbedingt innerhalb der bebauten Gebiete der kleinen Siedlung aufhalten, weil in der Wildnis jederzeit ein Eisbär auftauchen konnte. Ohne entsprechende Bewaffnung und Erfahrung sollte man sich nicht dorthin begeben. Dies galt dem Schutz der Bären und der Menschen.
Aber das hatte Kate ohnehin nicht vorgehabt, sie war ja nicht verrückt, sie wollte nur die Stadt erkunden und hoffentlich noch ein geöffnetes Restaurant finden, wo sie einen Happen essen konnte.
Als sie leise hinunter in die Empfangshalle schlich, war niemand zu sehen. Entweder waren Marie und Muffin ausgegangen, oder sie schliefen bereits.
Kate ging hinaus und atmete wieder diese unglaublich klare Polarluft ein. Einen Moment stand sie einfach im Sonnenschein und atmete genüsslich tief ein und aus. Vermutlich würde sie ihre Lungen nie wieder in ihrem Leben mit einer so reinen Luft füllen können, sie schien direkt vom Nordpol herüberzuwehen.
Draußen in der Mitternachtssonne verstärkte sich das unruhige Kribbeln, das sie zuvor aus dem Bett getrieben hatte. Sie fühlte sich geradezu beschwipst, als hätte sie zu viel Champagner getrunken.
Wie konnten die Leute bloß schlafen, in so einer hellen, wunderschönen Nacht? Das schien ihr die reinste Verschwendung. Vergnügt schlenderte sie den Weg entlang in Richtung Innenstadt.
Longyearbyen war ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Es gab kleine norwegische Holzhäuser in den verschiedensten leuchtenden Farben, von Rot und Orange, bis hin zu Blau, Gelb und Grün. Dazwischen auch einige mehrstöckige moderne Gebäude, doch alle standen auf Holzpfählen. Davon hatte sie vor der Reise im Internet gelesen. Nur im kurzen Polarsommer tauten die oberen Schichten des Bodens auf und wurden weich und nachgiebig. Wenn die Häuser nicht auf Pfählen stehen würden, die tief in den Permafrost getrieben wurden, würden sie früher oder später versinken und einstürzen.
Noch so eine Absonderlichkeit dieses Ortes. Kate schüttelte schmunzelnd den Kopf.
Zwischen den Häusern erstreckte sich wiesenartige arktische Tundra. Überall zwischen den Moosen und Flechten verstreut, entdeckte sie kleine Blütenpolster in Rosa, Gelb und Weiß. Sie waren nur wenige Zentimeter hoch, aber Kate fand sie wunderschön. Unglaublich, wie viele Blumen es hier gab, direkt am Wegesrand. Dazwischen wuchs auch eine puschelige weiße Pflanze. Es wirkte, als ob jemand Wattebällchen auf die Ebene gestreut hatte.
Sie kicherte leise bei dem Gedanken.
Kate hob den Kopf und stand plötzlich vor einer Gruppe von drei Rentieren, mit grauem Fell und prächtigen Geweihen, die am Boden knabberten.
Ergriffen stockte ihr der Atem. Die Wildtiere waren nur wenige Meter von ihr entfernt und beachteten Kate nicht. Ein Auto fuhr langsam vorbei, aber die Rentiere ließen sich nicht aus der Ruhe bringen und fraßen einfach weiter. Sie schienen völlig im Einklang mit ihrer Umgebung und ihr Fell glänzte im Schein der Mitternachtssonne.
Kate spürte, wie der friedliche Anblick sie erdete, und atmete tief durch.
Wer hätte gedacht, dass die raue Arktis so idyllisch sein konnte?
Kate betrachtete die Rentiere noch eine Weile ergriffen, bis plötzlich ihr eigener Magen laut knurrte. Sie warf einen letzten Blick auf die hübschen Tiere, dann wandte sie sich um. Sie sollte dringend selbst etwas zu essen finden.
Kapitel 2
Suchend schlenderte Kate die Straße entlang, aber alle Geschäfte hatten längst geschlossen. Kein Wunder, um diese Uhrzeit in einer Kleinstadt. Sie kam an einem Supermarkt und mehreren Outdoorläden vorbei sowie einem wirklich schönen Schmuckladen, vor dem sie eine Weile stehenblieb und ins Schaufenster sah.
Schließlich entdeckte sie ein urig aussehendes Schild und Kate trat näher, um den Aushang zu lesen. Neben dem norwegischen Text fand sich glücklicherweise auch eine englische Übersetzung. Küche geöffnet bis Mitternacht, las sie. Wunderbar.
Es konnte höchstens halb zwölf sein.
Kate öffnete eine schwere Holztür und betrat einen schummrigen Eingangsbereich. Nach dem hellen Sonnenlicht mussten sich ihre Augen erst an die Dunkelheit gewöhnen. Ein Schild über dem Eingang zum Restaurant forderte die Besucher höflich dazu auf, Schuhe und Waffen im Vorraum zu lassen.
Sie lächelte amüsiert.
Das mit den Schuhen kannte sie bereits. Bei Marie im Bed & Breakfast war das auch eine der Hausregeln und Marie hatte ihr erklärt, der Brauch stamme aus der Bergbauzeit der Insel und sollte verhindern, dass der Kohlenstaub in die Häuser getragen wurde. Inzwischen war es zu einer allgemeinen Tradition auf Spitzbergen geworden.
Gehorsam schlüpfte Kate aus ihren roten Turnschuhen und stellte sie in das Schuhregal. Ihre Jacke hängte sie auf einen Haken darüber. Dann öffnete sie die zweite Tür und betrat auf Socken das Restaurant.
Überrascht blieb sie am Eingang stehen und sah sich um.
Während sie durch die stillen Straßen der nächtlichen Stadt gewandert war, hatte sie geglaubt, alle Bewohner Longyearbyens wären bereits schlafen gegangen. Umso verblüffter war sie nun, dass alle rustikalen Holztische, auf denen einladend kleine Kerzen brannten, besetzt waren. Gemurmel und Gelächter lag in der Luft und im Hintergrund ertönte leise eine Rockballade. Es klang ein wenig wie U2. An den Wänden hingen alte Schwarzweißbilder mit Aufnahmen von Jagdhütten und Schiffen, außerdem einige Felle.
Unschlüssig verharrte Kate und überlegte, was sie tun sollte. Vielleicht konnte sie etwas zum Mitnehmen bestellen?
Ein junger Kellner in schwarzen Jeans und schwarzem Hemd kam auf sie zu.
„Hei hei“, rief er aufgeräumt zu Begrüßung auf Norwegisch.
„Hallo. Ist die Küche noch geöffnet? Ich wollte hier gerne noch etwas essen.“, sagte sie und hörte selbst, dass ihre Stimme ein wenig verzweifelt klang. Hunger machte sie immer jammerig.
Der Kellner nickte verständnisvoll. „Wir sind ziemlich voll. Aber da vorne am Tresen ist noch etwas frei.“ Er wies auf einen Barhocker zwischen einem verliebten Paar, das Händchen hielt, und einem einzelnen Mann in einem blauen Pullover, der mit dem Rücken zu ihr saß.
Sich neben fremde Leute zu setzen, behagte Kate eigentlich nicht. Sie hätte lieber allein an einem Tisch gesessen. Aber besser, sie gab sich einen Ruck und aß neben ein paar Fremden, statt allein im Bed & Breakfast.
Als sie sich auf den Barhocker gleiten ließ, blickte der Mann, der jetzt links von ihr saß, kurz auf und musterte sie prüfend. Dachte er etwa, sie wollte ihn ansprechen? Ganz bestimmt nicht.
Sie spürte, wie ihre Wangen vor Verlegenheit warm wurden. Das passierte ihr dummerweise ständig, ohne, dass sie etwas dagegen tun konnte. Aber der Gedanke, dass man ihr die Verlegenheit ansah, machte sie unglücklicherweise nur noch verlegener.
„Das war der letzte freie Platz“, stammelte sie als Erklärung. „Der Kellner hat gesagt, ich soll mich hier hinsetzen. Ich habe wirklich Hunger.“
Auweia. Etwas Dümmeres war ihr nicht eingefallen? Sie klang wie eine Vollidiotin.
Die Mundwinkel des Mannes hoben sich plötzlich amüsiert. Er hatte einen attraktiven Mund mit vollen, festen Lippen und blitzende dunkelblaue Augen. Sein kantiges Gesicht war eher markant als attraktiv. Aber wenn er lächelte, schien es sich aufzuhellen und löste ein kleines Kribbeln in ihrem Bauch aus.
Das muss die Unterzuckerung sein, dachte Kate irritiert.
„Pizza“, sagte er unvermittelt zu ihr. Seine Stimme war tief und sanft.
Ein leichter Schauer lief über ihren Rücken. Was war bloß mit ihr los? Sie war völlig durch den Wind.
„Wie bitte?“, krächzte sie angestrengt.
„Die Pizza ist zu empfehlen“, erklärte er immer noch lächelnd. „Außerdem geht die von allen Gerichten am schnellsten und Sie sagten doch, dass Sie sehr hungrig sind.“
Der Kellner brachte ihr eine Karte und Kate bestellte eine Thunfischpizza und ein Glas Weißwein. Zu ihrer Überraschung bestellte der Fremde neben ihr das Gleiche.
Fragend sah sie ihn an. Vorhin hatte sie befürchtet, dass er dachte, sie wollte sich an ihn heranmachen. Jetzt fragte sie sich, ob es nicht umgekehrt war. Aber das konnte er gleich wieder vergessen. Sie wollte nur in Ruhe etwas essen und war nicht an einem Flirt interessiert. Egal, wie charmant er lächeln konnte.
Ihr Sitznachbar zuckte lässig mit den breiten Schultern. „Sagen wir, Sie haben mich inspiriert. Mir ist gerade aufgefallen, dass ich heute Abend auch noch nichts gegessen habe, und in Gesellschaft isst es sich doch angenehmer. Wenn Sie nichts dagegen haben?“ Seine Stimme klang höflich, aber auch erschöpft, als hätte er einen langen Arbeitstag hinter sich gebracht.
Selbstverständlich hätte er Kate nicht um Erlaubnis fragen müssen. Sie saßen nur nebeneinander am Tresen, er konnte machen, was er wollte. Aber sie fand es süß, dass er es trotzdem getan hatte.
„Natürlich nicht“, antworte sie höflich.
Vermutlich hatte sie sich geirrt. Sie waren einfach nur zwei Fremde in einer Bar, die zufällig nebeneinander eine Pizza aßen.
Der Wein kam und sie prosteten sich zu.
Die kühle Flüssigkeit schmeckte weich und fruchtig. Sie trank gleich noch einen Schluck und bemerkte, dass sie ziemlich durstig war. Außer dem Wasser heute früh im Flugzeug und zwei großen Tassen Kaffee mit Marie hatte sie noch nichts getrunken. Es war wohl besser, wenn sie es mit dem Wein langsam angehen ließ.
„Als was arbeiten Sie denn hier?“, erkundigte sie sich neugierig.
„Bitte?“, fragte er und zog die dichten Brauen zusammen. Dadurch sah er geradezu streng aus.
Fast hätte sie belustigt gekichert. War ihm die Frage zu persönlich? Sein Problem, er musste ja nicht antworten, dachte sie und trank noch einen Schluck von dem ausgezeichneten Wein.
„Sie sagten, Sie hätten einen langen Arbeitstag gehabt“, erinnerte sie ihn.
Darauf nickte er bestätigend. „Ich arbeite in einem Hotel“, gab er zu. „Und es war einfach einer dieser Tage, die nie enden wollen und wo die Dinge anders laufen, als man es erhofft hat.“
„Oh ja, solche Tage kenne ich auch“, seufzte Kate. „Haben Sie auch einen schwierigen Chef?“
Einen Moment schien er nicht zu wissen, was er darauf antworten sollte. „Geht so.“, sagte er langsam und betrachtete sie aufmerksam. „Haben Sie denn einen?“
Kate nickte heftig. „Oh ja, er hat mich verrückt gemacht. Mein Professor, meine ich. Er lässt seine Mitarbeiter all die Arbeit machen und heimst dann die Lorbeeren dafür ein. Das ist nicht richtig, oder?“, fragte sie ihn. Ihre Stimme klang vielleicht eine Spur zu aufgebracht und ihr war etwas schwindelig. Ihr Weinglas war komischerweise plötzlich leer.
Wo blieb bloß die Pizza? Suchend sah sie sich um.
„Nein, das ist es absolut nicht“, stimmte er ihr zu und schenkte ihr ein umwerfendes Lächeln, das prompt wieder ein Kribbeln in ihrem Bauch auslöste. Vielleicht hatte das doch nichts mit Unterzuckerung zu tun, dachte Kate belustigt.
Sie flirtete eigentlich nie, bis vor Kurzem war sie ja noch in einer Beziehung gewesen. Doch der Fremde hatte definitiv etwas Aufregendes an sich.
Automatisch lächelte sie zurück, beugte sich verschwörerisch ein Stück zu ihm herüber und flüsterte: „Man kann etwas dagegen tun. Gegen die Tyrannen, meine ich.“
Seine Mundwinkel hoben sich amüsiert und er fragte ebenfalls flüsternd. „So, was denn? Eine Revolte vielleicht?“
„Besser“, verkündete Kate und wurde von dem Kellner unterbrochen, der ihre Pizzen servierte. Schnell bestellte sie ein zweites Glas Wein, wünschte einen guten Appetit und konzentrierte sich auf ihr leckeres Abendessen. Dünner, knuspriger Teig und sehr saftig.
Sie hatte bereits die halbe Pizza verspeist, als ihr Wein serviert wurde. Sie trank einen Schluck und sah bedauernd auf ihr Essen. Mehr schaffte sie leider nicht.
Der Mann neben ihr schien mit der Portion keinerlei Probleme zu haben. Sein Teller war fast leer.
Zwischen zwei Bissen wandte er sich wieder zu ihr: „Sie wollten mir noch ihr Geheimrezept gegen Tyrannen verraten.“
„Ah ja. Es ist im Grunde ganz einfach. Wenn Sie feststellen, dass es in die falsche Richtung läuft, kündigen Sie. Sobald Sie die Chance haben.“
Er lachte amüsiert. „Ich fürchte, das ist in meinem Fall nicht so einfach.“
„Ach was.“ Der Wein war ihr zu Kopf gestiegen, irgendwie fühlte sie sich ganz leicht. „Das denkt man immer. Aber wenn sich eine andere Option abzeichnet, ergreifen Sie sie.“
Nachdenklich legte er den Kopf schief. Er lächelte warm. „Haben Sie das gemacht?“
„Und ob“, antwortete sie stolz. „Ich habe meinen Vertrag für das nächste Semester nicht verlängert.“
Er erwiderte ihr zufriedenes Lächeln und Kate spürte wieder das aufgeregte Kribbeln. Es hatte auch nichts mit der Mitternachtssonne zu tun. Es lag nur an ihm.
Kate schluckte nervös. Sie war definitiv nicht der Typ Frau, der etwas mit einem Unbekannten aus einer Bar anfing. Oder in ihrem Fall aus einem Restaurant.
„Möchten Sie etwas Süßes?“, fragte er heiser, während er ihr immer noch tief in die Augen sah. Es klang so verführerisch, dass sie sich plötzlich ganz durcheinander fühlte.
„Hm?“, machte sie nur, während sie sich darauf konzentrierte, ihm nicht auf die vollen, feingeschwungenen Lippen zu blicken.
„Ob Sie noch ein Dessert möchten?“, wiederholte er sanft. „Dort vorn ist ein Tisch frei geworden.“ Er deutete in eine von Kerzenschein erleuchtete Ecke. „Und sie machen hier eine himmlische Mousse au Chocolat, die kann ich sehr empfehlen.“
„Klar“, krächzte Kate abgelenkt.
Sie rutschte so elegant wie möglich vom Barhocker. Natürlich war es viel bequemer, an einem Tisch zu sitzen als an der Bar, doch so befand sie sich ihm direkt gegenüber und konnte ihm nicht mehr ausweichen. Sein Lächeln elektrisierte sie. Kate fühlte sich nervös, aber auch beschwingt. War das überhaupt möglich?
Er bestellte Mousse au Chocolat und dazu zwei Gläser Champagner.
Nervös spielte Kate mit einer Haarsträhne. Was als ein zufälliges Essen nebeneinander an einem Bartresen begonnen hatte, entwickelte sich auf einmal in eine ganz andere Richtung.
Kaum waren die Gläser serviert, stieß er mit ihr an. „Ich heiße Tore.“ Seine Stimme klang so warm und schmelzend, dass sie am liebsten darin versunken wäre.
„Ich bin Kate“, hauchte sie.
Sie nippten an ihrem Champagner.
Tores blaue Augen hatten sich verdunkelt. Die intensive Art, wie er sie bewundernd anblickte, kam ihr vor wie eine zärtliche Berührung. Plötzlich lag eine ungeheure Spannung in der Luft.
Wie es wohl wäre, wenn er sie wirklich berührte? Sie konnte nicht sagen, woher sie das wusste, aber Tore war ganz anders als jeder Mann, den sie bisher getroffen hatte.
Kate schwirrte völlig der Kopf.
Schließlich senkte sie als erste den Blick und stieß mit dem Löffel vorsichtig in die luftige Mousse au Chocolat. Sie musste sich unbedingt in den Griff kriegen.
Tore räusperte sich mühsam, als versuche er, sich zusammenzureißen. Erging es ihm etwa ähnlich?
„Du hast von neuen Optionen gesprochen, die sich auftun. War das bei dir so?“, fragte er.
Sie war ihm dankbar für die kleine Ablenkung.
„Genau“, bestätigte sie. „Ich habe hier von meiner Großtante ein Café geerbt. Und mit dem Verkauf kann ich es mir endlich erlauben, mir eine Auszeit zu nehmen. Die Forschungsstelle war nicht das Richtige für mich, irgendwie bin ich nach meiner Promotion da hängen geblieben.“
Erst nachdem sie geendet hatte, bemerkte sie Tores veränderten Gesichtsausdruck. Reglos starrte er sie an und hielt den Löffel für die Mousse in der Hand, ohne etwas davon zu essen.
Sie runzelte die Stirn. Stimmte irgendetwas nicht? Die Mousse schmeckte himmlisch, aber irgendwie schien die Stimmung ruiniert zu sein.
„Bist du fertig?“, fragte er nach einer Weile des Schweigens. Seine Stimme klang nicht mehr warm und weich, sondern neutral. „Dann sollte ich dich nach Hause bringen. Wo wohnst du?“
Kate schluckte und versuchte, sich ihre Verblüffung nicht anmerken zu lassen.
Hätte er sie das Gleiche vor fünf Minuten gefragt, wäre sie sicher gewesen, dass der Abend zu mehr geführt hätte. Sie wusste nicht, ob sie aufgrund dieser Wandlung erleichtert oder enttäuscht sein sollte. Es war wohl ein bisschen von beidem.
Was war bloß in diesen fünf Minuten passiert?
„Im Bamse Bed & Breakfast.“
„Lass mich eben zahlen, dann gehen wir“, sagte Tore förmlich und eilte zum Tresen.
Kate wollte noch protestieren, aber es war schon zu spät. Gut, wenn er unbedingt den Gentleman spielen wollte, indem er sie einlud, sollte er das tun.
Als sie nach draußen in den Sonnenschein traten, hätte Kate fast gelacht. Es musste mindestens um eins in der Nacht sein, aber es war genauso taghell wie zuvor.
Übermütig reckte sie die Arme in die Luft und drehte sich im Kreis.
Beinahe wäre sie gestolpert, aber Tores Arme hielten sie plötzlich fest und sicher umschlungen. Ein angenehmes Kribbeln tanzte bei der Berührung in ihrem Bauch und raubte ihr den Atem.
„Was tust du da?“, fragte er. Seine Stimme klang dunkel und rau, während er sie eindringlich betrachtete.
„Ich feiere die Mitternachtssonne“, lachte sie beschwingt und schmiegte sich wohlig in seine Umarmung.
Ihr Blick fiel auf seine schönen Lippen und blieb daran hängen.
Kate hörte, wie er scharf einatmete, als kostete es ihn alle Kraft, sich zu beherrschen. Vernunft wird überbewertet, schoss es ihr durch den Kopf. Und dann berührte sie endlich seinen Mund mit ihren Lippen und küsste ihn sanft.
Es fühlte sich so gut an. Er fühlte sich so gut an.
Tore schien einen Augenblick lang zu erstarren. Dann zog er sie mit einem Stöhnen noch enger an sich und begann, sie so voller Leidenschaft zu küssen, bis sie überhaupt nicht mehr denken konnte.
Sie standen mitten auf der Straße im Sonnenschein und in diesem Moment gab es nur noch ihn.
Wunderschön erzählt, gefühlvoll und spannend zugleich. Die Geschichte entführt einen stimmungsvoll in den Hohen Norden; man fühlt, leidet und hofft mit den Romanhelden. Lesegenuss von der ersten bis zur letzten Seite.
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