Das kleine Café in der Rue de la Lune Das kleine Café in der Rue de la Lune - eBook-Ausgabe
Roman
— Ein romantischer Liebesroman in Paris„Es ist ein richtiges Wohlfühlbuch, sehr empfehlenswert.“ - wodisoft.ch
Das kleine Café in der Rue de la Lune — Inhalt
Macaron Magnifique: Neuanfang in einem zauberhaften Café in der Nähe des Eiffelturms. Für alle Leser:innen von Jenny Colgan und Julie Caplin
„Es ist in Ordnung, Dankbarkeit zu zeigen, Tiago. Aber daraus darf keine Abhängigkeit entstehen. Du musst nicht tun, was er für richtig hält. Du musst tun, was du für richtig hältst!“
„Ich weiß!“, sagte er. „Doch es ist eine Sache, zu einer Erkenntnis zu gelangen und eine andere, sein Tun danach auszurichten.“
Lucille wird nach Paris gerufen, um das heruntergewirtschaftete Café ihrer Großtante vor der Übernahme durch die Patisserie-Kette Gibaldi zu bewahren. Die Rettung scheint unmöglich, nicht zuletzt durch Lucilles Weigerung, ihre Ungebundenheit aufzugeben. Doch dann tritt Tiago in ihr Leben. Der Neffe Gibaldis und rechte Hand des Unternehmens bietet überraschend seine Hilfe an und begibt sich damit in eine gefährliche Zwickmühle. Hin- und hergerissen zwischen Pflichtgefühl und Herzenswünschen entwickeln Lucille und Tiago Gefühle füreinander. Sind die beiden bereit, für die Zukunft ihrer Liebe und die des Cafés all das aufzugeben, was ihnen Sicherheit bietet?
„Es ist ein richtiges Wohlfühlbuch, sehr empfehlenswert.“ ((Leserstimme von wodisoft.ch))
„Wer Ruhe, Entspannung und gute Unterhaltung sucht, wird mit diesem Buch überrascht. Die Protagonisten sind so detailliert beschrieben, so dass die Handlungen nachvollziehbar und die Story einfach nur schön ist. Danke für die entspannten Lesestunden.“ ((Leserstimme von Netgalley))
Leseprobe zu „Das kleine Café in der Rue de la Lune“
Lucille
Lucille Bouton beugte sich vor und stützte sich auf ihren Oberschenkeln ab. Ihre Muskeln brannten, sie keuchte, aber ihre Gegnerin Gabriella Fortadite hatte es härter getroffen: Sie hing schlaff in den Seilen der blauen Ecke, der Kapitulation nahe. Gilbert, der sich ansonsten um die Nachwuchstalente kümmerte, übernahm heute den Part des Ringsprechers und warf Lucille einen tadelnden Blick zu. Sie winkte ab, schüttelte den Kopf und gab ihm zu verstehen, dass er sich nicht sorgen musste. Er war zwar im Vorfeld von Christophe informiert worden, dass [...]
Lucille
Lucille Bouton beugte sich vor und stützte sich auf ihren Oberschenkeln ab. Ihre Muskeln brannten, sie keuchte, aber ihre Gegnerin Gabriella Fortadite hatte es härter getroffen: Sie hing schlaff in den Seilen der blauen Ecke, der Kapitulation nahe. Gilbert, der sich ansonsten um die Nachwuchstalente kümmerte, übernahm heute den Part des Ringsprechers und warf Lucille einen tadelnden Blick zu. Sie winkte ab, schüttelte den Kopf und gab ihm zu verstehen, dass er sich nicht sorgen musste. Er war zwar im Vorfeld von Christophe informiert worden, dass Lucille und Gabriella nicht vorhatten, dem Publikum einen einstudierten Fight vorzuführen, doch mit so viel sportlichem Ehrgeiz hatte er nicht gerechnet.
Es war der Unterhaltungswert, der am Tag der offenen Tür bei allen Angeboten und Showkämpfen im Vordergrund stand … der Spaßfaktor ebenso wie die Veranschaulichung gängiger Tritt- und Schlagtechniken, um neue Klubmitglieder für das Le Havre zu akquirieren. Einen Eiertanz wollten sich Gabriella und Lucille dennoch nicht liefern. Erst recht nicht, weil ihr Aufeinandertreffen als abschließendes Highlight des Tages galt. Und bislang war ihrer beider Plan aufgegangen.
Gilbert vergewisserte sich, dass Gabriella zu Atem kam, und fuhr damit fort, den Zuschauern die Raffinessen des Kickboxens zu erläutern: „Der letzte Frontkick von Lulu hatte es in sich. Der Fußballen trifft den Gegner entweder, wie hier gesehen, in den Bauch oder auf den Solarplexus, die Herzspitze oder den Kopf.“
Ein Helfer hielt Gabriella einen Becher Wasser hin und führte den Strohhalm zwischen die Polster ihres Kopfschutzes, damit sie trinken konnte. Lucille nickte ihr zu. Gabby hatte sie ordentlich traktiert. Ihre Bewegungen waren flink gewesen, mit einer Jab-Abfolge war es ihr geglückt, Lucille zur Aufgabe ihrer Deckung zu zwingen. Ein Kinnhaken hatte sie zu Boden gehen lassen, und Gilbert hatte begonnen, sie anzuzählen. Die Zurufe aus dem Publikum waren zu einem hysterischen Singsang angeschwollen, bevor Lucille ihre Kräfte mobilisiert und Gabriella mit einem Roundhousekick aus dem Konzept gebracht hatte.
Die bevorstehende Runde würde über Sieg oder Niederlage entscheiden.
Jemand bot auch Lucille etwas zu trinken an. Dankbar sog sie die eiskalte Flüssigkeit durch den Strohhalm und ließ ihren Blick durch das Zelt schweifen, das eigens für die Showkämpfe aufgestellt worden war. Christophe Magon schob sich mit stolzgeschwellter Brust durch die Menge. Selbstbewusst präsentierte er der lokalen Presse seine schiefe Nase, ein Relikt aus seinen Zeiten als aktiver Boxer und legte kumpelhaft den Arm um die Schultern der Gäste. Le Havre war sein Baby. Die Kampfsportschule lag idyllisch am Rande von Lyon in einem Grünstreifen, einen Katzensprung entfernt vom Flussufer und unweit einer Verladestelle für Industrieschiffe. Interessenten von nah und fern hatten sich heute in Fragerunden, Informationsgesprächen und Vorführungen von der modernen Ausstattung und den großzügigen Trainingsräumen überzeugen lassen. Doch dieses Zelt, das die Atmosphäre eines 30er-Jahre-Varietés versprühte, hatte sich als Besuchermagnet entpuppt. Von dem hölzernen Podest im Zentrum, auf dem der Boxring von allen Seiten einsehbar war, führte eine Treppe aus fünf Stufen auf den mit Dielen verlegten Boden. Die Zeltwände liefen kuppelartig zusammen und wurden durch Verstrebungen und Seile verstärkt, an denen Laternen aufgehängt waren, die für warmes Licht sorgten. Die rings um das Podest aufgestellten Bänke und eine kleine Tribüne, die den Abschluss der Sitzreihen bildete, waren aus dunklem Holz gefertigt und voll besetzt.
Lucille kannte man im Boxring unter ihrem Shownamen Lulu La Blonde. Vor sechs Jahren war sie nach Lyon gekommen und hatte sich im Le Havre vorgestellt. Vom Kickboxen hatte sie nichts verstanden, war aber von Natur aus mit einer Energie gesegnet, die ihr den Job als Bistroangestellte der Kampfsportschule schnell madig gemacht hatte. Sie hatte angefangen zu trainieren und war davon berauscht gewesen, ihren Körper bis an die Grenzen zu treiben und sich im Sparring und bei Wettkämpfen mit anderen zu messen. Sie hatte Sportauszeichnungen abgeräumt, die Trainerausbildung absolviert und sich im Ring bald einer treuen Fangemeinde erfreut. Sie liebte die Faszination, die in den Augen des Publikums glühte, wenn sie sich dem, was sie beherrschte, hingab. Natürlich nur bis zu einem gewissen Punkt. Gegen ein Quäntchen mehr von Lulu La Blonde hätten viele nichts einzuwenden, und manch einer tat das unmissverständlich kund. Doch wer ihr näherkommen durfte, entschied sie allein.
Sie warf einen Blick hinauf zur Tribüne. Vielleicht konnte sie den Kerl in der beigebraunen Lederjacke später auf einen Drink einladen. Er war ihr schon am Anfang des Kampfes aufgefallen. Der Fremde streichelte zwar hin und wieder über den Rücken seiner Begleiterin, einer rassigen Schönheit, doch seine bewundernden Blicke im Schatten seiner Baseballkappe galten Lucille.
„Wir gehen in die letzte Runde!“ Gilbert schenkte Gabriella, deren Gesichtsfarbe sich wieder von der ihres dunkelroten Kopfschutzes absetzte, ein Lächeln und nickte Lucille zu. „Übertreibt es nicht!“, raunte er beiden entgegen und bezog Position.
Lucille spürte einen stechenden Schmerz unter den Rippen, aber auch die Erregung, die sich während des Boxens über ihr ganzes Sein ausbreitete. Ihre Mundwinkel zuckten, konzentriert ließ sie ihren Blick über die Statur ihrer Gegnerin schweifen. Bei aller Freundschaft – sie würde Gabby keine Chance geben, das Ruder noch herumzureißen. Mit schief gelegtem Kopf zeichnete sie gedanklich die Konturen der Muskulatur an den Oberarmen und am Nacken ihres Gegenübers nach und blieb an Gabbys Augen hängen. Vor ein paar Minuten hatte sie sie angeblitzt wie eine Raubkatze. Jetzt hatte sie Mühe, ihre Erschöpfung zu verbergen.
„Lulu, Lulu, Lulu“, ertönte es kanonartig aus dem Publikum.
Eine Glocke erklang, Gilbert sprang zur Seite, und sofort holte Lucille Schwung in den Seilen der roten Ecke und stieß sich energisch ab. Die Rufe und der Beifall erreichten donnernde Lautstärke, Anhänger beider Lager lieferten sich einen verbalen Schlagabtausch. Speicheltröpfchen sprühten umher, die Holzdielen knarzten und der Boden im Ring bebte.
Lucille überstreckte ihren Rücken und fixierte Gabriella, tänzelte auf sie zu, nahm jede Muskelzuckung wahr und las aus ihren Bewegungen wie aus einem Buch. Und doch überraschte die Boxerin sie mit einem Hieb, der zielsicher ihr rechtes Kopfpolster traf und sie straucheln ließ.
„Ein kräftiger Haken von Gabriella Fortadite trifft Lulu La Blonde!“ Gilbert hüpfte um die beiden Sportlerinnen herum, bedacht darauf, keine ihrer Regungen zu verpassen.
Lucille schüttelte sich den Schweiß aus den Haaren und sog die sensationsschwangere Luft tief in ihre Lunge. Das Publikum schrie vor Begeisterung.
Gabriellas Augen blitzten. Ihre Hüfte drehte sich und mit einem Schwung, von dem niemand geglaubt hätte, dass sie ihn noch besaß, riss sie ihr rechtes Bein in die Höhe. Lucilles Atem stockte. Sie nahm die Bewegung wie in Zeitlupe wahr, wusste, dass ihr nur der Bruchteil einer Sekunde blieb, um ihre Chance zu ergreifen. Sie wich dem herabrauschenden Fuß ihrer Gegnerin aus, presste die Lippen aufeinander und spannte alle Muskeln fest an. Die Gesichter aus dem Publikum verschwommen zu einer einzigen Grimasse, Geräusche drangen nur noch wie von Weitem an ihr Ohr, ein monotones Summen übertönte das Pulsieren ihres Herzens. Lucille ließ ihre Rechte von unten hervorschnellen, ein sauber ausgeführter Uppercut, und bevor Gabriella reagieren konnte, fiel sie zu Boden und blieb auf dem Rücken liegen.
Gilbert ging neben ihr in die Hocke, wechselte ein paar Worte mit ihr und sprang zurück auf seine Füße. „Siegerin dieses letzten Showkampfes ist …“, er riss Lucilles Faust in die Höhe, „Lucille Bouton alias Lulu La Blonde!“
Ohrenbetäubender Beifall erfüllte das Zelt.
„Alors, das war phänomenal, Lucille!“ Christophe holte Lucille an der untersten Stufe der Holztreppe ab und geleitete sie durch die applaudierende Menge Richtung Hinterausgang. „Du solltest wieder häufiger an Wettkämpfen teilnehmen. Es liegt dir im Blut, die Menschen lieben dich!“
Lucille antwortete nicht. Sie war sich ihres Talents bewusst und hatte Spaß beim Kickboxen. Doch was sie etablieren wollte, war der Selbstverteidigungskurs, den sie ins Leben gerufen hatte und der sich steten Zuwachses erfreute. Es gab zu viele Mädchen und Frauen auf dieser Welt, die sich im Ernstfall weder behaupten noch verteidigen konnten. Sie fielen in Stresssituationen in eine Schockstarre oder reagierten völlig unzureichend. Dass es in ihrem kleinen Bekanntenkreis Frauen gab, die sich deshalb nicht mehr allein vor die Tür wagten, erschreckte Lucille. Ihnen und anderen Betroffenen das richtige Mindset zu vermitteln und Abwehrtechniken beizubringen, hatte sich für sie zu einer Herzensangelegenheit entwickelt.
„Hey, hörst du mir überhaupt zu?“ Christophe beäugte sie von der Seite.
„Ja klar. Ich denke darüber nach.“ Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um Christophe zu beichten, dass sie das Gegenteil beabsichtigte.
Lucille schaute über ihre Schulter zurück zum Ring und löste den Klettverschluss ihrer Boxhandschuhe. Gabriella hatte sich im Ring aufgesetzt, ihren Kopfschutz abgelegt und winkte ihr. Sie sah erledigt aus, aber auch glücklich. Sie hatten Spaß haben wollen, darauf war es ihnen angekommen. Lucille warf ihr eine Kusshand zu und trat hinaus in die Dunkelheit. Die kühle Abendluft tat gut, aber Lucille war durchgeschwitzt und fröstelte bald. Zitternd hob sie ihr Kinn, um in den wolkenlosen Himmel zu schauen. Das Licht der Laternen, die an einer Schnur vor dem Zelt im Wind hin- und herschaukelten, verlor sich schon nach wenigen Metern, und ihre Augen gewöhnten sich an die Finsternis. Unzählige Sterne tauchten am Firmament auf.
Sie atmete tief durch und wickelte die Bandagen ab, die ihre Finger zusätzlich geschützt hatten.
Langsam strich sie sich die Nässe aus den Haaren und massierte ihren Nacken. Vereinzelt spürte sie Verhärtungen, drückte ihre Fingerkuppen zwischen die Muskelstränge, bis es schmerzte und schüttelte ihre Beine aus. Noch immer rauschte die Euphorie des Sieges durch ihre Adern, aber die Anspannung des Kampfes fiel langsam von ihr ab. Sie machte sich auf den Weg Richtung Gebäude, wo sie eine Dusche genießen und frische Sachen anziehen wollte.
Da entdeckte sie den Kerl mit der Lederjacke. Er stand neben dem Zeltausgang – ohne seine Begleiterin – und blickte in ihre Richtung.
Sie konnte nicht erkennen, ob seine Augen ihren Bewegungen folgten, dafür war die Distanz zwischen ihnen zu groß. Lucille neigte den Kopf zur Seite, lächelte und hob eine Hand. Wenn sie es war, die er beobachtete, dann würde er reagieren, oder?
Es dauerte ein paar Sekunden, bis er auf sie zusteuerte und seine Silhouette sich zu klaren Konturen zusammensetzte. Er war groß, mit breiten Schultern ausgestattet, seine Arme schwangen locker zu beiden Seiten seines muskulösen Oberkörpers. Seine Gesichtszüge waren ebenmäßig und seine Haare dunkler, als Lucille sie unter seiner Kappe vermutet hatte. Als der Schein einer wippenden Laterne seine ozeanblauen Augen erreichte, atmete sie scharf ein.
„Salut!“ Seine Stimme wehte heran wie eine Sommerbrise. „Ich bin André. Schön, dass wir uns kennenlernen!“ Er kam vor ihr zum Stehen, räusperte sich und streckte ihr seine Hand entgegen.
Lucille spürte seinen Händedruck. Sie mochte es, wenn ein Mann zupackte. „Mein Name ist …“ Weiter kam sie nicht, weil André sich zu ihr herunterbeugte und ihr rechts und links einen Kuss auf die Wange hauchte.
„Lucille Bouton, ich weiß!“ Schneeweiße Zähne strahlten ihr entgegen, gepflegte Lippen formten sich zu einem Lächeln, das jedes Frauenherz höherschlagen ließ.
„Ja, stimmt!“ Lucille wies auf das Zelt und nickte. „Ich habe dich gesehen, als ich im Ring stand.“
„Tatsächlich?“ Er hob seine Augenbrauen.
„Machst du dir keine Gedanken, dass deine Freundin dich vermisst?“
Andrés Blick huschte über den Platz vor dem Zelt.
Er war also einer von dieser Sorte. Lucille schürzte die Lippen und stemmte eine Hand in die Hüfte. Sie hatte gern Spaß, aber Untreue war ihr zuwider.
André drehte ihr sein Gesicht wieder zu, schmunzelte und fuhr sich über seinen Dreitagebart. „Sie ist nicht meine Freundin!“ Er sah sie unvermittelt an. Seine Augen waren wirklich blaublaublau. „Sie ist meine …“
„Ja?“ Lucille sprach gedämpft mit einem wissenden Unterton. „Was ist sie? Eine lose Bekannte? Eine schüchterne Verehrerin?“
Auf dem Kies waren Schritte zu hören. „Lucille?“ Sie erkannte Christophes Stimme.
„Ich bin hier!“ Sie kehrte André den Rücken und winkte ihrem Chef, der mit weit aufgerissenen Augen die Dunkelheit nach ihr absuchte.
„Das Zelt ist leer, und wir wären so weit. Kommst du?“
Sie griff sich mit der Hand an die Stirn. Das Mitternachtsmahl. Christophe hatte seine Mitarbeiter zu einem Essen eingeladen, um den Abend gemütlich ausklingen zu lassen.
Er kam näher und starrte sie an. „Was stehst du hier allein im Dunkeln? Und du musst noch duschen?“ Er warf die Hände in die Höhe und trabte von dannen. „Ich sag den anderen, dass sie sich noch gedulden müssen. Die werden begeistert sein!“
Lucille wirbelte herum und kniff die Augen zusammen. Wohin war dieser Gigolo verschwunden?
Die Temperaturen waren gesunken. Lucille kuschelte sich in ihre Sweatjacke, zog die Schultern hoch und folgte dem Stimmengewirr. Christophe hatte Windgläser aufstellen lassen, die flackernd einen Pfad markierten. Urige Kastanien, deren Stämme mit Lichterketten umwickelt waren, tauchten wie überdimensionale Schattengebilde auf der ansonsten freien Rasenfläche auf. Ihre Blütenstände, die im dichten Blätterwerk aussahen wie Kerzen, erweckten den Eindruck einer weiteren Lichtquelle. Inmitten der Baumgruppierung waren Tische aus dem Bistro des Le Havre zu einer Tafel aneinandergestellt worden. Rings herum hatten sich Lucilles Kollegen auf gepolsterten Korbstühlen niedergelassen, ihr Gelächter zeugte von heiterer Stimmung.
„Da ist sie ja!“ Christophe, der am Kopf gesessen hatte, stand auf und erhob sein Glas. „Mesdames et messieurs, Lulu La Blonde ist eingetroffen. Unser Diner kann in Kürze beginnen.“
Beifall erklang, Witze wurden gerissen, und Lucille hielt sich beide Hände vors Gesicht, um die aufsteigende Röte zu verbergen. „Pardon!“, rief sie dann in die Runde und streckte die Arme wie zu einer allumfassenden Liebkosung aus. „Ihr seid die Besten. Danke, dass ihr auf mich gewartet habt. Ich war … beschäftigt.“ Dieser Kerl, André, hatte sich in Luft aufgelöst und war es nicht wert, dass sie noch einen Gedanken an ihn verschwendete.
„Komm, setz dich zu uns!“ Gilbert winkte ihr und wies auf den freien Platz.
Lucille umrundete den Tisch, unterhielt sich kurz mit Fanny, der Bistrokraft des Le Havre, und umarmte Gabriella, die sich für den fairen Kampf bedankte und ihr zum Sieg gratulierte.
„Bin ich also doch nicht die Letzte?“ Sie setzte sich, breitete eine Fleecedecke über ihre Beine und sah Gilbert fragend an.
„Ich verstehe nicht recht …“
Sie wies auf den freien Korbsessel neben sich. „Bleibt der etwa unbesetzt?“
Gilbert lächelte, als wahrte er ein Geheimnis. „Nicht mehr lang. Christophe wird gleich etwas dazu sagen, nehme ich an.“
Lucille runzelte die Stirn, hakte aber nicht weiter nach. Sie ließ sich die Rotweinflasche herüberreichen, schenkte sich ein und lehnte sich zurück. Die Tafel war ein Augenschmaus. Das dunkle Geschirr aus dem Bistro wirkte kontrastreich zu den schneeweißen Tischdecken, das Besteck funkelte im Schein der Kerzen. Christophe hatte keine Mühen gescheut, seinen Mitarbeitern mit dieser Einladung seine Wertschätzung entgegenzubringen. Das Le Havre war nicht bloß eine Kampfsportschule. Es war eine Familie.
„Ihr Lieben!“ Christophe ließ einen Löffel am Rand seines Glases klingen, woraufhin die Gespräche verebbten und sämtliche Augenpaare sich auf ihn richteten. „Ihr wart großartig heute. Allesamt.“ Kollektives Klopfen auf Holz kam zur Antwort. „Bevor wir zum gemütlichen Teil übergehen und uns das Essen und den Wein schmecken lassen“, er streichelte über seinen Bauch, der in den letzten zwei Jahren runder geworden war, und lachte, „möchte ich euch jemanden vorstellen.“ Christophe schaute hinter sich und winkte jemanden heran, der für die anderen noch unkenntlich blieb. „Er ist Vollblutsportler, ein Karate-Ass und hat vor Kurzem die Trainererlaubnis erhalten. Dass er unser Team bereichern wird, steht außer Frage. Begrüßt bitte mit mir ganz herzlich …“ Ein Mann in einer beigebraunen Lederjacke trat aus den Schatten und nickte in die Runde. „André Jacomande.“
Lucille verschluckte sich fast an ihrem Wein, beeilte sich aber, in den Applaus der anderen einzufallen. Amüsiert setzte sie ihre Ellbogen auf der Tischkante ab, platzierte ihr Kinn auf ihre übereinandergelegten Hände und lehnte sich vor, damit sie ihn sehen konnte. Und er sie.
„Hallo, Leute, und danke für die nette Begrüßung, Christophe.“ Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und mit der Zunge über seine Lippen. „Das war ein starker Einstieg heute Abend. Ich konnte den letzten Showkampf mit meiner Schwester verfolgen.“ Sein Blick schweifte über die am Tisch Sitzenden und blieb an Lucille hängen. „Sie konnte zwar kaum hinsehen, aber mich hat der Kampf sofort in seinen Bann gezogen. Eine unglaubliche Professionalität wird hier an den Tag gelegt, und ich freue mich darauf, ab sofort meinen Teil dazu beitragen zu dürfen.“ Noch einmal klatschte die Belegschaft, zeigte erhobene Daumen und rief André Begrüßungen sowie gute Wünsche entgegen.
Lucille betrachtete eingehend ihren Teller und lächelte.
Als André sich kurz danach neben sie setzte, nickte sie ihm zu. „So sieht man sich wieder!“
„Es war unhöflich, vorhin so plötzlich zu verschwinden. Es tut mir leid.“ Er atmete hörbar aus.
„Non, du bist mir keine Erklärung schuldig. Alles in Ordnung.“ Eine Pause entstand. Lucille suchte nach etwas, das ablenken würde von der Peinlichkeit der Situation, in der sie sich befanden, und wagte einen zweiten Anlauf. „Jetzt sind wir Kollegen. Ich bin hocherfreut.“ Es kam ihr vor, als nähme sie an einem Benimmkurs teil und wollte dem Dozenten imponieren. Sie rollte mit den Augen und lachte. „Kannst du mir erklären, was für einen Unsinn ich da rede?“
„Nicht wirklich. Aber vielleicht …“
„Vielleicht überspringen wir das und rücken gleich über Los!?“
Seine Augen blitzten. In das Azurblau mischten sich Sprenkel, die Lucille an Schaumkronen auf heranrollenden Wellen erinnerten. Die Luft um sie herum heizte sich innerhalb weniger Sekunden auf, sodass Lucille die Fleecedecke zurückschlug und sich ihren Atem ins Gesicht blies.
André ließ ein leises Lachen hören. „Jetzt rücken wir nicht über Los – wir spurten!“ Er zog die Augenbrauen hoch und stanzte mit seiner Gabel Dellen in die Stoffserviette.
„Und du denkst nicht, dass wir beide genügend Ausdauer besitzen?“ Sie nahm ihren Teller und stand auf, um sich für die Ausgabe der Mitternachtssuppe anzustellen. Seinen Blick in ihrem Rücken fühlte sie deutlich.
Es war stockdunkel geworden, und Lucille sah ihren Atem an der Luft kondensieren. Sie lehnte an einem der Bäume, hatte ein Bein angewinkelt und den Absatz ihres Schuhs in die grobe Rinde gehakt. Mit einem Glas Wein in der Hand beobachtete sie ihre Kollegen, von denen einige noch am Tisch saßen und in Gespräche vertieft waren. Andere standen abseits der Kastanien um Feuerschalen herum und trotzten den Temperaturen der Aprilnacht. Ab und an stoben Funken in den Himmel. Sie schienen die Wolkenschichten, die sich während des Tages gebildet hatten, atmosphärisch zu beleuchten. Eine Bluetooth-Box schickte Balladen und Chill-out-Klänge in den Äther.
„Du frierst.“ André blieb hinter Lucille stehen. Sie hörte, wie Stoff aneinander rieb, vernahm das Knautschen von Leder. Er legte ihr seine Jacke um und übte sanften Druck auf ihre Oberarme aus. „Ist es besser so?“
Sie schaute ihn über ihre Schulter hinweg an und lächelte. Dunkelbraune Locken umrahmten sein Gesicht und verliehen ihm das Aussehen eines Jungen, der nur Flausen im Kopf hatte. Aber so war es nicht. Sie hatten sich während des Essens unterhalten und viel miteinander gelacht. Er machte einen ernsten Eindruck auf sie. Vielleicht zu ernst.
„Möchtest du tanzen?“ Lucille drehte sich zu ihm um, schlüpfte in die Ärmel seiner Jacke und trat einen Schritt näher an ihn heran. Sein Duft nach Rasierwasser und Lavendel stieg ihr in die Nase. Die feine Note Vanille, die darunterlag, kitzelte ihren Gaumen. Er antwortete nicht, sondern ließ seine Hand in ihre gleiten, verschränkte seine Finger mit ihren und zog sie mit sich.
Unter den Baumkronen, die sich über ihnen zu einem Dach wölbten, verharrte er. „Ich bin froh, dass ich heute Abend hier bin.“
„Warte nur ab, bis du mit allen Bekanntschaft geschlossen hast, dann wird es dir anders ergehen“, scherzte sie. „Christophe kann einem den letzten Nerv rauben, und Gilbert …“
„Das meinte ich nicht.“
Die feinen Härchen auf ihren Armen richteten sich auf, ein Schauer durchfuhr sie. Sie entzog ihm ihre Hand und legte sie auf seine Brust. Sein Atem beschleunigte sich, das Klopfen seines Herzens vibrierte an ihrer Haut. Langsam schritt sie um ihn herum, ließ ihre Fingerkuppen über seine Oberarme und seinen Rücken streifen. „Ich mag, wie du dich anfühlst.“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
„Das … trifft sich gut.“ Seine Augen zeigten die Farbe des Ozeans an einem Sommertag, und Lucille tauchte darin ein. Sie umschlang Andrés Nacken, genoss das Gefühl seiner Berührung an ihrer Hüfte, während er sie hielt und ihren Körper zum Rhythmus der Musik wiegte. Die Stirn gegen seine Brust gelehnt, schloss sie die Lider und blendete die Geräuschkulisse aus, die zwischen den Songs an- und abschwoll. Minuten schienen sich zu Stunden zu dehnen, vergessen war die Kühle der Nacht. Seine Finger streiften ihr Kinn, tasteten sich entlang ihres Kiefers bis zu ihren Ohren, wo sie sanft über ihren Hinterkopf glitten und mit ihren Haaren spielten. Er beugte sich zu ihr herunter, sein Atem glitt über ihre Wangen. „Du glühst, Lucille.“
„Nein“, raunte sie und stellte sich auf die Zehenspitzen. „Ich brenne.“
Ein Rauschen ging durch das Blätterdach der Kastanien. Weiße Blüten rieselten herab und betteten sich wie Schneeflocken auf dem Gras.
„Wollen wir ein Stück gehen?“
Andrés Lippen hatten die ihren nicht berührt. Sie fühlte sich wie ein Licht, das man vorzeitig ausgepustet hatte. Das passierte ihr nur selten. „Wenn du darauf bestehst.“
„Ich … könnte ein wenig Abkühlung gebrauchen.“
Das Lächeln, das er aufsetzte, kaufte sie ihm nicht ab. Irgendetwas war falsch gelaufen. Oder zu schnell passiert. Sie warf einen Blick auf ihre Kollegen. Einige waren nach Hause gegangen, der Rest hatte es sich, eingewickelt in Decken, um eine der Feuerstellen gemütlich gemacht. Der Abend schien sich seinem Ende zuzuneigen. So oder so.
„Es gibt eine Bank, nicht weit von hier. Am Ufer der Rhône.“
Sie ließ André vorgehen, starrte Löcher in seinen Rücken und fragte sich, was er mit diesem jähen Abbruch ihres Flirts beabsichtigte. Bis vor ein paar Minuten hätte sie ihre Lieblingsboxhandschuhe darauf verwettet, dass sie mit ihm nach Hause gehen würde.
Sie passierten den Riesenfindling, der die Grenze des Grundstücks von Le Havre markierte, und erreichten nach der Durchquerung eines schmalen Streifens Wildwiese bereits das Wasser.
„Komm, setz dich!“, forderte sie ihn auf und klopfte neben sich aufs Holz. „Oder möchtest du, dass mir kalt wird?“ Auf ihr Zwinkern reagierte er nicht, aber er kam ihrer Bitte nach. Er ließ seine Hände in den Schoß fallen und sah zum Horizont, an dem ein Blitz den Himmel beleuchtete und diffuse Lichter sich wie Geäst in den Wolkenformationen ausbreiteten.
„Ein Gewitter zieht auf.“ Er legte seinen Arm auf die Lehne hinter Lucille. Daumen und Zeigefinger seiner Hand berührten ihre Schulter, sein Bizeps schmiegte sich in ihren Nacken. Warm spürte sie seinen Oberschenkel an ihrem liegen.
„André!“ Sie beugte sich vor und suchte seinen Blick. „Stimmt etwas nicht?“
Er wandte sich ihr zu und legte den Kopf schief. „Ich finde dich sehr interessant!“, flüsterte er.
Interessant. Aha.
In ihrer Gesäßtasche vibrierte das Smartphone.
„Und ich würde dich gern näher kennenlernen“, fuhr er fort.
Lucilles Handy summte erneut. Ein Mal, zwei Mal, ein drittes Mal.
André setzte sich aufrecht hin und griff nach ihren Unterarmen, während ein weiterer Blitz über den Himmel zuckte und sich in seinen dunklen Pupillen spiegelte. „Ich glaube, zwischen uns …“
„Entschuldige, ich muss da rangehen!“ Sie zog ihr Telefon hervor, entdeckte die Push-Nachrichten auf dem Display, und ihre Augen weiteten sich. Ihre Großtante Claire aus Paris besaß zwar ein Handy, nutzte es aber selten. Und geschrieben hatte sie ihr noch nie!
„Ist alles in Ordnung?“ Andrés Stimme verriet Besorgnis.
„Es ist wichtig, dass ich das lese.“
Er stand auf und ging bis ans Ufer, seine Hände tief in seinen Hosentaschen vergraben.
Meine liebe Lucille, wie geht es dir, Chérie? Ist das nicht ein herrlicher Frühsommer? Ich sitze beinahe täglich auf dem Hof und lasse es mir bei einem Grand Crème gut gehen.
Das war nicht ihr Ernst. Sie sinnierte über das Wetter, ihre Kaffeevorlieben? Lucille zog die Stirn in Falten und schüttelte den Kopf.
Nun, ich denke, ich lasse es gut sein mit dem oberflächlichen Geplänkel, von dem wir beide wissen, wie überflüssig es ist. Zur Sache also: Als du Paris verlassen hast, sagtest du, ich könne mich jederzeit an dich wenden, sollte ich in Not geraten und nicht weiterwissen.
Lucilles Herzschlag beschleunigte sich. Sie erinnerte sich an ihren Abschied von Claire, die herzliche, nicht enden wollende Umarmung, die Worte, die Claire gefunden hatte, als Lucille ihren Koffer geschlossen und für einen Moment gezögert hatte. Den unerschütterlichen Glauben an sie, ihre Großnichte. Und an das Versprechen.
Es ist so weit, meine Gute. Ich weiß nicht, wie es vonstattengehen könnte, aber ich benötige dringend Unterstützung. Das ManiFinique steht vor dem Aus, und was das für mich alte Schachtel heißt, muss ich dir nicht erklären. Du weißt, wie viel mir all dies bedeutet. Stirbt das ManiFinique, sterbe auch ich.
Das klang ernst, trotzdem schlich sich ein Lächeln auf Lucilles Lippen. Claire liebte das Drama und war geübt darin, einem Vorhaben oder einer Situation mit starken Worten – und Gesten – Nachdruck zu verleihen.
Ich erwarte dich zurück in Paris, sobald die Umstände es zulassen. PS: Dies ist keine Bitte, Cilly. Ich brauche dich wirklich, also beweg dein hübsches Hinterteil hierher. Vite, s’il vous plaît!
Lucille drückte den Homebutton und starrte auf das Tiefschwarz des Handydisplays. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, während Claires Worte nachhallten und in ihr ein längst vergessen geglaubtes Sehnen hervorriefen. „Ich muss gehen!“
André drehte sich abrupt zu ihr um. „Wie bitte?“
„Deine Jacke.“ Sie versuchte, sie abzustreifen, riss an den Ärmeln, als es ihr nicht gelang.
„Lucille …“ Er eilte herbei, und trotz der Finsternis konnte sie es erkennen: Seine Augen schimmerten wie die aufgepeitschte See bei Nacht.
„Wirklich, ich muss gehen.“ Sie machte kehrt und ließ André zurück. Auf sein wiederholtes Rufen reagierte sie nicht.
„Sie können mich hier rauslassen, Monsieur!“ Sie suchte in ihrem Rucksack nach ihrem Portemonnaie und fischte die Bankkarte hervor.
„Aber bis zur Rue Rivière ist es noch ein Stück, und es wird gleich anfangen zu regnen!“ Der Taxifahrer sah in den Rückspiegel, seine Augenbrauen skeptisch zusammengezogen, und reichte Lucille das EC-Kartenlesegerät.
„Das ist schon in Ordnung. Merci.“ Sie musste Klarheit in ihre Gedanken bringen, ihr Gefühlschaos ordnen. Und sie hoffte, einige Schritte zu laufen würde ihr dabei helfen. Unmöglich könnte sie jetzt sofort ins Bett gehen und einschlafen. Zumal die Wahrscheinlichkeit hoch war, dass Claire sie mit weiteren Nachrichten bombardierte.
Sie nahm den Beleg für die Zahlung entgegen, schlug die Autotür zu und schloss den Reißverschluss ihrer Sweatjacke. Die Windstärke hatte nochmals zugelegt, für einen Augenblick erhellte das Wetterleuchten das siebte Arrondissement Lyons, bevor es wieder dunkel wurde. Nieselregen setzte ein, verdichtete sich zu einem feinen Nebelvorhang und küsste Lucilles Gesicht. Sie dachte an André, an den schönen Abend mit ihm und daran, dass sie prinzipiell nicht abgeneigt gewesen wäre, ihn fortzuführen. Wenn der Kerl nur nicht so gefühlsduselig geworden wäre … Claires Nachricht war im genau richtigen Moment eingetrudelt.
Langsam setzte sie sich in Bewegung, ihre Beine schwer wie Blei. Jeder Schritt war eine Anstrengung.
Gedankenverloren bog sie vom belebten Boulevard D’Artagnan in die Rue Formentaire ab, die mit Eichen aus dem letzten Jahrtausend gesäumt war, unter denen der stärker werdende Niederschlag ihr zunächst nicht viel anhaben konnte. Als sie am Ende der Straße in den prasselnden Regen hinaustrat, schlug die Glocke von St. Pierre, der kleinen gotischen Kirche, deren Läuten sie täglich bis in ihre Wohnung vernahm, zur halben Stunde.
Lucille wechselte die Straßenseite, sodass sie einen ungestörten Blick auf das Gotteshaus hatte, und nahm Platz auf einer der aufgestellten Bänke. Dass ihre Jeans sich innerhalb Sekunden voll Wasser sog, machte ihr nichts aus. Für den Moment fühlte sie sich am genau richtigen Ort. Ergriffen blickte sie an der Fassade aus Kalkstein empor, ließ ihren Blick über die eindrucksvoll gestaltete Rosette oberhalb des Portals gleiten und folgte der Architektur, die traditionell dem Licht entgegenstrebte. Die sich nach oben auffächernde Bauweise gipfelte in zwei filigranen Türmen, von denen einige groteske Steinfiguren auf das Viertel herabblickten.
Lucille schloss ihre Augen. Sie vermisste Paris und Notre-Dame. Wie oft sie mit Claire in ihrer Kindheit an der oberen Balustrade der Kathedrale entlangflaniert war und sich im Antlitz der Chimären in ihre Fantasiewelten verloren hatte, konnte sie nicht zählen.
„Wenn du nicht mehr weiterweißt“, hatte ihre Großtante ihr damals oft geraten, „und du meinst, die ganze Welt sei gegen dich, dann suche Rat bei den Chimären. Sie hören dir zu, sie verraten keines deiner Geheimnisse und manchmal …“ Claire hatte den Finger an die Lippen gelegt und Lucille aus ihren großen, warmen Augen angeblickt. „Manchmal flüstern sie dir die Lösung für deine ärgsten Sorgen in dein Herz. Und dann geht das Leben einfach weiter.“
Lucille strich sich die triefenden Strähnen aus der Stirn und fuhr mit der Zunge über ihre Lippen. In den Duft des Frühlingsschauers mischten sich, so meinte sie, feine Nuancen eines Geruchs, der sie gedanklich in das kleine Café ihrer Großtante entführte, wo die Aromen von Macarons und Madeleines durch die Räume schwebten und jedem ein Lächeln ins Gesicht zauberten. Dass sich daran etwas ändern sollte, war unvorstellbar! Lucille wischte sich mit dem Jackenärmel über die Wangen und stand auf. Claire hatte sie um Hilfe gebeten, und nichts auf der Welt war jetzt von größerer Bedeutung, als nach Paris zurückzukehren und ihrer geliebten Großtante beizustehen.
Tiago
Orangerot türmten sich Wolken wie Gebirgsketten am Horizont, wo sich die Reihen unterschiedlich großer Bäume konturlos verloren. Schicht um Schicht ergossen sich Farbnuancen ineinander, bis eine samtigwarme Komposition das Dunkel der Nacht verscheucht hatte und der Morgen begann. Seine nackten Füße berührten den sandigen Untergrund kaum, schwebten darüber, als wäre er ein Geist. Staubkörner schoben sich zwischen seine Zehen, Steinchen drückten unter seinen Sohlen, doch unbeirrt setzte er seinen Weg fort durch die Vertrautheit der Senke zwischen den Hügeln des Mandelhains. Ein schneidender Wind bauschte sein Hemd auf, riss an den Knöpfen. Er zitterte. Gegen die Märzkälte ankämpfend, zog er die Jacke um seinen Körper, verschränkte die Arme vor der Brust und versteckte die Hände in seinen Achselhöhlen. Einzelne Strähnen seines pechschwarzen Haares wehten ihm in die Stirn, ließen sich nicht zähmen, nicht hinter seinen Ohren feststecken.
Er hob das Kinn, biss die Zähne aufeinander und ließ seinen Blick über das karge Land und entlang der knorrigen Bäume schweifen, die sich wie Gerippe vor dem erwachenden Licht des Himmels absetzten. Eine heranrollende Sandwolke trübte seine Sicht für ein paar Wimpernschläge, und er kniff die Augen zusammen, bis die Böe zur Ruhe gekommen war. Dann verließ er den ausgetretenen Pfad, der den Hügel hinaufführte, auf dem er sonst Nachlaufen mit den Hunden spielte, um zu dem ältesten der Mandelbäume zu gelangen. Andächtig legte er seine Hände an die Rinde, befühlte die Oberfläche, ließ seine Fingerkuppen in die Unebenheiten einsinken. Er streckte seine Finger aus, umfasste einen der Zweige, bog ihn zu sich herunter und streichelte über jedes einzelne Blättchen der zartrosa Blüte. Er liebkoste die feine Dolde in der Mitte, spürte, wie Blütenstaub ihn kitzelte, und schloss seine Augen. Der Wind fuhr ihm erneut ins Haar, übertönte das Wispern, das die winterschlafenden Gräser von sich gaben, und entließ ein holziges, erdendes Aroma in die Weite des Hains.
Der Ruf seiner Großmutter erreichte ihn.
Tiago griff in die seidenen Laken seines Bettes, versenkte seine Fingerspitzen in den Stoff, der sich als wulstige Falte in seine Handinnenfläche presste. Die Traumbilder des Mandelhains seiner Großeltern paarte sich mit einer Ahnung von Bedrohung. Sein Herzschlag beschleunigte sich, sein Atem strich keuchend über seine Lippen. Er wollte nicht fort von seiner Kindheit. Er wollte nicht aufwachen, weil dann jede Empfindung, die er mit seinem damaligen Leben abgespeichert hatte, nichts weiter sein würde als eine Erinnerung.
Nur noch einen Moment zurück in die Traumwelt fliehen, nur noch einen kleinen Moment …
„Tiago, mein Bester!“ Großmutter war die Stufen hinabgestiegen, die aus ihrem Haus führten, und mit einem Mal stand sie neben ihm. Ihr graues Haar umwehte sie wie ein Schwarm Schmetterlinge den Flieder in ihrem Garten. „Du hast dich wieder hinausgeschlichen.“ Kein Hauch von Tadel war zu hören.
Tiago nickte, ließ die Mandelblüte los und wandte sich seiner Großmutter zu. Seinen Kopf an ihre Schulter gebettet, schmiegte er sein Gesicht in die tiefe Halsbeuge und roch den Duft nach frisch gebackenen Biscotti alla mandorle.
„Komm!“ Seine Großmutter legte ihre Hände um Tiagos kaltes Gesicht. „Ich werde dich eine Weile halten, damit du wieder warm wirst.“
Tiago schlug die Augen auf und starrte an die stuckverzierte Zimmerdecke seiner Pariser Wohnung. Er führte die Hände an seine Schläfen und erwartete fast, dass seine Finger sich mit denen seiner Großmutter verschränkten. Als sie ins Nichts griffen, wollten sich seine Augen mit Tränen füllen, das Gefühl der Sehnsucht gewann an Wucht. Tiago legte beide Hände auf die Brust, um sein Herz, das unter seinen Rippen hämmerte, zu beruhigen. Mit seinen Lippen formte er ein stummes O und atmete bewusst langsam aus. Er durfte sich nicht von seinen Emotionen dominieren lassen, musste sich auf die tatsächlich greifbare Wirklichkeit konzentrieren.
Im Traum nur mit einem Pyjamahemd bekleidet durch einen Mandelhain zu spazieren, dabei fast zu unterkühlen und von der längst verstorbenen Oma geherzt zu werden, war nicht darauf zurückzuführen, dass er seine Heimat vermisste. Vielmehr waren seine Reaktionen ausschließlich äußeren Reizen geschuldet. So hatte Doktor Conrad, den er im ersten Jahr nach seiner Ankunft in Frankreich regelmäßig aufgesucht hatte, es ihn gelehrt.
Tiago sah sich um. Das Schlafzimmerfenster hatte die ganze Nacht sperrangelweit offen gestanden. Der süßlich-warme Duft nach Mandeln steckte in den Kleidungsstücken, weil er ständig in Backstuben unterwegs war. Eine tiefer gehende Bedeutung sollte Träumen nicht zugesprochen werden. So einfach war das.
Tiagos Atmung fand zu einem gesunden Rhythmus zurück, und sein Blick fiel auf seinen Laptop, der auf der Kante des Nachtisches balancierte. Gestern Abend, unmittelbar bevor er das Licht gelöscht hatte, war er die Notizen durchgegangen, die er für den Termin mit François und Robert am Vormittag brauchen würde. Er musste Ergebnisse liefern – Onkel Salve hatte ihn nachdrücklich darum gebeten, die beiden Patissiers in die Mangel zu nehmen und mit ihnen über das Pilotprojekt zu sprechen. Auch wenn es bis zum Frühlingsfest der Rue de la Lune noch einige Wochen hin war.
Er schlug die Decke zurück und schwang seine Beine über die Bettkante. Mit ein paar Schritten hatte er das offene Fenster erreicht, zog die Vorhänge zur Seite und trat einen Schritt auf den kleinen Balkon im zweiten Stockwerk hinaus. Die Hände auf dem Geländer abgelegt, hielt er die Nase in den Wind und genoss erste Sonnenstrahlen, die sich über die Mansardendächer der gegenüberliegenden Gebäude stahlen. Die Bilder seines Traums verblassten, während er seinen Blick über die zusammenhängenden Wohnblöcke, die aus cremefarbenem Kalkstein erbaut waren, schweifen ließ. Beinahe jedes der bodentiefen Fenster war mit Geländern aus schwarzem Eisen ausgestattet, manche mit kleinen Vorbauten oder Balkonen, an denen im Sommer Pelargonien und Petunien in üppigen Kaskaden herabwuchsen. Die Rue Dégrasse war gesäumt von Wohnhäusern aus dem neunzehnten Jahrhundert. Natürlich hatten sich auch hier in den Erdgeschossen der Wohnblöcke zunehmend Büros oder Geschäfte angesiedelt, doch im Gegensatz zum berühmten Boulevard de la Chanson, der an die Rue Dégrasse anschloss, ging es hier eher gemächlich zu.
Tiago lehnte sich ein Stück über das Geländer und warf einen Blick auf die Einkaufsstraße. Ihre Bauten ragten höher in den Himmel, waren mit etlichen Türmchen und Rundbögen geschmückt und die Fassaden durch geschwungene Blumenornamente aus aufgesetztem Beton gestaltet. Erste Geschäfte öffneten ihre Pforten, Inhaber von Bistros und Cafés wischten taubedeckte Tische trocken. Bald schon würden Einheimische und Touristen die Straße mit Leben füllen.
Tiago atmete tief ein, lächelte und steuerte das geräumige Wohnzimmer an. Ein beinahe ehrfürchtiger Ausdruck huschte über sein Gesicht, nachdem er die Haube seines Linn-Sondek-Plattenspielers, ein Geschenk seines Onkels, aufgeklappt hatte. Der Tonarm ließ sich auf die Rille der Langspielplatte nieder, und die ersten Klänge des John Coltrane Quartets ertönten. Die Liebe zum Jazz hatte er seinem Vater zu verdanken. Tiago seufzte und genoss die Entspannung, die die Musik durch seinen Körper schickte.
Er tänzelte über Teppiche, in denen seine Füße versanken, und Holzdielen, deren Maserung im erwachenden Tageslicht zur Geltung kam, in Richtung Küche.
„Bonjour, Clementine, gut geschlafen?“
Seine Katze gab ein forderndes Miauen von sich.
„Natürlich, du hast Hunger!“, antwortete er ihr und ließ sich von dem Tier in die Küche begleiten, wo er eine Dose Nassfutter in einen Napf aus Porzellan leerte.
Nachdem er geduscht, in Jeans und Poloshirt geschlüpft war und ein Croissant vertilgt hatte, warf er einen letzten Blick in den Spiegel. Seine Haare machten, was sie wollten, kein Gel dieser Welt hielt sie im Zaum. Tiago zuckte mit den Schultern und fuhr Clementine durch das Fell. „Bis später!“
Tiago seufzte. Der Versuch, ungesehen durch den Hausflur und an der gläsernen Doppelschwingtür vorbei durch den Hinterausgang zu entkommen, war gescheitert. Onkel Salve gestikulierte hektisch winkend durch die Silhouette des weinroten Chez Gibaldi-Schriftzugs, der auf der Eingangstür prangte. Und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, duldete er weder Aufschub noch Widerspruch. Tiago betrat das Foyer und begrüßte Arlette, die Empfangsdame. „Bonjour! Wie ist die Lage heute?“ Er nickte in Richtung des Büros, in das sein Onkel gerade verschwunden war.
Arlettes Blick schweifte vom Bildschirm ihres Computers zu ihm herüber. „Du hast gesehen, dass er telefoniert? Mit zwei Telefonen?“ Ihre Brauen hoben sich bedeutungsschwanger.
„Ich verstehe!“ Tiago atmete hörbar aus und zog die Schultern nach hinten. „Auf in den Kampf!“
Setz dich!, formten sich Salvatore Gibaldis Lippen zu einem lautlosen Befehl, kaum dass Tiago den Raum betreten hatte und auf den überdimensionalen Schreibtisch zuging, hinter dem sein Onkel thronte. Er legte eines der Smartphones zur Seite und presste das andere an sein Ohr. „Muss ich Ihnen erklären, wie Sie Ihre Arbeit zu verrichten haben?“
Tiago schluckte. Wer auch immer Onkel Salves Gesprächspartner war, derjenige war im Begriff, eine satte Abreibung zu erfahren.
„Heute Nachmittag! In meinem Büro!“ Onkel Salve ließ das Handy auf den hochglanzpolierten Schreibtisch knallen und schnaubte. Dann sah er auf, schien das Telefonat gedanklich ad acta zu legen und inspizierte Tiago von Kopf bis Fuß. „Hast du die Abholung deiner Anzüge aus der Wäscherei verpasst?“
„Wie bitte?“
„Jeans und so ein … unförmiges Shirt …“ Onkel Salve machte eine Handbewegung, die Tiagos Erscheinungsbild erfassen sollte. „Ist das jetzt angesagt im gehobenen Geschäftsbereich?“
Tiago rang sich ein Lächeln ab. „Für den Termin mit François und Robert ist es genau richtig.“
Onkel Salve presste die Lippen aufeinander und betätigte die Gegensprechanlage. „Arlette, einen Kaffee für meinen Neffen!“
„Ich habe gerade gefrühstückt, danke, Arlette!“, rief Tiago hinterher und hob das Kinn, als sein Onkel ihn aus zusammengekniffenen Augen anfunkelte.
„Nun gut. Aber ich könnte einen Espresso brauchen. Und einen Happen zu essen. Umgehend!“ Er ließ den Schalter los und lehnte sich in seinem lederbezogenen Schreibtischsessel zurück. „Du bist also auf dem Weg zu François und Robert? Richte ihnen aus, ich erwarte, dass sie sich mit den kleinen Unannehmlichkeiten, die das neue Projekt mit sich bringen wird, professionell auseinandersetzen.“
„Onkel Salve, ich finde immer noch, eine vorübergehende Schließung des Cafés wäre praktischer. Es sind sicher nur ein paar Tage, bis …“
Salvatore Gibaldis Faust rauschte auf den Schreibtisch hinab. „Inakzeptabel! Völlig inakzeptabel!“ Er stand so ruckartig auf, dass sein Stuhl an die Wand schoss. „Ich glaube nicht“, er hob seinen Zeigefinger und richtete ihn auf Tiago, „dass ich dir beigebracht habe, es könnte irgendwie von Nutzen sein, ein gut gehendes Geschäft zu schließen.“
„Vorübergehend!“, wiederholte Tiago.
„Porca puttana! Auch das nicht!“
„Wie du wünschst, Onkel.“ Tiago nickte langsam, entgegen seiner inneren Überzeugung.
Onkel Salve war verbissen, wenn es ums Geschäft ging. Dabei gab es keinen Grund, sich zu beschweren. Die Patisserie-Kette Chez Gibaldi erfreute sich einer stetig wachsenden Kundschaft, viele der Gäste kamen regelmäßig, die Touristen kehrten gern ein. Vier Cafés hatte Onkel Salve allein in den vergangenen drei Jahren aufgekauft, renoviert und modernisiert. Die Expansion über die Grenzen Paris’ war geplant. Alles lief bestens.
„Ich greife auf Erfahrungswerte zurück, mein Junge! Und ich weiß, was das Beste ist, für mich, für die Firma … und auch für dich!“ Er setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und legte die Fingerkuppen seiner Hände aneinander. „Ah, sehr gut“, lobte er Arlette, die einen Espresso und ein paar Cornichons servierte und ihn an den nächsten Termin erinnerte.
Tiago spürte ein kurzes Lodern in seiner Brust, unterdrückte es aber und hoffte inständig, dass er jetzt gehen konnte.
„Willst du?“, fragte Onkel Salve und reichte ihm die Servierschale. Tiago rümpfte die Nase. Er mochte die französische Küche, aber mit den sauer eingelegten Gurken hatte er sich nie anfreunden können. Onkel Salve dafür umso mehr. Kein Tag verging, an dem er nicht nach ihnen griff, egal zu welcher Uhrzeit. Tiago wollte sich nicht vorstellen, welch immensen Vorrat Arlette in der Küche angelegt haben musste.
„Ich habe nicht viel Zeit. Pünktlichkeit ist eine Tugend, das weißt du doch, Onkel.“
„Es gibt etwas Wichtiges zu besprechen, und dafür muss Zeit sein!“ Onkel Salve tupfte sich mit einer schneeweißen Stoffserviette die Mundwinkel ab und sah Tiago mit ernster Miene an.
„Nun denn. Ich höre.“ Tiago schlug ein Bein über das andere und wippte mit dem Fuß.
„Warum zappelst du so?“ Onkel Salve legte Wert auf Manieren.
„Ich bin nur … neugierig!“ Ob es um eine Frau ging? Salvatore Gibaldi, so hieß es, war vor dem Tod seiner Frau Marlène ein recht umgänglicher Mensch gewesen. Die Krankheit Marlènes, ein schnell wucherndes Krebsgeschwür in ihrem Magen, das Sterben über Monate, all das hatte ihn verändert.
Als Tiago ein halbes Jahr nach Marlènes Beerdigung in Paris angekommen war, hatte er seinen Onkel so kennengelernt, wie er jetzt war: herrisch und mitunter skrupellos. Auch wenn er für Tiago alles getan hatte.
Eine neue Liebe würde vielleicht alles verändern …
„Es gibt ein Objekt, das ich übernommen habe.“ Er faltete die Hände im Schoß und legte die Unterarme auf den verchromten Lehnen des Stuhls ab.
Tiago sah ihn überrascht an. Bei jedem der Cafés, die inzwischen zum Chez-Gibaldi-Imperium gehörten, hatte Onkel Salve sich auf ihn und sein Verhandlungsgeschick verlassen. Noch nie hatte er ihn mit einem Fait accompli konfrontiert. „So?“ Tiago lehnte sich ein Stück vor. „Um welches Objekt handelt es sich? Und wieso erfahre ich erst jetzt davon?“
Onkel Salve grinste. „Du erfährst erst jetzt davon, weil ich der Chef bin und nicht du!“
„Und weil ich diejenige bin, die ihn dabei unterstützt!“
Tiago drehte sich um und beobachtete die junge Frau mit den langen Beinen, die gerade den Raum betreten hatte und jetzt einen Stapel Dokumente auf dem Schreibtisch seines Onkels ablegte. Charlize Mollez hatte es geschafft, sich dank ihres Engagements und der Geradlinigkeit, die sie an den Tag legte, den Posten als stellvertretende Geschäftsführerin zu sichern. Tiago war mit dieser Entwicklung mehr als einverstanden gewesen.
„Ich weihe dich gern in die Einzelheiten ein.“ Ihre Hand ruhte auf seinem Unterarm. „Bei einem Kaffee? Ich wollte eh gleich Pause machen.“
Tiago atmete hörbar ein und hielt die Luft einige Sekunden lang an. Charlize war eine sehr schöne Frau und wusste, die volle Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
„Ein anderes Mal bestimmt, aber ich muss los. François und Robert warten.“ Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und schielte anschließend zu seinem Onkel, der den Moment mit größtem Wohlwollen zu beobachten schien. Er lächelte und sah dann zum Fenster hinaus. „Herrliches Wetter. Und in der Rue Collier hat ein neues Bistro eröffnet. Kulinarische Köstlichkeiten en masse. Ihr beiden würdet euch sicher wohlfühlen dort.“ Das einfallende Sonnenlicht wurde vom Schneeweiß seines Oberhemdes reflektiert und verlieh seiner Gestalt die Würde einer Heiligenfigur.
Tiago blinzelte Charlize an, bemerkte ihr zustimmendes Lächeln. Sie war wirklich ein Bild von einer Frau, hoch gewachsen, schlank und doch kurvig. Und dass sie Interesse an ihm hatte, schmeichelte ihm. Vielleicht sollte er sie tatsächlich zum Dinner einladen …
„Wollen wir fortfahren?“, erinnerte Onkel Salve und blickte offensichtlich amüsiert zwischen Tiago und Charlize hin und her.
„Sehr gern!“ Charlize nahm ihre Hand von Tiagos Arm, nicht aber, bevor ihr Daumen fast unmerklich über seine Haut gestreift war. „Die Immobilie befindet sich auf der Rue de la Lune … in exzellenter Lage.“
Tiagos Augen weiteten sich. „Du sprichst nicht vom ManiFinique, oder?“ Er schluckte. Das ManiFinique stand nicht zum Verkauf. Es war nicht mal geschlossen.
„Die Inhaberin hat das Geschäft ganz offensichtlich nicht mehr im Griff“, fuhr Charlize fort und zog sich einen Sessel heran. „Die Räumlichkeiten sind in einem desolaten Zustand, in die Jahre gekommen ist nicht mehr als ein sehr diskret formuliertes Urteil. Das betrifft im Übrigen auch Mademoiselle Finiques Backkünste.“ Sie schlug die Beine übereinander, wobei ihr Rock höher rutschte und makellose, schmale Knie entblößte. Tiago zwang sich, den Blick abzuwenden.
„Es ist mir ein Rätsel, wie sie überhaupt so lang überleben konnte.“ Onkel Salve schnalzte mit der Zunge, was er immer tat, wenn er sich einer wie auch immer gearteten Überlegenheit bewusst war. „Macarons … Wie man sich damit über Wasser halten kann, ist mir unverständlich!“
Tiago verzichtete darauf, Onkel Salve darauf hinzuweisen, dass auch jedes Chez Gibaldi das süße Mandelgebäck anbot, das sich bei den Franzosen seit Jahrzehnten größter Beliebtheit erfreute. „Ich verstehe nicht ganz. Es gibt dort nicht ausschließlich Macarons!“ Er kehrte gern ins ManiFinique ein, die Besitzerin Claire Finique war gewissermaßen eine Legende im Viertel, wenn nicht gar im gesamten siebten Arrondissement. Ihr Café war ein lebendiges, ein atmendes Kunstwerk. Tiago konnte sich nicht vorstellen, warum Claire aufhören sollte. So alt war sie noch nicht. War sie etwa krank? Davon hatte Tiago bei seinem letzten Besuch nichts bemerkt. Aber Onkel Salve musste nicht Kenntnis darüber besitzen, wie gern er im ManiFinique war, für ihn wäre das so etwas wie ein Verrat. Also schwieg er und sah ihn aufmerksam an.
„Ganz recht. Es werden nicht ausschließlich Macarons angeboten. Aber viel mehr auch nicht!“ Onkel Salve lächelte. „Nun, zumindest in den letzten Jahren, wie ich hörte. Wenn du mich fragst: Von intelligenter Geschäftsführung und Zukunftsorientierung hat die Dame – und diese Bezeichnung verdient sie eigentlich ebenso wenig – keine Ahnung. Ganz im Gegenteil zu mir.“ Sein Grinsen wurde diabolisch. „Oder dir. Ich habe dich gut ausgebildet!“
Tiago nickte verhalten. Onkel Salve erinnerte ihn regelmäßig daran, dass er in ihn, seinen Neffen, investiert hatte. Von Anfang an. Er hatte ihn damals aufgenommen, aber es war nicht nur ein Handel aus einer verwandtschaftlichen Fürsorge heraus gewesen. „Ich gebe dir recht“, sagte er ruhig, „es zeugt von einer gehörigen Portion Optimismus, sich auf nur eine Handvoll Spezialitäten zu fokussieren.“
„Wohl eher von unglaublicher Dummheit!“ Onkel Salve schüttelte den Kopf und stimmte in Charlizes glockenhelles Lachen ein.
Tiagos Blick blieb an ihren geschminkten Lippen hängen. „Welche Summe hast du ihr gezahlt? Ist die Übernahme bereits vollständig abgeschlossen?“ Tiago öffnete den Verschluss seiner Tasche und zog seinen Laptop hervor. Die Details aus dem Verkauf würde er später an die Buchhaltung weitergeben.
„Zur Übernahme ist es noch nicht gekommen.“ Onkel Salve betrachtete eingehend seine Fingernägel, als hätte er sie gerade lackiert. „Mademoiselle Finique muss noch einwilligen.“
Tiago sah auf. „Aber sagtest du nicht gerade, dass das Café bereits dir gehört?“
Onkel Salves dunkle Augen blitzten. „Si. Denn ich habe keinerlei Zweifel daran, dass es so sein wird, mein Junge!“ Er erhob sich, steuerte die Tür seines Büros an und sah sich um. „Charlize, ich erwarte Sie in zehn Minuten im Konferenzraum!“
„Oui, Monsieur!“ Charlize schenkte Tiago ein Lächeln und verschwand dann im Foyer.
„Erwähnte sie nicht vorhin, dass sie in die Pause gehen würde?“ Tiago konnte sich die Frage nicht verkneifen, auch wenn ihm schwante, dass sein Onkel, wie so oft, völlig aus der Luft gegriffen reagiert hatte. Es war durchaus an der Tagesordnung, dass er seine Untergebenen schikanierte, wenn seine Laune zu wünschen übrig ließ.
„Sagtest du etwas?“ Der Blick seines Onkels sprach Bände.
Tiago seufzte und schaute ihm nach. Er war Onkel Salve zu Dank verpflichtet, wahrscheinlich sein Leben lang. Er hatte sich um ihn gekümmert, ihm eine Ausbildung ermöglicht und ihm zu Füßen gelegt, was man sich nur vorstellen konnte. Manchmal kam es Tiago vor, als hätte Onkel Salve in ihm ein Projekt gesehen, dass es umzusetzen galt. Fehlerfrei. Gewinnbringend.
„Also gut!“ Tiago folgte ihm ins Foyer. „Was genau hast du mit der Inhaberin bisher besprochen? Gibt es etwas, woran ich im Gespräch anknüpfen kann?“
Onkel Salve wandte sich zu ihm um, und ein Lächeln legte sich auf seine Lippen, das seine Augen nicht erreichte. „Sie hat mich hinausgeworfen, diese … diese … unmögliche Kreatur.“ Er gestikulierte wild und schüttelte seinen Kopf. „Sei vorsichtig im Umgang mit dieser Frau, Tiago. Sie ist seltsam.“
Tiago verzog seinen Mund. „Eine Kreatur?“ Onkel Salve urteilte voreilig und oft völlig grundlos. Die Art, wie er über andere sprach und in jedem zuerst das Schlechte sah, machte ihn zu einem Mann, dem er unter anderen Umständen wohl nie Sympathien entgegengebracht hätte. „Onkel, du hast meine Fragen nicht beantwortet.“ Er sah ihn an, erwartete genaue Anweisungen, wie er es von ihm gewohnt war.
Doch Onkel Salve legte nur seine Hand auf Tiagos Schulter und nickte. „Ich vertraue auf dich und deine Überzeugungskunst.“ Der Druck seiner Hand ließ nach. Für einen Moment schien es, als würde er noch etwas sagen wollen, doch er schwieg. Ohne seinem Neffen noch einmal in die Augen zu schauen, verschwand er im Konferenzraum.
Tiago hob die Schultern und ließ sie in Resignation fallen. Onkel Salve baute auf sein Urteil, zählte auf seine Loyalität. Nicht umsonst agierte Tiago als seine rechte Hand im Unternehmen, noch vor Charlize.
Er verabschiedete sich von Arlette, die ihm freundlich zuwinkte, verließ das Gebäude und trat hinaus in den sonnigen Vormittag. Zum vereinbarten Termin mit François und Robert würde er nun zu spät kommen, was bedeutete, dass die Informationsweitergabe zum geplanten Pilotprojekt nicht in der Ausführlichkeit stattfinden konnte, die Tiago angestrebt hatte. Er fluchte leise. Er behielt gern den Überblick, plante, wenn möglich, weit voraus. Zumindest in dieser Hinsicht waren sein Onkel und er sich sehr ähnlich.
Auf seinem Weg zum Chez Gibaldi, das von den Gebrüdern François und Robert Culotte geführt wurde, ging er in Gedanken noch einmal seine Aufzeichnungen vom vorherigen Abend durch. Der Umsatz würde sich durch das neue Projekt steigern lassen, das bevorstehende Frühlingsfest von Erfolg gekrönt sein, und im Anschluss könnten die anderen Patisserien nachziehen.
Er erreichte die Terrasse des Cafés. Schon jetzt waren alle Plätze besetzt. Das anhaltend gute Frühlingswetter lockte die Gäste nach draußen, lud sie ein zu verweilen und zu entspannen. Von Strapaze, Aufgeregtheit und Eile sollten sich die Menschen hier befreit wissen. Onkel Salve war es wichtig, dass seine Angestellten entsprechend den Attributen, die für ihn elementar waren, handelten und bedienten. Es galt, den Kunden exquisite Köstlichkeiten der Feinbäckerei zu bieten, in gediegener und doch zwangloser Atmosphäre. Und so lag zwar ein stetes Gemurmel in der Luft, die Szenerie ließ aber vor allem das Bild von Gelassenheit und Genuss aufkommen, genau so, wie Onkel Salve es wünschte. In formstabilen Sesseln aus Korbgeflecht, ausgestattet mit feiner Polsterung und breiten Armlehnen, saßen die Leute an polierten Tischen. Sie hatten die Beine überschlagen oder die Füße weit von sich gestreckt. Manche lasen Zeitung, andere tranken Kaffee, einen Tee oder eine süße Schokolade aus schneeweißen Tassen mit goldenem Griff. Auf passenden Tellern waren Gebäckstücke angerichtet, deren Duft nach Marzipan, Mocca und Marmelade die Sinne berührte.
Über der kompletten Front des Cafés spendete eine Markise aus lichtundurchlässigem, dickem Tuch Schatten. Das Weinrot des Chez-Gibaldi-Schriftzuges fand sich in den Stuhlpolstern, Servietten und im Interieur wieder. Eine Kellnerin, gekleidet in einen knielangen schwarzen Rock und eine weiße Bluse, lächelte zuvorkommend, als sie sich durch die Zwischenräume schlängelte, Bestellungen aufnahm oder Getränke und Gebäck servierte.
Tiago warf den Gästen einen freundlichen Blick zu und betrat durch die weit geöffnete Eingangstür das Café. Einen Moment mussten sich seine Augen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnen, dann nahm er Kurs auf die breite Glastheke, hinter deren Scheiben in goldglänzenden Schalen und auf weißen Porzellantellern Zitronenkuchen, Tarte Tatins, Macarons und allerlei Gebäck aus Brand- und Blätterteig präsentiert wurden.
„Tiago, wie schön, dich zu sehen!“ François sah auf seine Armbanduhr und zog die Augenbrauen hoch.
„Es tut mir leid, dass ich so spät komme. Ich … wurde aufgehalten!“ Tiago dachte an sein Gespräch mit Onkel Salve und an dessen Erwartungshaltung. „Ist es euch trotzdem möglich, etwas Zeit zu erübrigen? Dann könnten wir über ein paar Angelegenheiten reden.“
François überprüfte, womit die Kellnerin gerade beschäftigt war, und wischte sich die Hände an einem weinroten Geschirrtuch ab. „Es ist recht viel zu tun, wie du siehst.“
Tiago lächelte verständnisvoll. Wäre er zeitiger vor Ort gewesen, hätte sich dieses Problem nicht ergeben, aber das war nun nicht zu ändern. „Ist Robert nicht hier?“
„Mais oui, naturellement. Er müsste in der Backstube sein.“ François wandte sich an eine andere Mitarbeiterin, die bis gerade Kundschaft bedient hatte. „Annabelle, würdest du nach meinem Bruder Ausschau halten?“ Er drehte sich zurück zu Tiago. „Ein paar Macarons für dich? Die sind ganz frisch.“ Tiago betrachtete die Auslage. „Lieber ein Stück von der Sahnetorte.“ Um nichts in der Welt würde er zugeben, dass er sich Macarons später im ManiFinique gönnen würde.
„Einen Café au Lait dazu?“
„Gern, danke, François!“
„Ganz hinten ist ein Tisch frei. Sei so gut und geh schon vor. Wir sind in einer Minute bei dir!“
Neue Gäste waren eingetroffen, und solange François allein hinter der Theke stand, musste er sich darum kümmern, dass niemand zu warten hatte. Ein weiteres der höchsten Gebote, wenn man in einem von Salvatore Gibaldis Cafés angestellt war. Der Kunde war nicht nur König, er war Kaiser.
Tiago nahm das Stück Kuchen entgegen und kehrte der Verkaufstheke den Rücken. In den glänzenden Bodenfliesen spiegelten sich die Lampen, die von der cremeweißen Decke hingen. An den Wänden, bis auf halber Höhe mit weinroter Seidentapete bestückt, darüber in einem hellen Rosa gestrichen, waren golden gerahmte Fotografien französischer und italienischer Sehenswürdigkeiten angebracht. Vorbei am Arc de Triomphe und der Notre-Dame bog Tiago am Panthéon in den hinteren Teil des Cafés ab. Hinter der Kathedrale von Palermo und dem Diana-Brunnen von Syrakus fand er jene Tischgruppe, von der François gesprochen hatte.
Er hatte sich gerade auf der gepolsterten Bank niedergelassen und seinen Laptop ausgepackt, da hörte er das Lachen der Culotte-Brüder. Die beiden waren ihm von allen Angestellten der Chez-Gibaldi-Cafés am liebsten.
„Lass es dir schmecken!“ François setzte sich auf den Stuhl zu Tiagos linker Seite. „Ich hole dir gern noch etwas nach!“
Robert nahm auf der anderen Seite Platz.
„Ich glaube, fürs Erste bin ich versorgt, danke!“ Tiago öffnete eine Excel-Tabelle und fuhr mit dem Cursor der Maus über Einträge, die den Umsatz der letzten drei Monate zeigten. Es war an der Zeit, das Gespräch auf geschäftliche Inhalte zu lenken.
„Ihr leistet sehr gute Arbeit!“ Mit einem Lob zu beginnen war immer der richtige Einstieg. „Die Gäste machen einen durchweg entspannten Eindruck, wenn sie sich hier aufhalten. Die Kundschaft an der Verkaufstheke scheint überaus zufrieden. Bravo!“
François und Robert stießen mit einem Glas sprudelndem Wasser an.
Tiago nickte, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, führte die gut gehäufte Gabel zum Mund und lächelte. Dann räusperte er sich. „Aber ich bin überzeugt, wir könnten noch einiges mehr erreichen.“ Dass die Zahlen der letzten Monate konstant geblieben waren, deutete nichts Schlechtes an. Aber Onkel Salves Hunger nach Erfolg und Ansehen war bei Weitem nicht gestillt.
„Das sagtest du vor zwei Wochen schon einmal.“ François runzelte die Stirn. „Stimmt irgendetwas nicht? Ist dein Onkel unzufrieden?“
„Nein, überhaupt nicht!“ Tiago setzte sein diplomatischstes Lächeln auf. Nichts war hinderlicher in diesem Business als Mitarbeiter, denen die Motivation abhandenkam. „Wir haben uns jedoch Gedanken gemacht … um die etwas verloren wirkende Ecke an der linken Fensterseite. Daraus ließe sich etwas ganz Wunderbares machen.“
Die Brüder schauten sich um, verstanden aber nicht, worauf Tiago hinauswollte.
Er schmunzelte, schob sich in aller Ruhe das letzte Stück seines Kuchens in den Mund. „Was haltet ihr davon, wenn wir dort eine kleine Theke einbauen lassen würden?“, fuhr er schließlich fort. „An der Wand könnte man Regale, Spiegel und eine Spüle anbringen, die Fenster gleich daneben sind zu öffnen, sodass sogar der Ausschank nach draußen möglich wäre.“ Er schaute in fragende Gesichter. „Eine kleine Weinbar!“ Er untermalte seinen Ausruf mit einer Geste, die dem Hervorzaubern eines Kaninchens aus einem Zylinder nahekam.
„Wein?“ François schien nicht überzeugt, aber in Roberts Augen entdeckte er ein Leuchten. Er war derjenige, der für Neuerungen am zugänglichsten war. Deshalb hatte Onkel Salve sich entschieden, das Pilotprojekt genau hier zu platzieren. Nicht, dass er sich um ein mögliches Widerstreben seiner Angestellten geschert hätte. Aber gute Mitarbeiter waren heutzutage schwer zu bekommen. Und an dieser Stelle hatten sich die Brüder Culotte bisher stets genügsam gezeigt, obwohl am Personalschlüssel seit Längerem gespart wurde.
„Nun, es ist natürlich nicht so, dass die Installation einer Weintheke etwas völlig Neues wäre!“, gab Tiago zu. „Aber ich bin überzeugt, dass es, insbesondere im Sommer, ein absolutes Plus für das Café bedeuten würde.“ Er wartete einen Moment, um François und Robert Zeit einzuräumen, über das Gesagte nachzusinnen.
„Alors, ich finde, das klingt einleuchtend.“ Robert saß im Boot, während sein Bruder noch immer die Lippen kräuselte und sich nachdenklich übers Kinn strich.
Tiago beugte sich vertrauensvoll vor. „Am wichtigsten ist, dass ihr dahintersteht. Ihr sollt euch schließlich wohlfühlen!“ Dass Onkel Salve den Umbau längst beschlossen hatte und die Materialien schon bestellt waren, verschwieg er. Den Culotte-Brüdern das Gefühl zu geben, sie wären an Entscheidungen beteiligt, stabilisierte das Verhältnis. Zufriedene Angestellte bedeuteten zufriedene Kunden. Tiago war das ganz klar, Onkel Salve nicht.
„Also gut!“ François erhob sich und schob den Stuhl unter die Tischplatte. „Ich gehe davon aus, dass Monsieur Gibaldi uns weiteres Personal zur Verfügung stellen wird? Das ist mehr als überfällig, du weißt das!“
Tiagos Lächeln gefror. „Selbstverständlich!“, sagte er schnell. Schneller als beabsichtigt. Über die Umsetzung seines Versprechens würde er zeitnah mit Onkel Salve diskutieren müssen.
„Eine neue Herausforderung, très chic!“ Robert klopfte seinem Bruder auf die Schulter.
„Wundervoll. Dann gebe ich den Umbau in Auftrag. Zum Frühlingsfest sollte alles fertig sein.“ Tiago nickte. Der Anfang war gemacht, und das Fest würde unter einem guten Stern stehen. Zwei Fliegen mit einer Klappe! Tiago schloss die Datei, klappte seinen Laptop zu und verstaute ihn wieder in seiner Tasche.
Draußen atmete er tief durch. Das Gespräch war exzellent gelaufen, und er bemerkte, dass er sogar ein wenig beschwingt war. Die weitaus schwierigere Aufgabe stand ihm noch bevor.
Er überquerte das Kopfsteinpflaster einer Kreuzung und folgte dem breiten Gehweg, der vorbei an einigen Bekleidungsgeschäften, einem Damen-Coiffeur und einem Laden für Souvenirs führte. Es waren viele Touristen unterwegs, Fröhlichkeit und Unbekümmertsein schwängerten die Luft, die Portemonnaies saßen locker und griffbereit. Champs de Mars, die riesige Grünfläche, die zu Spaziergängen einlud und für Picknicks genutzt wurde, lag in unmittelbarer Nähe. Den Eiffelturm erreichte man im Nu, die Avenue de Champs-Élysées zu Fuß innerhalb einer halben Stunde. Das ManiFinique lag in der Tat günstig, die Übernahme würde sich als lukrativ herausstellen, wenn das Café erst mal renoviert und modernisiert wäre. Was das betraf, musste Tiago seinem Onkel beipflichten.
Er erreichte das alte dreistöckige Gebäude aus hellem Kalkstein, der an manchen Stellen eine leicht grünliche Färbung angenommen hatte, und blickte prüfend an der Fassade empor. Die Holzrahmen der beiden Schaufenster würden ersetzt werden müssen. Das Blechschild über dem Eingang zeigte einige Dellen, der Schriftzug des Cafés in einst geschwungenen dunkelgrünen Lettern war verblasst. Eine modernere Variante, natürlich beleuchtet, würde vonnöten sein. Längst hatte Tiago eine gedankliche To-do-liste angelegt, deren Punkte er, je nach Dringlichkeit, vor seinem inneren Auge hin- und herschob.
Er trat durch die geöffnete Tür wie in eine andere Welt.
Mademoiselle Finique führte das ManiFinique seit dem Ende der 60er-Jahre, was man unschwer an der Inneneinrichtung feststellen konnte, die seitdem im Wesentlichen nicht verändert worden war.
Im Vorbeigehen strich Tiago über dunkle Holzmöbel und begutachtete die Tapeten oberhalb der Holzvertäfelung. Von den psychedelischen Mustern wurde ihm jedes Mal, wenn er hier war, eine kurze Zeit schwindelig. Frauenbüsten auf verspielten Regalen, farbenfrohe Deko, gleichermaßen aus Naturmaterialien oder grellem Kunststoff, sowie Schlingpflanzen, die sich unter der Decke von einer Hängevorrichtung aus Makramee zur nächsten hangelten, prägten das Bild. Auf den Polstern aus Samt und den Gardinen an den Fenstern fanden sich große Blüten und Blätter, und auf einigen Beistellmöbeln ließen Lavalampen bunte Fantasiegebilde aus Wachs auf- und absteigen. Klaren Linien und moderner Eleganz begegnete man in Claire Finiques Patisserie kaum, die Einrichtung der Chez-Gibaldi-Cafés konnte gegensätzlicher nicht ausfallen. Tiago legte einen Finger an seine Lippen und den Kopf schief. Vielleicht war genau dies der Grund, warum er sich im ManiFinique so wohlfühlte. Dekadenz und Entsagung existierten nebeneinander, überall gab es etwas zu entdecken, und doch konnte der Geist entspannen. Etwas an oder in diesen Räumlichkeiten war imstande, Erinnerungen, die schmerzten, in ein schönes Licht zu tauchen. Zwar nie von Dauer, und doch war das Café für Tiago zu einer kleinen Insel geworden.
Er lächelte und hielt Ausschau nach Claire, die ihm aus der angrenzenden Backstube zuwinkte. „Un grand crème“, rief er ihr zu und steuerte einen der runden Tische in der Mitte des Gastraumes an, wo von der großflächigen Bodenmalerei, die das Holzparkett einst geziert hatte, nicht mehr viel zu erkennen war.
Tiago setzte sich und stützte seine Ellbogen auf dem wackeligen Tisch ab. Als er versuchte, seinen Stand auszugleichen, bemerkte er eine angetrocknete klebrige Masse unter seinen Fingern und Reste aufgequollenen Gebäcks unter dem Tischrand. Er betrachtete die winzigen Krümel, die durch das Aneinanderreiben seiner Hände auf den mit Flecken übersäten Boden fielen. Dieser war von einem Schleier überzogen, der entweder durch die Verwendung von zu viel oder zu wenig Putzmittel entstanden sein musste. Tiago tippte auf Letzteres. Das ManiFinique lebte vom Glanz der vergangenen Jahre und der einst schillernden Persönlichkeit der Inhaberin – aber, und das musste er zugeben: mehr schlecht als recht.
Er sah sich um. Ob es sinnvoll wäre, den Platz zu wechseln? Genug freie Kapazitäten gab es schließlich. Nur ein weiterer Tisch war besetzt. Ein älterer Herr, der in regelmäßigen Abständen seine Hand nach den Leckereien ausstreckte, die auf einem Servierteller angerichtet waren, hielt sich seine Tageszeitung vors Gesicht und war darin vertieft. Den Straßenlärm, der durch die geöffnete Tür in den Raum wehte, schien er kaum wahrzunehmen. Typisch Franzose. Tiago beneidete diese Besonnenheit. Viel zu selten war es ihm möglich, den Moment zu genießen, ständig war er in Gedanken beim nächsten Termin oder in ein laufendes Projekt vertieft. Onkel Salve nannte es Produktivität, Tiago Stress.
Das Klappern von Geschirr riss ihn aus seinen Überlegungen. Er drehte den Kopf in Richtung Backstube, wo Claire gerade ein Kännchen dampfenden Wassers in einen Filteraufsatz aus Porzellan goss. Die Kunst der Kaffeezubereitung beherrschte sie, und sie ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Doch dann verzog sie kurz das Gesicht, stellte das Kännchen zur Seite und griff nach einem Geschirrtuch. Vorsichtig tupfte sie über ihr Handgelenk, gab etwas Speichel auf die Stelle und pustete. Dann blies sie sich die dicken graublonden Locken aus der Stirn und fuhr mit ihrer Arbeit fort.
Tiago schätzte Claire auf Ende sechzig. An ihrer Attraktivität hatte der Zahn der Zeit nur wenig genagt. Sicherlich hatte sie ein paar Pfund mehr auf den Hüften. Aber sie strahlte immer noch eine Schönheit aus, die Tiago faszinierte. In ihren besten Zeiten, so hieß es, war es hoch hergegangen im ManiFinique. Razzien durch die Polizei waren keine Seltenheit gewesen.
„Et voilà!“ Mademoiselle Finique jonglierte den Kaffee, dessen durchdringender Duft ausgiebig gezogenen Kaffeemehls längst in Tiagos Nase gestiegen war, und lächelte, als sie bei ihm angekommen war. „Schön, Sie wieder einmal begrüßen zu dürfen, mein Lieber.“
„Danke. Die Arbeit … Es gibt viel zu tun!“ Tiago nahm die knallgelbe Porzellantasse, deren Rand eine Kirsche zierte, entgegen.
Mademoiselle Finiques Hände zitterten leicht. „Ach ja, wem sagen Sie das?!“
„Aber wo ist denn Ihre nette Bedienung, die sie so tatkräftig unterstützt?“ Tiago hatte sich diese Frage schon letzte Woche gestellt, aber angenommen, dass die Kellnerin erkrankt sei.
Auf Claires Gesichtszüge legte sich ein Schatten. „Ich … muss leider zukünftig auf sie verzichten, so leid es mir tut. Die Zeiten ändern sich, man muss sich anpassen.“ Sie presste die Lippen aufeinander, und eine tiefe Falte erschien über ihrer Nasenwurzel. Die Augen, die mit mehreren Schichten Schminke gekonnt in Szene gesetzt waren, schimmerten.
Tiago fragte nicht weiter nach, aber er konnte die Bitterkeit dieser Situation beinahe auf seiner Zunge schmecken. Onkel Salve hatte mit seiner Einschätzung recht behalten, und diese Erkenntnis wurmte ihn. Er nippte an seinem Kaffee, stellte die Tasse ab und sah auf. Claire stand immer noch da und sah ihn durchdringend an. „Ich hatte eben das Gefühl, Sie wollten mir etwas Wichtiges mitteilen.“
Tiago schluckte. Er erinnerte sich an die Worte eines Gastes, der vor einigen Wochen gleich neben ihm gesessen hatte. „Sie schaut Ihnen direkt in die Seele“, hatte er über Claire gesagt, und er, Tiago, hatte darüber gelacht.
Jetzt hämmerte sein Herz in der Brust. Claire Finiques Blick schien über jeden Quadratzentimeter seines Gesichts zu gleiten. „Sie lesen mir wirklich jeden Wunsch von den Augen ab!“ Sein Lachen klang sogar in seinen eigenen Ohren hohl. „Eigentlich sollte ich verzichten, aber Ihre Macarons sind einfach unwiderstehlich. Würden Sie mir ein paar für zu Hause abpacken?“
Claire holte tief Luft, als würde sie zu einer Gegenargumentation ausholen. Sie schien bemerkt zu haben, dass ihn tief greifendere Angelegenheiten beschäftigten, doch sie ließ ihren Atem entweichen, ohne ein Wort zu sagen. Der dunkle Ausdruck in ihren Augen verflüchtigte sich. „Es ist wichtig, sich an Kleinigkeiten zu erfreuen, n’est-ce pas?“ Und damit steuerte sie die kleine Verkaufstheke an, in deren schlecht beleuchteter Auslage besagte Mandelkekse neben ein paar Madeleines und Eclairs lagen.
„Das Geld habe ich passend, ich nehm sie mir gleich. Vielen Dank, Mademoiselle. “
Claire Finique legte äußersten Wert auf das Mademoiselle, auch wenn es etwas aus der Zeit gefallen war. Die ältere Dame schob die verpackten Macarons über die Theke und verschwand in ihrer Backstube.
Tiago atmete auf. Einer persönlichen Durchleuchtung seiner Gedanken hätte er unter Umständen nicht standgehalten. Einer Diskussion um Verkaufsmodalitäten noch viel weniger.
Christel Netuschil, was hat Sie dazu inspiriert, über eine Romanze zu schreiben, die sich inmitten der Patisseriewelt von Paris entwickelt?
Paris als Stadt der Liebe und all ihren altehrwürdigen Schauplätzen bietet einfach eine wundervolle Kulisse. Zudem fand ich es interessant, eine Gebäckspezialität zu thematisieren, die sich nicht nur in Frankreich größter Beliebtheit erfreut, und sie mit einer stimmigen Liebesgeschichte zu rweben.ve
Beschreiben Sie ihre Hauptcharaktere Lucille und Tiago mit wenigen Worten!
Lucille ist freiheitsliebend und möchte sich eigentlich an nichts und niemanden binden. Tiago hingegen träumt von Zweisamkeit und will lieber gestern als heute sesshaft werden. Die beiden sind Charaktere, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Zumindest auf den ersten Blick …
Wie passt Claire, die alte Besitzerin des kleinen Cafés, in diese Konstellation?
Claire und ihr Café in der Rue de la Lune werden zum Dreh- und Angelpunkt der ganzen Geschichte. Die sture, doch absolut liebenswerte Hippie-Großtante Lucilles besitzt die besondere Gabe, hinter die Fassaden ihrer Mitmenschen zu sehen und ihnen – wenn sie denn wollen – mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.
Was verbindet Sie als Autorin mit Paris?
Ich selbst war leider noch nie dort, werde das aber demnächst nachholen. 2024 eröffnet Notre Dame de Paris wieder und ich freue mich schon sehr darauf, sofort die Türme der Kathedrale in Angriff zu nehmen, um die Galerie der Chimären zu besuchen. Die Liebe zu den grotesken Figuren habe ich übrigens meiner Protagonistin Lucille mit auf den Weg gegeben.
Welchen Lesern würden Sie „Das kleine Café in der Rue de la Lune“ empfehlen?
Allen, die gerne einen Blick hinter das Offensichtliche wagen und sich nicht nur für die sich entwickelnde Liebe zwischen zwei Menschen interessieren, sondern auch für die Geschichte, die die Charaktere mitbringen, das Päckchen, das ein jeder huckepack trägt.
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