Das kleine Weihnachtsboot an der Nordsee Das kleine Weihnachtsboot an der Nordsee - eBook-Ausgabe
Roman
— Romantischer Weihnachtsroman im Advent auf der Insel Juist„Wer zur Weihnachtszeit romantische Romane liebt, mit wunderschönen Kulissen, aufkeimender Liebe, ein bisschen Herzschmerz, (…) der ist bei der Autorin Felicitas Kind genau richtig.“ - Nordwest-Zeitung
Das kleine Weihnachtsboot an der Nordsee — Inhalt
Eine Geschichte vom Suchen, Lieben und Stricken. - Der neue Weihnachtsroman auf Juist!
Nina kommt nach Juist, wo sie das Hausboot ihres Onkels geerbt hat, um sich nach beruflichen wie privaten Rückschlägen eine Ausszeit zu gönnen. Die erwartete Ruhe bleibt jedoch aus, denn das Hausboot macht nur Ärger: es muss repariert werden und ist dem Hafenmeister Morten ein Dorn im Auge. Bei viele Streitigkeiten lernen die beiden sich jedoch besser kennen und Morten unterstützt schlussendlich Ninas Plan, mit einer gemeinsamen Freundin das Hausboot zu einem Woll- und Strickmarkt umzubauen. Währenddessen müssen Nina und Morten ausloten, ob sie bereit sind, sich aufeinander einzulassen und ihre altbekannten Lebensbahnen zu verlassen. Ein altes Hausboot bringt zwei Leute zur Ruhe - und einander näher. Das alles vor der weihnachtlichen Kulisse der Nordseeinsel Juist.
Ein gefühlvoller Weihnachtsroman von Felicitas Kind, dem erfolgreichen Autorinnenduo Regine Kölpin und Gitta Edelmann.
Leseprobe zu „Das kleine Weihnachtsboot an der Nordsee“
Kapitel 1
Es war schön, wieder auf der Insel zu sein. Schön und gleichzeitig auch unendlich traurig.
Nina stand auf dem obersten Deck des Fährschiffs Frisia, das eben in den Juister Hafen einfuhr, und atmete tief die frische Luft ein. Über ihr kreischten die Möwen aufgeregt ihr Willkommen. Die dicke gefütterte Norwegermütze hatte Nina bis zum Rand ihrer roten Brille gezogen, um Ohren und Stirn zu schützen, denn der kalte Wind blies kräftig.
Hoffentlich würde er ihr auch die trüben Gedanken aus dem Kopf pusten!
Dort drüben lag sie – die Gertje. Onkel Pitts [...]
Kapitel 1
Es war schön, wieder auf der Insel zu sein. Schön und gleichzeitig auch unendlich traurig.
Nina stand auf dem obersten Deck des Fährschiffs Frisia, das eben in den Juister Hafen einfuhr, und atmete tief die frische Luft ein. Über ihr kreischten die Möwen aufgeregt ihr Willkommen. Die dicke gefütterte Norwegermütze hatte Nina bis zum Rand ihrer roten Brille gezogen, um Ohren und Stirn zu schützen, denn der kalte Wind blies kräftig.
Hoffentlich würde er ihr auch die trüben Gedanken aus dem Kopf pusten!
Dort drüben lag sie – die Gertje. Onkel Pitts Hausboot. Nein, ihr Hausboot. An diese Tatsache musste sie sich erst gewöhnen.
Alles war anders. Es gab keinen Onkel Pitt mehr, der sie freudestrahlend mit lauten Schmatzern rechts und links begrüßte, wenn sie ihn besuchte. Weder hier noch in Köln-Ehrenfeld, wo er zu Hause gewesen war. Nun ruhte er auf dem Kölner Melaten-Friedhof. Dort hatte er schon vor vielen Jahren eine Grabpatenschaft übernommen, um sich ein angemessenes Plätzchen zu sichern, wie er es augenzwinkernd genannt hatte.
Sie waren oft auf jenem Friedhof spazieren gegangen, wenn Nina die Weihnachtstage bei ihm verbracht hatte. Dann hatten sie Bekannte und Unbekannte besucht, wie Onkel Pitts Freunde Jupp und Willi oder die Klosterfrau Maria Clementine Martin, Erfinderin des Melissengeistes, deren Grabstätte so viel bescheidener war als die ihres Nachfolgers Peter Gustav Schaeben.
Danach waren sie immer auf einen der zahlreichen Kölner Weihnachtsmärkte gegangen. „Adäquates Kontrastprogramm“ hatte ihr Onkel das genannt. Dort hatten sie dann das schrille Geträller des Kinderkarussells, den Duft von Backfisch, Grillwürstchen oder gebrannten Mandeln, den Glühwein und die vielen fröhlichen Lichter mit allen Sinnen genossen.
Nina schluckte. Nein, sie würde jetzt nicht weinen. Das konnte sie später tun, wenn sie auf der Gertje und allein war. Dann würden die Tränen sicher ohnehin wieder kommen, und Onkel Pitt hatte jede einzelne davon verdient. Aber jetzt hieß es vor allem, nach vorn zu sehen und Entscheidungen zu treffen.
Eine kräftige Böe schlug Nina ins Gesicht und nahm ihr einen Moment lang die Luft. Sie half ihr jedoch, endlich den Blick von der Gertje und die Gedanken von Onkel Pitt zu lösen. Es war Zeit zum Aussteigen. Zeit, den Boden der Insel zu betreten, die in den nächsten Wochen ihr Zuhause sein würde. Bis spätestens zum Weihnachtsfest würde sich hoffentlich entscheiden, ob sie die Stelle in Reykjavik bekam. Dann konnte sie weiterplanen.
Langsam verließ Nina ihren Aussichtsplatz auf dem Oberdeck und begab sich zum Ausstieg.
Geschäftigkeit und eine gewisse Spannung hatten das Schiff ergriffen, und die Passagiere warteten in einer großen Traube auf den Zugang in eine andere Welt. Denn das war diese Insel, so hatte Nina es immer empfunden. Eine Welt, in der keine Autos die Straßen verstopften und verschmutzten, sondern das Klippklapp der Pferdehufe daran erinnerte, dass die Uhren hier etwas langsamer tickten.
Genau das, was sie brauchte. Töwerland – das Zauberland.
Die Menschen um sie herum setzten sich in Bewegung, und Nina ließ sich von ihnen mittreiben. Als eine der Letzten verließ sie die Fähre und schlenderte zu den Koffercontainern hinüber.
Die meisten Leute hatten ihr Reisegepäck und was sie sonst aufgegeben hatten, bereits abgeholt und waren zu Fuß mit ihren Rollkoffern oder mit den Handwagen der Unterkünfte unterwegs zu ihren Hotels oder ihrem Zuhause.
Plötzlich jauchzte eine Kinderstimme laut: „Kutsche! Kutsche!“
Nina drehte sich um. Eine Familie mit zwei kleinen Kindern stieg gerade in das Pferdetaxi ein. Die Umstehenden schmunzelten. Auch Nina lächelte, als sie nach ihrem himmelblauen Trekkingrucksack griff und ihn mit geübtem Schwung auf den Rücken nahm. Sie brauchte kein Taxi, zur Gertje waren es nur wenige Schritte. In plötzlicher Panik tasteten ihre Finger nach dem Seitenfach ihrer Brusttasche. Ja, da war ihr Bund mit dem neuen Schlüssel, natürlich hatte sie ihn nicht vergessen. Und wenn, dann hätte sie auch zur Hafenmeisterei gehen können, wo Onkel Pitt für Notfälle einen weiteren hinterlegt hatte. Falls überhaupt jemand dort im Büro war, schließlich würden im Sportboothafen im Winter wohl keine anderen Schiffe liegen.
Nina atmete einmal tief durch und ging das kurze Stück zur Gertje. Es war ein seltsames Gefühl, die Tür aufzuschließen und zu wissen, dass dieses Mal niemand hier auf sie wartete.
Letztlich war es weniger schlimm, das leere Hausboot in Besitz zu nehmen, als Nina befürchtet hatte. Alles war tipptopp, da hatte es Onkel Pitt mit der ostfriesischen Tugend der Ordnung gehalten, auch wenn die Luft natürlich abgestanden roch. Aber das war ja nichts, was ein wenig Lüften nicht bereinigen würde. Kalt und klamm war es und nicht wirklich gemütlich, doch dagegen konnte sie hoffentlich etwas tun. Erleichtert betrachtete Nina den modernen Pelletofen, den ihr Onkel erst im letzten Jahr im Wohnraum installiert hatte. Allzu viele Pellets waren nicht vorhanden, doch fürs Erste würde es reichen.
Die Gasflaschen waren abgedreht, aber Onkel Pitt hatte sie nach seinem letzten Aufenthalt hier noch nicht entfernt, um die Gertje winterfest zu machen. Ganz offensichtlich war er davon ausgegangen, vor der kalten Jahreszeit wieder herzukommen. Morgen musste Nina jemanden finden, der ihr half, die Heizung anzustellen. Allein wagte sie sich nicht daran, Gas war ihr immer schon etwas unheimlich gewesen.
Natürlich war der Wassertank leer, damit nichts einfrieren konnte, aber sie hatte extra eine Zweiliterflasche stilles Mineralwasser mitgebracht, das reichte für heute zum Trinken und Zähneputzen. Morgen würde sie sich um alles Nötige kümmern, was Wasser und Abwasser betraf.
Einkaufen musste sie dann auch gleich, bis auf ein paar Konserven und ein Sixpack Kölsch-Dosen hatte Onkel Pitt keinerlei Vorräte an Bord.
Zum Glück brauchte sie heute Abend keine Mahlzeit mehr, sie hatte zwischen der Ankunft ihres Zuges in Norddeich Mole und der Abfahrt der Fähre genug Zeit gehabt und sich dort eine große Portion Kibbelinge mit Bratkartoffeln und Salat gegönnt.
Gemütlich war es wirklich nicht, dachte Nina, als sie sich im Schein der Taschenlampe auf Onkel Pitts Sofa setzte, sondern einfach nur kalt und feucht und klamm. Der letzte Rest Tee aus der Thermosflasche und die mitgebrachten Schokokekse trugen leider auch nicht richtig dazu bei, sich wohlzufühlen. Zwar hatte Nina sich einen der warmen Daunenschlafsäcke um die Schultern gehängt, was zumindest gegen die Kälte etwas half, doch beim Anblick der gestreiften Kissenbezüge in Onkel Pitts – und auch ihren – Lieblingsfarben grün, türkis und blau, die sie ihm vor ein paar Jahren zum Geburtstag gehäkelt hatte, kamen schon wieder die Tränen.
„Mach dir keine Sorgen, Onkel Pitt“, flüsterte sie. „Ich werde gut auf deine Gertje aufpassen.“
Es nahm sie doch mehr mit, als sie erwartet hatte, und Nina bereute, dass sie sich für die erste Nacht nicht irgendwo ein Zimmer gemietet hatte, um die Gertje zuerst richtig bewohnbar zu machen, bevor sie dort übernachtete. Aber es war ja zum Glück nicht nötig, die ganze Zeit hier an Bord zu bleiben, schließlich befand sie sich nur wenige Hundert Meter entfernt vom Ort und somit von der Spelunke. Das Bierlokal war einer von Onkel Pitts Lieblingsplätzen auf Juist gewesen.
„Weil die Leute da vernünftig sind und auch Kölsch ausschenken“, hatte er stets mit einem Augenzwinkern gesagt.
Gut, dann würde sie dorthin gehen. Zwar zog sie Wein dem Bier vor, aber den würde es da sicher ebenfalls geben. Und inmitten anderer Gäste würde die dunkle Leere, die gerade ihre Finger nach ihr ausstreckte, sich bestimmt wieder zurückziehen.
Der Wind hatte deutlich nachgelassen, als Nina den Weg antrat, doch der Himmel war weiter bedeckt. Sie genoss es, die herrlich frische, salzhaltige Luft einzuatmen und mit kräftigen Schritten auszuschreiten. Ein wenig wollte sie das noch auskosten, also beschloss sie, die Spelunke rechts liegen zu lassen und zunächst das kleine Stück weiter bis zur Strandpromenade zu gehen.
Im Gegensatz zum Hafen sah es im Ort bereits adventlich aus: Lichterketten strahlten in den Fenstern, und auf dem Kurplatz stand ein geschmückter und beleuchteter Tannenbaum. Es herrschte eine ganz andere Atmosphäre als bei ihren Sommerbesuchen, die kaum Erinnerungen an Onkel Pitt wachrief. Weihnachtsstimmung verspürte sie allerdings keine, und ob die in diesem Jahr überhaupt aufkommen würde, war fraglich.
Oben auf der Strandpromenade brüllte ihr das Meer sein Willkommen entgegen. Wie jedes Mal, wenn sie hierherkam, war sie erneut überrascht, wie laut die Nordseewellen waren. Einen Moment lang überlegte Nina, über den Strand bis zum Wasser zu gehen, aber es war sehr dunkel da unten. Deshalb blieb sie einfach nur stehen und atmete bewusst tief ein und wieder aus. Es war gut, dass sie hier war und Zeit hatte, sich in Ruhe um Onkel Pitts Nachlass zu kümmern – und um ihre eigene Zukunft.
Ihr Chef im Reiseunternehmen war alles andere als begeistert gewesen, als Nina sechs Monate unbezahlten Urlaub genommen hatte, aber dann hatte er ihn doch genehmigt. Wahrscheinlich war ihm klar geworden, dass sie entschlossen genug war, um ihre Stelle notfalls auch zu kündigen, sollte er sich sperren. Zum Glück ahnte er nicht, dass sie sich gedanklich bereits verabschiedet hatte. Wenn es mit der Bewerbung in Island klappte, würde sie nicht zurückkommen.
Doch erst einmal brauchte Nina diese Pause. Sie war jetzt fünfundvierzig, für sie der richtige Zeitpunkt, um noch einmal neu anzufangen, das Leben anders weiterzuführen als bisher. Lange hatte sie es genossen, viel unterwegs zu sein, fremde Länder kennenzulernen, sich ständig auf neue Menschen einzustellen, sie zu betreuen und mit den örtlichen Besonderheiten vertraut zu machen. In den letzten Wochen war Nina allerdings immer bewusster geworden, wie allein sie doch war. Nicht unbedingt einsam, aber eben allein. Ihre wenigen Freundinnen und Freunde sah sie viel zu selten, und nie hatte sie Zeit, neue zu finden. Irgendetwas musste anders werden. Und es würde hier und jetzt beginnen.
Noch einmal nahm Nina einen tiefen Atemzug, dann wandte sie sich um. Nun konnte sie wieder unter Menschen gehen.
Neben der Doppeltür zur Spelunke an der Ecke lehnte malerisch ein schwarzes Herrenfahrrad. Nina zog die rechte Tür auf und trat ein. Sie war früher schon einmal mit ihrem Onkel hier gewesen, das war allerdings eine Weile her. Mindestens zweieinhalb Jahre. Im folgenden Sommer war sie nur schnell für zwei Tage von Norddeich aus hergeflogen. Für mehr hatte es nicht gereicht, bevor sie die nächste Reisegruppe nach Norwegen begleiten musste.
Dieses Jahr war es Onkel Pitt nach seinem ersten kurzen Aufenthalt im Frühling leider zu schlecht gegangen, um seine geliebte Gertje noch einmal auf der Insel zu besuchen.
Nina pellte sich aus den warmen Klamotten und setzte sich an einen kleinen Tisch in der Ecke. Es war überraschend voll hier so mitten in der Woche.
Die Gruppe von sieben oder acht Leuten, die an der Theke stand und den Wirt in ihr Gespräch einbezog, schien aus Juistern zu bestehen, ab und zu konnte Nina Wortfetzen heraushören, aus denen sie schloss, dass einer der Männer heute seinen Geburtstag feierte.
Statt für den Wein entschied sie sich spontan für einen Gin Tonic. Wein passte nicht hierher.
Es war gemütlich, mit ihrem Drink in der Ecke zu sitzen und unauffällig die anderen Leute zu beobachten. Drei Männer, die um die achtzig sein mochten, saßen in trauter Harmonie beieinander. Sie sprachen nur sporadisch, schienen das Zusammensein aber auf stille Art zu genießen. Am Nebentisch unterhielt sich leise ein Paar in den späten Fünfzigern, das sehr verliebt wirkte. Der Mann hatte die Hand der Frau gefasst, und sein Daumen strich immer wieder über ihre Finger.
Schnell wandte Nina die Augen ab. Ihr Blick blieb unwillkürlich an einem der Typen in der Geburtstagsclique hängen. Sie hatte eine Schwäche für große Männer, und dieser hier war bestimmt eins neunzig und wirklich gut aussehend. In Jeans und dunkelblauem Troyer kamen sein blondes Haar und der kurze Vollbart bestens zur Geltung, und wenn er so lachte, wie jetzt gerade, hoben sich automatisch auch ihre Mundwinkel. Sie schätzte ihn auf Mitte bis Ende vierzig.
Eine der Frauen boxte ihn nun spielerisch in die Seite und schüttelte den Kopf, sodass ihr blonder Pferdeschwanz flog, dann lachte auch sie. Es wirkte sehr vertraut, wie er sie nun angrinste. Sie war ebenfalls ziemlich groß und trug einen auffallenden weinroten Aran-Pullover mit breiten Flecht- und Zopfmustern.
Die Frau mit dem braunen Bob, deren Gesicht Nina sehen konnte, schien das Gesagte weniger spaßig zu finden. „Reiß dich zusammen, Morten“, sagte sie missbilligend und so laut, dass Nina sie über dem Gemurmel der Kneipengäste verstehen konnte.
Das brachte die anderen nur noch mehr zum Lachen.
Die Frau mit dem Pferdeschwanz sah zu Nina herüber, grinste breit und legte den Kopf schief. Sie schien Nina, die sich ebenfalls ein Lächeln abrang, zu begutachten. Kein Wunder, denn Nina fiel oft durch ihre farbenfrohe Kleidung auf. Heute trug sie einen ihrer peruanischen Pullover in knalligem Grün mit schwarz-weißen Musterborten an Ärmeln, Bund und Halsausschnitt.
Die Frau sagte etwas zu den anderen und kam dann an ihren Tisch.
„Moin! Wartest du auf jemanden, oder bist du allein hier?“
„Mutterseelenallein“, antwortete Nina und zog ein übertrieben trauriges Gesicht.
„Na, das muss nicht sein. Komm doch mit rüber, Käpt’n Keno hat Geburtstag und gibt einen aus.“
Nina zögerte. „Wirklich? Ich möchte mich nicht aufdrängen.“
„Ach was. Ich kann es nicht mitansehen, wie du hier einsam in dein Wasserglas starrst. Ich bin Tessa.“
„Nina. Aber das ist kein Wasser, sondern ein Gin Tonic.“
„Fein, dann nimm deinen Gin Tonic und komm.“
Nina folgte der Frau zu der Clique am Tresen.
„Das ist Nina, und sie ist ganz allein!“, stellte Tessa sie vor.
„Das müssen wir ändern.“ Der Mann mit dem kahl rasierten Kopf unter der dunkelblauen Fischermütze lachte. „’N Lütten für die Neue“, bestellte er. „Willkommen auf dem Töwerland. Du wirst hier garantiert einen wunderschönen Urlaub haben!“
„Bist du das Geburtstagskind?“, fragte Nina ihn.
„Höchstpersönlich. Keno Harms.“ Er reichte ihr das gefüllte Schnapsglas.
„Nina Schulze. Herzliche Glückwünsche und auf dein Wohl!“ Sie nahm einen kräftigen Schluck.
Der Schnaps brannte angenehm im Hals und breitete seine Wärme bis in den Magen aus.
Keno nickte anerkennend, dann stellte er die anderen vor: Sven und Wiebke, Hajo, Lientje, Morten, Tessa und Lars. Tessa gehörte ganz offensichtlich zu Lars, so nah wie sie neben ihm stand. Möglicherweise war sie außerdem die Schwester des hochgewachsenen Mannes im blauen Troyer, Morten. Ein bisschen ähnlich sahen sich die beiden, fand Nina.
Während Keno einen neuen Witz riss, der alle zum Lachen brachte, hatte sie die Gelegenheit, die Leute unauffällig zu mustern. Vielleicht könnten sie sich ja noch einmal treffen, sympathisch waren sie. Wenn ihr dazu Zeit blieb. Sie war schließlich aus ganz anderen Gründen hier. Um die Sache mit der Gertje zu regeln und zu entscheiden, ob sie sie verkaufen oder behalten wollte. Um in Ruhe über ihre Zukunft nachzudenken.
„Gefällt dir Tessas Pullover?“, drang plötzlich eine Männerstimme zu ihr durch.
Nina sah auf. Mortens blaue Augen waren interessiert auf sie gerichtet. Sie musste Tessas Pulli angestarrt haben, wie peinlich!
„Ja, sehr“, antwortete sie. „Der sieht selbst gestrickt aus.“
„Klar, unsere Tessa kann das!“
„Was kann ich?“, mischte sich Tessa ein, die offenbar ihren Namen gehört hatte.
„Stricken“, antwortete Nina. „Ich habe gerade das Flechtmuster in der Mitte deines Pullis bewundert. Der ist echt toll.“
„Danke. Strickst du auch?“
Nina nickte. „Ich finde das immer sehr beruhigend. Soll ja beide Gehirnhälften miteinander verbinden.“
„Eine Frau nach meinem Geschmack!“, rief Tessa begeistert.
„Du wirst doch nicht deinem Lars untreu werden?“, scherzte Keno.
Tessa schmunzelte. „Nun ja, stricken kann er nicht, aber ansonsten bin ich wirklich äußerst zufrieden mit ihm.“
Lars legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie ein wenig an sich. Die beiden schienen ein sehr harmonisches Paar zu sein.
Es war befreiend, mit der Clique hier zu stehen, angeregte Gespräche zu führen und sich nicht mehr so verloren und einsam zu fühlen wie vorhin auf der Gertje. Ab und zu schob der Wirt eine Runde Korn über den Tresen, dann tranken sie auf Kenos Wohl.
Käpt’n Keno trug seinen Spitznamen zu Recht, denn er war tatsächlich Kapitän auf einem Frachtschiff und würde übermorgen schon wieder auf hoher See unterwegs sein, wie er erzählte.
„Und deshalb gehe ich jetzt nach Hause“, fügte er hinzu. Er wechselte ein paar Worte auf Platt mit dem Wirt und bezahlte sämtliche Getränke der Gruppe, inklusive Ninas Gin Tonic.
„Lasst euch nicht stören“, sagte er in die Runde. „Wir sehen uns. War super, dich kennenzulernen, Nina. Morten – ich komme morgen noch mal kurz bei dir vorbei, bevor ich losmuss.“
Morten nickte, und alle verabschiedeten sich herzlich von Keno.
„Ich gehe dann auch“, sagte Nina kurz darauf. „Ich hatte eine ziemlich lange Anreise und bin nun rechtschaffen müde.“
„Woher kommst du denn?“, fragte Tessa. „So wie du sprichst, vermute ich mal aus Süddeutschland.“
„Aus dem Schwarzwald. Freiburg.“
„Puh, ja, das ist Welten entfernt!“
Nina lachte. „Und deshalb geht’s jetzt für mich in die Koje.“
„Sprachlich hast du dich also mit der Koje aber schon ein ganz kleines bisschen an den Norden angepasst.“ Morten zog spaßig die Brauen mehrfach hintereinander hoch. „So viel Mühe geben sich nicht alle Gäste auf der Insel.“
Nina ging nicht auf seine Worte ein. Sie hatte sich während des Gesprächs entschlossen, die Gertje nicht zu erwähnen. Womöglich kannten die Leute hier Onkel Pitt, dann würde sie erklären müssen, dass er gestorben war. Und Beileidsbekundungen entgegennehmen … nein, danach war ihr heute ganz und gar nicht.
Lieber sollte man sie für eine Touristin halten, die in ihr warmes Hotelbett schlüpfte. Dass auf sie eine eher traurige und ungemütliche Nacht auf der Gertje wartete, ging niemanden etwas an.
„Gute Nacht also“, sagte sie, „es war wirklich schön, euch kennenzulernen.“
„Das finde ich auch“, antwortete Tessa.
„Man sieht sich“, fügte Morten hinzu.
Nina zog sich wieder warm an und ging zur Tür. Dort drehte sie sich um und hob die Hand zum Abschiedsgruß.
Das war doch ein vielversprechender erster Abend auf der Insel gewesen.
Kapitel 2
Morten war wie jeden Morgen früh unterwegs zum Hafen. Noch war es stockdunkel, im Winter dauerte es sehr lange, ehe der Tag die Nacht wirklich verdrängte. Es war ihm heute allerdings schwergefallen aufzustehen, weil er gestern nach dem Kneipenbesuch bei Tessa und Lars noch einen Absacker getrunken und dann nur schwer ein Ende gefunden hatte. In der Woche waren solche Aktionen fatal, denn Mortens Wecker klingelte gnadenlos um sechs Uhr, weil er meist einiges bei den ankommenden Versorgungsschiffen zu regeln hatte.
Morten kümmerte sich zusammen mit anderen Kollegen um das Löschen der Ladung und fuhr die Waren mit der Kutsche von der Frachtfähre zu den Geschäften. Er war auf Juist für mehrere Dinge zuständig, denn seine Anwesenheit am Hafen war nie den ganzen Tag lang erforderlich. Heute stand allerdings ein Vormittag im Büro der Hafenmeisterei an.
Das Aufstehen wurde ihm zusätzlich von diesem typischen Schietwedder erschwert. Nebel, kaum Sicht und um die fünf Grad. Eigentlich ein Grund, im Bett zu bleiben und sich die Decke über beide Ohren zu ziehen. Vor allem nach dem Abend gestern, da es sich sein Kopf zur Aufgabe gemacht hatte, jeden Herzschlag mit einem dumpfen Schmerz zu kommentieren.
Von der vorweihnachtlichen Atmosphäre war um diese Tageszeit gar nichts zu spüren. Die Fenster waren noch unbeleuchtet, die Lichter am Tannenbaum am Kurplatz ausgeschaltet. Um sich selbst in Stimmung zu bringen, hatte Morten sich einen Zimttee und ein paar Spekulatius eingepackt. Auf seinem Schreibtisch stand seit gestern ein Tannengesteck mit einer roten Kerze, im Fenster schaukelten zwei Strohsterne. Ansonsten war sein Büro eher spartanisch und zweckmäßig eingerichtet. Ein immer aufgeräumter Schreibtisch, rechts ein grauer Spind und gegenüber ein Aktenschrank, ebenfalls in charmantem Grau. Neben der Fensterfront hingen Stores, allerdings brachten auch die keinen Farbtupfer, sondern blendeten allenfalls die Sonne aus, wenn sie ihn am PC störte.
Morten hatte das Büro erreicht, schloss die Tür der Hafenmeisterei auf und knipste das Licht an. Die Neonröhre flackerte wie immer erst auf, bevor ihr kaltes Strahlen den Raum erhellte. Viel lag heute nicht an.
Jetzt im Winter waren zwar alle Segel- und Sportboote in Lagerhallen oder auf Böcken abgestellt, aber es gab trotzdem immer noch das eine oder andere Administrative zu erledigen, schließlich gingen schon Buchungen ein, und es standen auch im Winter Arbeiten am Hafen an. Morgen mussten die Toiletten generalüberholt werden. Das war nicht gerade seine Lieblingsarbeit, aber wie sagte man so schön: Wat mutt, dat mutt.
Im Augenblick lag nur die Gertje, Pitts altes Hausboot, das wirklich schon bessere Jahre gesehen hatte, am linken Steg. Es war ein Schiffchen mit schwarzem Eisenrumpf und weißem Holzaufbau. Über die Gangway gelangte man ins Innere mit dem Wohntrakt.
Zum Bug hin war ein kleines Bullauge zu erkennen, davor befand sich ein Fenster, hinter dem sich der geräumige Schlafraum mit einer überaus großzügigen Koje versteckte. Ein zweiter, kleinerer Raum diente als Gästekabine. Meist aber hatte Pitt diesen als Abstellkammer genutzt.
Natürlich gab es eine Kombüse mit Vorratsschrank und im Heck einen Wohnraum mit Wasserrundumblick und zwei Terrassen. Eine halb überdacht Richtung Bug und eine mit Liegestühlen auf dem Dach.
„Meine einzigartige Panoramasicht“, hatte Pitt immer angegeben.
Morten musste zugeben, dass die Gertje Charme hatte. Pitt hatte sogar einen Pelletofen eingebaut, um das Hausboot auch im Winter nutzen zu können, aber nun war er lange nicht mehr auf Juist gewesen, und alles lag brach.
Verließ der Kölner die Gertje, waren der Wasser- und Fäkalientank natürlich entleert und die Gasflaschen abgestellt, damit nichts passieren konnte. Es war allerdings traurig, über welch großen Zeitraum die Gertje nun schon verwaist an ihrem Platz lag.
Pitt hatte zwar die Liegepacht weiter entrichtet, war nun jedoch bestimmt ein Dreivierteljahr lang nicht mehr auf Juist gewesen. Im Sommer hatte Morten mal kurz mit ihm telefoniert, da war es Pitt gesundheitlich nicht so gut gegangen, aber er wollte zum Weihnachtsfest herkommen.
Morten hoffte, dass er das auch tat, denn er wollte mit ihm reden. Es war bereits beschlossene Sache, dass das Hausboot Juist verlassen musste, da es den Sportbooten in der Hauptsaison den Platz wegnahm. Vielen war die Gertje schon lange ein Dorn im Auge, weil sie meinten, ein Hausboot passte einfach nicht hierher. Im Prinzip hatten sie ja recht, es war tatsächlich ungewöhnlich. Ein Sportboothafen war nun mal kein Liegeplatz für ein Hausboot.
Aber Pitt war ein feiner Kerl. Obwohl er außerfriesisch war, kam Morten gut mit ihm aus. Es würde für ihn ein harter Schlag sein! Nur musste er dazu erst einmal herkommen, denn Morten wollte unbedingt persönlich mit ihm reden, statt einen förmlichen Brief zu schreiben.
Er hatte Pitt in diesem Sommer vermisst, sein überschwängliches rheinisches Gemüt, das sich in den vergangenen zehn Jahren den ruhigen Gegebenheiten der hiesigen Menschen und der Insel jedoch mehr und mehr angepasst hatte. Und Morten hatte Pitts kölschen Humor und seine oft weisen Sprüche sehr zu schätzen gelernt. Auch wenn seine Art immer ein bisschen fremd für ihn geblieben war.
Morten fuhr den PC hoch und begann mit seiner Arbeit. Doch als er zufällig einen Blick aus dem Fenster warf, stutzte er.
Hatte er Pitt etwa als Geist herbeigewünscht, oder war er jetzt komplett durch den Wind?
Er schüttelte den Kopf, aber es bestand kein Zweifel daran, dass auf der Gertje Licht flackerte. Fast so, als hantierte jemand mit einer Taschenlampe. Als er vorhin gekommen war, hatte das Boot ganz sicher noch im Dunklen dagelegen.
Morten atmete tief durch. Das konnte nur eines bedeuten: Irgendwer trieb sich an Bord herum. Wäre es Pitt, hätte der sich gemeldet, den Strom zuvor anstellen lassen, alles aktiviert. Der alte Mann würde jetzt wohl kaum mit einer solchen Funzel herumleuchten.
Kurz überlegte Morten, ob es besser war, den Inselpolizisten als Verstärkung zu holen, denn wer wusste schon, auf wen er gleich treffen würde. Aber er entschied sich anders.
Erst mal nachsehen, was da los war. Viel Lust, wieder hinaus in den nebeligen, noch dunklen Morgen zu gehen, verspürte er jedoch nicht.
Sicherheitshalber nahm er einen Schirm als Waffe mit.
Morten schlich sich über den Steg bis zur Gertje. In gebeugter Haltung betrat er das weiß gestrichene Hausboot, und wieder wurde ihm deutlich, wie sehr die Farbe schon überall abgeblättert war.
Er warf einen Blick in die Kombüse und umklammerte den Griff des Schirmes etwas fester. Was er dann durchs Fenster sah, verschlug ihm den Atem.
„Das gibt’s doch nicht“, murmelte er. Im schwachen Lichtschein einer Taschenlampe, die auf dem Tisch lag, bewegte sich eine Gestalt. War das nicht die Frau, die er gestern Abend kennengelernt hatte? Was trieb sie da an Bord?
Er klopfte gegen die Scheibe, und die Frau fuhr herum. Sie war in einen dicken Rollkragenpulli mit einer bunten Passe gehüllt und trug die Norwegermütze, an der er sie wiedererkannt hatte. Ihre Füße steckten in weißen Boots, ihre Hände in fingerlosen Handschuhen.
Sie winkte ihm zu, kam dann zur Tür und öffnete.
„Moin, Morten“, begrüßte sie ihn und rieb sich fröstelnd die Arme. „Warum bist denn du hier?“
„Gegenfrage: Was machst du auf Pitts Boot?“
„Das erkläre ich dir gleich, aber ich versichere dir, dass alles seine Ordnung hat“, antwortete sie bibbernd.
Morten musterte sie, nickte dann jedoch. „Okay, ich glaube dir.“
„Danke! Es ist so kalt. Da muss sich schnell was ändern. Hast du eine Ahnung, ob der Hafenmeister da ist und ob er mir helfen kann?“
„Allerdings, der ist da“, antwortete Morten vage und musterte sie.
Nina machte mit ihrem extrem kurzen, dunklen Haar, dessen Spitzen sich unter der Wollmütze zeigten, und den katzengrünen Augen hinter der silberrandigen, eckigen Brille, die sie an diesem Morgen trug, einen fast exotischen Eindruck auf ihn.
„Darf ich trotzdem erst fragen, was du hier machst?“
Morten ging es vorsichtig an, denn gestern Abend war Nina ihm sehr sympathisch gewesen, und er wollte es sich mit ihr nicht verscherzen. Morten hasste Streit.
„Können wir erst das mit der Heizung klären? Ich bin wirklich ganz legal hier, versprochen!“
„Okay“, wiederholte Morten. „Dann nehmen wir das mal in Angriff.“ Er verbeugte sich formvollendet. „Darf ich mich vorstellen? Ich bin der Hafenmeister und habe ein Auge auf alle Boote, die hier liegen und festmachen.“
„Du?“, fragte Nina ungläubig, aber anschließend grinste sie zufrieden. „Super, dann muss ich ja nicht über den Steg zum Büro rennen und dabei möglicherweise den Kältetod sterben.“
„Nein, musst du nicht“, beruhigte Morten sie. „Pass auf! Ich bringe mal eben den Pelletofen und deine Gasheizung samt Herd in Ordnung und fülle Wasser auf. Aber auch wenn ich dich mit meiner Fragerei nerve, hätte ich danach schon gerne gewusst, was du in Pitts Boot verloren hast.“
Nina wirkte erleichtert, trat einen Schritt zur Seite und bat Morten hinein. „Du bekommst eine ausführliche Antwort, versprochen. Aber jetzt hereinspaziert! Es ist zwar drinnen fast genauso kalt wie draußen, weil ich die Heizung einfach nicht zum Laufen kriege. Und wie der Pelletofen funktioniert, weiß ich auch nicht.“
Sie klang etwas gefrustet.
Morten trat ein und nahm seine Lampe aus der Halterung am Gürtel. Er schaute sich um, während Nina im Schlafraum verschwand.
Auf dem Sofa türmten sich Decken und Kissen. Wahrscheinlich hatte Nina dort geschlafen, weil die Matratzen in den Kojen nach der langen Zeit wohl zu feucht waren.
Es sah ansonsten genauso aus, wie Pitt das Boot verlassen hatte. Etwas altbatsch und doch überaus charmant.
Er riss seinen Blick los. „Komm, ich zeig dir, wie das alles funktioniert, und dann schalte ich auch den Strom an. Wenn der Wassertank gefüllt ist und die Ventile geschlossen sind, musst du im Winter durchheizen, sonst friert alles schnell ein, und wenn die Rohre platzen, kannst du hier drin baden. Das wird dann ein Indoorpool.“
Nina schaute ihn entsetzt an.
„Kleiner Scherz, aber die Rohre gehen wirklich kaputt, und dann tropft es.“ Morten verzog bedauernd das Gesicht. „Ich zeige dir auch noch, wo du deinen Fäkalientank leeren kannst.“
„Danke“, erwiderte Nina. Vermutlich hatte sie es sich deutlich einfacher vorgestellt, auf einem Hausboot zu wohnen.
Morten fuhr mit seinen Erklärungen fort. „Im Frühling und Sommer sind hier am Hafen die Duschen und Toiletten geöffnet, im Winter allerdings nicht. Wie du siehst, liegt hier ja sonst keiner. Du hast aber ohnehin alles an Bord, was du brauchst.“
Er ging voraus und kümmerte sich mit großer Gelassenheit um alles. Zuerst stellte er den Strom an und sorgte dafür, dass das Gas wieder da war. Dabei zeigte er Nina geduldig, auf was sie achten musste. Sie schien ihm aufmerksam, ja geradezu hoch konzentriert zuzuhören.
„Willst du länger auf dem Hausboot bleiben?“, fragte er dann.
„Ja. Ich habe ein Sabbatical genommen und kann in der Zeit ganz entspannt überlegen, wie es für mich weitergeht.“
„Also eine Auszeit“, kommentierte Morten.
Was auch immer das sollte. Man konnte doch in Ruhe seine Arbeit wegarbeiten und dann Feierabend machen. Ein Bierchen trinken oder einen Genever … Sabbatical war wohl eher was für Städter als für einen waschechten Insulaner. Wenn Morten die Nase von etwas voll hatte, ging er ans Wasser und spuckte in die Nordsee. Manchmal fuhr er mit Hajo und Sven mit dem Boot raus. So einfach war das.
Klar war es auch mal anders gewesen. Früher war er mit seinem VW-Bus und Merle in der Weltgeschichte herumgereist.
Einmal rund um die Iberische Halbinsel, zum Beispiel. Erst die spanische Küste entlang und dann über Faro an die Algarve und hoch bis Lissabon. Danach hatten sie die Route nach Nordspanien und durchs Baskenland gewählt und waren an der französischen Atlantikküste über die Bretagne und Normandie wieder nach Hause gefahren.
Für diese Reise hatte er sogar etwas Spanisch gelernt, was ihm recht leichtgefallen war und viel Spaß gemacht hatte. Er konnte die Sprache natürlich nicht fließend sprechen, aber er verstand durchaus einige Redewendungen, und er war dazu imstande, einzukaufen und im Restaurant zu bestellen.
Es war nicht bei dieser einen Reise geblieben. Die nächste Tour hatte sie durchs Languedoc und die Provence geführt, in der Schweiz hatten sie die Berge rund um Haute Nendaz erkundet und in Kroatien sämtliche Inseln mit dem kleinen Camper bereist. Sie waren im Allgäu und in Österreich gewesen, und natürlich kannte er auch Ninas Heimat, den Schwarzwald. Doch diese Zeit war vorbei …
Morten räusperte sich, weil er spürte, dass Nina ihn ununterbrochen anblickte.
„Gut, dann wäre für deinen Aufenthalt erst mal alles geklärt.“
Morten schaute Nina nun ebenfalls an. „Bekomme ich jetzt deine Geschichte zu hören? Eher verlasse ich das Boot nämlich nicht. Das bin ich dem alten Pitt schuldig. Immerhin hat er mich beauftragt, auf die Gertje aufzupassen.“
„Dann lass uns doch mal in die gute Stube gehen, da wird es mit dem Pelletofen wahrscheinlich am schnellsten warm“, schlug Nina vor.
Morten war das nur recht. Er saß immer gern hier bei Pitt und blickte von der Gertje aus aufs Hafenbecken.
Er setzte den Ofen in Gang, und schnell prasselte es gemütlich.
Nina sah ihn zweifelnd an. „Ich kann dir leider nichts anbieten, oder möchtest du einen Früchtetee? Da habe ich Beutel im Schrank gesehen. Trinkt ein Ostfriese so was überhaupt?“
„Besser als nichts“, gab Morten zur Antwort. „Dann können wir mit dem Wasserkocher gleich prüfen, ob der Strom funktioniert. Du könntest allerdings auch den Lichtschalter betätigen.“
Morten, fahr runter, raunte eine innere Stimme. Du musst hier nicht klugscheißen.
Zum Glück blieb Nina entspannt, und er fragte: „Woher nimmst du das Wasser? Das ist ja noch nicht aufgefüllt. Ich würde aus dem Tank aber auch nicht trinken, da kannst du dir besser einen Kanister vollmachen. Ich gebe dir einen Schlüssel zu den Sanitäranlagen, dort sind die Leitungen nicht abgestellt.“
„Danke. Tee kann ich übrigens trotzdem machen, weil ich noch Wasser in der Flasche habe. Für jeden einen halben Becher müsste es reichen.“
Nina stellte den Kocher an, und schon kurz darauf balancierte sie zwei Becher mit Früchtetee zur Sitzecke.
Sie ließ sich Morten gegenüber auf dem alten Ohrensessel nieder, in dem sonst Pitt saß.
Es war noch immer ziemlich kühl im Raum, und daher tat es gut, das heiße Getränk in den Händen zu halten und den fruchtigen Duft zu inhalieren.
„So, genug gewartet!“, sagte er, nachdem sie eine Weile geschwiegen und ihren Gedanken nachgehangen hatten. „Ich hätte jetzt gern alles gewusst.“
Morten nahm einen Schluck Tee, dabei verbrannte er sich die Lippen.
„Melde gehorsamst: Strom scheint zu funktionieren“, sagte er. „Das Wasser ist heiß.“
Nina nahm ebenfalls einen kleinen Schluck. „Gut, dann also … Ist jetzt nicht einfach.“ Sie wirkte plötzlich nachdenklich, ein wenig verletzlich.
Morten schaute sie fragend an, wartete aber, bis sie sich die Worte zurechtgelegt hatte.
Durch ihren Körper ging sichtlich ein Ruck, als sie sagte:
„Ich mach’s doch besser kurz. Wir haben uns ja gestern schon kennengelernt, also weißt du, dass ich Nina bin. Also Janina Schulze, und ich habe die Gertje von meinem Onkel geerbt.“
Morten runzelte die Stirn. „Geerbt?“
Nina nickte.
„Aber das heißt ja, dass Pitt … Also Pitt soll tot sein?“
„Ja, er ist vor sechs Wochen gestorben und hat mir das Hausboot hinterlassen. Und nun bin ich da.“ Nina schluckte. „Ich hab ihn früher im Sommer oft für ein paar Tage hier besucht.“
Morten konnte es nicht fassen, erinnerte sich aber dunkel daran, dass Pitt gelegentlich Besuch gehabt hatte. Das war angesichts dieser furchtbaren Nachricht jetzt allerdings ziemlich unwichtig. „Pitt ist tot, und ich weiß davon nichts.“
„Leider. Glaub mir, ich wünschte, es wäre anders.“
Nina stand auf und kam kurz darauf mit einem Dokument zurück.
Als Morten die Bestätigung auf der Sterbeurkunde und Ninas Erbschein schwarz auf weiß sah, durchfuhr ihn großer Schmerz. Er trank etwas Tee und schüttelte immer wieder fassungslos den Kopf.
„Wie ist er gestorben?“, fragte er leise. „Im Sommer haben wir noch telefoniert.“
Morten bereute jetzt, dass er sich danach nicht wieder bei Pitt gemeldet hatte.
„Er hat einen Herzanfall“, erklärte Nina. „Seit dem Frühling ging es ihm schon nicht gut, deshalb ist er auch nicht mehr hier gewesen. Wenn du Onkel Pitt kanntest, weißt du ja, wie stur er sein konnte. Ärzte waren für ihn nur Quacksalber. Es ging dann nach der Herzattacke ganz schnell.“
„Immerhin hat er ein Testament hinterlassen“, sagte Morten, „und die Gertje gehört jetzt dir.“
„So ist es“, bestätigte Nina.
„Und nun?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Nun bin ich hier, friere, und habe ein paar Monate Zeit, mir zu überlegen, was mit dem Boot passieren soll.“
„Die Gertje muss auf jeden Fall hier weg“, entfuhr es Morten.
Was war er doch für ein Trampel! Zwar entsprach es den Tatsachen, aber musste er denn gleich mit der Tür ins Haus fallen?
„Wie, muss ich etwa die Gertje zum Festland bringen lassen?“ Nina wirkte überrascht.
Jetzt war es ohnehin zu spät, und sicher war es besser, gleich mit offenen Karten zu spielen, als unnötige Hoffnungen zu schüren.
„Für Pitt haben wir auf Juist lange sämtliche Augen zugedrückt, aber es geht leider nicht mehr, das wollte ich ihm eigentlich sagen, wenn er das nächste Mal kommt. Tut mir leid.“
„Also keine Chance? Ich hatte gehofft …“
Morten zuckte mit den Schultern. „Sobald Saison ist, kann das Boot übersetzen. Nach kleinen Ausbesserungen ist es möglich, die Gertje fortzubringen. Am besten lässt du sie abschleppen. Pitt hat sie damals auch so hergebracht.“
„Aber das geht doch nicht!“, sagte Nina, die nun offenbar die Dimension des Ganzen begriffen hatte.
Morten tat es unfassbar leid, dass er ihr keine besseren Nachrichten überbringen konnte. „Ich fürchte, da ist nichts dran zu drehen.“
„Puh!“ Nina senkte den Kopf. „Das muss ich erst mal sacken lassen!“
Morten hatte seine Tasse leer getrunken und stand auf. „Hier ist einmal der Schlüssel für die Sanitäranlagen, damit du dich mit frischem Trinkwasser versorgen kannst. Pitt hat unter der Spüle einen Kanister stehen. Ich würde ihn nur umspülen.“
„Danke.“ Nina seufzte. Dass es so kompliziert werden würde, hatte sie offensichtlich nicht erwartet.
„Ich rate dir, die Gertje schon bald auf Vordermann zu bringen. Drüben kannst du das auf einer Werft machen, hier ist das sehr aufwendig. Bestimmt ist sie am Bootsrumpf voller Seepocken und Muscheln. Das schadet dem Material. Die gute Dame muss vor dem nächsten Winter davon befreit werden. Lieber früher als später. Falls du sie verkaufen möchtest, wäre das zwingend notwendig. Solltest du woanders einen Liegeplatz finden, dann natürlich auch. Sonst bekommst du schnell Probleme. Ein Schiff sollte regelmäßig gepflegt werden, vor allem, wenn es ständig im Wasser liegt. Pitt war da leider nie so richtig hinterher, und jetzt musst du es ausbaden.“
Morten rieb seine Hände, denn es war noch immer kühl. „Ich werde eine Schadensbestandsaufnahme machen lassen, wenn du einverstanden bist. Das spart dir Kosten, weil du keinen Sachverständigen beauftragen musst, und du weißt, was auf dich zukommt.“
„Das wäre toll. Du würdest mir wirklich helfen. Danke.“
„Nun ist es ja gleich muckelig warm“, erklärte Morten. „Ich hoffe, die Bettwäsche hat keine Stockflecken bekommen und die Matratze ist nicht schwarz, so feucht wie es hier war. Das geht auf so einem Boot ganz schnell. Wenn das so sein sollte, melde dich bei Tessa. Ich gebe dir gleich mal ihre Nummer. Die hat Ferienwohnungen und bestimmt eine oder zwei Garnituren übrig.“
„Einfach so?“, fragte Nina erstaunt.
„Natürlich einfach so. Du bist auf Juist, da hilft man sich gegenseitig“, gab Morten zurück und schrieb die Nummer seiner Schwester auf einen Zettel seines Notizblocks. Er reichte ihn Nina, warf einen letzten Blick auf den Pelletofen und prüfte vorsichtshalber noch die Gasflamme auf dem Herd.
„Wasser fülle ich gleich auf, nicht dass du dich wunderst, wenn es plätschert.“ Er nickte Nina, die zur Tür gekommen war, um ihn zu verabschieden, kurz zu und verließ das Boot.
„Die Kontaktdaten von der Hafenmeisterei gebe ich dir später noch. Falls mal was ist.“
Nina wirkte enttäuscht, bevor sie die Tür schloss.
Morten war hin- und hergerissen. Einerseits war er froh, dass sich jemand um die Gertje kümmerte, andererseits war er tieftraurig über Pitts Tod. Und irgendwie war es auch schade, wenn die Gertje Juist verlassen musste. Morten kümmerte sich in Gedanken versunken um die Wasserversorgung der Gertje, bevor er zurück ins Büro ging. Dort trank er seinen Zimttee und knabberte an einem Spekulatius. So richtig konnte er sich allerdings nicht mehr konzentrieren. Die Gertje musste wirklich in Ordnung gebracht werden. Wie aber sollte das ein Landei aus dem Schwarzwald, für das das Meer ein romantischer Kuschelpool war, allein bewerkstelligen?
Fast wäre es ihm lieber gewesen, Nina wäre gar nicht erst hier aufgetaucht, obwohl sie einen freundlichen Eindruck machte. Auch wenn ihre Pullover ein wenig zu knallig bunt waren und ihre Brille etwas zu sonderbar anmutete. Ein solches Gestell hatte er noch nie gesehen. Gestern hatte sie allerdings eine rote getragen.
Nina hatte nicht unwirsch reagiert, sondern eher überrascht. Trotzdem hatte Morten kein gutes Gefühl. Es würde sicher noch ein paar Probleme mit der Gertje geben.
„Die beiden Autorinnen haben bestens zusammen gearbeitet und ein wirklich schönes Buch geschrieben, das ich gerne empfehle.“
„Stimmungsvoller Weihnachtsroman“
„Wer zur Weihnachtszeit romantische Romane liebt, mit wunderschönen Kulissen, aufkeimender Liebe, ein bisschen Herzschmerz, (…) der ist bei der Autorin Felicitas Kind genau richtig.“
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