Das Mädchen im Fleet (Theo-Matthies-Reihe 4) Das Mädchen im Fleet (Theo-Matthies-Reihe 4) - eBook-Ausgabe
Ein Bestatterkrimi
„Christiane Fux versteht es, immer auch gesellschaftspolitische Themen anzubringen. In ›Das Mädchen im Fleet‹ ist das die Situation der Sinti und Roma.“ - Hamburger Wirtschaft
Das Mädchen im Fleet (Theo-Matthies-Reihe 4) — Inhalt
Im eisigen Wasser des Veringkanals ertrinkt die junge Sinti-Musikerin Jenay. Während des Trauergesprächs mit dem Bestatter Theo Matthies äußert die Mutter den Verdacht, dass ihre Tochter ermordet worden sei. Da Theo in Wilhelmsburg inzwischen für sein kriminalistisches Geschick bekannt ist, bittet sie ihn, Jenays Tod zu untersuchen, denn der Hamburger Polizei vertraut sie nicht. Theo trifft sich daraufhin mit seiner alten Freundin Hadice Öztürk, die in dem Fall ermittelte, bis sie ihn zu den Akten legen musste – obwohl auch sie Zweifel am Unfalltod der jungen Frau hatte.
Leseprobe zu „Das Mädchen im Fleet (Theo-Matthies-Reihe 4)“
Vorwort
Angefangen hat es mit der Musik. Meine Schwester schickte mir eine CD mit dem Titel „Wilhelmsburg“, eingespielt von „Django Deluxe“ – einer Wilhelmsburger Sinti-Band. Es hat sofort klick gemacht und ich habe gewusst: Da steckt eine Geschichte drin.
Wer einen Roman im Sinti-Milieu schreibt und ihn in Hamburg-Wilhelmsburg spielen lässt, kommt an der Familie Weiss nicht vorbei. Rund 500 Menschen gehören ihr an, die eng miteinander verbunden sind. Seit vielen Generationen sind sie im Raum Hamburg ansässig, früher in den traditionellen Wagen, [...]
Vorwort
Angefangen hat es mit der Musik. Meine Schwester schickte mir eine CD mit dem Titel „Wilhelmsburg“, eingespielt von „Django Deluxe“ – einer Wilhelmsburger Sinti-Band. Es hat sofort klick gemacht und ich habe gewusst: Da steckt eine Geschichte drin.
Wer einen Roman im Sinti-Milieu schreibt und ihn in Hamburg-Wilhelmsburg spielen lässt, kommt an der Familie Weiss nicht vorbei. Rund 500 Menschen gehören ihr an, die eng miteinander verbunden sind. Seit vielen Generationen sind sie im Raum Hamburg ansässig, früher in den traditionellen Wagen, inzwischen überwiegend in einer gemeinschaftlichen Siedlung.
So unbedingt erzählenswert die Geschichte dieser Familie sicher ist – dieses Buch ist reine Fiktion. Dem habe ich Rechnung getragen, meine Protagonisten heißen Munk, und ich habe Örtlichkeiten, die Familie betreffend, abgewandelt.
Damit möchte ich verdeutlichen, dass alle dargestellten Personen frei erfunden sind und jede Ähnlichkeit rein zufällig ist.
Dennoch ist dieser Roman natürlich von der Wilhelmsburger Sinti-Community inspiriert, aber ebenso von vielen anderen deutschen Sinti, deren Schicksalen, Lebenswegen und Erfahrungen ich mich anhand von Interviews und Zeitungsberichten, Büchern, Autobiografien, Dokumentarfilmen und Sinti-Diskussionsforen angenähert habe. Denjenigen von ihnen, die mir ihre Zeit für persönliche Gespräche geschenkt haben, gehört mein besonderer Dank.
Christiane Fux im August 2016
Prolog
Das Wasser, das über ihr zusammenschlug, war eiskalt, viel kälter als die Abendluft, durch die sie eben noch gelaufen war. Der Stoß war unerwartet gekommen, keine Geste, kein Laut hatte ihn angekündigt. Ihre Arme ruderten, um sie wieder hinauf, ins Leben, zu befördern. Sie war immer eine gute Schwimmerin gewesen. Die Kälte lähmte sie schlagartig, sog ihr alle Kraft aus dem Körper.
Jenseits der glitzernden Oberfläche, verzerrt von den sich brechenden Lichtstrahlen der Straßenbeleuchtung, sah sie eine Gestalt, die ihr einen rettenden Ast entgegenstreckte. Doch als sie danach griff, war es ebendieser, der sie daran hinderte, aufzutauchen. Wieder und wieder drückte er sie nach unten. Wieder und immer wieder.
Als sie endlich losließ und immer weiter in die Tiefe glitt, bauschte ihr Rock sich um sie wie ein fabelhaftes Tiefseewesen. In einem letzten qualvollen Atemzug füllten sich ihre Lungen mit Elbwasser.
Der Tod durch Ertrinken soll ein sanfter sein, so heißt es. Doch es hat schließlich nie jemand davon berichten können, der ihn wirklich erfahren hat.
Dachte sie.
Und starb.
Der erste Tag
Sie saßen nebeneinander, die Frau und der Mann, beide nicht mehr ganz jung und noch nicht alt. Sie hielt sich sehr aufrecht, die Knie unter dem langen Rock aneinandergepresst, die Hände ineinandergekrallt, sodass die Knöchel der Finger weiß hervortraten. Ihre Starre wirkte porös, wie schockgefrostet, als würde sie bei einer unachtsamen Berührung in tausend Teile zerspringen.
Ganz anders der Mann. Er kauerte zusammengesunken neben ihr, die Unterarme auf die Knie gestützt, Schultern und Hände hingen herab. Das dunkle Haar mit den einzelnen grauen Strähnen fiel ihm ins Gesicht. Mit einer müden Geste strich er es von Zeit zu Zeit zurück.
›Gramgebeugt‹, kam es Theo in den Sinn, der einmal mehr feststellte, dass Plattitüden eben doch mitunter die Wirklichkeit am besten einfingen.
So wie die beiden, hatten in den letzten Jahren schon viele Paare vor dem Bestatter gesessen, darunter auch solche, denen, wie diesem hier, das Allerschlimmste passiert war. Das Allerschlimmste, das war der Tod des eigenen Kindes. Manche Eltern klammerten sich aneinander, suchten beieinander Trost und würden ihn auch irgendwann finden können, vielleicht, ein wenig zumindest, wenn auch nicht gleich.
Viele aber, so wie diese zwei, kapselte der Verlust voneinander ab. Sie saßen jeder für sich unter einer gläsernen Glocke aus Schmerz, Verzweiflung und Einsamkeit.
„Es tut mir sehr leid“, wiederholte Theo noch einmal sein kurz zuvor ausgesprochenes Beileid.
Der Mann hob den Kopf. „Jenay, ist sie schon …?“
„Ja, ich habe sie heute Morgen hergebracht.“ Theo schaute dem Mann in die Augen, der vor vielen Jahren einen Sommer lang sein bester Freund gewesen war. Manusch. Damals waren sie fast noch Kinder gewesen. „Ihr könntet Brüder sein“, hatte Manuschs Mutter damals oft gesagt. Beide groß, schlank und dunkelhaarig, mit schmalen Gesichtern, ähnlich gekleidet in Jeans und vorzugsweise schwarzen T-Shirts. Daran hatte sich offenbar nichts geändert, stellte Theo nun mit einem Blick auf Manusch fest – nur dass dieser jetzt deutlich muskulöser war als er und die Haare länger trug.
„Ich will sie sehen. Jetzt.“ Rubina, die Mutter des toten Mädchens, starrte ihn mit unbewegter Miene an. Auch sie kannte Theo von früher. Damals war sie ein mageres, schüchternes Ding von dreizehn Jahren gewesen.
„Rubina, ganz ehrlich, das ist keine so gute Idee.“ Theo breitete die Hände aus. „Lass mir noch etwas Zeit, damit … wir uns um sie kümmern können.“
„Sie ist meine Tochter. Ich will sie JETZT sehen!“ Ihre Stimme war lauter geworden. Theo warf einen Blick zu Manusch, doch der hielt seinen auf den Boden gerichtet. Er hatte die Leiche seiner Tochter bereits im rechtsmedizinischen Institut in Hamburg-Eppendorf sehen müssen, als er sie identifizieren sollte. In die Stille hinein tickte das Pendel der großen Standuhr, die, wie auch das übrige Inventar des Büros, noch von Theos Urgroßvater, einem Kapitän zur See, stammte.
„Also gut.“ Theo seufzte. „Wartet hier einen Moment.“
Er eilte in den Anbau. Dort waren der Kühlraum, in dem Jenays Leichnam lag, und der „OP“ untergebracht, wie Theo den Bereich zum Herrichten der Toten als ironische Hommage an seinen früheren Beruf als Chirurg nannte. Rasch streifte er sich einen Kittel und Einmalhandschuhe über und öffnete den schmucklosen Transportsarg. Jenay lag noch in dem weißen Leichensack, in den sie der Gerichtsmediziner nach vollbrachter Arbeit gehüllt hatte. Sie war gerade einmal neunzehn geworden. Der Leichnam war unbekleidet, sodass die Nähte zu sehen waren, mit denen man den für die Obduktion geöffneten Körper wieder verschlossen hatte. Wie bei jedem möglichen Mordfall waren die Kollegen aus der Rechtsmedizin gründlicher vorgegangen als sonst üblich, wusste Theo. Man hatte nicht nur den Schädel und den Bauchraum geöffnet, um Gehirn und Organe zu untersuchen. Der Rechtsmediziner hatte auch den Hals bis zum Kinn aufpräpariert, um nach etwaigen Würgemalen zu fahnden. Auch auf dem Rücken des Mädchens zog sich eine lange, s-förmig geschwungene Naht entlang, ebenso an den Innenseiten der Arme bis zu den Handgelenken. Hier hatte man nach Einblutungen gesucht, die kurz vor dem Tod durch einen Schlag oder festes Zupacken entstanden sein könnten und die noch nicht durch die Haut schimmerten. Bei Jenay hatte man nichts dergleichen gefunden, nichts, das auf einen Angriff hindeutete.
So konnte er der Mutter ihre tote Tochter jedenfalls nicht präsentieren. Er rollte eine Bahre neben den Sarg und fluchte leise, als der Reißverschluss der weißen Plastikhülle klemmte. Auf die Hebevorrichtung, die er sonst zum Umbetten der Leichen verwendete, verzichtete er. Das Mädchen war klein und zierlich. Er hob den schmalen Körper hinüber auf die Bahre und deckte sie dann sorgfältig mit einem Laken bis zum Kinn zu, damit die Nähte nicht zu sehen waren. Prüfend betrachtete er das kalkfarbene Gesicht mit den bläulichen Schatten unter den Augen und den fast violetten Lippen. An der Wange befand sich noch ein eingetrockneter Rest des Schaumpilzes, der typisch für einen Tod durch Ertrinken war. Er bildete sich, wenn der Sterbende heftig Wasser in die Lungen sog, das sich dort mit Luft und Schleim vermischte. Der Bestatter nahm ein feuchtes Tuch und wischte ihn behutsam weg. Dann strich er der Toten noch einmal das kurze, blondierte Haar aus der Stirn. Es war nicht ideal, aber so würde es gehen. Sie hatte nicht allzu lang im Wasser gelegen.
Eingehend betrachtete Rubina Munk das, was von ihrem jüngsten Kind übrig geblieben war. Manusch stand schräg hinter ihr und hielt den Blick über ihre Schulter hinweg auf die Milchglasscheibe gerichtet, hinter der sich ein Baum nur schattengleich abzeichnete.
Rubina blickte Theo an. „Sie ist fort“, sagte sie dann. Es klang ungläubig.
Er nickte nur.
„Wir können die Beerdigung auch ein andermal besprechen.“ Theo sah mit Besorgnis, dass Rubina zitterte, auch als sie wieder in den wärmeren Räumen des Bestattungsinstituts saßen.
Sie schüttelte heftig den Kopf. „Kommt nicht infrage.“ Sie hat den gleichen schön geschwungenen Mund wie ihre Tochter, stellte er fest. Doch jetzt presste sie die Lippen aufeinander. ›Gestern war sie sicher noch eine sehr schöne Frau‹, dachte Theo. Er tauschte einen Blick mit Manusch. Der hob nur leicht die Schultern. ›Machen wir es, wie sie es möchte‹, sagte die Geste.
Rubina machte sich nicht die Mühe, die Kataloge mit Särgen, Totenhemden und Urnen anzuschauen. „Jenay soll einen weißen Sarg bekommen, glänzend.“
„Lack“, nickte Theo.
„Goldene Griffe.“
Theo notierte.
„Rosa Rosen als Sargschmuck.“
„Rosa?“, mischte sich Manusch ein. „Aber Rosa hat sie nie gemocht.“
„Rosa Rosen“, wiederholte Rubina, ohne ihn zu beachten. „Rosa Rosen sind das einzig Richtige für ein so junges Mädchen.“
Manusch seufzte und schloss die Augen.
„Was ist mit einer Traueranzeige?“
„So was brauchen wir nicht. Unsere Leute wissen sowieso alle Bescheid.“
„Aber was ist mit ihren Freunden, ihren Kollegen, ihren ehemaligen Mitschülern? Vielleicht würde von denen auch gern jemand kommen?“, gab Theo zu bedenken.
„Die brauchen wir nicht.“ Ihre Augen funkelten.
„Rubina. Du kannst doch nicht wirklich alle anderen ausschließen wollen.“ Manusch legte seiner Frau die Hand auf die Schulter, doch sie schüttelte sie ab.
„Und ob ich das kann!“
„Rubina!“
Sie erhob sich mit einem Ruck. „Wenn sie bei uns gelebt hätte, in unserer Obhut, wie ihre Schwester, dann wäre das alles nicht geschehen.“ Ihr Atem ging jetzt stoßweise. „Und du, du bist schuld daran! Hättest du ihr die Flausen ausgetrieben, wäre sie jetzt nicht tot!“ Ihre Unterlippe zitterte, und sie biss darauf, sodass ein roter Blutstropfen hervorquoll. „In einer Band auftreten! Das ist nichts für ein junges Mädchen.“
„Was hätte ich denn tun sollen? Sie anbinden?“ Manusch schüttelte ungläubig den Kopf. „Und überhaupt: Es war ein Unfall! Sie ist in den Kanal gefallen und ertrunken! Das hätte Florella genauso passieren können.“
„Florella wäre niemals nachts allein am Kanal unterwegs gewesen. Und überhaupt: Jenay konnte schwimmen wie … wie ein Seeotter!“ Sie hatte die Hände an beiden Seiten zu Fäusten geballt. „Eines weiß ich genau: Ein Unfall war das nicht!“
Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging steifbeinig hinaus. Auch Manusch erhob sich und breitete die Arme in einer Geste der Hilflosigkeit aus. Dann folgte er seiner Frau.
„Was war das denn eben?“ May, Theos chinesischstämmige Mitarbeiterin, eine Künstlerin in Sachen plastischer Wiederherstellung stark entstellter Unfallopfer, streckte den Kopf aus dem „OP“. Offensichtlich war sie gekommen, während sich Theo mit den Eltern Munk über die Formalitäten der Beerdigung verständigt hatte. In der einen Hand hielt sie eine lange Pinzette, von der eine lange Wattewurst baumelte. Beim Bestatter wurden diese Artikel aus dem Friseurbedarf nicht zum Stoppen herabrinnender Haarfarbe verwendet, sondern zum sicheren Verschließen von Körperöffnungen.
„Tote Tochter, Eltern auf Konfrontationskurs“, informierte Theo sie knapp.
„Und?“, fragte sie und fuchtelte mit der Wattewurst herum. „Waren das jetzt die, die du von früher kennst?“
„Ja.“ Theo fuhr sich durchs Haar.
„Mach schon mal Kaffee“, sagte May. „Ich bin hier gleich fertig.“ Die Tür fiel ins Schloss. Von außen konnte man sie nur mit einem Schlüssel öffnen, sodass der Präparationsraum für neugierige Besucher nicht ohne Weiteres zu erreichen war.
Theo war froh, sich auf eine praktische Aufgabe konzentrieren zu können. Die Begegnung mit den zwei Menschen, die er für eine kurze Zeit seines Lebens gut gekannt hatte und mit denen er nun in einer Extremsituation konfrontiert war, hatte ihn ein wenig aus dem Gleichgewicht gebracht.
Er füllte den Bohnenbehälter seiner italienischen Espressomaschine auf und schmiss das elektrische Mahlwerk an. Ein Blick auf das Barometer zeigte ihm, dass der Druck noch stark genug war.
Kurz darauf ergoss sich der heiße braune Strahl in die dickwandigen Espressotassen. Für Kaffeevollautomaten mit ihren vorgefertigten, aluminiumversiegelten Kaffeetabs hatte er nur wenig übrig.
May kam hinzu und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Sie zog die Knie an und stellte die Füße auf dem Polster ab – eine Sitzposition, die Theo aus Gründen der Hygiene störte, die anzuprangern er aber längst aufgegeben hatte. May angelte sich eine der Tassen. „Na, dann erzähl mal.“
Theo lehnte an der Arbeitsplatte. Sie sah ihn aufmerksam an: das aus der Stirn gebürstete, dunkle Haar. Das schmale Gesicht. Die Augen, deren äußere Winkel etwas tiefer als die inneren lagen, was seinem Blick ohnehin etwas Melancholisches gab. Heute aber sah Theo tatsächlich bedrückt aus. Er bemerkte ihren forschenden Blick und riss sich zusammen. Die leicht schiefen Zähne verliehen seinem Lächeln zusätzlichen Charme.
„Viel zu erzählen gibt es eigentlich nicht. Ich habe Manusch, das ist der Vater des toten Mädchens, vor ungefähr zwanzig Jahren kennengelernt.“ Er rührte geistesabwesend in seiner Tasse, obwohl er keinen Zucker genommen hatte. „Das war ein heißes Frühjahr damals, und wir haben ziemlich oft am Elbstrand abgehangen. Und da war dann eben auch Manusch. Der saß da für sich allein und hat Gitarre gespielt. Das fand ich ziemlich lässig.“ Er grinste. Sie grinste zurück. Sie wusste, wie unbegabt Theo in Hinblick auf jede musikalische Tätigkeit war, obwohl er Musik so liebte. Theo leerte seine Tasse.
„Irgendwann sind wir ins Gespräch gekommen.“
Sein Blick wanderte durch das Fenster der kleinen Teeküche in den Garten. Obwohl es bereits Ende März war, schien der Frühling heute wieder in die Ferne gerückt. Auf dem Rasen lagen nach dem letzten Schauer noch Graupel, und im Apfelbaum schwankte ein Vogelhäuschen im Wind.
„Wir waren ziemlich viel zusammen unterwegs. Ich habe erst später mitgekriegt, dass das ungewöhnlich war.“
„Wieso das?“
„Manusch gehört zu den Sinti. Die bleiben lieber unter sich.“
Trotzdem hatte Manusch ihn ab und zu mitgenommen in die Siedlung, in der seine Familie lebte: Onkel, Tanten, Cousinen, Cousins, Großmütter und -väter – ein ständiges Kommen und Gehen. Und immer war da jemand, der früher oder später Musik machte. „Das ist Theo, der ist in Ordnung“, hatte Manusch anfangs nur gesagt. Und sein Wort hatte gereicht.
Theo war fasziniert gewesen. Bei ihm zu Hause erschien ihm die Stille anschließend noch drückender als sonst. Das lag nicht etwa daran, dass sein Vater Bestatter war – im Gegenteil, in vielen Bestatterfamilien wurde viel gelacht, wohl auch, weil die ständige Konfrontation mit der Endlichkeit des Lebens der Fähigkeit, sich an diesem zu erfreuen, durchaus förderlich war. Im traditionsreichen Bestattungsunternehmen Matthies war das anders gewesen. Seit Theos Mutter bei einem Autounfall mit Fahrerflucht ums Leben gekommen war, hatte sein Vater unter Depressionen gelitten. Mit der Mutter war die Fröhlichkeit aus Theos Elternhaus verschwunden. Umso mehr hatte er es genossen, ein wenig teilzuhaben an dem Gemeinschaftsgefühl, das in der Sinti-Community herrschte. „Manchmal geht einem das ja auch unheimlich auf den Wecker, dass immer alle so zusammenglucken“, hatte Manusch ihm irgendwann gestanden. „Aber kaum einer klinkt sich aus. Ohne die Familie fühlen wir uns verloren.“
„Ist ein guter Typ, Manusch“, sagte Theo. Er öffnete das Fenster, um die Katze hereinzulassen, die auf das Fensterbrett gesprungen war und nun maunzend eine Pfote an die Scheibe drückte: ein riesiger, getigerter Kater, der vor ein paar Wochen zum ersten Mal aufgetaucht war und seither regelmäßig Einlass begehrte. Schnurrend rieb er jetzt seinen dicken Schädel an Theos Beinen und rannte dann mit aufgerichtetem Schwanz zum Küchenschrank, in dem er zu Recht Futter vermutete.
„Du weißt schon, dass dich das Vieh manipuliert“, sagte May. Sie mochte Katzen nicht sonderlich. Und den Geruch ihres Futters erst recht nicht.
Theo zwinkerte dem Kater zu und holte eine Futterdose aus dem Schrank. „Zarte Gourmethäppchen in Soße“, las er vom Etikett. „Aus dir mache ich noch einen richtigen Snob.“ Mit einer eleganten Geste öffnete er die Packung.
May rümpfte die Nase. „Stinken tut das aber genauso wie das Zeug aus dem Discounter.“
Theo löffelte das Katzenfutter in ein Näpfchen. Der Kater maunzte ungeduldig und hakte eine Kralle in Theos Hosenbein.
„Und was hat eure Jungmännerfreundschaft auseinandergebracht, die von dir und diesem Manusch?“
Er setzte dem Kater den Fressnapf vor die Nase. „Wenn man es genau nimmt, waren das unsere Großmütter.“
Bevor Theo erklären konnte, was es damit auf sich hatte, klingelte es an der Tür.
Draußen stand Rubina. Sie trug einen dicken, türkisfarbenen Daunenmantel. Dennoch hatte sie die Arme fröstelnd um den Körper geschlungen. Sie trug weder Schal noch Mütze.
„Ich muss mit dir reden“, sagte sie.
Er nahm sie mit in die Teeküche, wo May immer noch auf ihrem Stuhl hockte. Ihr Blick wanderte zwischen Rubina und Theo hin und her.
„Ich lass euch dann mal allein.“
Als sie aus dem Raum gehen wollte, hielt Rubina sie kurz am Ärmel fest.
„Würden Sie sich um meine Tochter kümmern? Ich möchte nicht, dass das ein Mann tut“, sagte sie leise.
May nickte leicht. „Natürlich.“
Theo brühte schweigend eine Tasse Tee auf. Friesentee mit braunem Kandis und Sahne. Stark. Süß. Heiß. Und tröstlich. Damit hatte schon sein Urgroßvater die Kundschaft versorgt. Theo selbst verabscheute dieses Getränk.
Rubina hatte sich an den Tisch gesetzt, auf dessen Platte sie nun starrte. Sie trug noch immer ihren Mantel.
„Also.“ Theo ließ sich ihr gegenüber nieder. „Was kann ich für dich tun?“
Sie hob den Blick. Zum ersten Mal an diesem Tag sah sie ihn wirklich an. „Ich möchte, dass du den Mörder meiner Tochter suchst“, sagte sie dann.
Natürlich hatte Theo das rundheraus abgelehnt. Natürlich hatte er versucht, sie zur Vernunft zu bringen. Dass die Polizei sicher bereits alles untersucht hatte. Dass es nicht Mord, sondern ein Unfall gewesen war. Dass …
Sie hatte ihn nur angesehen, bis sich seine Worte erschöpften. „Sie haben nur keinen HINWEIS darauf gefunden, dass es Mord war. Das heißt nicht, dass es nicht doch einer war.“
Und selbst wenn, hatte er gesagt. Wie sollte er etwas herausfinden, was die Polizei nicht herausgefunden hatte? Er hatte dafür nicht die Befugnisse, nicht die Mittel, nicht die Ermächtigung. ›Und nicht die Zeit‹, hatte er gedacht, aber es nicht laut ausgesprochen.
Sie hatte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen gebracht. „Und was ist mit den anderen Morden, die du aufgeklärt hast?“
Theo seufzte. „Woher weißt du davon?“
„Schon vergessen? Wir sind hier in Wilhelmsburg.“ Ihr Gesicht blieb unbewegt.
„Das war purer Zufall.“
„Purer Zufall? Drei Mal?“
Theo stöhnte und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. „Ich habe selbst keine Ahnung, wieso.“
„Ich schon.“
„Ach ja?“ Er hob den Kopf und sah sie an. Zum ersten Mal zeigte sich ein winziges Lächeln in ihren Mundwinkeln. „Bei dir hat man immer das Gefühl, dass du hundertprozentig da bist. Dass es dich WIRKLICH interessiert, was man sagt. Andere Leute sind in Gedanken immer halb bei ihrem eigenen Zeug – du nicht. Darum mögen die Leute dich. Und dann erzählen sie dir alle möglichen Sachen. Das war schon immer so.“
„Aber du hast dich nicht von ihr breitschlagen lassen, hoffe ich“, sagte May. Sie saßen am Tisch in Mays Küche: May, Theo und Mays zehnjährige Tochter Lilly. Vor ihnen standen Teller, auf denen sich noch ein paar einsame Nudeln in grüner Soße schlängelten. Pesto. Aus dem Supermarkt. Hätte May nicht ihre Tochter gehabt, sie hätte sich vermutlich von Kaffee und Keksen ernährt.
„Nicht direkt.“
Mays Blick spießte ihn auf.
Theo dachte daran, wie Rubina nach ihrer letzten Bemerkung aufgestanden war. Sie war zu der Tür gegangen, hinter der ihre Tochter lag, hatte die flachen Hände dagegengepresst und ihre Stirn an das Holz gelehnt. Dann war sie einfach hinausgegangen.
„Na ja, ich habe nicht gesagt, dass ich es mache.“ Er drehte seine letzten Spaghetti sorgfältig auf die Gabel, steckte sie in den Mund, kaute und schluckte. Dann legte er das Besteck auf den Teller. „Ich habe aber auch nicht gesagt, dass ich es nicht mache.“
„Verdammt, Theo!“ May legte den Kopf in den Nacken und atmete laut aus. „Geht das jetzt wieder los!“
Sie erhob sich und kratzte den Rest ihrer Nudeln in den Abfalleimer. An ihren abgehackten Bewegungen erkannte Theo, wie aufgebracht sie war. Wenn er Detektiv spielte, blieb die meiste Arbeit an ihr hängen. Was sie nicht müde wurde, ihm unter die Nase zu reiben. Aber viel schwerer wog, dass sie sich Sorgen um ihn machte – nicht völlig zu Unrecht, wie er hatte erfahren müssen. Aber das würde sie natürlich nie zugeben.
„Also, ich hätte die Nudeln da schon noch gegessen“, sagte Lilly vorwurfsvoll. Obwohl sie klein war für ihr Alter und zart gebaut, hatte sie immer Hunger.
„Da sind noch genug im Topf.“ May sagte es mit zusammengebissenen Zähnen.
„Die nehme ich auch.“ Lilly hielt ihr auffordernd den halb leeren Teller hin und blinzelte Theo zu. Theo unterdrückte ein Grinsen. Lilly wusste, wie sie ihre Mutter auf die Palme brachte.
„Iss erst einmal auf, dann sehen wir weiter, Fräulein.“ May drehte sich um und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Spüle.
„Zumindest schuldest du mir noch eine Geschichte“, sagte sie dann zu Theo.
„Ach ja?“
„Wie es mit eurer Freundschaft auseinandergegangen ist, deiner und Manuschs.“
Theo lehnte sich zurück. „Wie gesagt: Schuld daran waren vor allem unsere Großmütter.“
Halb versöhnt ließ sie sich wieder auf ihrem Stuhl nieder.
„Deine Großmutter, der alte Drachen?“
Er nickte. „Es war schrecklich. Immer nachdem Manusch mich besucht hat, hat sie das Tafelsilber gezählt. Kein Witz! ›Die klauen wie die Raben, die Zigeuner‹, hat sie immer gesagt. Und dass ich mich nicht rumtreiben soll mit dem ›Pack‹.“
„Ich kann es mir vorstellen. Der Ärmste.“
„Zum Ausgleich hat seine Großmutter dann wegen mir einen Aufstand gemacht. Die ersten Wochen, als ich öfter bei denen in der Siedlung war, ging es noch gut. Da war die alte Dame nämlich im Krankenhaus. Manuschs Mutter hat mich sogar ganz gern gemocht. Der tat ich leid, so als mutterloser Junge und so.“ Er schwieg für einen Moment.
„Und dann kam seine Großmutter aus dem Krankenhaus“, hakte May nach.
„Richtig. Was hat sie mich beschimpft! Dass ich ein Spitzel sei, der ihre Familie ausspionieren wolle. Ich war völlig fassungslos.“
„War die schon ein bisschen tüttelig?“
„Nein, gar nicht. Die war geistig topfit. Aber sie hatte nun mal diese fixe Idee, dass ich ein Spion sei.“
„Wie seltsam.“
„Wenn man die Zusammenhänge kennt, eigentlich nicht. Im Nachhinein konnte ich sie sogar verstehen, auch wenn mich das damals natürlich zutiefst getroffen hat. Du musst wissen, dass sie im KZ gewesen ist. Die Nazis haben damals nicht nur Juden, behinderte Menschen und Regimegegner verfolgt. Die Sinti und Roma haben sie genauso systematisch verschleppt und ermordet.“
„Das habe ich auch schon irgendwo gelesen. Gibt es da nicht sogar ein Denkmal?“
„Stimmt, in Berlin. Aber das hat ganz schön gedauert. Vorher haben die sich anhören müssen, dass es bei ihnen schließlich etwas anderes gewesen wäre als bei den Juden.“
„Inwiefern anders?“
„Die ›Zigeuner‹, die man ins Lager gesteckt hätte, die seien ja schließlich allesamt Kriminelle gewesen – das war sogar eine Weile die offizielle Darstellung der Bundesregierung nach dem Krieg. Und darum haben sie erst mal keine Entschädigung bekommen wie andere verfolgte Gruppen – unfassbar, oder?“
Kurz darauf hatte May sich verabschiedet. Sie hatte eine ihrer mysteriösen Verabredungen, über deren Inhalt sie nie ein Wort verlor. Ohnehin hielt sie sich gern bedeckt. Theo übernahm jedenfalls regelmäßig freitags den Babysitterdienst bei Lilly. Die verbat sich inzwischen diese Bezeichnung, saß jetzt vor ihm und grinste mit vollen Backen, während ihr ein paar grüne Spaghetti aus den Mundwinkeln ragten.
„Erst runterschlucken, dann grinsen“, kommandierte Theo.
Lilly tat wie befohlen und grinste erneut. Mit ihrer blassen Haut und dem tintenschwarzen Haar sah sie aus wie eine chinesische Porzellanpuppe. Ihr zartes Äußeres ließ durch nichts den knallharten Kern vermuten, der in ihr steckte. „Du hast also einen neuen Fall an Land gezogen, stimmt’s?“ Das Kind sah eindeutig zu viele schlechte Krimis.
„Das ist kein Fall. Da ist einfach ein junges Mädchen in den Kanal gefallen und ertrunken.“
„Aber ihre Mutter glaubt, dass jemand sie umgebracht hat.“
„Du weißt doch, wenn man so richtig großen Kummer hat, dann bildet man sich alles Mögliche ein.“
Lilly fuhr mit dem Finger durch die Pestoreste auf ihrem Teller und leckte ihn dann ab.
„Lass das, Lilly, das ist eklig.“
Sie ignorierte die Bemerkung. „Vielleicht hat sie ja trotzdem recht. Vielleicht wissen Mütter das irgendwie, wenn was Schlimmes mit ihrem Kind passiert.“
„Möglich. Ich glaube aber eher, dass sie einfach nur verzweifelt ist. So verzweifelt, dass sie eine Erklärung braucht. Und jemanden, dem sie die Schuld geben kann.“
„Aber wenn doch? Könnte doch sein, dass sie mitgekriegt hat, dass irgendwas nicht stimmt. Vorher, meine ich. Du sagst doch immer, man soll auf seine innere Stimme hören.“
Das stimmte, Theo hielt viel von Intuition. Intuition war für ihn nichts Irrationales. Sie resultierte in seiner Vorstellung aus der Summe aller Informationen, die man unbewusst dauernd abspeicherte. Blicke, Gesten, ein Stocken in der Stimme. Oder scheinbar unwichtige Handlungen, die vom üblichen Muster abwichen und registriert wurden.
Möglicherweise hatte Lilly ja recht. Vielleicht hatte Rubina recht. Sagte Theos innere Stimme. Und sie klang sehr bestimmt. Ihn schauderte.
„Wie hieß sie eigentlich?“
„Was? Wer?“ Widerwillig kehrten seine Gedanken zu der Zehnjährigen zurück, die ihm gegenübersaß.
„Na, das tote Mädchen.“
„Jenay.“
„Jenny?“
„Nein, Jenay.“
„Das klingt hübsch. Habe ich noch nie gehört.“
„Sie ist ein Sinti-Mädchen gewesen. Die haben manchmal andere Namen.“
Er fing an, das Geschirr zusammenzuräumen. „Komm schon, Fräulein, abwaschen.“
Sie knobelten mit dem Schere-Stein-Papier-Spiel aus, wer abtrocknen musste. Theo verlor. Er verlor fast immer.
Lilly zog sich einen Schemel heran und ließ heißes Wasser in die Spüle laufen. Wie immer nahm sie zu viel Spülmittel. „Warum nennt man die eigentlich nicht mehr Zigeuner? Die Sinti und Roma, meine ich.“ Sie hatte sich mit viereinhalb Jahren das Lesen selbst beigebracht. Seither saugte sie alles, was ihr vor die Nase kam, auf – das wenigste davon war altersgerecht.
„Das ist politisch nicht mehr korrekt, wie man so schön sagt.“
„Ich weiß. Aber warum eigentlich? Ich meine, ›Zigeuner‹ – da weiß wenigstens jeder, worum es geht. Sinti und Roma – damit kann doch keiner was anfangen.“
„Na, du ja offenbar schon.“
„Ja, ICH vielleicht.“
›Wenn sie erst einmal erwachsen ist, wird sie furchterregend sein‹, argwöhnte Theo. Brillant, aber furchterregend. Im Grunde war sie das schon heute. „Zigeuner – so wurden sie immer nur von den anderen genannt.“
„Na und? Die Chinesen nennen sich selbst ja auch nicht Chinesen.“
„Nicht?“ Darüber hatte Theo noch nie nachgedacht.
„Nee, die nennen sich ›Han-ren‹. Das heißt Han-Menschen.“
›Sag ich doch, brillant, aber furchterregend‹, dachte Theo. „Na ja, aber Zigeuner, das Wort hat einen ziemlich schlechten Ruf. ›Hängt die Wäsche ab, holt die Kinder rein, die Zigeuner kommen‹“, deklamierte er und schwenkte das Handtuch.
Lilly kicherte. Inzwischen türmte sich ein Berg von Schaum im Spülbecken. Sie drehte das Wasser ab.
Theo wurde wieder ernst. „In England heißen sie Gipsys, in Frankreich Gitans – das hat den gleichen Wortursprung wie Zigeuner, aber da haben die Menschen weniger Probleme mit. Aber in Deutschland, da klingt Zigeuner ein bisschen wie ›herumziehender Gauner‹ – nicht so toll, oder?“
„Stimmt.“ Lilly versenkte das Geschirr in dem wabernden Schaum. Sie spülte schweigend einen Teller und reichte ihn Theo. Ein eingespieltes Team. Zwei Teller lang herrschte einträchtiges Schweigen. Es war selten, dass Theo bei Lilly das letzte Wort behielt.
Er schrak auf, als die Tür ins Schloss fiel. Er hatte es sich mit Haruki Murakamis „Kafka am Strand“ auf der Couch bequem gemacht und war über seinem Buch eingeschlafen.
„Wie spät ist es?“ Er rappelte sich auf.
„Gleich halb zwei“, sagte May. Sie schob seine Füße beiseite und ließ sich auf die Couch plumpsen.
„Wirst du mir irgendwann verraten, was du immer treibst?“
„Mal sehen.“ Sie tätschelte seine Wade. „Und? Wirst du wieder auf Mörderjagd gehen?“
„Mal sehen“, murmelte er und schlief wieder ein. Sie blieb noch einem Moment neben ihm sitzen. Dann deckte sie ihn zu und ging ins Bett.
Der zweite Tag
Etwas brummte. Ein enervierendes Geräusch, das von dem Smartphone verursacht wurde, das neben ihrem Bett am Boden lag. Verdammt! Hadice Öztürk, 38 Jahre, Kriminalkommissarin, hoffte, dass der Anrufer ein Einsehen haben und aufgeben würde. Das Scheißding brummte weiter. Was nützte es eigentlich, die Dinger lautlos zu stellen, wenn sie dann wie wild gewordene Hummeln auf dem Parkett rumorten! Überdies war es ihr Diensthandy, das da nervte. Sie hatte aber keinen Dienst! Den letzten Fall hatte sie gestern kurz vor Mitternacht so weit abgeschlossen, dass sie beruhigt ins Wochenende gehen konnte. Sie hatte auch keine Bereitschaft. Warum zum Kuckuck quengelte dann ihr Diensthandy? Sie streckte einen Arm aus, tastete nach dem vibrierenden Stück Elektronik und hielt sich das Display vor die schlafverklebten Augen. Dann nahm sie das Gespräch an.
„Theo, verdammt! Das ist mein Diensthandy!“
„Dir auch einen wunderschönen guten Morgen.“
Hadice stöhnte und rappelte sich auf. Sie fuhr sich mit der Zunge über die pelzigen Zähne. „Moment.“ Sie griff nach der Flasche neben ihrem Bett und ließ mehrere große Schlucke Wasser durch ihre Kehle rinnen. Dann griff sie wieder nach dem Smartphone. „Das ist mein verdammtes Diensthandy“, präzisierte sie.
„Es geht ja auch um eine dienstliche Angelegenheit“, sagte Theo. „Jenay Munk, schon mal gehört?“
Hadice schwieg.
„Hallooo!“, machte Theo. „Ich nehme mal an, das bedeutet Ja.“
„Ja“, machte Hadice.
„Du bist noch im Bett, oder?“
„Quatsch.“ Sie schwang die Beine über die Kante. Ein Blick auf das Telefon verriet ihr, dass es bereits Viertel nach zehn war.
„Ich bin in zwanzig Minuten bei dir. Mit Brötchen“, sagte Theo.
„Bring Milch mit.“
Hadice ließ das Smartphone auf die Bettdecke sinken. Der Bezug war mit Piratenmotiven bedruckt – ein ironisches Geschenk ihres Kollegen Henry Sibelius. ›Falls ich jemals wieder einen Mann mit nach Hause nehmen würde, wäre der Look nicht unbedingt passend‹, dachte sie kurz, bevor ihre Gedanken wieder zu dem Telefonat mit Theo wanderten. Jenay Munk. Sie hatte die ganze Zeit geahnt, dass dieser Fall noch nicht abgeschlossen war.
Theo und Hadice hatten einander im Gymnasium in der Krieterstraße kennengelernt, ein bisschen rumgeknutscht und aus den Augen verloren, als Hadice mit ihrer Familie weggezogen war aus Wilhelmsburg. Nun war sie als Kriminalkommissarin zurückgekehrt und hatte zu ihrer Überraschung festgestellt, dass Theo inzwischen in die Fußstapfen seiner Vorfahren getreten war – ein Bestatter mit einem Intermezzo als Chirurg, aber nun dann doch: Bestatter. Sie hatten sich vor zwei Jahren wiedergetroffen, als Theo den Tod der alten Anna Florin untersucht hatte, der ihm merkwürdig vorgekommen war. Und nun, zwei weitere ominöse Todesfälle später, stand er vor ihrer Tür in der Mannesallee.
Als Hadice ihm öffnete, war ihr kurzes Haar noch feucht von der Dusche. Sie trug einen ausgeleierten Jogginganzug, der einmal blau gewesen sein mochte. Wie üblich sah sie beeindruckend aus – groß, schlank, sportlich, mit feinen Gesichtszügen und makelloser Haut. Sie schnappte sich die Bäckertüte, entdeckte ein Franzbrötchen und klemmte es sich zwischen die Zähne. „Unterzucker“, nuschelte sie. Immerhin stand der Kaffee schon dampfend auf dem Tisch – aufgebrüht nach türkischer Manier. Nachdem sie schweigend das köstlich-klebrig-zimtige Gebäck verzehrt hatte, fokussierte sie ihren Blick auf Theo.
„Jenay Munk also.“
Er nickte. „Ihre Mutter hat mich gebeten, da noch mal ein bisschen nachzuhaken.“
Hadice seufzte. Dann berichtete sie ihm aber doch von den inzwischen abgeschlossenen Ermittlungen. Kein Anhaltspunkt für Fremdeinwirkung. Kein erkennbares Motiv. „Und trotzdem ist es mir schwergefallen, den Fall zu den Akten zu legen. Irgendwas war da, das gebe ich zu. Aber ich habe es nicht zu fassen gekriegt. Die Familie war, gelinde gesagt, nicht sehr kooperativ.“
„Kann ich mir vorstellen.“
„Nicht die besten Erfahrungen mit den Bullen, was?“
Theo nickte. „Vor allem nicht mit denen von vor 1945.“
„Ach so?“ Sie runzelte die Stirn. „Was ich nur sagen will: Eine junge Frau fällt doch nicht mitten in der Nacht einfach so in den Kanal und ertrinkt. Ich meine, sie hatte nicht mal Alkohol im Blut. Oder irgendwelche anderen Drogen.“
„Was hat sie da überhaupt gemacht?“
„Sie war offenbar auf dem Heimweg. Hat in der Honigfabrik ein Konzert mit ihrer Band gegeben und ist dann hinterher nach Hause gelaufen.“ Das Kulturzentrum Honigfabrik, kurz Hofa genannt, war seit den 80er-Jahren nicht nur ein Veranstaltungsort für Konzerte und Filmvorführungen – dort gab es unter anderem auch eine Holzwerkstatt, eine Segelschule und Unterstützung bei der Kfz-Reparatur.
„Ist das nicht ein bisschen dunkel und einsam in der Gegend? Da nachts alleine unterwegs zu sein, ist doch etwas unheimlich, oder?“
Hadice zuckte mit den Schultern. „Für sie offenbar nicht. Der Weg am Kanal, den haben sie ja inzwischen ganz hübsch ausgebaut. Und sie war ziemlich häufig in der Hofa und ist dann immer zu Fuß nach Hause.“ Sie kramte in der Brötchentüte. „Wir haben die Freunde befragt, mit denen sie da war. Keinem ist etwas Ungewöhnliches aufgefallen. Jenay hat eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht. Am nächsten Tag hatte sie Frühschicht, darum ist sie eher gegangen als die anderen.“
„Und keiner hat mitbekommen, ob jemand sie begleitet hat? Oder ihr gefolgt ist?“
„Nada. Es war wie verhext. Kein Mensch hat irgendwas gesehen oder gehört. Oder überhaupt eine Idee, wer einen Grund gehabt haben könnte, sie umzubringen.“ Sie bohrte das Messer in ein Mohnbrötchen. „Und jetzt haben ihre Leute also gewissermaßen dich angeheuert.“
„Gewissermaßen. Genauer gesagt, die Mutter. Rubina. Wir kennen uns von früher.“
Hadice halbierte das Brötchen, beschmierte es mit Butter und träufelte Honig darauf. Die süße zähflüssige Masse bildete goldene Kringel, die dann allmählich ineinander verliefen und einen funkelnden Miniaturtümpel bildeten.
Theo schnappte sich das letzte Rundstück. Bei Hadice musste man schnell sein. „Könnte es so was wie ein Ehrenmord gewesen sein? Und jetzt halten alle dicht?“, überlegte Theo. „Ich meine nur, weil Jenay sich von ihrer Familie und ihren Traditionen gelöst hat. Die Mädchen wachsen bei den Sinti ja oft noch sehr behütet auf, soweit ich weiß.“
„Ehrenmord? Wüsste nicht, dass es so was bei denen gibt. Für so was sind doch wir Muslime zuständig.“ Sie grinste böse. „Das sind Christen, weißt du? Gläubiger als du, mein Lieber.“
Sie leckte etwas Honig von ihrem kleinen Finger. Dann sah sie ihn an. „Das gefällt mir nicht, dass du dich da wieder in eine mögliche Mordsache einmischst. Das gefällt mir ganz und gar nicht.“
„Oh, weißt du, ich rede einfach mit ein paar Leuten.“
„Eben. Und wir wissen beide, was dabei rauskommen kann.“
„Willst du, dass der Mörder davonkommt, wenn es denn einen gibt?“
Sie sah ihn finster an. „Sei bloß vorsichtig. Und wenn du tatsächlich was rausfindest, erzählst du es mir zuerst. Umgehend!“
„Na, dann bin ich jetzt also ein offizieller Polizeispitzel.“
Sie warf die zweite Hälfte ihres Brötchens nach ihm.
Als Theo zum Bestattungsinstitut zurückkehrte, parkte dort ein silberfarbener Mercedes. Manusch stieg aus. Trotz des ungemütlichen Wetters trug er nur eine gefütterte Jeansjacke. In der Hand hielt er eine Sporttasche. „Ich habe hier ein paar Sachen. Für Jenay.“
Er öffnete die Tasche und zog ein fliederfarbenes Kleid mit Rüschen und Volants hervor. Er seufzte.
„Wahrscheinlich nicht unbedingt das, was sie sich selbst ausgesucht hätte. Sie hat sich lieber modern angezogen. Nur auf Jeans hat sie verzichtet.“
„Ist das immer noch so, dass Sinti-Frauen keine Hosen tragen dürfen?“
„Dürfen. Was heißt schon dürfen? Es gehört sich eben einfach nicht.“
„Sollen wir ’ne kleine Runde drehen?“
Sie gingen nebeneinander her, denselben Weg, den sie damals im Sommer 1995 oft gegangen waren. Quer durch den Friedhof Finkenriek zum Deich. Theo erinnerte sich, dass sie auch damals oft miteinander geschwiegen hatten. Das Schweigen war auch jetzt, nach all den Jahren, nicht unangenehm, sondern vertraut.
An einem Grabstein hielt Theo Manusch ganz leicht am Arm zurück. Der las die Inschrift.
„Deine Frau. Und deine Tochter.“ Manusch nickte. „Ich habe davon gehört, damals. Tut mir leid, Alter.“
Es war natürlich etwas anderes, ein Kind gleich bei der Geburt zu verlieren als eine 19-jährige Tochter. Aber es schuf doch ein zusätzliches Band zwischen den beiden Männern Ende dreißig, das es sonst so nicht gegeben hätte.
„Jenay war mein Herzenskind.“ Manusch stieß die kleine Pforte auf, die vom Friedhof auf den Deich führte. „Man soll ja als Vater keinen Liebling haben, aber wenn wir ganz ehrlich sind, gibt es für jeden von uns ein Kind, das unserem Herzen am nächsten steht.“ Er warf Theo einen Blick zu und stieg dann, die Hände in die Taschen der Jeansjacke vergraben, zur Deichkrone hinauf. „Ich habe sogar ihren Namen ausgesucht. Jenay. Das heißt ›Melodie‹. Er hat so gut zu ihr gepasst.“ Er holte tief Luft. „Bei Rubina war es genau umgekehrt. Sie ist mit Jenay nie richtig klargekommen.“ Er schlug den Kragen seiner Jeansjacke hoch und klemmte die Hände unter die Achseln, den Blick auf die Süderelbe gerichtet, die schnell und gleichmütig ein Stück weiter unten vorbeiströmte. Bräunliches Wasser, in dem sich der graue Himmel spiegelte.
„Jenay war genauso temperamentvoll wie ihre Mutter, da hat es manchmal eben gekracht. Rubina hat sich immer am wohlsten unter unseren Leuten gefühlt. Jenay war anders. Die wollte raus. Ihr war da alles zu eng. Sie wollte immer ihr eigenes Ding machen.“ Etwas schwang in seiner Stimme mit. Stolz.
„Ich nehme mal an, das konntest du verstehen.“ Theo erinnerte sich an das letzte wirkliche Treffen mit Manusch.
„Ich hau ab, Alter“, hatte er damals gesagt.
„Wo willst du denn hin?“
Manusch hatte nur mit den Schultern gezuckt. „Keine Ahnung. Irgendwohin.“
„Und wovon willst du leben?“
Manusch hatte gegrinst. „Wer eine Gitarre hat und spielen kann, verhungert nicht so schnell.“
Theo hatte ihn beneidet. Um die Freiheit, die er sich nahm. Aber mehr noch um seine Courage.
Irgendwann, nach einem Jahr oder vielleicht zwei, war er plötzlich wieder da gewesen. War in den Schrotthandel seines Onkels eingestiegen und hatte drei Kinder gezeugt. Manchmal liefen sie einander über den Weg, wie das auf der Elbinsel Wilhelmsburg zwangsläufig passierte, tauschten einen Handschlag und ein paar freundliche Floskeln aus.
„Tut mir leid, dass Rubina sich vorhin so aufgeführt hat.“
Theo legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Das geht schon klar. Glaub mir, da habe ich schon ganz andere Sachen erlebt.“ Er dachte daran, wie er von einem trauernden Ehemann mit einem Luftgewehr bedroht worden war, als er die Leiche seiner Frau abholen wollte. Das war erst ein paar Monate her.
Sie gingen die paar Schritte hinunter an den schmalen Strand. Der Sandhafer klebte platt und tot auf dem grauen Sand, als sei eine Walze über ihn hinweggerollt. Dazwischen das zierliche Band einer Trippelspur – eine Möwe, vermutete Theo. Die Wellen hatten etwas Schaum angespült, der nun unschöne, schmutzig gelbe Krusten bildete.
Manusch ging ganz bis ans Wasser. „Sie gibt mir die Schuld.“
„Rubina? Das ist eine ganz normale Trauerreaktion. Dass niemand die Schuld haben soll, das ist schwer auszuhalten.“
Manusch ging in die Hocke und tauchte die Hände in das eisige Wasser, auf dem noch vor Kurzem Eisschollen getrieben hatten.
„Hauptsache, du gibst dir nicht auch selbst die Schuld.“ Theo trat neben ihn.
„Wie kalt ihr gewesen sein muss.“
›Wem?‹, wollte Theo fragen, doch er hielt sich zurück.
Manusch verharrte lange in der Position. Seine Kiefermuskeln waren angespannt. Im eisigen Wasser mussten seine Hände inzwischen schmerzen.
Theo hockte sich zu ihm. „Komm jetzt.“
Manusch sah ihn an. „Sie glaubt, jemand hat sie absichtlich ins Wasser gestoßen. Rubina glaubt, dass man unsere Tochter ermordet hat. Ist das auch eine ›normale Trauerreaktion‹?“
„In solchen Situationen gibt es nichts Normales.“ Er zögerte. „Weißt du, dass sie gestern noch mal bei mir war?“, sagte er dann.
„Wer? Rubina?“
Theo nickte.
„Ich soll Jenays Mörder finden. Die Frage ist natürlich, ob es den überhaupt gibt.“
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