Das Meer weist keinen Fluss zurück Das Meer weist keinen Fluss zurück - eBook-Ausgabe
Ein Weg zu Liebe und Gelassenheit
Das Meer weist keinen Fluss zurück — Inhalt
Liebe ist der Schatz, den wir erst loslassen müssen, um ihn wirklich zu finden.
„Die Liebe ist wie das Meer, das keinen Fluss zurückweist. So groß ist sie.“
Jeder versteht es, kaum einer vermag es zu beherzigen: Liebe ist für den anderen da. Sie sollte nicht vergiftet sein von Eifersucht und Obsession, denn Liebe braucht Gelassenheit. Doch nur wer sich selbst und den geliebten Menschen wirklich annehmen kann, erfährt diese Gelassenheit. So einfach ist es – und so schwer. Abt Muho, deutscher Leiter des größten Zen-Klosters in Japan, zeigt, wie es gelingen kann, im Alltag zu neuen Formen der Liebe zu finden.
Leseprobe zu „Das Meer weist keinen Fluss zurück“
Liebe braucht Gelassenheit
Wohl ist ein See in mir, ein einsiedlerischer,
selbstgenügsamer;
aber mein Strom der Liebe reißt ihn mit sich
hinab – zum Meere!
Friedrich Nietzsche
Ich habe zwei Namen. In meiner Geburtsurkunde steht der Name Jens Olaf Christian Nölke. Auf ihn wurde ich getauft. Noch heute steht er in meinem Pass. Ausgesucht habe ich ihn mir nicht. Anders verhält es sich mit meinem Mönchsnamen. Mein Meister erlaubte mir, den Namen frei zu wählen, als ich in Japan zum Zenmönch ordinierte. Fünfundzwanzig Jahre ist das nun her. Die zwei [...]
Liebe braucht Gelassenheit
Wohl ist ein See in mir, ein einsiedlerischer,
selbstgenügsamer;
aber mein Strom der Liebe reißt ihn mit sich
hinab – zum Meere!
Friedrich Nietzsche
Ich habe zwei Namen. In meiner Geburtsurkunde steht der Name Jens Olaf Christian Nölke. Auf ihn wurde ich getauft. Noch heute steht er in meinem Pass. Ausgesucht habe ich ihn mir nicht. Anders verhält es sich mit meinem Mönchsnamen. Mein Meister erlaubte mir, den Namen frei zu wählen, als ich in Japan zum Zenmönch ordinierte. Fünfundzwanzig Jahre ist das nun her. Die zwei Schriftzeichen, mit denen man den Namen schreibt, bedeuten „keine Richtung“ – was nicht Ziellosigkeit heißen soll, sondern ein Offensein für die Welt. Ich wollte mich nicht von vorgefassten Meinungen leiten lassen und keinen Einbahnstraßen folgen. Ich wollte meinen Weg ohne Scheuklappen gehen.
Die zwei Namen verraten es schon – mein Leben spielt sich in zwei Welten ab. Ich wurde 1968 in Berlin geboren und bin bis zu meinem sechsten Lebensjahr in einem Pfarrhaus in Braunschweig aufgewachsen. Mit vierzehn wurde ich in Tübingen konfirmiert und kehrte mit sechzehn wieder nach Braunschweig zurück, um ein christlich geführtes Internat zu besuchen. Ausgerechnet dort kam ich zum ersten Mal mit Zazen in Berührung, der „Meditation im Stil des Zen-Buddhismus“, wie man damals sagte. Dieser Moment sollte mein Leben verändern. Nicht nur las ich fortan alles, was ich zum Thema Buddhismus in die Finger bekam; nach einiger Zeit beschloss ich auch, nach dem Abitur Japanologie und Philosophie zu studieren. Ich wollte mich so auf einen längeren Aufenthalt in einem Zenkloster vorbereiten. Dass ich als Fünfzigjähriger einmal Abt eines japanischen Klosters sein würde, hätte ich mir gleichwohl nicht träumen lassen. Das lag schlicht jenseits meiner Vorstellungskraft.
Inzwischen lebe ich seit mehr als zwei Jahrzehnten in Antaiji, einem tief in den japanischen Bergen gelegenen Kloster. Sowohl in Deutschland als auch in Japan werde ich gerne vorgestellt als der deutsche Zenmeister, der mehr als die Hälfte seines Lebens in Japan verbracht hat; der christlich erzogen wurde, aber zum Buddhismus konvertiert ist; der fließend Japanisch spricht, dessen deutschen Akzent aber jeder bemerkt.
Trotzdem kommt es so gut wie nie vor, dass man mich wie Goethes Faust seufzen hört über die zwei Seelen in meiner Brust. Es gibt schließlich trotz allem nur einen Muho: nämlich den mit deutscher Staatsbürgerschaft und christlichen Wurzeln, der als Abt einem japanischen Zenkloster vorsteht. Das bin ich. Und gerade weil mir beide Welten und beide Religionen vertraut sind, vermag ich vielleicht das Christentum wie den Buddhismus etwas anders wahrzunehmen und auch darzustellen als jemand, der nur eine Seite kennengelernt hat. Wenn daher in diesem Buch nicht nur aus buddhistischen Schriften, sondern auch aus der Bibel zitiert wird, verweist das auf meinen ganz persönlichen Lebensweg – zu dem im Übrigen auch die Beschäftigung mit Philosophen wie Friedrich Nietzsche oder Sören Kierkegaard gehört. Auch auf ihre Schriften werde ich das eine oder andere Mal zurückkommen.
In Japan bittet man mich häufig, den Buddhismus, den ich mir als meine eigene Religion gewählt habe, mit dem Christentum, das mir in die Wiege gelegt wurde, zu vergleichen. Beispielsweise werde ich gefragt, was der Buddhismus vom Christentum lernen könne. Dann antworte ich: Gelebte Liebe!
Buddhistische Mönche sind Weltmeister, wenn es darum geht, Gleichmut zu bewahren. In diesem Punkt macht ihnen so schnell keiner etwas vor. Wann hat zuletzt den Buddha etwas auf die Palme gebracht? Niemand kann sich daran erinnern. Und doch stünde ein bisschen mehr Engagement vielen Buddhisten ganz gut zu Gesicht. Gleichmut muss lebendig sein. Wird er zur Gleichgültigkeit, verliert er alles, was ihn ausmacht. Buddhisten sollte es immer darum gehen, die Welt und jedes einzelne Wesen in ihr wertzuschätzen. Die Welt loszulassen und sie gleichzeitig so anzunehmen, wie sie ist, das gehört zusammen. Daher darf ein Buddhist der Welt nicht den Rücken zukehren und gleichgültig werden. Vielmehr muss er sich öffnen und da sein für die Welt, als Liebender. Gelassenheit ohne gelebte Liebe läuft Gefahr, Lethargie zu werden.
Gibt es umgekehrt etwas, das das Christentum vom Buddhismus lernen kann? Meine Antwort lautet: Gelassenheit. Das Christentum ist die Religion der Liebe. Oder zumindest, so sollte man vielleicht besser sagen, eine Religion, in der viel von Liebe die Rede ist. Von der Liebe zu Gott, von der Liebe zum Nächsten. Doch wenn man über eine Sache zu viele Worte verlieren muss, bedeutet das meist, dass man mitunter ein gar nicht so kleines Problem mit ihr hat. So ist es auch mit der Liebe. Über die Liebe zu reden und tatsächlich zu lieben sind zwei verschiedene Dinge. Die Geschichte hat es gezeigt, und in der Gegenwart verhält es sich nicht anders: Christlicher Liebe fehlt es häufig an Gelassenheit. Dann ist sie eine Liebe, die bekehren und herrschen will; die aufdringlich wirkt, selbstgerecht und intolerant.
Es ist nicht einfach, Japanern den Ausschließlichkeitsanspruch des Monotheismus verständlich zu machen. Juden, Christen und Muslime berufen sich auf denselben Gott. Auf Gott, den Vater, der seine Schöpfung liebt und dem Menschen den Auftrag gegeben hat, an seiner statt Liebe walten zu lassen. Wie kommt es aber dann, werde ich gefragt, dass der Krieg zwischen den Gläubigen dieses Gottes kein Ende nimmt? Meistens behelfe ich mich in solchen Situationen mit einem Vergleich und sage, dass dieser Krieg dem Streit zwischen kleinen Kindern ähnele. Mit den Geschwistern ringen sie, wen die Eltern am liebsten haben, und mit den Nachbarskindern debattieren sie darüber, wessen Eltern die größten, klügsten, gerechtesten sind. „Ja, okay“, sagen die Japaner dann, „das ging uns als Kindern nicht anders. Aber wir reden doch jetzt von erwachsenen Menschen!“
Jeder versteht es, kaum einer vermag es zu beherzigen: Liebe ist für den anderen da. Sie darf nicht, wie es leider allzu oft im Alltag der Fall ist, vergiftet sein von Eifersucht und Obsession. Liebe braucht Gelassenheit. Um gelassen zu sein, muss ich mich selbst wie auch den anderen annehmen können, ihn sein lassen. Nur wer sich und den anderen in seinem Sein annehmen kann, erfährt Gelassenheit. So einfach ist es – und so schwer. Wie können wir alle lernen, einen Weg zu finden, der Liebe mit Gelassenheit vereint? Nicht zuletzt um diese Frage soll es in diesem Buch gehen.
Für eine mögliche Antwort werde ich auch ausführlich auf einen Text des japanischen Zenmeisters Dōgen eingehen, in dem sich ganz handfeste Hinweise zur Praxis der Liebe finden lassen. Dōgen lebte im zwölften Jahrhundert und begründete die Soto-Schule, in der ich zum Mönch ordiniert wurde. Daher fühle ich mich seinem Werk in besonderem Maße verbunden. Der Text behandelt vier Arten praktizierter Liebe: das Geben; die Worte der Liebe; die selbstlose Hilfe und die Harmonie. Indem ich ihn anhand vieler Beispiele aus dem Alltag auslege, möchte ich versuchen, seine Aktualität deutlich zu machen und seine Relevanz auch für westliche Leser aufzuzeigen. Wir müssen versuchen, das Wunder, auf dieser Welt zu sein, mit anderen zu teilen. Denn zu lieben bedeutet, für andere da zu sein.
Wie wohl jeder kann auch ich mich noch sehr gut an den ersten Kuss erinnern. Die Welt war dieselbe wie zuvor und doch völlig verwandelt: bunter, strahlender, freundlicher. Das Leben zwinkerte mir zu, und alle Zweifel und Bedenken schienen auf einmal weit weg. Alles hatte sich verändert, denn ich war glücklich verliebt. Dieses kostbare Gefühl hütete ich wie ein Geheimnis. Unmöglich, jemandem davon zu erzählen. Ein anderer hätte die so fundamentale Veränderung, die alles erfasst hatte, ohnehin nicht verstanden.
Handelte es sich bei dieser Verliebtheit bereits um Liebe? Damals wäre ich mir absolut sicher gewesen: Ja, natürlich war das Liebe, große, unbedingte, rosarote Liebe. Heute allerdings sehe ich das anders. Ob man liebt, weiß nur die andere, die geliebte Person. Denn Liebe beschränkt sich nicht auf das Gefühl von Schmetterlingen im Bauch. Liebe will nicht nur gefühlt, sondern auch gelebt werden. Ihren wahren Ausdruck findet sie im Alltag. Sie zeigt sich in Blicken, in Worten, in kleinen oder großen Geschenken. Vor allem aber weiß wahre Liebe, wann sie sich zurückhalten muss. Sie entspringt einer Gewissheit, die der verliebte Teenager noch nicht haben kann, die aber auch uns sogenannten Erwachsenen oft fehlt: der Gewissheit, in der Welt zu Hause zu sein.
Immer wieder werde ich in diesem Buch auf den Unterschied zwischen Verliebtheit und Liebe zurückkommen. Es ist der Unterschied zwischen einem wunderbaren Gefühl und einer lebenslangen Praxis, die man wahrscheinlich nie ganz meistern wird. Ohne gefühlte Liebe fehlt einem die Kraft, Liebe zu leben. Umgekehrt wird selbst die größte Liebe verebben, wenn sie nur im Herzen gefühlt und nicht im Alltag gelebt wird.
Wer hat es verdient, ein Liebender genannt zu werden? Nur der, der von sich aus einen anderen liebt? Oder nicht doch auch der, der auf die Liebe eines anderen hofft? Der eine will lieben, der andere geliebt werden. Beide sind sie aufeinander angewiesen – der aktiv Liebende auf den Empfänger seiner Liebe genauso wie der Geliebte auf jemanden, dem er alles bedeutet. Einen Unterschied gibt es jedoch: Wer lieben will, muss die Liebe erst einmal selbst erfahren haben. Wer nie geliebt wurde, kann auch nicht lieben.
Dieses Buch soll nicht nur graue Theorie enthalten. Ich will auch von meinen eigenen, manchmal bitteren Erfahrungen mit der Liebe erzählen. Ein Kapitel wird deshalb von meiner Kindheit, die von Einsamkeit geprägt war, und von meinen Erinnerungen an die erste große (und bisweilen auch gar nicht so große) Liebe handeln. In jenen Jahren waren es oft Songtexte, in denen ich mich wiederfand, weil sie genau das auf den Punkt brachten, was ich fühlte und wofür ich selbst noch keine Worte hatte. Sie waren meine Bibel und meine Wissenschaft, und ich hätte sie jederzeit den Sätzen weiser Religionsstifter und Philosophen vorgezogen. Wenn ich sie jetzt noch einmal zitiere, geschieht das nicht aus Nostalgie; meine Hoffnung ist vielmehr, dass sich auch für Leser, die nicht wie ich während der Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts aufgewachsen sind, etwas von ihrer Kraft und lakonischen Klugheit mitteilt.
Im letzten Kapitel schließlich werde ich auf mein Leben als verheirateter Abt in einem japanischen Zenkloster zu sprechen kommen. Sowohl in der Ehe als auch in der Beziehung zwischen Meister und Schüler geht es dabei nur selten so harmonisch zu, wie es das Lehrbuch der Liebe erwarten lässt. Immer wieder kommt es zu Zerreißproben. Möglicherweise werde ich, indem ich davon erzähle, die Erwartung so manchen Lesers enttäuschen. Ich kenne schließlich die Klischees: Ein Zenmeister ist einer, dem Liebe und Güte aus allen Poren dringen. Leider kann die Wirklichkeit nicht ganz mit dem Idealbild mithalten, zumindest nicht in meinem Fall. Aber vielleicht ist das ja auch ganz gut so. Als jemand zu gelten, der sich keine Gedanken mehr darüber zu machen braucht, wie die Liebe in seinem eigenen Leben und in dem seiner Nächsten wachsen kann, ist keine besonders verlockende Vorstellung.
Allein auf weiter Flur
Sometimes I feel like a motherless child
Long way from my home
Traditional
Was ist Ihnen wichtig im Leben? Streben Sie nach Erfolg und Anerkennung im Beruf, oder ist Ihnen Zeit für sich selbst und Ihre Angehörigen wichtiger? Möchten Sie am liebsten jeden Tag eine neue Herausforderung meistern, oder sehnen Sie sich nach Ruhe? Geht es Ihnen um Freiheit und Ungebundenheit, oder legen Sie Wert auf Harmonie und Gemeinschaft? Bedeuten Ihnen Gesundheit und Zufriedenheit mehr als Geld und Karriere? Oder warten Sie nur darauf, das in Ihnen schlummernde Potenzial endlich zu entdecken und seiner Bestimmung zuzuführen?
Laut einer Umfrage, über die die Japan Times im Dezember 2017 berichtete, wünschen sich sechzig Prozent der ungebundenen japanischen Männer eine Freundin. Doch nur jeder Fünfte von ihnen möchte heiraten und eine Familie gründen. Bei den Frauen zeigte sich ein anderes Bild. Hier bekundeten fast zwei Drittel ihr Desinteresse an einer romantischen Beziehung. »Warum soll ich meine Zeit mit dem Besuch einer Single-Börse verschwenden, wenn ich doch Boys × Girls Next Door auf „Cool TV“ schauen kann?«, gab eine der Befragten zu Protokoll. Nicht die Einzige, die Liebeleien eher in einem Reality-Format als in der Realität erleben wollte. Überraschenderweise aber war der Hochzeitswunsch in der Damenwelt umso ausgeprägter. Vier von fünf Frauen bekräftigten den Wunsch, in naher oder zumindest näherer Zukunft heiraten und eine Familie haben zu wollen.
Ein interessanter Widerspruch. Für die japanischen Frauen scheinen die Männer nicht mehr als ein Mittel zum Zweck der Familiengründung zu sein, während es den Männern offenbar bloß um das immer neue Erleben unverbindlicher Romantik geht. Zumindest Letzteren kann geholfen werden. Für umgerechnet fünfzig Euro pro Stunde kann ein sich nach Zweisamkeit verzehrender Romantiker bei einem Service namens „Rent-a-Girlfriend“ eine Herzensdame auf Zeit bestellen – auf rein platonischer Basis wohlgemerkt. Das kurze Beziehungsglück erstreckt sich allein auf gemeinsame Besuche im Kino oder im Restaurant. Ausflüge an den Strand oder ins örtliche Schwimmbad sind dagegen strikt untersagt, weil sie mit dem Zeigen von zu viel nackter Haut verbunden wären.
Wie sieht es in Deutschland aus? Nach einer Allensbach-Umfrage steht für die meisten Deutschen in ihrem Leben die Liebe an erster Stelle, und zwar die Liebe innerhalb der Familie. Das mag überraschen, schließlich galt bis vor Kurzem die Familie als eine Art schwarzes Loch, in dem alle Energie, alles Geld und alle Freiheit auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Familie, das war für viele nur eine Handvoll Menschen auf engstem Raum, die außer Zufall und Gene nicht viel verband. Noch niedrigere Werte auf der Beliebtheitsskala erzielte nur noch die Kombination von Familie undArbeit. Sie erschien als Todfeind jeder Selbstverwirklichung.
Daher liegt es nahe, den Zuspruch, den Liebe und Familie gegenwärtig erfahren, weniger als Ausdruck einer realen Entwicklung, sondern eher als Abbild einer Sehnsucht zu interpretieren. Denn tatsächlich nimmt die Zahl der Familien in Deutschland eher ab statt zu – was nur bedeuten kann, dass immer weniger Menschen, obwohl sie es sich anders wünschen, in ihrem Leben die Liebe fühlen, die für sie mit dem Wort „Familie“ verbunden ist.
Was haben James Bond, Luke Skywalker und Harry Potter gemeinsam? Richtig, es sind moderne Helden, die jeder aus dem Kino oder aus Büchern kennt. Aber noch etwas verbindet sie: Sie haben alle drei früh ihre Eltern verloren. Keine Mutter hat dem Spion im Dienst ihrer Majestät je Plätzchen zu Weihnachten geschickt. Ein ähnliches Schicksal traf Superman, Batman und Spider-Man. Und Hänsel und Gretel schlugen sich alleine durch den dunklen Wald, weil die Eltern sich in ihrer Not nicht anders zu helfen wussten, als ihre Kinder auszusetzen.
Kinder ohne Eltern. Kinder, verlassen und allein auf weiter Flur. Mir scheint, dass selbst Jesus in dieses Schema passt. Man kann davon ausgehen, dass seine Kindheit geprägt war von der Frage: Wer ist mein wirklicher Vater? Sein Verhältnis zur Mutter gibt ebenfalls Rätsel auf. Während der Hochzeit zu Kana, bei der Jesus Wasser in Wein verwandelt, will er von Maria wissen: „Was habe ich mit dir zu schaffen, Frau?“ Ich denke, das zeigt Jesus’ Suche nach einem Daseinsgrund. Er stellt die Fragen, die uns allen wohl schon mal den Schlaf geraubt haben: Wer bin ich? Und warum bin ich hier? Die er für seine Eltern hielt, Maria und Josef, vermochten ihm darauf keine Antwort zu geben.
Später ruft Jesus am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Den Theologen haben diese Worte viele Schwierigkeiten bereitet. Warum soll sich Jesus am Kreuz von Gott, seinem Vater, verlassen fühlen? Geschah es nicht aus freien Stücken, dass er das Kreuz auf sich nahm? Hat er sich nicht dem Willen des Vaters vollkommen überlassen? Und überhaupt: War Jesus nicht selbst Gott? Zahlreich und voller hermeneutischer Finesse sind die Antworten, die die Kirche über die Jahrhunderte auf diese Fragen gefunden hat. Unbezweifelbar blieb dabei nur eines: Mit Jesus am Kreuz spricht ein Mensch, der sich von der Welt verlassen fühlt, der ganz allein ist in seinem Leid.
Warum üben gerade die elternlosen oder verlassenen Kinder und jungen Erwachsenen eine so große Faszination auf uns aus, wenn wir ihnen in Filmen oder in der Literatur begegnen? Weil wir uns alle mit ihnen identifizieren können. Auch wenn wir unsere Eltern noch haben, ändert das nichts daran, dass wir uns in so mancher Stunde vom Leben selbst stiefmütterlich behandelt fühlen. Jeder von uns wird allein in diese Welt geboren, und jeder von uns ist allein, wenn er stirbt. Man kann sogar sagen, dass jeder mit seiner eigenen Welt geboren wird, und wenn er stirbt, stirbt diese Welt mit ihm.
Auch während der siebzig, achtzig Jahre, die jemand in seiner Welt lebt, ist er allein. Es gibt nur einen Menschen, durch dessen Augen er die Welt sieht, nur einen, mit dessen Ohren er hört, und auch nur einen, dessen Gedanken und Gefühle er wirklich versteht; das ist er selbst. Zu dem, was Außenwelt heißt und was er mit seinen Mitmenschen teilt, scheint er nur indirekten Zugang zu haben, und die Innenwelt der anderen bleibt ihm sogar oft ganz verschlossen. Oder gilt das etwa nur für mich?
Keiner will sein Leben lang allein sein in der Welt. Wir sehnen uns nach Nähe, Wärme, Zärtlichkeit, Mitgefühl. Wir wünschen uns, andere Menschen verstehen zu können und von ihnen verstanden zu werden. Wir wollen lieben und geliebt werden, nicht morgen oder übermorgen, sondern jetzt. An was für eine Liebe denken wir dabei? An unbedingte, vorbehaltlose Liebe, die uns Teil eines größeren Ganzen werden lässt; an Liebe, die uns so akzeptiert, wie wir sind, und uns gleichzeitig Raum lässt zu wachsen. Liebe, die an unsere Möglichkeiten glaubt und sie fördert.
Was ist das Gegenteil von Liebe? Die Antwort ist so naheliegend, dass sie banal erscheint: der Hass.
Wird Liebe allzu fordernd und berauscht sie sich an ihrer Macht, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie sich in Hass verwandelt, und zwar sowohl bei dem, der liebt, als auch bei dem, der Ziel dieser Liebe ist. Wie groß ist der Abstand zwischen Liebe und Hass? Oft erleben wir es, dass von einem auf den anderen Moment die Gefühle umschlagen können. Es könnte also sein, dass der Hass bloß die Nachtseite der Liebe und deshalb untrennbar mit ihr verbunden ist. Tatsächlich bin ich daher der Überzeugung, dass das eigentliche Gegenteil der Liebe nicht der Hass ist, sondern die Herzenskälte.
Denn der Mensch, den man hasst, ist einem genauso wie der Mensch, den man liebt, nicht gleichgültig. Nie wird man jemanden so leidenschaftlich hassen wie den, den man einst geliebt hat. Was wir lieben, ist uns wichtig. Was wir hassen, ebenfalls – nur mit umgekehrten, mit negativen Vorzeichen. Lieben bedeutet zuallererst Wichtignehmen. Und der Wunsch, geliebt zu werden, bedeutet, dass man wichtig genommen werden will. Ich darf den anderen nicht nur deshalb wertschätzen, weil er mein Leben bereichert, sondern ich muss ihn als das Wesen, das er ist, annehmen und gleichzeitig loslassen. Auch ich will ja nicht nur deshalb wertgeschätzt werden, weil ich für jemanden etwas verkörpere, was ihm wichtig ist. Ich will als das Wesen, das ich bin, wichtig genommen werden – weil ich wie jeder andere zu dieser Welt gehöre.
Nirgendwo fehlt die Liebe so sehr wie bei einem Menschen, dem die Welt gleichgültig ist; der sich verloren fühlt und deshalb mit allem abgeschlossen hat; dem niemand wichtig ist und der glaubt, für niemanden wichtig zu sein. Dagegen wird ein Mensch, der die Welt liebt, jedes einzelne Ding in ihr wichtig nehmen, und zwar genau so, wie es ist. Aber das gelingt ihm nur, wenn er sich selbst, an seinem Ort und als der Mensch, der er ist, wichtig nimmt. Nicht zu wichtig, wohlgemerkt! Liebe, die sich über andere erhebt, ist keine. Wer kein Gewicht im eigenen Leben spürt, das ihn auf die Welt verweist, wird auch andere nicht lieben können. Vergeblich wird er auf die Liebe der anderen warten, nach der er sich sehnt.
Liebe. Wir benennen mit diesem Wort so vieles. Ein Gefühl, das uns die Brust zum Glühen bringt. Eine Verbindung, die man zu seinen Kindern spürt. Die Nähe zum Partner oder zu engen Freunden. Die Verehrung der Natur. Die Hingabe an Ideale, Werte, vielleicht an Gott. Der eine liebt Fast Food, der andere das Vaterland. Liebe kann Seelenverwandtschaft meinen, „Liebe machen“ bedeutet Sex. So viele Formen der Liebe. Worin unterscheiden sie sich, und was ist ihnen allen gemein?
Im Folgenden möchte ich die verschiedenen Bedeutungen, die wir der Liebe geben, einander gegenüberstellen und in ihrer jeweiligen Besonderheit würdigen. Orientieren möchte ich mich dabei an den vier Begriffen, mit denen in der griechischen Antike versucht wurde, Ordnung ins Liebesdurcheinander zu bringen: Storge, Eros, Philia und Agape.
Liebe, die einem in den Schoß fällt
Das Rufen der Affen
Die Stimme des Tals
Tag und Nacht höre ich
Buddhas Botschaft
Schnee auf der Flur
Kein Grashalm zu sehen
Ein Reiher verbirgt sich
In seiner eig’nen Gestalt
Dōgen
Storge bezeichnet das Gefühl, willkommen in der Welt zu sein. Storge ist die erste und scheinbar trivialste Form der Liebe. Man könnte sie „biologische Liebe“ nennen, denn sie scheint zur genetischen Ausstattung des Menschen zu gehören. Ein Kind verspürt Storge auf dem Schoß der Mutter, und der Mutter geht es nicht anders, wenn sie ihr Kind im Arm hält.
Jedes Kind ist fest davon überzeugt, dass die eigene Mutter die beste ist. Warum eigentlich? Die Auswahl ist doch so groß. Es gibt Milliarden von Frauen auf dieser Welt, von denen ganz sicher viele hübscher sind, leckerere Sachen kochen oder mehr Erziehungsratgeber gelesen haben als gerade jene Frau, an deren Hand das Kind vergnügt die Straße entlanggeht. Trotzdem müsste man wohl sehr lange suchen, um ein Kind zu finden, das sagt: „An erster Stelle kommt für mich Frau Merkel! Und dann Lady Gaga! Und Mama kommt an dritter Stelle!“
Wenn ein Kind bei seiner leiblichen Mutter aufwächst, ist die Chance groß, dass es seine Mutter ein Leben lang lieben wird. Und ein während der ersten Jahre adoptiertes Kind wird seine Ziehmutter lieben, selbst wenn es später seiner leiblichen Mutter begegnen sollte. Storge knüpft ein starkes Band. Der Biologe Konrad Lorenz hat gezeigt, dass das selbst bei Enten nicht anders ist.
Warum liebt eine Mutter ihr Neugeborenes mehr als alle anderen Kinder? Die Auswahl ist doch so groß. Es gibt doch Millionen von anderen Babys, von denen ganz sicher viele süßer und aufgeweckter, möglicherweise auch gesünder sind als das eine, das sie auf die Welt gebracht hat. 70 368 744 177 664 Kombinationen ließen sich aus den Chromosomensätzen der Eltern herstellen. Darunter wäre sicher auch die eine, die optimale, die für ein Leben mit den besten Startbedingungen sorgen würde. Könnte deshalb eine Frau das Angebot eines Gentechnologen annehmen, ihr Baby gegen ein solcherart „perfektes“ Wesen auszutauschen? Wohl kaum. Als Grund für die Ablehnung würde ihr ein Satz genügen: „Das ist doch mein Kind!“
Die Dinge verkomplizieren sich, hat eine Frau mehrere Kinder zur Welt gebracht. Ich spreche nicht von einer Entscheidung auf Leben oder Tod, wie sie Meryl Streep im Film Sophies Entscheidung treffen muss, weil sie von einem KZ-Aufseher dazu gezwungen wird, eine Wahl zwischen ihrem Sohn und ihrer Tochter zu treffen – nur um am Ende beide Kinder zu verlieren. Nein, selbst wenn ein Kind einfach nur wissen will, welches von den Geschwistern der Liebling der Mama ist, kann das die Mutter vor ein großes Dilemma stellen. Es gibt die Geschichte von der japanischen Frau, die gemeinsam mit ihrem Mann zwölf Kinder großgezogen hat. Fast jeden Monat gab es einen Geburtstag zu feiern, und dafür hatten sich die Eltern etwas Besonderes ausgedacht. Das Geburtstagskind durfte wählen, ob es am Festtag entweder mit dem Vater oder mit der Mutter in ein Restaurant gehen wollte. Alleine sein mit einem Elternteil, das war in einer so großen Familie übers Jahr kaum möglich. Aber hinter der Idee steckte auch noch ein eher prosaischer Grund: Essen zu gehen mit der ganzen Familie, dafür reichte das Geld nicht. Bei solch einem Geburtstagsausflug nutzte nun eines der Kinder die Gelegenheit, endlich einmal unter vier Augen mit der Mutter zu sein. Es nahm sich ein Herz und fragte sie: „Welches von uns zwölf Kindern hast du eigentlich am liebsten, Mama?“ Darauf antwortete die Mutter: „Weißt du das denn nicht? Ich habe dich am liebsten! Aber das ist ein Geheimnis, das du in keinem Fall den anderen verraten darfst.“
Jahrzehnte später starb die Mutter, und die zwölf inzwischen längst erwachsenen Geschwister kamen zusammen, um Abschied von ihr zu nehmen. Sie weinten und lachten und riefen besonders schöne Erinnerungen herauf. Dann holte eine der Töchter tief Luft und erzählte das Geheimnis, das ihr die Mutter anvertraut hatte. „Was?“, riefen alle anderen, „dir hat sie das auch gesagt?“
Die meisten Eltern werden beteuern, all ihre Kinder in gleichem Maße zu lieben (auch wenn es sich dabei manchmal um eine Notlüge handelt). Kinder geben sich damit jedoch nur schwer zufrieden. Die japanische Mutter in der Geschichte muss das geahnt haben. Denn obwohl jedes Kind weiß, dass es damit Unmögliches verlangt, möchte es das am meisten geliebte sein. So wie es selbst ja auch die eigene Mutter am liebsten hat. Eine Einschränkung oder auch nur ein winziges Zögern seitens der Eltern kann zu einer emotionalen Katastrophe führen. Sogar Einzelkinder werden eifersüchtig, wenn sie merken, dass Mutter und Vater sich noch für andere Dinge interessieren als ausschließlich für die Belange des Nachwuchses.
Ein anderer Fall von Storge ist die Heimatliebe. Mit der Gegend, in der wir als Kinder aufgewachsen sind, verbinden uns, solange wir leben, ganz spezielle Gefühle. Wenn man nach vielen Jahren in der Ferne zurückkommt und den Apfelbaum sieht, auf den man als Kind geklettert ist, fühlt es sich beinahe so an, als würde man einer alten Liebe wiederbegegnen. Der Morgennebel auf den Feldern; der besondere, unverwechselbare Geruch des Moors; der Findling, der schon in der Kindheit an genau dieser Stelle lag – mit alldem verbindet uns Storge. Auch unsere Geschmacksnerven werden früh geprägt. Deshalb lieben wir oft noch als Erwachsene Speisen, die wir schon als Kind gern gegessen haben. Vor allem, wenn sie so zubereitet sind, wie die Mutter es immer gehalten hat.
Die Vaterlandsliebe scheint mir ebenfalls eine Form von Storge zu sein. Ich habe schon einige US-Amerikaner getroffen, die mir voller Nachdruck versicherten: „Natürlich liebe ich mein Land. Wie könnte ich nicht? Keiner kann doch ernsthaft bezweifeln, dass die USA das beste Land der Welt sind!“ Für sie muss Amerika gar nicht erst wieder „great“ gemacht werden.
In Deutschland hingegen hat Patriotismus jahrzehntelang im öffentlichen Diskurs kaum eine Rolle gespielt. Das beginnt sich gerade zu ändern. Was nicht per se etwas Schlechtes sein muss, wenn sich dahinter einfach eine besondere Verbindung zur eigenen Heimat verbirgt. Allerdings – und da fangen dann die Probleme an – sitzen viele der neuen Patrioten einem Irrtum auf. Keiner liebt sein Land, weil es die meisten Nobelpreisträger oder die coolste Musik hervorgebracht hat; weil es das sicherste oder das reichste ist – sondern nur aus einem einzigen, durchaus naheliegenden Grund: weil er in diesem Land geboren und aufgewachsen ist. Das ist dann aber auch schon alles.
Manchmal erzählen mir Japaner, dass sie in ihrer Jugend kaum Stolz auf ihr Land empfunden hätten. Erst nach Reisen ins Ausland sei ihnen klar geworden, welches Glück es bedeute, als Japaner geboren worden zu sein. Niemand kann sich aussuchen, wo er zur Welt kommt. Dass man sich in einem bestimmten Land zu Hause fühlt, sagt nichts über dessen Qualität aus. Das Gefühl resultiert allein aus der Tatsache, dass man dort zur Welt gekommen und groß geworden ist. So wie ein Kind die Mutter liebt, weil es seine Mutter ist. Es darf dabei eben nur nie vergessen, dass das für jedes andere Kind genauso gilt. Und für alle Patrioten und ihre Liebe zum Vaterland erst recht. Oder, wie Bertolt Brecht einmal schrieb: „Und das Liebste mag’s uns scheinen / So wie andern Völkern ihrs.“
Was alle Formen der Liebe, die sich unter dem Begriff Storge zusammenfassen lassen, eint, ist die Bedingungslosigkeit. Wir lieben unsere Mutter, die Natur, die Heimat bedingungslos, weil wir uns selbst ohne Bedingungen geliebt, angenommen, aufgehoben fühlen. Worauf sich Storge richtet, das ist einem gegeben. Man muss es sich nicht erwählen. Nicht das Kind die Mutter, nicht der Bewohner das Land.
Noch während ich den letzten Satz schrieb, kamen mir Zweifel. Stimmt das mit der bedingungslosen Selbstverständlichkeit denn wirklich? Seit so langer Zeit lebe ich nun schon in Japan. Ab und zu fragt man mich, warum ich denn noch nicht die japanische Staatsangehörigkeit angenommen hätte. Eigentlich ein naheliegender Gedanke. Natürlich fühle ich mich Japan, meiner Wahlheimat, sehr verbunden. Ich kann mir auch durchaus vorstellen, dass sich mein Grab einmal hier befinden wird. Wenn im Fernsehen die japanische Nationalmannschaft spielt, drücke ich ihr die Daumen. Nur wenn es gegen Deutschland geht, gerate ich etwas ins Straucheln. Mal feuere ich die Deutschen an, deren Namen und Gesichter sich so sehr von denjenigen der Schwarzenbecks und Maiers meiner Kindheit unterscheiden. Dann wieder schlage ich mich auf die Seite der japanischen Spieler, die mir aus den täglichen Nachrichten vertraut sind. Manchmal stimmt es also doch: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust.“
Nicht nur die Gesichter der deutschen Fußballspieler haben sich geändert. Es war zwar längst überfällig, aber überrascht hat es mich trotzdem, dass Deutschland 2005 zum ersten Mal eine Frau ganz an die Spitze wählte. Ebenso überrascht war ich vier Jahre später, als ich im Internet von Angela Merkels neuem Gesundheitsminister las: Philipp Rösler war in Südvietnam geboren worden. Ich ahnte, was auf ihn zukommen würde. Die Presse würde ihm die immer gleichen Fragen stellen. Und so kam es dann auch. Andauernd musste Rösler erklären, dass er keine asiatischen Kampfsportarten beherrsche und sogar nicht einmal regelmäßig beim Vietnamesen esse.
Fast schien es, als nähme man Rösler übel, dass er sich nicht übermäßig für seine Wurzeln in Vietnam interessierte, ein Land, an das er sich kaum erinnern konnte und das nie seine Heimat gewesen war, weil ein deutsches Paar ihn schon als ganz kleines Kind aus einem Waisenhaus geholt und adoptiert hatte.
Ich selbst reagiere zunehmend ermüdet, wenn ich zum x-ten Mal erklären soll, warum es mich nach Japan verschlagen hat, noch dazu so tief in die Berge. In Japan werde ich oft vorgestellt als der Zenmeister mit den blauen Augen. Als ob es wichtig wäre, ob man die Welt durch blaue oder durch schwarze Augen wahrnimmt! Es sollte doch einzig darauf ankommen, was man mit diesen Augen sieht. Deshalb kann ich mir gut vorstellen, dass Rösler die Fragen der Reporter irgendwann nicht mehr hören konnte. Anstatt seine Meinung zu einem politischen Thema äußern zu können, sollte er beispielsweise wieder und wieder erklären, warum er denn um alles in der Welt den Staatsbesuch in Vietnam nicht für die Suche nach seiner eigenen Vergangenheit nutze. Rösler reagierte darauf erfrischend trotzig: „Wer etwas sucht, erweckt den Eindruck, als fehle etwas. Mir aber hat niemals etwas gefehlt.“
Im Vergleich zu Deutschland ist die japanische Gesellschaft sehr homogen. Obwohl ihre Zahl zunimmt, gibt es noch immer nur sehr wenige Einwohner mit ausländischer Staatsangehörigkeit. 2017 waren es etwas mehr als zwei Millionen, was gerade einmal zwei Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Ein Großteil derer, die mit einem ausländischen Pass in Japan leben, sind Abkömmlinge koreanischer Zwangsarbeiter, die vor oder während des Zweiten Weltkriegs nach Japan verschleppt worden sind. Sie werden Korea-Japaner genannt. Sie sind in Japan geboren und aufgewachsen und sprechen oft auch nur Japanisch. Obwohl sie einen koreanischen Pass besitzen, waren viele von ihnen noch nie in Korea. Mühelos könnten sie sich in Japan einbürgern lassen, doch das käme ihnen nicht in den Sinn. Sie betrachten Korea als einen Teil ihrer Identität, den sie niemals aufgeben würden. Sie hören K-Pop, die koreanische Popmusik, und sehen sich koreanische Fernsehserien an. Selbstverständlich mit japanischen Untertiteln! In Japan fühlen sie sich als Koreaner, aber kommen sie dann doch einmal nach Korea, müssen sie feststellen, dass sich dort nichts wie Heimat anfühlt. Für gewöhnlich nennen wir Heimat den Ort, an dem wir uns zu Hause fühlen. Vielleicht ist Heimat manchmal aber auch genau da, wo man gerade nicht ist.
Es gibt Leute, die glauben, dass die Konflikte, die die Welt in Atem halten, auf ganz einfache Weise gelöst werden könnten. Wie wäre es, wenn jeder von uns mindestens zwei Staatsangehörigkeiten besäße? Wenn diesseits und jenseits der Grenzen ein kunterbuntes Durch- und Miteinander herrschte, gäbe es doch keinen Grund mehr, Kriege zu führen! Mich überzeugt dieser Ansatz nicht sehr. Ich fürchte, dass eine Welt, in der sich jeder überall zu Hause fühlt, eine wäre, in der niemand wirklich eine Heimat hätte.
Natürlich kann es gelingen, in zwei oder mehr Kulturen zugleich zu leben. Mir kam es jedoch während meiner ersten Zeit in Japan so vor, als hätte ich mich zwischen alle Stühle gesetzt. Sicher, ich hatte mir das Land selbst ausgesucht. Ich wusste auch, dass ich gekommen war, um länger zu bleiben. Aber jeden Tag aufs Neue wurde ich daran erinnert, dass ich ein Fremder war. Weder sprach ich die Sprache so flüssig wie ein Japaner, noch sah ich auch nur im Entferntesten wie einer aus. Noch nach Jahren kam ich mir „anders“ vor. Nicht, dass ich mich als Deutscher gefühlt hätte, Gott bewahre! Ich legte vielmehr gesteigerten Wert darauf, bei jeder sich bietenden Gelegenheit nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass es sich bei mir keinesfalls um einen typischen Deutschen handle. Die Japaner nickten dann bloß nachsichtig: „Ach, du auch? Stimmt, das erzählen uns ja alle Deutschen, die nach Japan kommen!“
Was könnte deutscher sein als der zum Scheitern verurteilte Versuch, sich im Ausland von allem Deutschen zu distanzieren? Nicht viel. Also, wer war ich dann? Ich konnte keine klare Antwort geben. Aber manchmal kann es tatsächlich wichtig sein, eine zu haben. Denn wer nicht weiß, wer er selbst ist, dem wird es auch schwerfallen, die Identität anderer anzuerkennen.
Heute würde ich deshalb freimütig bekennen: „Ja klar, ich bin Deutscher!“ Das Land, in dem ich geboren wurde, ist ein wichtiger Abschnitt meiner Biografie, und daran wird sich auch bis zu meinem Tod nichts mehr ändern. Die Natur meiner Verbindung zu Deutschland könnte man Storge nennen. Ich habe mir diesen Teil meiner Identität nicht selbst gewählt. Er wurde mir gegeben, und ich habe ihn angenommen. Anders verhält es sich mit meinem Verhältnis zu Japan. Hier zu leben war meine eigene Entscheidung. Deshalb verbinden mich mit den beiden Ländern auch verschiedene Formen der Liebe. Die Liebe zu Japan würde man im Griechischen statt mit Storge eher mit dem Begriff Philia bezeichnen, auf den ich später noch zurückkommen möchte.
Über meine Religion lässt sich Ähnliches sagen. Ich bin Buddhist, daran besteht kein Zweifel. Buddhismus ist die Religion, die ich mir selbst ausgesucht habe, also Philia. Ich wurde aber in einem christlichen Elternhaus geboren und wuchs bis zu meinem sechsten Lebensjahr sogar in einem Pastorenhaushalt auf. Als Student trat ich zwar aus der Kirche aus, aber nach wie vor verbindet mich noch etwas mit dem Christentum, wie nicht zuletzt dieses Buch zeigt. Diese Verbindung, die ich weder kappen kann noch will, ist die Liebe, die mit Storge gemeint ist.
Dass man in Japan mit eher wenig Platz auskommen muss, weil die Wohnverhältnisse für gewöhnlich beengt sind, dürfte allgemein bekannt sein. Auch wir fünf – meine Frau und ich sowie unsere drei Kinder – haben lange Zeit in nur zwei Räumen des Klosters gewohnt, der eine zehn, der andere dreizehn Quadratmeter groß. Erst als unsere Tochter dreizehn wurde, bekam sie ihr eigenes kleines Reich. Der Rest der Familie hat es dagegen noch immer recht kuschelig. An ein und demselben Tisch macht mein älterer Sohn Hausaufgaben, während sein Bruder spielt und meine Frau und ich versuchen, uns auf unsere Arbeit zu konzentrieren. In Japan spricht man in so einem Fall von skinship – ein Kunstwort, das sich aus den englischen Wörtern skin (Haut) und kinship (Sippe, Verwandtschaft) zusammensetzt. Japaner verstehen nämlich eine enge Bindung nicht als Fessel. Für sie wäre eine deutsche Formulierung wie „sich gegenseitig auf die Pelle rücken“ undenkbar.
Anders als meine Kinder hatte ich schon ganz früh ein Zimmer nur für mich. Die Familie traf sich im Grunde ausschließlich zu den Mahlzeiten oder zum gemeinsamen Fernsehen, das ich aber bald schon schwänzte. Ich zog das Alleinsein vor. Ich las in meinen Büchern oder hörte Kassetten, und niemand störte mich dabei. Solcher Freiraum kann ein Anreiz zu eigenverantwortlichem Handeln sein. Er kann aber auch ein Gefühl von Einsamkeit erzeugen.
Japaner dagegen scheinen sich nie wirklich von den Eltern abzunabeln, was uns Deutschen wie eine befremdliche Abhängigkeit vorkommen kann. Ins Positive gewendet, lässt sich aber auch sagen, dass in Japan Storge, die biologische Liebe, wohl mehr zählt als ein ausgeprägter Individualismus. Was ist wichtiger – die Selbstständigkeit des Einzelnen oder das Verankertsein im Elternhaus? Vermutlich kommt es auf beides an. Um seinen eigenen Weg gehen zu können, muss man wissen, wer man ist und woher man kommt.
Wenn man mich danach fragt, führt meine Antwort regelmäßig zu Verwunderung: Ich erziehe meine Kinder nicht zweisprachig. Dabei gäbe es dafür doch die besten Voraussetzungen. Wenn ein Kind schon als Säugling zwei Sprachen im Alltag hört, wird es später recht mühelos auch beide Sprachen lernen und sich eine von ihnen nicht erst in der Schule oder gar als Erwachsener mühsam aneignen müssen. Ich kenne viele Paare, bei deren Kindern das prima funktioniert hat. Auch meine (japanische) Frau schlug am Anfang unserer Ehe vor, dass ich doch versuchen könne, mit unseren Kindern Deutsch zu sprechen, wären sie erst einmal auf der Welt. Als zweisprachig Aufwachsende hätten meine Kinder später eventuell bessere berufliche Perspektiven und könnten sich auch einen größeren Freundeskreis aufbauen.
Ich habe mich dagegen entschieden. Ein Grund dafür war meine Liebe zum Japanischen. Obwohl ich erst mit achtzehn zum ersten Mal mit ihr in Berührung kam, fühle ich mich in dieser Sprache so wohl, dass ich zu Hause gar kein Bedürfnis habe, Deutsch zu sprechen. Zumal ich im Kloster immer wieder Besuch aus Deutschland bekomme und so kaum ein Tag vergeht, an dem ich keine Sätze aus der alten Heimat höre.
Aber das ist nicht alles. Denn da ist auch noch der innere Widerstand, den ich jedes Mal verspüre und überwinden muss, wenn ich Deutsch mit meinen Kindern spreche. Vielleicht resultiert er aus der unterschiedlichen grammatikalischen Struktur der beiden Sprachen. Im Deutschen sagt man seinen Kindern: „Ich hab dich lieb!“ Und bekommt hoffentlich als Antwort: „Ich hab dich auch total lieb, Papa!“
Wer da wen lieb hat, wird ganz klar mitgeteilt. „Ich“, der Sprecher, drücke „meine“ Zuneigung gegenüber einem anderen Menschen aus. Gleichzeitig schaffe ich dadurch aber auch eine letztlich nicht zu überbrückende Distanz. Denn ich sage: Ich bin nicht du, aber ich habe dich trotzdem lieb. Besonders schmerzhaft wird es, wenn die erwartete (und erhoffte) Reaktion einmal ausbleibt und die eigene Liebesbekundung im Schweigen verhallt.
Im Japanischen sagt man dagegen einfach suki, wenn man seine Zuneigung zum Ausdruck bringen will. Suki hat mit Sukiyaki, dem japanischen Eintopf, nichts zu tun, sondern bedeutet: gernhaben. Wer das noch etwas mehr betonen will, kann dai suki oder dai, dai, dai suki sagen, denn dai heißt „groß“. Etwas umständlicher ginge auch: Watashi (ich) ha (habe) anata no koto ga (alles, was dich betrifft) suki da yo (lieb). Das genügt höchsten grammatikalischen Ansprüchen, fügt aber letztlich einem einfachen suki nichts Nennenswertes hinzu.
Überhaupt: Wenn man erst einmal Subjekt, Prädikat und Objekt hübsch der Reihe nach auf die Kette fädeln muss, um seine Zuneigung zu erklären, dann ist das für die Japaner ein beinahe untrügliches Zeichen dafür, dass es mit dieser Zuneigung vielleicht doch nicht ganz so weit her ist, wie es einen der Sprecher glauben machen will. Für die Liebe gilt das erst recht. „Ich liebe dich!“ heißt auf Japanisch Ai shite iru yo. Ai ist die Liebe, shite iru bezeichnet ein andauerndes Gefühl, und bei dem yo am Ende handelt es sich um ein sogenanntes Expletivum, das die Funktion eines Ausrufezeichens erfüllt. Auch hier wird also nicht genau gesagt, wer wen liebt. Wenn Liebende es nicht fühlen, dass sie gemeint sind und die Liebe wechselseitig erwidert wird, ist ihnen sowieso nicht zu helfen, würde ein Japaner wahrscheinlich denken.
Und was sagt man in Japan, wenn man jemanden nicht mehr mag? Kirai! Oder, etwas deutlicher, wenn man den anderen überhaupt und so ganz und gar nicht mehr sehen kann: Dai, dai, dai kirai! Wie oft habe ich mir das schon von meinen trotzigen Kindern anhören müssen! Doch gleichzeitig, so paradox das klingen mag, teilen sie mir damit auch ihre Zuneigung mit. Denn auch hier wird nicht mitgeteilt, wer die Abneigung verspürt und gegen wen sie sich richtet. Meine Kinder wissen sowieso, dass ich sie verstehe, auch ohne Subjekt und Objekt in ihrem Satz. Weil sie eben mich verstehen. Was wiederum nicht möglich wäre ohne die Zuneigung, die selbst in einem noch so entschlossenen Kirai! immer mit zum Ausdruck kommt.
Es gibt noch einen anderen Grund, weshalb ich mich nicht auf Deutsch mit meinen Kindern unterhalte. Ich will nämlich, dass sie immer wissen, was ihre Muttersprache ist. Spätestens in der Pubertät beginnt man sich zum ersten Mal die großen Fragen zu stellen: Warum bin ich genau dieser Mensch, der ich bin, und nicht vielmehr ein anderer? Und wer ist das, der sich das fragt? Wer bin ich?
Der Buddhismus besteht darauf, dass das Ich eine Konstruktion ist, und ich stimme dem auch zu. Gleichzeitig aber halte ich diese Konstruktion für unbedingt notwendig. Für ein Kind kann es von großer Bedeutung sein, einen Vater und eine Mutter zu haben und zu wissen: Das sind „meine“ Eltern. Oder sagen zu können: Das ist „meine“ Heimat. Daher muss es durchaus keine Verarmung bedeuten, nur eine Muttersprache und nicht zwei oder drei zu haben, von denen letztlich keine wirklich „meine“ ist.
Als Buddhist mit christlichen Wurzeln teile ich die Hoffnung, dass es der Menschheit eines Tages gelingen möge, trotz aller Differenzen brüderlich zusammenzuleben. Voraussetzung dafür ist die Form der Liebe, die Storge heißt und die ich für so wichtig halte. Wenn ein Kind Liebe erfahren hat; wenn auch noch der Erwachsene sich in ihr aufgehoben und behütet fühlt, wird es ihm leichterfallen, die Sehnsucht anderer Menschen zu verstehen. Jeder will anerkannt und geliebt werden als der, der er ist. Aber immer ist da zu wenig von dieser bedingungslosen Liebe. Kein Wunder also, dass wir uns manchmal alle wie Waisenkinder fühlen – leider als solche ohne Superheldenkräfte.
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