Das Rad der Zeit 7 (Das Rad der Zeit 7)
Die Krone der Schwerter
— Die Buch-Serie zur großen prime video-Serie „Wheel of Time“ (WoT)!Das Rad der Zeit 7 (Das Rad der Zeit 7) — Inhalt
Aus den Nebeln der Zeit erhebt sich eine düstere Macht …
Rand al’Thor, der Wiedergeborene Drache, hat die Bestimmung die Völker im Krieg gegen die Fintsernis zu einen. Nun bricht er nach Illian auf, um den Verlorenen Sammael vom Thron zu stoßen. Indessen versuchen seine Vertrauten Elayne, Aviendha und Mat, der Schale der Winde habhaft zu werden, welche die Macht besitzt, das vom Dunklen manipulierte Wetter wieder ins Gleichgewicht zu bringen ...
Die Buch-Serie zur großen prime video-Serie „Das Rad der Zeit“!
Leseprobe zu „Das Rad der Zeit 7 (Das Rad der Zeit 7)“
PROLOG
Blitze
Von dem hohen Bogenfenster fast achtzig Spann über dem Boden aus, nicht weit von der obersten Spitze der Weißen Burg entfernt, konnte Elaida viele Meilen über Tar Valon bis zu den wogenden Ebenen und den Wäldern hinaussehen, die an den breiten, von Nordwesten heranwogenden Fluss Erinin angrenzten, bevor er sich um die weißen Mauern der großen Inselstadt herum teilte. Unten überlagerten die langen Morgenschatten die Stadt, aber von diesem erhöhten Standpunkt aus schien alles hell und klar. Nicht einmal die sagenhaften Türme von Cairhien [...]
PROLOG
Blitze
Von dem hohen Bogenfenster fast achtzig Spann über dem Boden aus, nicht weit von der obersten Spitze der Weißen Burg entfernt, konnte Elaida viele Meilen über Tar Valon bis zu den wogenden Ebenen und den Wäldern hinaussehen, die an den breiten, von Nordwesten heranwogenden Fluss Erinin angrenzten, bevor er sich um die weißen Mauern der großen Inselstadt herum teilte. Unten überlagerten die langen Morgenschatten die Stadt, aber von diesem erhöhten Standpunkt aus schien alles hell und klar. Nicht einmal die sagenhaften Türme von Cairhien konnten wirklich mit der Weißen Burg mithalten. Und sicherlich auch keiner der niedrigeren Türme Tar Valons, auch wenn die Menschen nah und fern von ihnen und ihren gewölbten Himmelsbrücken sprachen.
In dieser Höhe linderte eine beständige Brise die unnatürliche Hitze, die die Welt gefangen hielt. Da das Lichterfest vorüber war, hätte Schnee den Boden bedecken sollen, aber das Wetter entsprach eher dem Höhepunkt eines Hochsommers. Ein weiteres Omen dafür, dass die Letzte Schlacht bevorstand und der Dunkle König die Welt berührte – wenn noch weitere Zeichen nötig gewesen wären. Elaida ließ sich natürlich auch beim Abstieg nicht von der Hitze berühren. Die Brise war nicht der Grund dafür, dass sie ihre Unterkunft, trotz der Unbequemlichkeit so vieler Stufen, hier oben in diese schlichten Räume verlegt hatte.
Man konnte die einfachen rostroten Bodenfliesen und die weißen, mit nur wenigen Wandteppichen geschmückten Marmorwände nicht mit der Erhabenheit des Arbeitszimmers der Amyrlin und den dazugehörigen Räumen weiter unten vergleichen. Sie benutzte jene Räume noch gelegentlich – manche hielten sie für die Macht des Amyrlin-Sitzes für unerlässlich –, aber sie lebte und arbeitete wegen der Aussicht häufiger hier. Aber nicht auf die Stadt oder den Fluss oder die Wälder, sondern auf das, was am Fuß der Burg begann.
Gewaltige Fundamentierungen waren ausgeführt worden. Hohe Holzkräne und Blöcke geschnittenen Marmors und Granits erstreckten sich jetzt über den ehemaligen Übungshof der Behüter. Steinmetze und Arbeiter schwärmten wie Ameisen über den Platz, und endlose Ströme von Wagen krochen durch die Tore in den Burghof und brachten weitere Steine heran. Auf einer Seite stand ein hölzernes ›Arbeitsmodell‹, wie die Steinmetze es nannten, das ausreichend groß war, dass Männer gebückt hineingehen und sich sehr genau ansehen konnten, wo jeder einzelne Stein platziert werden sollte. Es war so groß wie einige Herrenhäuser. Die meisten der Arbeiter konnten jedoch nicht lesen – weder Worte noch Bauzeichnungen.
Wenn ein König oder eine Königin einen Palast besaß – warum sollte der Amyrlin-Sitz dann auf Räume verwiesen werden, die kaum besser waren als jene gewöhnlicher Schwestern? Ihr Palast würde der Weißen Burg in seiner Pracht gleichkommen und eine zehn Spann höhere Spitze als die Burg selbst aufweisen. Alles Blut war aus dem Gesicht des Steinmetzmeisters gewichen, als er das gehört hatte. Die Burg war von Ogiern unter Mithilfe von Schwestern, die die Macht gebrauchen konnten, erbaut worden. Ein Blick auf Elaidas Gesicht veranlasste Meister Lerman jedoch, sich nur zu verbeugen und stotternd hervorzubringen, dass natürlich alles ihren Wünschen gemäß ausgeführt würde. Als habe das jemals infrage gestanden.
Sie verzog verbittert den Mund. Sie hatte wieder Ogier-Steinmetze einsetzen wollen, aber die Ogier beschränkten sich aus irgendeinem Grund auf ihre Steddings. Ihre Aufforderung an den nächstgelegenen Stedding in den Schwarzen Hügeln war abschlägig beschieden worden. Höflich, aber dennoch abschlägig und ohne Erklärung, auch nicht für den Amyrlin-Sitz. Ogier blieben lieber für sich. Oder vielleicht zogen sie sich auch nur aus einer unruhigen Welt zurück. Ogier hielten sich von menschlichem Hader fern.
Elaida verbannte die Ogier energisch aus ihrem Geist. Sie war stolz auf ihre Fähigkeit, Mögliches von Unmöglichem unterscheiden zu können. Ogier waren eine Nebensächlichkeit. Sie hatten bis auf die Städte, die sie vor so langer Zeit gebaut hatten und die sie jetzt nur besuchten, um Instandsetzungen durchzuführen, keinen Anteil an der Welt.
Sie betrachtete die Menschen dort unten, die wie Käfer über das Gelände krochen, mit leichtem Stirnrunzeln. Der Bau schritt zollweise voran. Ogier standen nicht zur Verfügung, aber vielleicht konnte die Eine Macht wieder benutzt werden. Nur wenige Schwestern besaßen die wahre Kraft, Erde zu verweben, aber es war nicht so viel Kraft erforderlich, um Steine zu verstärken oder Stein mit Stein zu verbinden. Ja … Der Palast war vor ihrem geistigen Auge bereits vollendet, Kolonnadengänge und große Kuppeln schimmerten weiß und golden, und diese eine Spitze, die bis in den Himmel reichte … Sie hob den Blick zum wolkenlosen Himmel, zu der Stelle, wo die Spitze aufragen würde, und sie seufzte tief. Ja. Die entsprechenden Befehle würden heute ausgegeben werden.
Die hohe Kastenuhr im Raum hinter ihr schlug, und auch in der Stadt läuteten Gongs und Glocken die Stunde, was hier – so hoch oben – nur schwach zu hören war. Elaida trat lächelnd vom Fenster fort, glättete ihr cremefarbenes Seidenkleid mit den roten Schlitzen und richtete die breite, gestreifte Stola des Amyrlin-Sitzes um ihre Schultern.
An der mit reichen Goldverzierungen versehenen Uhr bewegten sich mit dem Geläut kleine Gold-, Silber und Emaillefiguren. Gehörnte, rüsselbewehrte Trollocs flohen auf einer Ebene vor einer mit einem Umhang bekleideten Aes Sedai. Auf einer anderen Ebene versuchte ein Mann, der einen falschen Drachen darstellte, silberne Lichtblitze abzuwehren, die von einer zweiten Schwester geschleudert wurden. Über dem Zifferblatt, das sich über Elaidas Kopf befand, knieten ein gekrönter König und eine Königin vor der Amyrlin mit ihrer Emaillestola, und die Flamme von Tar Valon, aus einem großen Mondstein gehauen, ruhte auf einem goldenen Bogen über ihrem Kopf.
Elaida war nicht oft fröhlich, aber beim Anblick der Uhr konnte sie ein leises, erfreutes Lachen nicht unterdrücken. Cemaile Sorenthaine, von den Grauen erhoben, hatte sie in Auftrag gegeben, nachdem sie von einer Wiederkehr zu der Zeit vor den Trolloc-Kriegen geträumt hatte, als kein Regent einen Thron ohne Billigung der Burg innehaben konnte. Aus Cemailes großartigen Plänen wurde jedoch nichts, und die Uhr stand drei Jahrhunderte lang in einem staubigen Lagerraum – eine Verlegenheit, die niemand herzuzeigen wagte. Bis Elaida kam. Das Rad der Zeit drehte sich. Was einmal war, konnte wieder sein. Würde wieder sein.
Die Kastenuhr beherrschte den Eingang zu ihrem Wohnzimmer und den dahinterliegenden Schlaf- und Ankleideräumen. Edle Wandteppiche, gold- und silberdurchwirkte, farbenprächtige Arbeiten aus Tear und Kandor und Arad Doman, hingen jeweils genau gegenüber ihrem Pendant. Elaida war schon immer für Ordnung gewesen. Der rot-grün-gold gemusterte Teppich, der den größten Teil der Fliesen bedeckte, kam aus Tarabon. In jeder Ecke des Raumes stand eine mit schlichten senkrechten Ornamenten verzierte Marmorsäule mit einer weißen Vase aus zerbrechlichem Meervolk-Porzellan mit zwei Dutzend sorgfältig arrangierten roten Rosen darauf. Die Eine Macht war erforderlich, um jetzt Rosen erblühen zu lassen, besonders bei der Dürre und Hitze – ihrer Meinung nach eine sinnlose Gewohnheit. Vergoldete Schnitzereien in starrem cairhienischen Stil verzierten sowohl den einzigen Stuhl – niemand saß in ihrer Gegenwart – als auch den Schreibtisch. Ein einfacher Raum mit einer kaum zwei Spann hohen Decke, und doch würde er genügen, bis ihr Palast fertiggestellt war. Mit dieser Aussicht würde er genügen.
Die hohe Rückenlehne mit der aus ausgesuchten Mondsteinen gestalteten Flamme von Tar Valon ragte über ihrem dunkelhaarigen Kopf auf, als sie sich hinsetzte. Nichts verunstaltete die polierte Tischplatte außer drei zufällig angeordneten Schachteln, eine altaranische Lackarbeit. Sie öffnete die Schachtel mit dem Bild goldener Jagdfalken zwischen weißen Wolken und nahm einen schmalen Streifen dünnen Papiers auf einem Stapel Berichten und Briefen heraus.
Zum vielleicht hundertsten Mal las sie die Nachricht, die vor zwölf Tagen durch eine Brieftaube aus Cairhien überbracht worden war. Nur wenige in der Burg wussten davon. Niemand außer ihr kannte den Inhalt der Nachricht oder hätte auch nur eine Ahnung, was sie bedeutete, wenn sie sie gekannt hätten. Der Gedanke ließ sie beinahe erneut lachen.
Der Ring wurde dem Bullen durch die Nase gezogen.
Ich erwarte eine erfreuliche Reise zum Markt.
Es stand keine Unterschrift darunter, aber das war auch nicht nötig. Nur Galina Casban konnte diese herrliche Nachricht geschickt haben. Galina, der Elaida zutraute, was sie sonst nur sich selbst zugetraut hätte. Nicht dass sie irgendjemandem vollkommen vertraut hätte, aber der Anführerin der Roten Ajah vertraute sie doch mehr als sonst jemandem. Sie war immerhin selbst von den Roten erhoben worden und betrachtete sich in vielen Belangen noch immer als Rote.
Der Ring wurde dem Bullen durch die Nase gezogen.
Rand al’Thor – der Wiedergeborene Drache, der Mann, der kurz davorgestanden zu haben schien, die Welt zu vereinnahmen, der Mann, der bereits entschieden zu viel davon vereinnahmt hatte – war abgeschirmt und stand unter Galinas Kontrolle. Und niemand, der ihm vielleicht geholfen hätte, wusste davon. Bestünde auch nur die Möglichkeit, wäre der Wortlaut der Nachricht ein anderer gewesen. Aus verschiedenen früheren Nachrichten konnte man schließen, dass er das Schnelle Reisen wiederentdeckt hatte, ein Talent, das den Aes Sedai seit der Zerstörung der Welt verloren gegangen war, und doch hatte ihn das nicht gerettet. Es hatte Galina sogar in die Hände gespielt. Rand hatte offenbar die Angewohnheit, ohne Ankündigung zu kommen und zu gehen. Wer würde vermuten, dass er dieses Mal nicht gegangen war, sondern gefangen genommen wurde?
Innerhalb einer Woche – höchstenfalls zwei – wäre al’Thor in der Burg, streng überwacht, bis zur Letzten Schlacht sicher in Gewahrsam, und seine Verwüstung der Welt war aufgehalten. Es wäre Wahnsinn, einen Mann, der die Macht lenken konnte, frei herumlaufen zu lassen, aber vor allem gebe das Licht, dass es, trotz der Dürre, noch Jahre dauern möge, bis der Mann dem Dunklen König in der Letzten Schlacht gegenübertreten würde, wie es die Prophezeiung voraussagte. Es würde Jahre dauern, die Welt wieder in Ordnung zu bringen, wobei man damit beginnen müsste, rückgängig zu machen, was al’Thor getan hatte.
Natürlich war der von ihm verursachte Schaden nichts im Vergleich zu dem Schaden, den er als freier Mann noch hätte verursachen können. Ganz zu schweigen von der Möglichkeit, dass er hätte getötet werden können, bevor er gebraucht wurde. Nun, dieser stürmische junge Mann würde so sicher wie ein Kind in den Armen seiner Mutter geborgen sein, bis es an der Zeit war, ihn zum Shayol Ghul zu bringen. Danach, wenn er überlebte …
Elaida schürzte die Lippen. Die Prophezeiungen des Drachen schienen zu besagen, dass er nicht überleben würde, was unleugbar das Beste wäre.
„Mutter?“ Elaida zuckte bei Alviarins Anrede fast zusammen. Wie konnte sie eintreten, ohne anzuklopfen! „Ich habe Nachricht von den Ajahs, Mutter.“ Die schlanke und kühl wirkende Alviarin trug, passend zu ihrem Kleid, die schmale, weiße Stola der Bewahrerin der Chroniken, die zeigte, dass sie von den Weißen erhoben worden war, aber aus ihrem Munde wurde das Wort ›Mutter‹ weniger zu einem Ehrentitel als zur Anrede einer Gleichstehenden.
Alviarins Anwesenheit genügte, um Elaidas gute Stimmung zu beeinträchtigen. Der Umstand, dass die Bewahrerin der Chroniken aus den Reihen der Weißen und nicht der Roten kam, war stets eine unangenehme Erinnerung an Elaidas Schwäche zu der Zeit, als sie gerade erhoben worden war. Sicherlich war diese Schwäche teilweise überwunden, aber nicht vollständig. Noch nicht. Sie war es leid, bedauern zu müssen, dass sie nur so wenige persönliche Augen-und-Ohren außerhalb Andors hatte und ihre und Alviarins Vorgängerinnen entkommen waren – dass man ihnen zur Flucht verholfen hatte; sie mussten Hilfe gehabt haben! –, bevor man den Zugang zu den Informationen der Amyrlins erfahren konnte.
Sie benötigte diesen Zugang, der ihr rechtmäßig zustand, überaus dringend. Aufgrund fester Tradition ließen die Ajahs der Bewahrerin der Chroniken jedes Quäntchen Information ihrer eigenen Augen-und-Ohren zukommen, an dem sie die Amyrlin teilhaben lassen wollten, aber Elaida war davon überzeugt, dass die Frau sogar von diesem Wenigen noch etwas zurückhielt. Und doch konnte sie die Ajahs nicht um direkte Informationen bitten. Es war schon schlimm genug, schwach zu sein, auch ohne die Welt noch um etwas bitten zu müssen, und die Burg ohnehin, die gerade den wichtigsten Teil der Welt darstellte.
Elaida behielt einen ebenso kühlen Gesichtsausdruck wie Alviarin bei und gewährte ihr nur ein Nicken als Antwort, während sie vorgab, Papiere aus der Lackschachtel durchzusehen. Sie wandte sie langsam eines nach dem anderen um und legte sie ebenso langsam wieder in die Schachtel zurück, ohne wirklich ein Wort aufzunehmen. Es war bitter, Alviarin warten zu lassen, weil es kleinlich war, aber sie konnte jemandem, der ihre Dienerin hätte sein sollen, nur mit Kleinlichkeit beikommen.
Eine Amyrlin konnte jede gewünschte Verfügung erlassen, da ihr Wort Gesetz und daher unumschränkt war. Praktisch bedeuteten viele jener Verfügungen ohne Unterstützung des Saals der Burg jedoch verschwendete Tinte und Papier. Keine Schwester würde einer Amyrlin den Gehorsam verweigern, zumindest nicht direkt, aber die Ausführung vieler Verfügungen bedingten hundert andere anzuordnende Dinge. In den besten Zeiten konnte dies langsam geschehen und gelegentlich so langsam, dass es niemals geschah.
Alviarin stand kühl und regungslos da. Elaida schloss die altaranische Schachtel, behielt aber den Streifen Papier in der Hand, der ihren sicheren Sieg bedeutete. Sie betastete den Streifen unbewusst wie einen Talisman. „Haben Teslyn oder Joline sich endlich herabgelassen, über mehr als nur ihre sichere Ankunft zu berichten?“
Diese Frage sollte Alviarin daran erinnern, dass niemand sich als geschützt betrachten durfte. Niemanden kümmerte es, was in Ebou Dar geschah – Elaida am wenigsten von allen. Die Hauptstadt Altaras könnte im Meer versinken – außer den Händlern würden es nicht einmal die übrigen Einwohner bemerken. Aber Teslyn war fast fünfzehn Jahre lang die Vorsitzende des Saals gewesen, bevor Elaida ihr befohlen hatte, auf ihr Amt zu verzichten. Wenn Elaida eine Sitzende – eine Rote Sitzende – fortschicken konnte, die ihren Aufstieg von einer Gesandten zur Inhaberin eines mit Fliegenschmutz befleckten Throns unterstützt hatte, während niemand sicher wusste warum, aber hundert Gerüchte umgingen, konnte sie jedermann beherrschen. Aber mit Joline verhielt es sich anders. Sie hatte den Vorsitz der Grünen Ajah nur wenige Wochen innegehabt. Niemand zweifelte daran, dass die Grünen sie nur auserwählt hatten, um zu verdeutlichen, dass sie sich von der neuen Amyrlin nicht einschüchtern lassen würden, die ihr eine schreckliche Buße auferlegt hatte. Natürlich durfte sie diese Unverschämtheit nicht durchgehen lassen und hatte es auch nicht getan. Auch das wusste jedermann.
Es sollte Alviarin daran erinnern, dass sie verwundbar war, aber die schlanke Frau lächelte nur ihr kühles Lächeln. Solange der Saal seine gegenwärtige Zusammensetzung beibehielt, war sie geschützt. Sie blätterte die Papiere in ihrer Hand durch und zog dann eines hervor. „Kein Wort von Teslyn oder Joline, Mutter, nein, obwohl Ihr mit den Nachrichten, die Ihr bis jetzt von den Thronen erhalten habt …“ Das Lächeln vertiefte sich beinahe zu einer Belustigung. „Sie möchten alle versuchen festzustellen, ob Ihr so stark wie … wie Eure Vorgängerin seid.“ Selbst Alviarin besaß genug Verstand, den Namen Sanche in Elaidas Gegenwart nicht zu nennen. Es entsprach jedoch der Wahrheit: Alle Könige und Königinnen und sogar einfache Adlige schienen die Grenzen ihrer Macht auszuloten. Sie musste Exempel statuieren.
Alviarin fuhr mit auf das Schreiben gerichtetem Blick fort: „Aber wir haben Nachricht aus Ebou Dar, von den Grauen.“ Hatte sie das betont, um den Dorn noch tiefer einzutreiben? „Anscheinend befinden sich Elayne Trakand und Nynaeve al’Meara dort. Sie geben sich Königin Tylin gegenüber mit dem Segen der aufrührerischen … Abordnung … als Vollschwestern aus. Außerdem sind dort noch zwei andere, deren Identität noch nicht bekannt ist und die vielleicht das Gleiche tun. Die Listen derer, die sich bei den Aufrührern aufhalten, sind unvollständig. Vielleicht begleiten sie sie auch nur. Die Grauen sind sich nicht sicher.“
„Warum, unter dem Licht, sollten sie sich in Ebou Dar aufhalten?“, fragte Elaida herablassend. Darüber hätte Teslyn bestimmt berichtet. „Die Grauen geben jetzt wohl schon Gerüchte weiter. Tarnas Nachricht besagte, dass sie bei den Aufrührern in Salidar seien.“ Tarna Feir hatte auch berichtet, Siuan Sanche dort gesehen zu haben. Und Logain Ablar, der jene boshaften Lügen verbreitete, die zu bestätigen – und noch viel weniger zu bestreiten – keine der Roten Schwestern sich herablassen konnte. Die Sanche-Frau hatte mit diesen Unannehmlichkeiten zu tun, oder die Sonne würde morgen im Westen aufgehen. Warum hatte sie nicht einfach davonkriechen und sterben können, hübsch außer Sicht, wie andere gedämpfte Frauen?
Es kostete sie Mühe, nicht tief durchzuatmen. Logain konnte in aller Stille gehängt werden, sobald die Aufrührer unterworfen waren. Die meisten Menschen hielten ihn ohnehin schon lange für tot. Die üble Nachrede der Roten Ajah, dass er ein falscher Drache sei, würde mit ihm sterben. Und wenn die Aufrührer unter Kontrolle waren, konnte die Sanche-Frau dazu gebracht werden, der Amyrlin den Zugang zu den Augen-und-Ohren zu nennen. Und die Namen der Verräter, die ihr zur Flucht verholfen hatten. Es war töricht zu hoffen, dass Alviarins Name darunter wäre. „Ich kann mir kaum vorstellen, dass das al’Meara-Mädchen nach Ebou Dar läuft und eine Aes Sedai zu sein behauptet. Und bei Elayne kann ich es mir noch weniger vorstellen.“
„Ihr habt befohlen, dass Elayne gefunden werden soll, Mutter. Ihr sagtet, es sei genauso wichtig, wie al’Thor unter Kontrolle zu bringen. Als sie sich in Salidar unter dreihundert Aufrührern befand, konnte nichts getan werden, aber sie wird im Tarasin-Palast nicht so gut geschützt sein.“
„Ich habe keine Zeit für Geschwätz und Gerüchte.“ Elaida stieß jedes einzelne Wort verächtlich aus. Wusste Alviarin mehr, als sie wissen sollte, da sie al’Thor und die Tatsache erwähnte, dass er unter Kontrolle gebracht werden sollte? „Ich schlage vor, dass Ihr Tarnas Bericht erneut lest und Euch dann fragt, ob selbst Aufrührer zulassen würden, dass eine Aufgenommene die Stola zu besitzen behauptet.“
Alviarin wartete mit sichtlicher Geduld, dass sie zum Ende käme, überprüfte dann erneut ihr Bündel Papiere und zog vier weitere Blätter daraus hervor. „Der Vertreter der Grauen hat Skizzen gesandt“, sagte sie sanft, während sie die Seiten darbot. „Er ist kein Künstler, aber Elayne und Nynaeve sind wiederzuerkennen.“ Kurz darauf, als Elaida die Zeichnungen nicht entgegennahm, steckte sie die Blätter unter den Stapel Papiere.
Elaida spürte sich vor Zorn und Verlegenheit erröten. Alviarin hatte sie bewusst so weit gebracht, indem sie die Skizzen nicht sofort gezeigt hatte. Sie sagte nichts dazu – alles andere wäre noch beschämender gewesen –, aber ihre Stimme wurde kalt. „Sie sollen gefangen genommen und zu mir gebracht werden.“
Der Mangel an Neugier auf Alviarins Gesicht ließ Elaida sich erneut fragen, wie viel die Frau von dem wusste, was sie nicht wissen sollte. Das al’Meara-Mädchen könnte sich sehr wohl als Handhabe gegen al’Thor erweisen, da beide aus demselben Dorf stammten. Alle Schwestern wussten das, genauso wie sie wussten, dass Elayne die Tochter-Erbin Andors und ihre Mutter tot war. Die vagen Gerüchte, die Morgase mit den Weißmänteln in Verbindung brachten, waren vollkommener Unsinn, da sie die Kinder des Lichts niemals um Hilfe gebeten hätte. Sie war tot, ohne dass auch nur ein Leichnam zurückgeblieben war, und Elayne würde Königin sein – wenn man sie von den Aufrührern losreißen konnte, bevor die andoranischen Häuser stattdessen Dyelin auf den Löwenthron brachten. Es war keineswegs allgemein bekannt, was Elayne größere Wichtigkeit als anderen Adligen mit einem starken Anspruch auf den Thron verlieh. Natürlich zusätzlich zu der Tatsache, dass sie eines Tages eine Aes Sedai wäre.
Elaida besaß manchmal die Gabe des Vorhersagens, ein Talent, das viele vor ihr verloren glaubten, und sie hatte vor langer Zeit vorhergesagt, dass das Königliche Haus von Andor die Lösung zum Sieg in der Letzten Schlacht in Händen hielt. Fünfundzwanzig Jahre und mehr waren vergangen, und sobald deutlich wurde, dass Morgase Trakand den Thron in der Erbfolge einnehmen würde, hatte Elaida sich an die Fersen des Mädchens geheftet, das sie damals noch war. Elaida wusste nicht, wie entscheidend Elayne in dieser Sache war, aber das Vorhersagen entsprach niemals der Unwahrheit. Manchmal hasste sie dieses Talent beinahe. Sie hasste Dinge, die sie nicht kontrollieren konnte.
„Ich will sie alle vier, Alviarin.“ Die anderen beiden waren gewiss unwichtig, aber sie würde kein Risiko eingehen. „Überbringt Teslyn auf der Stelle meinen Befehl. Sagt ihr – und Joline –, dass sie sich wünschen werden, niemals geboren worden zu sein, wenn sie von jetzt an nicht regelmäßig Bericht erstatten. Und gebt auch die Nachricht von der Macura-Frau an sie weiter.“ Sie verzog bei diesen letzten Worten den Mund.
Der Name ließ auch Alviarin sich unbehaglich regen, was nicht verwunderlich war. Ronde Macuras böser kleiner Aufguss könnte jeder Schwester Unbehagen bereiten. Spaltwurzel war nicht tödlich – zumindest wachte man wieder auf, wenn man nur eine Dosis zum Einschlafen genommen hatte –, aber wenn man eine Dosis einsetzte, die die Fähigkeit einer Frau, die Macht zu lenken, schwächte, schien dies unmittelbar gegen Aes Sedai gerichtet. Bedauerlich, dass die Nachricht nicht eingetroffen war, bevor Galina fortging. Wenn Spaltwurzel bei Männern genauso gut wirkte wie anscheinend bei Frauen, hätte es ihre Aufgabe erheblich erleichtert.
Alviarins Unbehagen hielt nur einen kurzen Moment an, dann gewann sie ihre Selbstbeherrschung zurück und wurde erneut so unnachgiebig wie eine Eismauer. „Wie Ihr wünscht, Mutter. Sicherlich werden sie sofort gehorchen, wie es gewiss auch sein sollte.“
Jäher Zorn ergriff Elaida wie Feuer eine trockene Weide. Das Schicksal der Welt lag in ihren Händen, aber ständig gerieten ihr unwichtige Stolpersteine in den Weg. Schlimm genug, dass sie sich um Aufrührer und widerspenstige Herrscher kümmern musste, aber zudem brüteten und murrten zu viele Sitzende hinter ihrem Rücken, was den anderen Frauen eine gute Grundlage bot. Sie hatte nur sechs Sitzende fest unter Kontrolle, und sie vermutete, dass mindestens ebenso viele Alviarin genau zuhörten, bevor sie abstimmten. Sicherlich wurde vom Saal nichts Wesentliches genehmigt, wenn Alviarin nicht zustimmte. Es ging nicht um offen gezeigte Zustimmung, die bestätigt hätte, dass Alviarin mehr Einfluss oder Macht besaß, als sie eine Bewahrerin der Chroniken besitzen sollte, aber wenn Alviarin gegen etwas war … Zumindest waren sie nicht so weit gegangen, etwas zurückzuweisen, was Elaida ihnen sandte. Sie verzögerten Dinge einfach nur und ließen ihre Wünsche zu oft verkümmern. Sie musste eigentlich noch dankbar sein. Einige Amyrlins waren zu kaum mehr als Marionetten geworden, wenn der Saal erst Geschmack daran gefunden hatte zu verwerfen, was jene vorantrieben.
Sie rang die Hände, und der Papierstreifen knisterte leise.
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