Das stille Gift (Alpen-Krimis 7) - eBook-Ausgabe
Ein Alpen-Krimi
„Spannend und ›sauguat‹“ - Allgäuer Zeitung
Das stille Gift (Alpen-Krimis 7) — Inhalt
Ein Teil einer künstlichen Hüfte, das zwei Touristen aus einem Güllefass wie ein Katapult um die Ohren fliegt, ist der Auslöser für die Suche nach einem lange verschwundenen Mann. Irmi Mangold und Kathi Reindl finden heraus, zu wem die Hüfte gehörte. Die Geschichte des Bauern ist ein Albtraum. Erst kommt sein behinderter Sohn ums Leben, dann verenden all seine Kühe an einer rätselhaften, schleichenden Krankheit, und schließlich gibt es kein Lebenszeichen mehr von ihm selbst. Alles deutet auf einen Giftskandal hin, der mehr Lügen und Verdächtige hervorbringt als das Garmischer Land Kuhfladen.
Leseprobe zu „Das stille Gift (Alpen-Krimis 7)“
Prolog
Langsam und doch stetig kam das Licht. Wo eben noch ein schwerer Flanellmantel aus tiefem Schwarz gewesen war, entstanden Grautöne, die immer heller wurden. Allmählich definierten sich Felszacken, die für einen kurzen Moment wie von einem Heiligenschein erleuchtet wurden. Dann kletterte die Sonne immer weiter, und der Heiligenschein verschwand so eilig, wie er gekommen war.
Es würde ein weiterer paradiesischer Tag werden – hoch über der Hölle da unten. Vor Jahren hatte er irgendwo den Spruch gelesen: In den Bergen ist es nicht leicht, einen weiten [...]
Prolog
Langsam und doch stetig kam das Licht. Wo eben noch ein schwerer Flanellmantel aus tiefem Schwarz gewesen war, entstanden Grautöne, die immer heller wurden. Allmählich definierten sich Felszacken, die für einen kurzen Moment wie von einem Heiligenschein erleuchtet wurden. Dann kletterte die Sonne immer weiter, und der Heiligenschein verschwand so eilig, wie er gekommen war.
Es würde ein weiterer paradiesischer Tag werden – hoch über der Hölle da unten. Vor Jahren hatte er irgendwo den Spruch gelesen: In den Bergen ist es nicht leicht, einen weiten Horizont zu haben. Aber man kann hinaufsteigen – dorthin, wo er sich weitet.
Das konnte man in der Tat und dabei weiter sehen als alle anderen. Häufig stand er auf einem der Fleischbanktürme und blickte auf ein Meer aus Blau oder auf die Wolken, aus denen die Gipfel aufstiegen. Doch nach all der Zeit wollte es ihm nicht mehr gelingen, die Last abzuwerfen. Er war ein Eremit, die Wanderer hörte er schon von weither. Oft hockte er nur wenige Meter von ihnen entfernt hinter einem Felsen versteckt. Sie sprachen, sie brüllten regelrecht gegen die Stille an, sie zückten kleine bunte Kameras oder flache Tablets, weil sie alles, was sie gesehen hatten, unten in der Hölle vorzeigen wollten. Mit ihren Herzen stimmte etwas nicht, denn die schienen nicht in der Lage zu sein, das Gesehene zu bewahren. Dann aßen sie ihre Brote, Schokolade und Müsliriegel. Die meisten nahmen ihre Abfälle wieder mit, aber nicht alle. Er sammelte die Verpackungen ein und betrachtete die bunten Bildchen und Aufschriften wie kryptische Botschaften aus einer anderen Welt.
Auch wegen der Schafe und Kühe unten auf den Almen sammelte er sie ein. Die Menschen stolperten achtlos durch den Herrschaftsbereich anderer, die sie durch ihre Nachlässigkeit gefährdeten. An liegen gelassenen Flaschen oder Dosen verletzten sich die wilden Tiere und das Almvieh. Wenn sie neugierig waren, fraßen sie Verpackungsfolien – und schon so manches Tier war kläglich verendet. Aber bis dahin waren die Wanderer längst wieder weg.
Der Senn auf einer der Almen war Holländer und respektierte sein Eremitendasein. Der große rothaarige Mann war ihm dankbar gewesen, dass er zweimal schon Jungvieh vor dem Absturz bewahrt und ein Ziegenbaby gerettet hatte, das die Mutter nicht annehmen wollte. Der Holländer hatte in seinem lustigen Dialekt gesagt: „Du bist mein Phantom der Alm. Danke.“ Der Senn würde im Tal nichts von ihm erzählen, er war kein Redner, er kiffte nur ein bisschen zu viel. Der Fremde von den weit entfernten Meeresgestaden arbeitete aber gut, er passte in diese große Stille.
Oft kam sie nicht zu ihm, das wäre auch gar nicht gegangen. Aber wenn sie kam, brachte sie immer Schokolade mit und Zeitungen. Letztens hatte er eine Meldung über eine Touristin gelesen, die mit ihrem Hund über eine Almwiese gelaufen war. Die Kühe hatten sie attackiert, und die Frau war gestorben. Nun schrieben die Journalisten von „Mörderkühen“. Dabei waren Kühe nie Mörder – Tiere mordeten niemals, Tiere jagten Beute, oder sie verteidigten sich. Wie weit war es gekommen mit den Menschen, wie weit hatten sie sich von der Natur entfernt! Kühe waren doch klassische Fluchttiere, keine Angriffstiere. Nur wenn sie sich extrem in die Enge getrieben fühlten, mussten sie reagieren. Auf einer Alm durften sie außerdem ein bisschen mehr Wildtier sein. Dort hatten sie kaum mehr Kontakt zu Menschen, sondern ihren Herdenverband mit ihren besonderen Rangordnungen. Viele Wanderer waren übergriffig. Wie oft hatte er aus einem seiner Verstecke beobachtet, wie Leute aus nächster Nähe fotografierten oder versuchten, die empfindlichen Nasen der Kühe zu streicheln – und sobald ein Hund im Spiel war, fühlten sie sich bedroht wie von einem wilden Raubtier. Kein Wunder, wenn die Hunde bellend über die Weiden sausten, Stadthunde, die ja sonst so gar keinen Spaß hatten, wenn Herrchen und Frauchen tagsüber neun Stunden bei der Arbeit waren und abends gerade noch eine Runde um den Block schafften. Die wenigsten leinten ihren Hund kurz an und umgingen die Kühe zügig und ohne Kontaktaufnahme. Dabei waren die Berge doch kein grenzenloser Freizeitraum, sie waren Lebensraum, der Rücksicht erforderte.
Ein paar so jungen Rotzlöffeln hätte er am liebsten den Hintern versohlt, als sie im Trinkwasserbrunnen für das Vieh ihre Bikes wuschen. Ein einziger Tropfen Öl verunreinigte etwa tausend Liter Trinkwasser! Aber hätte das die jungen Männer überhaupt interessiert? Die Tiere verloren immer, wo der Mensch sich ausbreitete.
Er liebte Kühe und wusste, welche Fehler man bei der Haltung machen konnte. Das hatte er immer gewusst, egal, was die anderen gesagt hatten. Aber es hatte niemand interessiert, dass er sie so sehr geliebt, gehegt und gepflegt hatte. Es ging auf keine Kuhhaut. Ein alter Spruch, eine Redensart, die auf der mittelalterlichen Vorstellung basierte, dass der Teufel die Verfehlungen der Menschen aufschrieb, um nach deren Tod über Beweismaterial zu verfügen, wenn es zum Kampf um die Seelen kam. Damals schrieb man auf Pergament, und das wurde aus Tierhäuten gemacht. Und auf einer Kuhhaut war ganz schön viel Platz für Sünden!
Er hatte oft darüber nachgedacht, seinem Leben ein Ende zu bereiten. Ein Schritt nach vorn auf einem der Fleischbanktürme hätte genügt. Dort war alles brüchig, alles bröselte und bröckelte. Sich wild zu überkugeln und weit unten im Geröll und Schutt zu enden – das wäre ein angemessener Tod gewesen. Freiheit hätte das bedeutet, wenigstens eine kurze Freiheit, ehe die Felsen ihn zermalmt hätten. Aber er hatte den Schritt nie getan, er musste leben und nun zurückkehren in die Hölle, um es zu Ende zu bringen.
1
Seit sechsundzwanzig Jahren kamen die Millers aus Ratingen nach Garmisch-Partenkirchen. Zum fünfjährigen Jubiläum hatten sie vom Tourismusverband ein Piccolöchen bekommen, zum Zehnjährigen einen Blumenstrauß. Zum Fünfzehnjährigen gab es ein Käsebrettchen mit Messer, dessen Griff ein geschnitzter Gamskopf zierte. Oder ein Steinbock. Oder ein Hirsch. Das war nicht so klar ersichtlich – „schnitzkünstlerische Freiheit“, wie Heinrich zu sagen pflegte. Wobei Annemone sicher war, dass es sich um eine Gams handelte.
Zum Zwanzigjährigen hatten sie noch ein Brettchen bekommen, allerdings üppig belegt mit Käse und Kaminwurzen und schön in Zellophan eingeschlagen. Zum Fünfundzwanzigjährigen hatte es einen Essensgutschein gegeben, den sie im Gasthaus Mohren eingelöst hatten, nur die Getränke hatten sie selber zahlen müssen.
Den Dreißigsten wollten sie auf jeden Fall noch voll machen. Sie hatten nach sechzehn Jahren das Quartier wechseln müssen, weil die alte Zilli mit der Vermietung aufgehört hatte. Das Bad am Gang und die Toilette eine Etage tiefer waren auch nicht ganz auf dem Stand der Zeit gewesen. Außerdem hatte die alte Zilli nicht mehr so gut gesehen, was etwas zulasten der Reinlichkeit gegangen war.
Nun wohnten die Millers seit zehn Jahren bei der Franziska und dem Franzl, die ihre Landwirtschaft aufgegeben, die Tenne an einen Autobastler vermietet und im Haus Ferienwohnungen eingerichtet hatten. Zu diesem rein persönlichen Zehnjährigen hatte es einen Obstkorb und Wein gegeben und ein Glas Honig vom Franzl. Die Bienenstöcke waren sein Heiligtum. Wenn sie abreisten, kaufte Annemone auch immer ein Glas Honig, denn sie zahlte dann nur drei Euro statt der üblichen sechs.
Doch – man konnte sagen, sie waren angekommen im Werdenfels. Sie hatten sich hochgearbeitet zu Stammgästen und konnten mit Fug und Recht behaupten, diese Region zu kennen. Annemone war zwar nicht mehr so gut zu Fuß, Senkbreitplattspreizfüße, der Hallux und circa zwanzig Kilo Übergewicht standen ihr einfach im Weg. Daher wanderten sie seit einigen Jahren eher im Flachen dahin. Besonders liebten sie die Loisachauen.
Auch heute, an einem leicht bewölkten Herbsttag, hatten sie sich zum Spaziergang aufgemacht. „Es riecht nach Regen“, hatte der Franzl gesagt. Das Ehepaar aus Ratingen hatte einige Jahre gebraucht, um den tiefgründigen Witz zu verstehen. Die Bauern odelten immer dann, wenn sie vermuteten, dass es am Abend oder am nächsten Tag regnen und die Gülle so richtig ins Erdreich gespült würde.
„Es riecht heute aber ganz schön nach Regen“, kicherte Annemone, die unpassend zur Körperfülle ein Mickymausstimmchen hatte.
„Saubären“, maulte Heinrich und zupfte an seinem Janker, den er letztes Jahr teuer beim Grasegger in Garmisch-Partenkirchen erstanden hatte.
„Den hängen wir dann zum Lüften auf den Balkon“, beruhigte ihn die Ehegattin.
Sie gingen am Feldrain entlang. Draußen auf dem Feld dröhnte ein gewaltiger Bulldog, der ein noch gewaltigeres Fass schleppte, aus dem es stinkend hinauskotzte.
„Was die für Maschinen haben! Früher gab’s das nicht“, maulte Heinrich weiter. „Die Viecher sind nur noch im Stall. Laufställe für Millionen bauen sie, und wir Feriengäste kriegen keine Kühe mehr auf der Wiese zu sehen. Ich fahr doch nicht fast siebenhundert Kilometer, damit es hier genauso aussieht wie bei mir zu Hause.“
Dabei tat es das wirklich nicht, denn weit hinten war die Seilbahn zur Zugspitze zu sehen, die das Licht reflektierte. Die Berge warfen lange Schatten – wie in Ratingen sah es hier definitiv nicht aus.
„Ja, ja, früher war alles besser. Da haben wir auch bei Zilli auf dem eiskalten Klo geschissen“, konterte Annemone, die sich den Tag nicht verderben lassen wollte. „Und die Landwirtschaft ändert sich nun mal.“
„Ach komm, Mönchen, das kannst du nicht vergleichen. Wozu braucht ein Bauer hier solche Geräte? Die haben doch gar nicht die Flächen dafür! Angabe ist das, Overkill!“
Mönchen schwieg und zupfte ein paar Ahornblätter ab, die sich schon herbstlich umfärbten. Sie walzte etwas tiefer hinein in die Baumgruppe, um Eicheln aufzulesen. Heinrich hasste den Dekowahn seiner Frau, aber über all die Jahre hatte er resigniert. So war sie halt, sein Mönchen. Hier ein Engelchen, da ein Tierchen, dort ein paar Hummelfiguren, viele gestickte Deckchen, Blümchen und Gestecke – immer passend zur Jahreszeit.
Lieber stand er sich die Füße in den Bauch, als unter diese Bäume zu robben. Das Traktorengeräusch kam näher. Immer näher. Er würde keinen Zentimeter weichen. Schließlich stand er auf dem Wanderweg. Diese Saubauern machten sowieso allerorts Wege einfach zu Teilen ihrer Wiesen. Er hatte noch die alten Wanderkarten, da waren Wege eingezeichnet, die es heute gar nicht mehr gab.
Der Bulldog hatte ihn im Vorbeifahren fast touchiert, das Fass ließ die Erde beben, und dann kam der Strahl. Treffer, nein, Volltreffer musste man sagen. Heinrich war kurzzeitig wie erstarrt, dann rannte er dem röhrenden Gefährt hinterher. Erneut wurde er eingeodelt, aber das war ja nun egal.
„Anhalten! Halten Sie sofort an! Sie ausgemachter Trottel! Saubauer! Anhalten!“
Es gab ein gurgelndes Geräusch. Der Traktor blieb stehen, und überraschend schnell öffnete sich die Tür. Aus schier schwindelnder Höhe sprang ein Mann herab.
„Ja, du Depp, du! Was wuist du auf meim Feld? Ja, schleich di!“
„Sie sagen Depp zu mir? Sie haben mich tätlich angegriffen.“
„Wos hob i?“
„Mich über den Haufen gefahren und befleckt.“
Der Mann begann schallend zu lachen. „Befleckt, ja du bist mir ja ein ganz ein gscheiter Depp.“
Heinrichs Gesicht wurde rot unter der Odelschicht. „Ich zeig Sie an!“
„Ja, wärst halt an Schritt zur Seite getretn!“
„Sie haben den Weg verodelt. Den Weg!“
„Woaßt was, i hob mei Zeit ned g’stohln. Habe die Ehre.“
Der Landwirt stieg wieder auf, das Gefährt erdröhnte und setzte sich in Bewegung. Heinrich rannte noch ein paar Schritte hinterher, dann zischte noch etwas durch die Luft. Eine Art Geschoss. Heinrich stolperte und wäre fast gestürzt. Auf dem Boden lag ein Metallteil. Das hätte ins Auge gehen können, im wahrsten Sinne des Wortes. Na, hoffentlich war dem Saubauern etwas an seinem Höllengespann gebrochen, und er würde liegen bleiben oder in die Luft fliegen. Doch das tat er nicht. Er drehte weiter seine Kreise.
Heinrich hob das Teil auf und wickelte es in ein Taschentuch, um es einzustecken.
„Den zeig ich an!“, brüllte er nochmals und wandte sich um. Annemone starrte ihn entgeistert an. Vor Zorn bebend baute er sich vor seiner Frau auf. „Schmeiß deine Scheißblätter weg. Wir gehen zur Polizei.“
Nervös zwinkerte Annemone mit ihren Schweinsäuglein. Das tat sie immer, wenn sie sich richtig unwohl fühlte und gegen die Ohnmacht ankämpfte, die ihr Mann ihr ständig vermittelte. Als sie seinerzeit – viel zu jung – geheiratet hatte, war sie chancenlos gewesen gegen seine Übermacht, aber sie hatte gelernt, sich zu wehren, auch wenn es sie jedes Mal so viel Kraft kostete und sie anschließend immer ein paar Pralinen brauchte.
„Was willst du bei der Polizei?“
„Den Idioten anzeigen! Das war ein tätlicher Angriff! Ich hätte tot sein können.“
„Ja, an dem Gestank, den du ausdünstest, kann man tatsächlich sterben.“
Nicht nur Heinrich war sprachlos, sondern auch Annemone, denn so schlagfertig war sie nur selten. Er drehte sich wortlos um und stapfte davon.
Irmi gab es nur ungern zu, aber von Zeit zu Zeit schaute sie sich Bauer sucht Frau an. So wie gestern. Ein paar Kumpels ihres Bruders hatten mal vorgeschlagen, Bernhard für die Sendung anzumelden, so „schiach“ sei der doch gar nicht. Und Irmi habe dann auch gleich die Chance, die neue Schwägerin auf Herz und Nieren zu prüfen. Aber Bernhard brauchte keine Frau, er war nicht interessiert. Irmi hatte für einen Moment darüber nachgedacht, was es wohl bedeuten würde, wenn ihr Bruder doch noch … Würde sie mit einer fremden Frau unter einem Dach leben wollen? Würde sie dann ausziehen? Wie schnell ihr gut eingerichtetes Leben auf einmal aus den Fugen geraten könnte … theoretisch zumindest.
Wie hätten sie Bernhard wohl bei RTL angekündigt? Als den behäbigen Bernhard? Den malerischen Milchbauern? Den Schweiger aus Schwaigen? Dieser Alliterationswahn war doch eine Seuche: In der Bauernvermittlungsshow gab es den romantischen Rinderwirt, den schmusigen Schafbauern und den zickigen Ziegenzüchter. Ganz zu schweigen vom feinsinnigen Forstwirt. Hühnerhöfe im heimeligen Harz gab es ebenso wie schneidige Schweineställe im schnuckeligen Schwaben. Der sanfte Sven, der kräftige Karl und der magische Martin. Natürlich auch der lustige Ludwig und der humorvolle Hubert. Puh!
Längst prägte Bauer sucht Frau das Bild der deutschen Landwirtschaft, allerdings nicht immer auf die vorteilhafteste Weise. Entweder waren die Höfe komplett verranzt, dann hatte das Drehteam als Ausgleich alles an Requisiten verteilt, was Romantik versprach. Für Menschen wie Irmi war es jedoch nichts als ein totaler Verhau! Kein Bauer warf Strohballen neben die Eingangstür, warum auch? Keiner stellte drei rostige Bulldogs in den Obstgarten. Und angesichts der Kätzchen mit ihren verklebten Schnupfenaugen und der Ponys, die stundenlang irgendwo angebunden standen, war es erstaunlich, dass der Tierschutz nicht längst Sturm lief.
Oder die Bauern bekamen von RTL brandneue Traktoren mit lackschwarzen Reifen hingestellt. Die Fahrzeuge glänzten so, dass sie aussahen, als kämen sie direkt vom Tieflader. Ob die Kandidaten diese Schlepper wohl behalten durften? Dann sollte man sich das Ganze doch noch mal überlegen. So ein neuer Fendt wäre schon was!
Irmi musste in sich hineingrinsen, nahm einen Schluck Kaffee und sah auf die Uhr. Es war elf. Kathi würde erst mittags kommen, sie musste mit dem Soferl zum Zahnarzt. So cool die Tochter der Kollegin sonst war – wenn es um Zahnarztbesuche ging, mutierte sie zum Panikbündel.
Es war ruhig am heutigen Dienstag, es war generell ruhig zurzeit. Im Herbst waren die meisten Touristen weg, ein paar ältere Herrschaften nutzten die Preisvorteile der Nachsaison – die nützliche Nachsaison für pfiffige Pensionäre im großartigen Garmisch … oder so ähnlich.
Irmi nippte erneut am Kaffee. Da wurde es im Gang plötzlich lauter. Sie hörte Sailers durchaus kräftige Stimme, die dann von ziemlichem Gebrüll übertönt wurde. Irmi seufzte, hatte sie nicht gerade daran gedacht, wie ruhig es derzeit war? Als sie die Tür öffnete, schlugen ihr nicht nur böse Worte entgegen, sondern auch eine Woge übelsten Geruchs. Der Gestank ging von einem Mann in den Sechzigern aus, der aussah, als hätte er statt Fango eine Odelpackung bekommen. Gerade zog er seinen Janker aus und wedelte ihn vor Sailer herum, was den Geruch nun auch noch verteilte.
„Jetzt halten S’ amoi die Babbn!“, brüllte Sailer. „Oder in Ihrem Jargon: Einfach mal die Fresse halten.“
Tatsächlich erstarb der nächste Redeschwall in einem „Pfft“. Irmi beobachtete die dazugehörige Frau, die ganz leicht lächelte.
Der Geruch blieb mehr als streng. Hieß es nicht, dass sich der menschliche Geruchssinn relativ schnell adaptierte? Davon war zumindest für Irmi nicht viel zu spüren. Sie versuchte, flach zu atmen und sagte: „Was ist hier los? Können wir alle mal auf normale Lautstärke umstellen?“
Der Mann fuchtelte mit dem Arm, was die Geruchsbelastung sofort wieder erhöhte. „Ich will Anzeige erstatten, aber Ihr Kollege lässt mich nicht zu Wort kommen.“
„Der brüllt als wie ein Murenabgang im Gebirg“, maulte Sailer. „Bisher hob i nix verstanden.“
»Dann gehen wir doch alle mal nach vorne, und Sie, Herr … wie war der Name? Sie erzählen uns jedenfalls, worum es eigentlich geht. Aber bitte in Zimmerlautstärke!« Irmi lief vorneweg. Dort, wo Anzeigen aller Art aufgenommen wurden, riss sie Türen und Fenster auf und sah den Mann an. „Name?“
„Miller. Heinrich Miller. Und das ist meine Frau Annemone. Aus Ratingen. Seit sechsundzwanzig Jahren machen wir hier Urlaub. Sechsundzwanzig. Ein halbes Leben. Und dann werde ich tätlich angegriffen! So was ist mir noch nie passiert! Ich hätte tot sein können!“ Sein Organ steigerte sich schon wieder zum Orkan.
Es dauerte eine Weile, bis man Herrn Miller so weit beruhigt hatte, dass er seine Geschichte erzählen konnte. Von einem Trecker in der Größe eines Hochhauses und einem Fass mit dem Fassungsvermögen der Weltmeere. Von einem lebensgefährlichen Bauern, der ihn aufs Gröbste beleidigt und anschließend fast niedergefahren hatte, und das auf einem Wanderweg, namentlich dem Ahornwegerl, wo sie auch schon seit Jahren spazieren gingen. Er verlangte Schadenersatz für seinen Janker, er forderte Schmerzensgeld und die Höchststrafe für den Landwirt, weil es ja schließlich ein Mordanschlag gewesen sei.
Sailer nahm alles auf, Irmi ließ sich mehrfach erklären, wo genau der Vorfall sich zugetragen habe, wurde dabei aber stets unterbrochen, weil Herr Miller das Wort „Vorfall“ durch „Mordanschlag“ ersetzte. Dann erfragte sie die Adresse seiner Ferienbehausung und gelobte, sich zu melden.
„Und geschossen hat er auch noch!“
„Wie? Geschossen?“
„Mir ist ein Geschoss um die Ohren geflogen!“ Er hielt Irmi das seltsame Teil entgegen.
„Und wo kam das genau her?“
„Aus der … der … na ja, der Sprühdüse hinten …“
Sailer gluckste, verschluckte sich und ging hustend nach draußen.
Irmi unterdrückte das Lachen. „Sie meinen aus dem …“
„Ja, wo die Scheiße eben rausfliegt.“ Miller stampfte wie ein Rumpelstilzchen mit dem Fuß auf. Seine Frau schwieg beharrlich und sah zu Boden. „Das Teil gehört sicher zu dem Trecker. Damit können Sie ihn überführen, falls er leugnet.“ Seine Augen funkelten, wahrscheinlich sah er im Fernsehen zu viele Sokos, Tatorte und andere Formate, die jeden Laien zum Superermittler machten.
Endlich waren sie draußen, auch der Geruch verflog allmählich. Sailer war nebenan am Telefon, um zu eruieren, wer denn nun den Anschlag verübt hatte. Irmi betrachtete das merkwürdige Ding. Das Material kam ihr komisch vor, von einem Bulldog schien das nicht zu stammen.
Eigentlich fiel die Odelattacke nicht ganz in Irmis Zuständigkeitsbereich, aber da sie gerade ziemlich unterbesetzt waren, beschloss sie abzuwarten, was Sailer herausfand. Sie packte das merkwürdige Ding in eine Plastiktüte und stopfte es in die Tasche ihrer Fleecejacke, die über dem Stuhl hing. Wie jeden Herbst war sie ständig falsch angezogen. In der Früh, wenn es knapp über null Grad war, fror sie. Kam dann die Sonne heraus, entfaltete sie noch immer eine sommerliche Kraft, und die Brühe rann einem den Körper hinab. Abends wurde es schlagartig kalt. Am besten zog man Kleidung nach dem Zwiebelprinzip an. Nur Sailer trug Uniform oder eine kurze Lederne, unabhängig von allen Temperaturschwankungen.
„Des Feld g’hört dem Urban. Denn kennen S’ doch, oder?“
Irmi überlegte kurz. Urban?
„Der Urban. Der Rupert“, fuhr Sailer fort.
„Ach der!“ Irmi erinnerte sich. Rupert Urban war ein unsympathischer, großspuriger Typ, den Bernhard gar nicht schätzte. Der Wald von Rupert Urban grenzte an den der Mangolds. Daher hatte Urban ein Durchfahrtsrecht, von dem er immer dann Gebrauch machte, wenn es besonders nass war. „Der macht mir Loasen nei wie Bachbetten“, pflegte Bernhard zu schimpfen. Zudem nahm es Urban mit den Grenzbäumen nicht immer so ganz genau.
Urban überging alle Gesprächsangebote, und ein schärferer Ton prallte ebenso an ihm ab. Über die Jahre hatte Bernhard immer versucht, ihm aus dem Weg zu gehen. Irmi hatte kaum Berührungspunkte mit ihm gehabt, sie wusste nur, dass Urban ein echter Millionenbauer war. Ihm gehörten vier Mietshäuser in Partenkirchen, er besaß den Hof, und hatte außerdem eine sehr begüterte Frau aus dem Fuchstal geheiratet. Auch dort gab es einen großen Hof und Bauplätze für das immer weiter ausufernde München. Käffer wie Seestall oder Denklingen bei Landsberg waren längst Schlafdörfer für Münchenpendler geworden – Gewinner waren solche wie Urban.
„Fahren Sie hin?“, fragte Sailer. „Hier ist ja sonst gar keiner mehr. Die Kathi beim Zahnarzt, die Andrea krank, der Sepp hot frei, a Streife is unterwegs …“
„Das stille Gift“, handelt von der Bedrohung des Viehs durch das hochgiftige Fäulnisbakterium Clostridium Botulinum, das in Verdacht steht, sich durch Gärungsprozesse in Biogasanlagen zu vermehren. Gelangen die vergifteten Gärreste als Dünger auf die durch Monokulturen und Unkrautvernichtungsmittel ausgelaugten Böden, könnten sie für Rinder zur tödlichen Gefahr werden. Wie bei jedem ihrer Bücher hat Nicola Förg umfassend recherchiert und renommierte Experten und Fachliteratur zu Themen wie dem chronischen Botulismus oder den Einsatz des Herbizids Glyphosat konsultiert.
Gespräch mit Prof. em. Dr. Monika Krüger, ehemalige Leiterin des Instituts für Bakteriologie und Mykologie der Veterinärmedizinischen Fakultät an der Universität Leipzig
Ist das Bakterium Clostridium botulinum tatsächlich überall?
Clostridium botulinum ist im Erdboden sowie im Bodensediment von Meeren und Seen in der Regel in Form von Sporen weit verbreitet. Vögel können es mit Körnern aufpicken, Kühe und Pferde nehmen es mit Gras und Silage auf. Normalerweise richtet das Bakterium beziehungsweise seine Sporen im Organismus keinen Schaden an und wird einfach wieder ausgeschieden. Wird aber nun der sporenhaltige Kot dieser Tiere unter den sauerstoffarmen Bedingungen einer Güllegrube oder einer Sammelanlage für Hühnermist aufgefangen, kann das Bakterium dort auskeimen, sich vermehren und Toxin produzieren. Gelangt dieser Dünger nun auf die Felder, hat man den Erreger über eine große Fläche verteilt. Noch schlimmer als Stallgülle ist der Gärrest aus Biogasanlagen.
Glyphosat ist ein beliebtes Unkrautvernichtungsmittel. Es gilt als unbedenklich, oder?
Nach einer neuen Einschätzung der WHO wird Glyphosat als „wahrscheinlich krebserregend für Menschen“ eingestuft, da es Krebserkrankungen des Lymphsystems auslösen könne. Dabei beziehen sich die WHO-Experten auf Studien aus Schweden, den USA und Kanada. Dort waren kranke Landwirte, die mit Glyphosat gearbeitet hatten, untersucht worden. Zudem gebe es „überzeugende Belege“ dafür, dass Glyphosat bei Labortieren wie Mäusen und Ratten Krebs verursache. Monsanto hingegen preist den Stoff weiterhin als umweltfreundliche Alternative zum bodenschädigenden Pflügen an. Das Herbizid wird unmittelbar vor und nach der Ernte eingesetzt, schwerpunktmäßig in den Großbetrieben Norddeutschlands. So gerät es ins Stroh und weiter ins Viehfutter und ins Menschenessen. Wir alle nehmen Glyphosat auf – mit konventionellem Fleisch, Milch, Milchprodukten, Eiern, Sojaprodukten, Brot und anderen Getreideprodukten.
(Auszug, das ungekürzte Interview findet sich im Buch)
„Spannend und ›sauguat‹“
„Ohnmacht des Verbrauchers einerseits, Korruption und Manipulation anderseits, verpackt in eine spannende Suche nach den wahren Schuldigen, bei der so manche Machenschaft ans Tageslicht kommt und uns zum Nachdenken anregen sollte. ‚Das stille Gift‘, Pflichtlektüre für alle, die nicht nur unkritisch unterhalten werden wollen. Ein Krimi, der aufrüttelt und nachdenklich macht.“
„Ein Krimi, der tatsächlich auch zum Nachdenken anregt.“
„Ein spannender Öko-Krimi – Topaktuell, mit viel Zündstoff und sehr bewegend.“
„Ein Alpenkrimi, der den Namen Krimi wirklich verdient. Hier wird nicht einfach mit ein paar folkloristischen Zutaten gespielt, hier scheint alles echt und glaubhaft.“
„spannend zu lesen – auch weil in dem Fall viel gesellschaftspolitischer Zündstoff steckt.“
„Förg in Hochform: Ein spannend inszenierter Krimi mit politischer Brisanz, eigensinnigem Personal und ungeahnten Wendungen, die in einem Finale im Karwendel gipfeln.“
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