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Das tibetische Zimmer

Das tibetische Zimmer - eBook-Ausgabe

Ulli Olvedi
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Das tibetische Zimmer — Inhalt

Hochbegabt, hochsensibel, medial – und für die Welt nicht zu gebrauchen. So stellt sich die junge Charlie dar, als sie zufällig in ein tibetisches Kloster im Himalaja gerät. Dort stürzt sie in einen Prozess tief greifender Wandlung, heraus aus ihrer inneren Einsamkeit und Selbstentfremdung, um endlich in Freundschaft mit sich selbst leben zu können.

€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 17.09.2012
320 Seiten
EAN 978-3-492-95574-4
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Leseprobe zu „Das tibetische Zimmer“

Willst du wissen, wer du warst,
schau, wer du bist.
Willst du wissen, wer du sein wirst,
schau, was du tust.


Padmasambhava


1


Irgendwo unterhalb des offenen Fensters kreischte ein Papagei. Ein durchdringend lauter Ton. Hungrig? Wütend? Gelangweilt? Der Schrei verriet nichts. Er war einfach nur laut.
Erster Gedanke: Papagei. Achte beim Aufwachen auf den ersten Gedanken, hatte Yongdu gesagt. So viel guter Rat. Während der langen, holperigen Fahrt aus dem Kathmandutal hinaus und durch die Vorberge des Himalaya zum Kloster hatte er vom klösterlichen Leben [...]

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Willst du wissen, wer du warst,
schau, wer du bist.
Willst du wissen, wer du sein wirst,
schau, was du tust.


Padmasambhava


1


Irgendwo unterhalb des offenen Fensters kreischte ein Papagei. Ein durchdringend lauter Ton. Hungrig? Wütend? Gelangweilt? Der Schrei verriet nichts. Er war einfach nur laut.
Erster Gedanke: Papagei. Achte beim Aufwachen auf den ersten Gedanken, hatte Yongdu gesagt. So viel guter Rat. Während der langen, holperigen Fahrt aus dem Kathmandutal hinaus und durch die Vorberge des Himalaya zum Kloster hatte er vom klösterlichen Leben berichtet. Nicht zu viel schlafen, sechs Stunden sind genug. Morgens und abends Texte rezitieren, dazu Niederwerfungen, mindestens einundzwanzig. Alles langsam und achtsam tun.
Er hatte gut reden, so ein Mönch kannte seit seiner Kindheit nichts anderes.
Der Papagei kreischte in unregelmäßigen Abständen. Sehr unordentlich. Nicht klosterfest.
Charlie war bereit, sich Mühe zu geben. Auf dem Weg des Buddha muss man seinen Geist kennenlernen, hatte Yongdu erklärt. Das ist sehr wichtig. Man muss neugierig sein, Forscher sein, muss sich selbst auf die Schliche kommen. Ohne diese Grundlage entwickelt man sich nicht weiter. Oh ja, hatte Charlie gesagt, neugierig bin ich. Bis jetzt fand das niemand gut.
Dass sie irgendwann nicht mehr gewagt hatte, ihre Neugier zu zeigen, war ihr nie in den Sinn gekommen.
Morgens bewusst aufwachen, war Yongdus Anweisung.
Nicht einfach so in den Tag hineinstolpern.
Was war vor dem ersten Gedanken gewesen? Ein Wissen von Wachheit. Aber kein Wissen von Ich, kein Wissen von Inhalt. Ein anderes Wissen als das jetzige, nachträgliche Wissen. Darüber würde sie noch nachdenken müssen, später. Auch darüber, dass es vor dem Papageigedanken noch einen anderen gegeben hatte, einen ganz feinen, zarten, feiner und zarter als alle Gedanken, die sie kannte. Nur ein Flackern. Sie hatte ihn nicht rechtzeitig einfangen können. Vielleicht würde sie ihn wiederfinden.
Der offene Rucksack stand mitten im Zimmer, die Kleider lagen verstreut, hingeworfen im Taumel der Müdigkeit. Nie wieder reisen. Warum hatte sie sich darauf eingelassen? Sie mochte keine Abenteuer. Die Bilder der vergangenen Wochen fielen durcheinander. Die Suche nach ihrem Vater. Der Ashram in Goa. Das unberührbare Gesicht des Mannes, der ihr Vater war, vierundzwanzig vaterlose Jahre lang.
Morgenland. Abgrundfremd hatte sie sich gefühlt zwischen den feingliedrigen Frauen und Männern Indiens, archaisch und würdevoll in ihren bunten Tüchern. Erschreckt war sie gewesen von den Bettlern und zu Tränen gerührt von den knochigen heiligen Kühen, die so fragil und abwesend waren dank der Gewohnheit des Hungerns.
Die kleine, dicke Frau neben ihr im wild geschüttelten Flugzeug von Delhi nach Kathmandu hatte sich angstvoll an ihre Hand geklammert. Charlie wunderte sich über sich selbst. Sie kannte Angst so gut. Doch Indien schien alle Ängste erstickt zu haben. Unter dem Ansturm von Farben, Gerüchen, Klängen und der Schärfe der Masalas, im Sog unverhüllter, gefräßiger Blicke war ihre allgegenwärtige Panik zu einem Grundton geworden, den sie kaum mehr wahrnahm.
Draußen vor dem Fenster fiel die Klosterwand ab in die Tiefe und ging nahtlos in einen dicht bewachsenen Steilhang über. Baumspitzen ragten durch den kühlen Morgendunst herauf. Dort unten, schemenhaft, lag das Dorf mit der Bushaltestelle, am Fuß des langen Schotterwegs und grob gemauerter Treppenstufen, dem einzigen Zugang zum Kloster. Jeder Schritt ein Angriff auf Charlies reisemüde Beine. Nur noch ein kleines Stückchen, hatte Yongdu sie am vorigen Abend angefeuert, gleich haben wir es geschafft. Wie selbstverständlich hatte er ihren Rucksack auf den seinen geladen. Und jede einzelne Stufe hatte er mit der Taschenlampe für sie angeleuchtet.
Der Papagei kreischte durchdringend. Vom Tempelbereich des Klosters wehten die wohlklingenden Stimmen der Mönche herüber. Ein Gesang mit seltsamen Tonfolgen, nicht unmelodisch, doch überraschend und ein wenig bodenlos, als kämen Freude und Schmerz ganz nah zusammen, hob die Schwere des Morgens auf. Denn die Morgenstunden waren immer schwer für sie. Nur früher, als sie noch ein Kind war, in der heiligen Zeit vor dem Absturz, war es manchmal schön gewesen, den Tag zu beginnen. Den Tag ohne Ende. Freier Raum. Auf dem kleinen Fahrrad in den Anlagen am Kanal. Gelbe Löwenzahnmorgen, tiefgrüne Kastanientage, blauweiße Schneeabende.
Die Gegenwart war dicht vom satten Geruch des morgendlichen Holzfeuerrauchs. Ob man hier über Holzfeuer kochte? Die Küche war im ersten Stockwerk, hatte Ani Yeshe erklärt, die junge Nonne, die sie in Empfang genommen hatte. Ihr Pidgin-Englisch klang wie der Gesang eines exotischen Vogels. Was hatte sie ins Kloster getrieben? Ihr eigener Wille? Das Diktat der Familie? Ein Mann, den sie sich nicht aufzwingen lassen wollte? Sie war hübsch mit ihren lang gezogenen Augen und dem verhaltenen Lächeln, der porzellanglatten Haut und einem langen, zierlichen Hals. Charlie fühlte sich hässlich neben ihr.
Das Bad lag direkt neben der Tür zum Gästezimmer, ein unverhofftes Glück. Daneben befanden sich mehrere Türen, unbewohnte Räume, Lager für alle möglichen Dinge, und ein Zimmer, das einem Lama gehörte, doch der war in Tibet, sagte Ani Yeshe. Sie sei also ganz allein da oben und hoffentlich sei ihr das nicht unangenehm. Charlie wedelte eifrig mit den Händen, nein, es sei ihr gar nicht unangenehm, im Gegenteil, sie finde es gut. Ani Yeshe hatte matt gelächelt, als könne sie es nicht glauben.
Die leichte Morgenkühle war köstlich nach der Monsunhitze Indiens. Charlie wühlte ihren kleinen Toilettenbeutel aus dem Rucksack. Seife, Zahnbürste, Zahnpasta, Haarbürste, Hautcreme, Lippenpomade. Sie war stolz auf ihre spartanische Ausrüstung. So wenig zu besitzen war ein Quell der Leichtigkeit.
Das Badezimmer war ein gekachelter Kubus. Neben der Tür befand sich ein kleines Waschbecken mit einem einzigen Hahn, hinten die zwei Trittsteine der asiatischen Toilette zum Niederhocken, daneben ein Wassereimer unter einem weiteren Wasserhahn, an der Mitte der Decke die Dusche. Zudem noch der Luxus eines kleinen Warmwasserboilers mit einem Schlauch und Duschkopf, in der Ecke eine Gasflasche.
Ein Besucher mochte den kleinen, runden Spiegel an die Tür gehängt haben. Charlie mochte Spiegel nicht. Spiegel zeigten die falsche Person.
Ein Aufflammen ihrer hellen Haare. Knochenbleich hatte Hannah-Oma sie einmal genannt ohne Hoffnung, dass sie jemals dunkler werden würden zu einem ordentlichen, richtigen Blond. Eine kurze Begegnung mit dem eigenen wasserblauen Blick unter den fast weißen Wimpern. Sie wandte sich schnell ab, hatte sich längst verboten, über ihr Aussehen nachzudenken. Die Inder hatten sie angestarrt, nach ihren hellen Haaren gegriffen und trotz ihres Zurückweichens ihre weiße, kaum je bräunende Haut berührt. Kindermenschen, dumpf berauscht vom Anblick des Ungewohnten. Nur Yongdu hatte sie völlig gleichmütig angeschaut im Buchladen in Delhi. Ein Mensch, der einen Menschen sieht. Er wäre einemYeti wohl nicht minder gelassen entgegengetreten, dachte Charlie.
Er hatte neben ihr gestanden, in das dunkelrote Tuch der Mönche und einen zarten Weihrauchduft gehüllt, hatte ihr Gespräch mit dem Buchhändler und ihre Frage nach dem Kloster gehört, sich höflich vorgestellt und gefragt, ob er helfen dürfe. Ein ziemlich großer, schmaler Mann, nicht jung, nicht alt. Seine langen Hände ließen Charlie an Reiher denken. In gutem Englisch erklärte er, dass er selbst zu dem Kloster fahre, welches sie suche. Es liege außerhalb des Kathmandutals, er könne sie mitnehmen.
„Sie wollen zur Jetsünma“, sagte er, nicht Frage, sondern Feststellung, als könne es keinen anderen Grund geben, in dieses Kloster zu wollen. Charlie zog die Augenbrauen hoch.
„Oh nein, ich will zu Padmasambhava“, widersprach sie, denn so hatte es der Swami im Ashram erklärt. Sie solle zu Padmasambhava in dieses tibetische Kloster in Nepal fahren, dort sei jemand wie sie am richtigen Ort.
Der Mönch lächelte, ein außerordentlich direktes, entspanntes Lächeln, das sie zornig machte, weil es allen Schmerz zu leugnen schien.
„Ich meine, ist er da, im Kloster?“, fragte Charlie.
„Guru Rinpoche ist immer da“, antwortete Yongdu. „So nennen wir Padmasambhava – Guru Rinpoche. Und Jetsünma, die große Meisterin, ist seine Vertreterin.“
Er war ihr fast vertraut nach der stundenlangen Fahrt im Taxi, dieser unbekümmerte Mann, für den der Unterschied von Kultur, Sprache und Geschlecht nicht zu existieren schien.


Der Flur führte zu einem offenen Treppenhaus, das erfüllt war von einem dunklen, würzigen Weihrauchgeruch nach Ritus und Geborgenheit. Herb, nicht blumensüß wie in Indien. Durch viele Wände gedämpft, drängten der Klang mächtiger Trommeln und schrille Trompetentöne vom Tempelbereich herüber. In diesem vorderen Flügel des Klosters, hatte Yongdu erklärt, wohnten die Übersetzerin und gelegentlich Gäste, ein paar Alte und auch einige Nonnen, Helferinnen der Jetsünma, des Oberhaupts der Klostergemeinschaft. Aber er habe doch gesagt, dies sei ein Männerkloster, hatte sie eingewandt. Yongdus bejahendes Wiegen des Kopfes bot wenig Klärung. Ihm war alles selbstverständlich und ihr so vieles fremd.
Noch mehr Treppen. Auf der Brüstung eines Laubengangs saß der Papagei in einem zu kleinen Käfig. Bunt, jedoch keine Schönheit, ein wenig zerzaust, an manchen Stellen kahl. Er war alt, wirkte angeschlagen und ein bisschen weise.
Der Papagei gurrte. Vorsichtig streckte Charlie einen Finger zwischen den Stäben hindurch und kraulte das weiche, ausgedünnte Halsgefieder.
„Tashi delek“, sagte der Papagei und drückte den Hals gegen den Käfig. Das Tier war tröstlich. Warm, lebendig, bereit zu einem Austausch, mochte er auch noch so gering sein.
„Tashi delek“, antwortete Charlie leise. „Kümmert sich niemand um dich?“
Der Papagei schaute sie aufmerksam mit einem Auge an. Langsam näherte er seinen Schnabel ihrem Finger und gurrte leise. Sie zog den Finger erschreckt zurück, schämte sich dann ihrer Ängstlichkeit und streckte ihn wieder hin. Der Papagei senkte den Kopf, so dass sie seine Stirn streicheln konnte.
„Entschuldige“, sagte sie. „Nimm es nicht persönlich. Das geht mir oft so. Ich bin ein Angsthase.“
Der Papagei gurrte und präsentierte seinen Hals. Charlie kraulte weiter. Sie hatte sich auf ihn eingelassen und konnte nun nicht einfach weglaufen. Dieses Gefühl für Höflichkeit und Rücksicht gegenüber Tieren hatte sie schon als kleines Kind gehabt. Ein „Getue“ hatte Hannah-Oma es genannt. Aber Hannah-Oma, dachte Charlie mit unwillkürlichem Lippenkräuseln, tat sich mit Höflichkeit und Rücksicht auch gegenüber Menschen schwer.
Eine Bewegung im Flur schreckte sie auf. In diesem untersten Stockwerk, fiel ihr ein, hatten laut Ani Yeshe die Uralten ihre Behausungen, Mönche und Nonnen, die Hilfe und Pflege brauchten. Das Wesen, das auf leisen Filzsohlen heranschlurfte, war dem Papagei rührend ähnlich. Zerzaustes Haupthaar, lange, wirre Bartfäden, doch dazwischen ein fröhliches Gefältel und Augen wie Kohlen in der letzten Glut. Dem Papagei fehlte die Fröhlichkeit.
„Tashi delek“, murmelte der alte Mann und griff nach dem Käfig.
„Tashi delek“, erwiderte Charlie scheu. Das bedeute so viel wie glückliches Gedeihen, hatte Yongdu erklärt, und so habe man in Tibet einander an Neujahr gegrüßt. Und dann habe es sich zum gängigen Gruß entwickelt. Charlie erinnerte sich an das orthodoxe Osterfest, da sagte man zueinander: „Christus ist auferstanden.“ Glückliches Gedeihen ist dem Herzen näher, dachte sie. Eines jeden Menschen äußeres und inneres Leben möge glücklich sein und sich gut entwickeln, so hatte Yongdu erläutert, vor allem das innere. Aber das äußere gute Leben brauche man schließlich auch dazu, mit hungrigem Magen denke niemand an die subtilen Bedürfnisse des Geistes. Mit zu viel drin, hatte er lachend hinzugefügt, allerdings auch nicht. Er konnte wunderschön lachen, mit voller, runder Stimme, von tief unten aus dem Bauch heraus.
Heiter nickend schlurfte der Alte mit dem Käfig in den Flur zurück, langsam, mit tastenden Schritten. Es war eine Sanftheit in diesem Mann, so ganz anders, als sie es von den alten Männern ihres Lebens kannte. Opa war nie sanft gewesen. Sie hatte sich immer ein wenig vor ihm gefürchtet. Bis zu seinem Tod war er der große Fremde in Hannah-Omas Haushalt geblieben.
Sie hätte den Alten nach der Küche fragen, mit dem Finger auf den offenen Mund zeigen sollen. Ob dies ausreichte, um „Küche“ deutlich zu machen? Das Globetrotterbüchlein mit Hinduwörtern war überflüssig. Wie hätte sie wissen sollen, dass sie in einem tibetischen Kloster in Nepal landen würde.
Von dem Flur her, in welchem der Alte verschwunden war, roch es nach Essen. Einer der bunten Gerüche Asiens, doch heiterer, leichter als die Gerüche im indischen Flachland. Nun war sie in den Bergen, zu Füßen des Himalaya. Der Gedanke tat ihr wohl. Himalaya, das klang frisch und weise und dem Himmel nah.
Zögernd ging sie in den fensterlosen Flur, folgte dem Geruch, zog vorsichtig einen roten Vorhang zur Seite, hinter dem die Tür offen stand. Feuer streckte kleine, böse Zungen aus einem gemauerten Herd. Töpfe und Kellen drohten von der dunklen Wand herunter. Vor dem Herd kauerte eine Gestalt. Zwiefach beschienen war sie, mit einer feurigen, dem Herd zugewandten Seite und einer morgendlichen grauen Seite zum Fenster hin. Feuerdämon, Schattengeist. In was für ein Reich hatte der Flur sie ausgespuckt?
„ Tashi delek “, sagte die Gestalt und erhob sich. Eine junge Frauenstimme, so unerwartet, dass Charlie ein verblüfftes „ Oh, sorry, sorry! “ entfuhr.
Die Gestalt in ihrer dunkelroten klösterlichen Verpackung lachte, ein hübsches, warmes Lachen. Charlie lächelte zögernd zurück, lächelte in das dunkle Auge einer Zahnlücke hinein. Schnell wandte sie den Blick ab. Gewalt. Schmerz. Ein Elektroknüppel, eine Holzstange, Fesseln, Blut. Sie wollte es nicht wissen. Das Wissen war noch fern, nur ein Funke, sie konnte es zurückweisen, die innere Tür schließen.
„ No sovvi “, zwitscherte die Nonne, winkte Charlie heran und zündete ein paar Kerzen an. Ein Deuten zur nackten, lichtlosen Glühbirne an der Decke genügte als Erklärung. Kein Strom. Plötzlich spürte Charlie den Hunger wieder und wies mutig mit dem Zeigefinger auf ihren offenen Mund. Die kleine Nonne sagte etwas Unverständliches, schob Charlie zu einem Hocker neben dem groben Tisch und hantierte geschickt am Herd. Charlie verlor sich im Anblick der einfachen, natürlichen Bewegungen. Als wisse die Nonne nichts von sich selbst oder habe sich vergessen in der unerbittlichen Ordnung des Klosterlebens.
Ob Yongdu sich vergessen hatte? Vielleicht jene Seite in ihm, die nicht mit der Welt umgehen musste? Der Gedanke schmerzte und musste schnell weggeschoben werden. Er komme gerade von der Residenz des Dalai Lama in den indischen Bergen zurück, hatte Yongdu erzählt. Gern hätte sie ihn nach dem Zweck der Reise gefragt, doch sie fragte stets wenig, zu wenig, aus Angst vor Grenzüberschreitungen. Sie mochte auch nicht gefragt werden, obwohl, wie sie längst erkannt hatte, viele Leute gern über sich selbst redeten. Sie nicht. Und sie würde sich auch nicht vergessen können. Wie könnte man solch eine Last je vergessen?
Ani Lhamo hieß die Nonne. Das machte sie deutlich mit einem Klopfen auf die Brust und mehrfachen Wiederholungen. Charlie folgte ihrem Beispiel.
„Tscha-li“, ahmte Ani Lhamo heiter nach. „Tscha-li-la, good, tashi delek, Tscha-li-la, yepo-du. “
Was für ein unmöglicher Name, hatte Hannah-Oma gesagt, damals, als die kleine Charlotte in die Schule kam und darauf bestand, Charlie genannt zu werden. Im Kindergarten hatten die Kindergärtnerinnen ihren unhandlichen Namen zu Lotti abgekürzt. Evi hatte sich nicht gewehrt. Charlie konnte noch so oft sagen, dass sie nicht Lotti heißen mochte. Ach, was du immer magst und nicht magst, pflegte Evi zu sagen. Und hörte nicht zu. Charlie wusste, dass Evis Kopf unglaublich voll war, und hatte ein gewisses Verständnis dafür, dass diese Mutter nicht zuhören konnte.
In der Schule setzte sie den neuen Namen durch. Die Jungen versuchten es mit Cha-Cha, doch sie biss jeden, der sie nicht Charlie nannte. Sie sei ein schwieriges Kind, meinten die Lehrer.


Ani Lhamos Reis mit Linsen und eine Tasse Chai milderten Charlies übliches Unbehagen in der Morgenstunde und die zusätzliche Schärfe der Fremdheit. Tatsächlich fühlte sie sich sogar ein wenig wohl in dieser halbdunklen Küche mit der leise singenden Nonne, nahm das winzige Wohlgefühl dann mit hinaus in den Flur und die Treppe hinauf. Sie wünschte, sie könne Yongdu oder wenigstens Ani Yeshe nach den Wegen im Kloster fragen, auch, wohin man gehen durfte und wohin nicht. Sich allein auf die Suche zu machen wagte sie jedoch nicht. Es war alles so anders als im Ashram in Goa mit den verstreuten Häuschen unter Palmen und den vielen Besuchern aus aller Welt.
Fremdheit machte sie klein, stieß sie in die dunkelsten Ecken wütender Schüchternheit. Das war zu Hause nicht anders. Fremd, das war überall außerhalb ihrer selbst. Auch Hannah-Oma behielt stets ihre vertraute Fremdheit. Sogar Evi. In gewisser Weise stand Evi unter Charlies Schutz. Wenn Charlie heulte und „Mama, Mama!“ schrie, wie sie es von den anderen Kindern hörte, dachte sie nicht an Evi. Eine Weile dachte sie an den Schutzengel, der, wie man ihr sagte, immer bei ihr sei. Später dachte sie an gar niemanden mehr. Das Heulen allein genügte, bis sie irgendwann nicht mehr heulte, nicht mehr rief. Da hatte sie die kurze Kindheit verlassen.
Sie befahl sich, nicht an die fernen Fremdheiten zu denken. Die nahen waren bedrohlich genug.
Der Dunst über dem Tal war gewichen und das Dorf lag ausgebreitet vor dem Klosterberg. Unter der aufsteigenden Sonne nahm die Wärme schnell zu. Charlie setzte sich auf die harte Matratze des Betts, dem Fenster gegenüber. Sie konnte hinausschauen auf die Wipfel der Rhododendronbäume, die am Steilhang wuchsen, zu weiteren, von Hochdschungel überzogenen Bergen und dem weiten, zarten, nackten Himmel darüber. Aus den unteren Fenstern stiegen schnelle, helle Trommelklänge und das schrille Klingen kleiner Glocken herauf.
Vielleicht sollte sie meditieren. Im Ashram hatte sie sich mit den anderen in der Schreinhalle hingesetzt, und dann sollte sie sich versenken und alle Sinne verschließen und inneres Licht sehen. Sie wusste nicht, wie sie ihre Sinne verschließen sollte. Sie roch den Schweiß der anderen in der indischen Monsunhitze, sie hörte Schnaufen und Rascheln und Kratzen, sie spürte die Schmerzen in ihren Knien. Sie sah keinerlei Licht.
„Ich war in Indien“, hatte sie zu Yongdu gesagt, „in einem Ashram“, und er hatte „I see“ geantwortet, als sei damit alles klar.
Doch wie hätte sie ihm erklären sollen, dass sie die Suche nach ihrem Vater dorthin geführt hatte. Nach dem Mann, der ein Vater hätte sein können, wenn er Evi geliebt hätte. Und wenn er bei dem Baby geblieben wäre, das nie Papa sagen lernte, bei dem Kleinkind, das nie in die Arme des Vaters tapste, als es Laufen lernte, dem Schulkind, dessen Mutter nicht Mama, sondern Evi war und sich vor dem Elternsprechtag drückte. Ein Vater, sagte Evi, müsse zu den Lehrern gehen, der könne sich durchsetzen. Sie könne das nicht. Man nehme sie nicht ernst. Denn Evi sah selbst aus wie ein Schulmädchen, ein schüchternes Mädchen mit einer Tochter, die bereits in der Schule war. Für Hannah-Oma war und blieb diese Geburt, durch die sie allzu früh zur Großmutter geworden war, eine persönliche Beleidigung.
Doch nun verbot sich Charlie noch einmal nachdrücklich, in den Keller der Vergangenheit zu schleichen. Es gab darin nichts, dessen zu erinnern sich lohnte.
Unschlüssig stand sie auf und ging die Treppe wieder hinunter, hinaus in den Vorhof, der durch eine Brüstung gegen den Steilhang gesichert war. Auf einer Seite befand sich die Öffnung zum Weg, der zum Dorf hinunterführte, auf der anderen ein Durchgang zwischen der Klosterwand und nacktem Fels in weitere Höfe und Flügel des Klosters. Geradeaus führte eine steile Treppe im Fels zu einem erhöht liegenden Seitentrakt, ineinander verschachtelte Gebäudeteile, die am Berg klebten. Dort, so spürte sie, hatte sie nichts verloren. Es roch nach Grenze und Verbot. Der Durchgang hingegen schreckte nur durch die überhängende Felswand. Bereit schien sie, sich gegen die Hauswand zu stürzen, von der Macht des Bergs gezwungen. Mit Herzklopfen – schlage nicht, Herz, du weckst die Felsen! – tastete sie sich in den Durchgang, wollte schnell hindurchlaufen und brachte es doch nicht fertig. Sie drückte sich an der feuchten, fleckigen Mauer entlang und atmete auf, als ein kleiner Innenhof sich vor ihr öffnete. Die Sonne fiel auf die Felswand, die sich glatt und unschuldig im weißen Morgenlicht dehnte. Eine Reihe von blank geputzten Gebetsmühlen zog sich am Rand des Innenhofs entlang. Warum nannte man sie so? Mahlten sie die Gebete klein, bis sie genießbar waren? Charlie kicherte leise.
Eine Tür im Fels stand offen, führte in den Fels hinein, dahinter gab es nur Dunkelheit. Bergschoß. Märchenwelt. Sesam öffne dich. Neben der Tür döste ein struppiger Hund. Er öffnete ein Auge, schlug freundlich mit dem Schwanz auf den Boden und schlief weiter. Aus den Tiefen weiterer Klostergebäude drangen Gesänge in wunderlicher Melodik. Dort musste irgendwo der Tempel sein.
Offene Türen laden ein, dachte Charlie und schaute vorsichtig ins dunkle Innere. Eine kaum mannshohe Höhle zog sich wenige Meter weit in den Berg, verengte sich und endete in einem Schrein. Ein paar Butterlämpchen verbreiteten sanftes, gelbes Dämmerlicht. Auf dem Schrein wühlte eine dicke Ratte mit großer Geschwindigkeit in einem der Opferschälchen, Reis flog nach allen Richtungen. Charlie schnalzte mit der Zunge, die Ratte sah sich um, schoss spitze Blicke aus kleinen, aufmerksamen Knopfaugen, schätzte ab, ob es geboten war, den Reis im Stich zu lassen. Nach kurzem Innehalten wühlte sie weiter.
Charlie fand einen kleinen, festen Teppich und ließ sich darauf nieder. Eine zerbrechliche Geborgenheit breitete sich in der Höhle aus. Gedämpft sickerten Geräusche von draußen in die dämmrige Stille. Die Ratte begab sich zum nächsten Reisschälchen, um darin zu wühlen.
„Lass das“, sagte Charlie. „Das tut man nicht. Das ist hei liger Reis. “
Der schnelle Blick der Ratte mochte eine Spur Verachtung enthalten.
„ Sorry “, sagte Charlie.
Eine wunderliche Unruhe überfiel sie, als blicke jemand sie an. Doch außer ihr und der Ratte war niemand in der kleinen Höhle.
Hoch über ihr, im ungewissen Dunkel über dem Schrein, sah sie plötzlich die Augen im Flackern der Butterlampen, große, runde, scharf blickende Augen unter schweren Augenbrauen, herausfordernd, durchdringend. Ein Hauch von Panik bannte Charlie auf ihren Platz. Verwunderung mischte sich ein. Sie hatte Angst, und doch vertraute sie dem Kloster. Wie war das möglich? Sie vertraute nie. Fast nie. Dem Swami hatte sie ein wenig vertraut, gerade so viel, um seinen Rat anzunehmen und sich auf die verrückte Reise zu diesem Kloster in Nepal zu machen, zu einem gewissen Herrn Padmasambhava, der ihr helfen sollte. Aus der Angst heraus, aus der schrecklichen Gabe des Wissens, aus dem Leiden an der Welt heraus.
Mit längerem Hinsehen wuchs die in Brokat verpackte Statue aus dem Dunkel hervor. Auf dem Kopf trug sie einen zur Krone geformten Hut, im Arm einen Stab mit aufgespießten stilisierten Köpfen, eine mächtige, wuchtige Gestalt, herausfordernd, bedrohlich. Charlie hatte einen sanften Buddha erwartet mit seinem angedeuteten Lächeln, der entspannten Haltung, weltabgewandt. Doch hier war sie bei den verrückten Tibetern, wie Anna im Ashram gesagt hatte, mit ihrem irren apokalyptischen Donnerkeilbuddhismus.
Aus dem Tempel drangen schrille Trompetentöne, dazu das rhythmische Geschepper von Becken, ein abgrundtiefes, erschreckendes Dröhnen und ein bestürzender Aufruhr mächtiger Trommeln. Töne aus der Unterwelt. Bedrohung. Abgrund. Vernichtung. Der scharfe Blick der Statue machte es nicht besser.
Charlie krampfte die Hände ineinander. „ Oh Gott, nein! “, flüsterte sie, wollte die Augen schließen und wagte es doch nicht.
„Hallo?“ Die fragende Stimme war nah. Ein Mann. Die Stimme ihres Vaters? Eine Welle von Verwirrung ergriff sie, riss sie aus der Zeit, in den tiefen Raum, in dem Träume gebrütet werden.
Ihr eigenes keuchendes Atmen hielt sie auf. Eine Hand berührte ihre Schulter. „Alles okay?“
Sie sprang auf, drückte sich an dem fremden Körper vorbei, lief hinaus ins beißende Sonnenlicht, zwischen Hauswand und Fels hindurch über den Vorhof und in das schützende Halbdunkel des Durchgangs zum Treppenhaus. Nun war es nicht mehr die Panik, die sie trieb, sondern die Scham. Wie das Mädchen sich aufführt, sagte Hannah-Oma. Es ist peinlich. In unauffälliger Eile versuchte sie, in ihr Zimmer zu gelangen, nur eine Treppenstufe auf einmal, an einer sehr alten Nonne vorbei, oder war es ein alter Mönch? Ihr schneller Blick fing nur das rote Gewand und den geschorenen Kopf auf und die Falten im braunen Gesicht, schwer von Leben.
Die Aufregung der Flucht verlieh ihrem kleinen Zimmer eine unverhoffte Vertrautheit. Sanft schlossen sich die maisgelben Wände um sie. Alles war, wie es sein sollte, die luftigen gelben Vorhänge, der Webteppich auf dem Boden, der massive Bettkasten mit geschwungener Rückwand, daneben das geschnitzte Tischchen, an der Wand der schlicht gerahmte Druck eines Buddha-Bildes. In der Ecke stand der offene Rucksack, und auf der Fensterbank lag das Buch eines tibetischen Autors, das im Pilgrims Bookstore in Kathmandu nach ihr gegriffen hatte. Es sei dies ein ganz außergewöhnliches Buch, hatteYongdu gesagt, als sie den Laden gemeinsam verließen. Ein geheimes Buch. Es halte sich selbst geheim.
Auf dem Bett sitzend verlor Charlie sich im Labyrinth ihrer unruhigen Gedanken. Warum hatte der Swami sie hierher geschickt? Wie sollte sie sich hier mit ihrem Anderssein versöhnen können? Wie sollte sie hier lernen, so ganz und gar außerhalb der Welt, in die Welt zu passen? Bei den irren Tibetern?
Sie hatte früher vieles gewusst, das andere nicht wussten, hatte Zukünftiges gesehen und auch gehütete Geheimnisse. Das Wissen kam ohne ihr Zutun, und es erschien ihr selbstverständlich. Doch man hatte sie dafür bestraft. Sie sollte nicht wissen, was geschehen würde, und nicht, was andere geheim halten wollten. Es war eine soziale Sünde. In Indien schien es anders zu sein. Vor der Reise hatte sie einiges über Indien gelesen. Offenbar durfte in Indien sein, was in ihrer Welt nicht geduldet wurde. Dort nannte man solche außergewöhnlichen Fähigkeiten Siddhis, und wer sie hatte, wurde sogar verehrt.
Sie schaute auf das träge Dorf hinunter. Die Frage, was sie hier sollte, warum sie hierher geraten war, blähte sich auf, wurde quälend. Hätte sie sich nur nie auf diese Reise begeben. Wozu einen Vater suchen, der sie nie hat haben wollen? Nicht einmal das süße Baby war imstande gewesen, diesen Mann zu halten. Evis Fotoalbum zeigte ein Hochglanzbaby mit weißem Flaum auf dem Kopf, großen feuchten Augen und einem aufgeworfenen Mündchen wie die Puppe, die Hannah-Oma ihr einmal geschenkt hatte. Obwohl sie wusste, dass Charlie keine Puppen mochte.
Man könnte meinen, dachte Charlie, sie verdiene es nicht, geliebt zu werden. Gewiss gehörte sie zu jenen, die man nicht leicht lieben konnte. Das hatte Hannah-Oma später oft genug betont. Doch damals war sie noch klein und niedlich gewesen. Ein angenehmes Baby, mit Evis Worten. Sogar Hannah-Oma hatte sie irgendwie gemocht. Nur er nicht. Er verließ sie. Ein Herumtreiber, hatte Hannah-Oma gesagt. Und dass er es zu nichts brachte, hatte sie fast mit Befriedigung betont, und, na ja, solchen wie ihm müsse man nicht nachweinen, wenn sie sich nach Indien verdrückten, dort passten sie hin. Für seine armen Eltern sei das ja schlimm, fügte sie dann gern hinzu und seufzte, die hätten etwas Besseres verdient. Charlie hatte gespürt, dass Hannah-Oma die Leute nicht mochte, und sie hatte Evi gefragt, warum lügt Hannah-Oma?

Über Ulli Olvedi

Biografie

Ulli Olvedi, geboren 1942, ist Autorin zahlreicher spiritueller Bestseller, Wissenschaftsjournalistin, Begründerin und Lehrerin der „Meditativen Energiearbeit“ und profunde Kennerin des tibetischen Buddhismus. Die Vorsitzende des Vereins »Tashi Delek. Gesellschaft zur Förderung der...

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