Das vergessene Haus (Anki-Karlsson-Reihe 3) Das vergessene Haus (Anki-Karlsson-Reihe 3) - eBook-Ausgabe
Ein Gotland-Krimi
„Fesselnd für alle Krimi-Fans, die es nicht so blutig mögen“ - news - das Magazin
Das vergessene Haus (Anki-Karlsson-Reihe 3) — Inhalt
Auf Gotland sind endlich die ersten Frühlingsboten angekommen. Anki Karlsson lernt bei einem mehrtägigen Ausflug die Journalistin Ninni Weström kennen, die für einen Artikel die Geschichte eines alten Frauenhauses recherchiert. Schnell wird klar, dass mit diesem Haus viele gemischte Gefühle und ein dunkles Geheimnis verbunden sind. Und plötzlich verschwindet Ninni spurlos! Anki verbeißt sich in den Fall und bittet ihren Nachbarn, Ex-Kommissar Tryggve, um Unterstützung bei den Ermittlungen. Überrascht stellen die beiden fest, dass Ninnis Mutter für einige Zeit im Frauenhaus gelebt hat. Offenbar ist Ninnis Verschwinden kein Zufall und war erst der Anfang …
Leseprobe zu „Das vergessene Haus (Anki-Karlsson-Reihe 3)“
Im November
Gotland
Regentropfen schlängelten sich in breiten Rinnsalen an der Scheibe hinunter. Der Wind blies ums Haus. Eine Frau hatte direkt davor geparkt und lief nun vornübergebeugt mit einer Tageszeitung über dem Kopf zum Eingang des Seniorenheims. Hätte man ein Bild in nur einem einzigen Grauton malen wollen, man hätte keine geeignetere Vorlage finden können als diesen Tag.
Ninni Weström trat vom Fenster zurück und schaute sich im Zimmer um. Innerhalb von zwei Tagen war es ihnen gelungen, das neue Zuhause ihrer Mutter mit den wenigen Möbeln sowie [...]
Im November
Gotland
Regentropfen schlängelten sich in breiten Rinnsalen an der Scheibe hinunter. Der Wind blies ums Haus. Eine Frau hatte direkt davor geparkt und lief nun vornübergebeugt mit einer Tageszeitung über dem Kopf zum Eingang des Seniorenheims. Hätte man ein Bild in nur einem einzigen Grauton malen wollen, man hätte keine geeignetere Vorlage finden können als diesen Tag.
Ninni Weström trat vom Fenster zurück und schaute sich im Zimmer um. Innerhalb von zwei Tagen war es ihnen gelungen, das neue Zuhause ihrer Mutter mit den wenigen Möbeln sowie einer Auswahl ihrer Lieblingsbücher, Lieblingsfotografien und anderer geliebter Gegenstände gemütlich einzurichten. Ihr letztes Zuhause. Ninni war zufrieden; was ihre Mutter davon hielt, war nicht mehr herauszufinden.
Kerstin Weström saß in ihrem Schaukelstuhl und beobachtete Ninni. Die meiste Zeit war ihre Mutter gut gelaunt, konnte sogar kleineren Beschäftigungen nachgehen, aber für den Moment schien die Müdigkeit Oberhand gewonnen zu haben. Der Umzug von Visby hatte Kraft gekostet. Sie hatte das Haus verlassen müssen, in dem sie aufgewachsen war und das ihr so viel bedeutet hatte, ihr Leben lang. Dass sie sich schnell an das neue Umfeld im Altenheim gewöhnen würde, war eher nicht zu erwarten.
Für das Haus oberhalb der Klippen in Visby war nun Ninni verantwortlich, und nach einem schöneren Ort zum Leben und Arbeiten musste man lange suchen. Mit Blick aufs Meer sollte es ein Leichtes sein, Artikel zu schreiben, die sich verkaufen ließen.
Ninnis Blick fiel auf die Fotoalben, die ihren neuen Platz ganz unten im Regal neben all den Tagebüchern gefunden hatten. Ninni beugte sich hinunter, zog das älteste heraus und schlug es ganz vorn auf. Verblasste viereckige Farbfotos von fröhlichen Jugendlichen. Das Elternpaar in den Sechzigerjahren, Bilder aus der Studienzeit in Uppsala, von Freunden und Festen, aber auch von konzentriertem Lernen. Die einfache Trauung, und dann Ninni selbst in einem Fußsack im Kinderwagen. Ganz oben ordentlich die Jahreszahl, unter jedem Bild eine kleine Anmerkung. Die Namen der abgebildeten Personen und des Ortes, wo die Aufnahme entstanden war. Hin und wieder waren zur Dekoration einfache Blumen zwischen die Fotos gezeichnet worden.
Ninni zog sich einen Stuhl heran, setzte sich und zeigte ihrer Mutter eine Seite.
„Mama, es muss dir wirklich viel Spaß gemacht haben, dieses Album zu gestalten. Es ist so schön geworden.“
Sie nahm die Hand ihrer Mutter und führte einen Finger zu der Aufnahme von ihr im Kinderwagen.
„Guck mal, wer liegt denn da im Kinderwagen?“
„Das ist Ninni“, sagte ihre Mutter, ihre Gesichtszüge hellten sich auf.
„Ja, das stimmt. Das bin ich.“
Ihre Mutter wiegte den Kopf, der gerade noch so glückliche Gesichtsausdruck wandelte sich, wurde besorgt.
„Sie kommt gar nicht mehr zu Besuch“, sagte sie und ließ die Mundwinkel hängen.
Es war neu, dass ihre Mutter sie nicht mehr erkannte, und Ninni fiel es schwer, sich daran zu gewöhnen. Sicher, manchmal war ihre Mutter etwas vergesslich gewesen, aber dass es mal so weit kommen würde, damit hatte Ninni nicht gerechnet.
Ninni blätterte weiter. Schon bald hatte sie das letzte Foto ihrer beiden Eltern erreicht, es folgten ein paar Bilder eines einfachen Sargs, auf dem weiße Lilien lagen. Schnell schlug sie die nächste Seite auf, wo fröhlichere Fotos vom Strand zu sehen waren. Eine niedliche Vierjährige, die grinsend ein aufblasbares Krokodil hinter sich herschleppte. Dieses grässliche Plastiktier war ihr ein geliebter Begleiter geworden.
Auf derselben Seite klebte ein weiteres Foto, allerdings keine Nahaufnahme von Menschen. Darauf waren zwei rote Häuserreihen zu sehen, im rechten Winkel zueinander. Eine Feuerstelle davor. Unbekannte Menschen auf einfachen Bänken rund um das lodernde Feuer. Ohne jegliche Anmerkung darunter.
Ninni konnte sich noch gut an diese herrlichen Sommerferien am Meer erinnern. Die Freiheit, jederzeit nach draußen zu können, das viele Baden und die Abende am Lagerfeuer, an den Spaß, den sie zusammen mit den anderen Kindern gehabt hatte. Dann drängte sich eine andere Erinnerung auf: sie mit ihrer Mutter auf der Landstraße, ihr Gepäck bei sich. Mitten in der Nacht, obwohl es hell ist. Mama geht mit schnellen Schritten, Ninni kann kaum mithalten.
Die Sommerferien hatten ein jähes Ende gefunden.
„Nein, nein, nein!“
„Mama, was ist los?“
Kerstin zitterte heftig und wandte den Blick ab.
„Mama“, versuchte Ninni es noch einmal. Nahm die Hand ihrer Mutter und führte sie zu dem Foto. „Erinnerst du dich noch daran?“
Kerstin schlug mit beiden Händen um sich, eine Träne lief ihr die Wange hinunter.
Ninni klappte das Album zu und legte es beiseite. Nahm die Hände ihrer Mutter in die ihren.
„Da, siehst du, ich habe es weggelegt. Wir müssen es nicht weiter anschauen.“
Warum hatten sie nie darüber gesprochen? Irgendetwas Schlimmes musste doch passiert sein, das war offensichtlich.
Sie betrachtete das faltige Gesicht ihrer Mutter. Kerstin hatte die Augen geschlossen. Ninni stand auf und schob das Album zurück an seinen Platz im Regal. Fuhr mit den Fingern über die Tagebücher. Ein ganzes Leben zusammengefasst in unzähligen kleinen Büchern. Verbarg sich dort die Antwort? Vielleicht war dies ein Ausgangspunkt. Ninni musste herausfinden, was ihre Mutter so aufgewühlt hatte.
„Was wolltest du mir nicht erzählen?“, flüsterte sie. „Welches Geheimnis trägst du in dir?“
Sechs Monate später
Mullvald, Gotland
1
Dienstag, 3. Mai
Wo zur Hölle hatte er seinen Koffer nur hingestellt? Tryggve Fridman, Mullvalds ureigenster Kriminalkommissar a. D., wühlte in einer seiner großzügigen Abstellkammern im Obergeschoss. Es war nicht gerade gestern, nicht mal vergangenes Jahr, dass er sich zuletzt auf Reisen begeben hatte, deshalb ließ sich der Verwahrungsort nicht im Handumdrehen rekonstruieren. Und in der Zwischenzeit war nicht gerade wenig Gerümpel dazugekommen. Er zog einen Karton mit Weihnachtsdekoration aus dem Weg und schob mit dem Fuß einen zusammengerollten Teppich beiseite. Der Teppich steckte noch in der Plastikfolie von der Reinigung, obwohl es sicher bereits mehrere Jahre her war, dass er ihn abgeholt hatte. Tryggve hockte sich hin und schaute prüfend in den gerade freigelegten Bereich. Und genau dort stand sein Koffer. Tryggve zog ihn hervor.
Als er gerade Weihnachtsschmuck und Teppichrolle wieder zurückschieben wollte, fiel sein Blick auf etwas ganz anderes. Eine viereckige Schachtel, etwas größer als ein Schuhkarton. Ordentlich mit einer Schnur versehen, oben sorgfältig mit einem Kreuzknoten verschlossen. Er hob den Karton hoch und trug ihn hinaus. Blies eine Staubschicht vom Deckel, um das Etikett lesen zu können, obwohl er eigentlich wusste, was sich im Karton befand. Smissarve – ungelöst, er hatte es selbst beschriftet. Ein alter Fall, den er beiseitegelegt und fast vergessen hatte, obwohl das anders gedacht gewesen war. Mit der Hand wischte er weiteren Staub vom Etikett. Erinnerte sich an die Frau, die bei ihm gesessen und ihm von einem nächtlichen Besucher erzählt hatte. Von unwillkommenen Händen, die unter die Decke und das Nachthemd gewandert waren. Und von dem kleinen Mädchen, was ihr am schwersten fiel.
Er klemmte sich den Karton unter den Arm, nahm den Koffer in die Hand und ging hinunter in die Küche. Putte, sein Rottweiler und treuer Begleiter, erhob sich langsam aus seinem Korb. Er schlenderte zum Koffer und beschnüffelte ihn flüchtig, um dann wieder an seinen Liegeplatz zurückzukehren.
Tryggve schob die Zeitung vom Tisch, machte Platz für seinen Fund, löste die Schnur und hob den Deckel an. Obenauf lag ein kleines schwarzes Notizbuch, darunter ein Stapel verblichener Kopien. Er öffnete das Notizbuch und las ein paar Namen. Was all diese Menschen wohl mittlerweile machten? Manche lebten vermutlich nicht einmal mehr.
Das Tor quietschte, und schon waren Schritte auf dem Kiesweg vorm Haus zu hören. Er musste wirklich dringend die Scharniere ölen, wie sonderbar, dass ihm das immer wieder entfiel. Jedes Mal, wenn er selbst hindurchtrat, dachte er daran, aber kaum machte er einen Schritt ins Haus, hatte er es wieder vergessen, es war wie verhext. Schnell verschloss er den Karton mit dem Deckel und schob ihn hastig unter den Küchentisch. Wer auch immer sich da näherte, musste die vierzig Jahre alten Dokumente nicht gerade zu Gesicht bekommen.
Anki Karlsson, seine nicht mehr ganz neue Nachbarin und gute Freundin, trommelte gegen die Tür und wurde umgehend hereingebeten. Mittlerweile bekam er meist sehr gute Laune, wenn er sie sah, aber so war es nicht immer gewesen. Ganz am Anfang hatte es ihn erzürnt, um nicht zu sagen rasend gemacht, dass Anki sich in die polizeilichen Ermittlungen eingemischt hatte. Allerdings musste er sich schnell eingestehen, dass sie mehr half als schadete. Oft begriff sie bloß nicht, in welch große Gefahr sie sich begab, wenn sie völlig ahnungslos, aber voller Eifer auf eigene Faust nach Lösungen suchte. Manchmal steigerte sich ihre Durchtriebenheit zu wahrer Dummdreistigkeit, was der eigentliche Anlass dafür gewesen war, dass er aufgehört hatte, gegen sie zu arbeiten. Er war zu dem Schluss gekommen, dass es besser war, wenn sie auf derselben Seite standen. Außerdem wollte er nicht, dass Anki sich selbst in Schwierigkeiten brachte, und letzten Endes war es immer noch er, der sich mit schweren Verbrechen auskannte.
„Hallo, Tryggve“, sagte Anki und lächelte. „Oh, bist du schon bei den Reisevorbereitungen?“
Ihr Blick wanderte zu seinem staubigen Koffer, der plötzlich einen alten und verwahrlosten Eindruck machte, ja fast verlegen schien, dort in der Küche auf dem Boden zu stehen. Tryggve kratzte sich im Nacken und ließ sich Zeit mit der Antwort. Putte strich Anki derweil zur Begrüßung um die Beine.
„Bald“, sagte er schließlich. „Ein paar Tage bleiben ja noch, aber es schadet nicht, rechtzeitig mit dem Packen anzufangen.“
„Dann bist du ja weg, wenn hier alles anfängt zu blühen“, stellte sie fest und nickte zum Garten hinüber. „Hast du dich denn schon entschieden, wohin es gehen soll?“
„Spanien, Andalusien“, antwortete er. „Ich bin auf eine Anzeige gestoßen, eine günstige Ferienwohnung, da musste ich einfach zuschlagen. Aber du hast natürlich recht, sehr klug ist es nicht, all die Himmelsschlüssel und Buschwindröschen zu verpassen. Schöner als auf Gotland ist es im Mai nirgendwo.“
„Ach was!“, sagte Anki. „Ist ja nicht der letzte Frühling. Du hast es dir verdient, mal von hier fortzukommen und was anderes zu sehen.“
Dann wurde sie still, streckte sich nach dem Koffergriff und hob das gute Stück daran hoch, um es von allen Seiten zu begutachten.
„Damit willst du verreisen?“, fragte sie schließlich und stellte ihn wieder auf den Boden.
Ankis Tonfall war nicht direkt boshaft, sie klang eher verwundert. Tryggve starrte das gute alte Stück an und wusste, was seine Freundin meinte, wollte es aber nicht zugeben. Ganz besonders nicht vor Anki.
„Ja, wieso nicht? Gibt es daran vielleicht etwas auszusetzen?“, fragte er zurück.
Sein Ton war vielleicht unnötig schnippisch, aber Anki lachte trotzdem.
„Nun“, sagte sie, „es sieht nicht gerade so aus, als habe er irgendwelche Mängel, soweit ich das beurteilen kann. Aber du wirst der einzige Mensch in Europa sein, der sein Gepäck noch trägt.“
„Sein Gepäck trägt? Was genau soll daran denn ungewöhnlich sein? Es ist doch klar, dass man sein eigenes Zeug trägt.“
„Tryggve“, sagte sie, „wo hast du denn die letzten Jahrzehnte gelebt? Heutzutage haben alle Rollkoffer. Das ist viel einfacher, und man schleppt sich nicht mehr unnötig kaputt.“
Es war ungerecht von ihr, zu behaupten, dass er die neuesten Entwicklungen nicht mitbekam. Selbstverständlich war ihm aufgefallen, dass die Leute heutzutage Rollkoffer hatten, aber das hieß ja noch lange nicht, dass er sich auch einen anschaffen musste.
„Fahr nach Hemse oder Visby und kauf dir einen mit Rollen“, fuhr Anki fort, „oder leih dir meinen. Man muss sich ja nicht mehr abkämpfen als nötig.“
„Du hattest ein Anliegen, vermute ich?“, fragte er, um das Gespräch von seinem alten Koffer abzubringen. „Möchtest du einen Tee?“ Er setzte sich an den Tisch und forderte sie mit einer Handbewegung auf, dasselbe zu tun. Gern nahm sie die Einladung an, und er schenkte ihr aus der Thermoskanne ein, die er vorbereitet hatte, bevor er im ersten Stock auf die Suche nach seinem Koffer gegangen war.
„Du hast recht“, sagte Anki, „ich hatte ein Anliegen. Ich wollte nur nachhören, ob du einen Stellplatz für mein Pferd aufgetan hast, wenn ich meinen mehrtägigen Ausritt mache. Du meintest doch letztens, dass du eine Idee hättest.“
Wie ärgerlich, er hatte völlig vergessen, dass er Anki seine Hilfe angeboten hatte. Nun denn, es war sicher noch nicht zu spät.
„Und du willst wirklich ganz allein reiten?“, fragte er und sah sofort vor sich, wie Anki in den gotländischen Wäldern verloren ging. „Noch dazu mehrere Tage am Stück?“
Sie lächelte ihn an.
„Na, so kurzfristig werde ich keine Begleitung finden, aber ich habe ja Austri. Er ist ein ganz zauberhafter Kamerad. Außerdem gibt es keinen besseren Zeitpunkt, schließlich ist Osk bei ihrer Züchterin.“
„Oh, warum das denn?“, fragte Tryggve. „Willst du sie wieder zurückgeben?“
„Nein, nein, sie besucht dort einen Hengst. Wenn ich Glück habe, dann sind die beiden Hübschen sich sympathisch, und dann bekomme ich bald ein Fohlen“, erklärte Anki.
Tryggve streckte die Beine aus und trat dabei versehentlich gegen den Karton, den er unter dem Tisch versteckt hatte. Vielleicht war Smissarve ja eine gute Idee? Dort oben hatte er ein paar gute kirchliche Kontakte, er kannte sowohl die Küster als auch die Pfarrerin. Erstere hatte er des Öfteren bei Fortbildungen in Visby getroffen, und mit der Pfarrerin, Ulrika Trogen, spielte er hin und wieder eine Partie Schach. Auf der Insel gab es ein paar schachbegeisterte Kirchenmitglieder, die einen Club gegründet hatten. Die Strecke sollte Anki durchaus an einem Tag auf dem Pferd bewältigen können, und vermutlich taugte der alte Stall, der zum Pfarrhof gehörte, noch für eine Übernachtung.
„Wie lange wolltest du reiten?“, fragte Tryggve. „Und in welche Richtung?“
Anki trank einen Schluck Tee, bevor sie antwortete.
„Da muss ich mich ganz danach richten, wo es eine Herberge gibt“, antwortete sie und lachte über ihre biblische Wortwahl.
Tryggve stand auf und holte sein Handy, das auf der Arbeitsfläche lag. Er wählte die Nummer und ging zum Telefonieren ins Wohnzimmer. Anki musste nicht das ganze Gespräch mitbekommen.
Nach einer ganzen Weile angenehmen Geplauders mit Ulrika Trogen kehrte er in die Küche zurück, wo er Anki in die Tageszeitung vertieft vorfand. Sie hob den Kopf und schaute ihn an.
„Und? Gute Nachrichten?“
„Alles geregelt“, sagte Tryggve. „Wenn du dir vorstellen kannst, bis nach Smissarve zu reiten – das liegt gut dreißig Kilometer von hier entfernt –, dann kannst du Austri in den alten Stallungen des dortigen Pfarrhofs unterbringen. Stroh besorgt die Pfarrerin beim nächstgelegenen Bauernhof.“
„Großartig!“, jubelte Anki. „Dann muss ich bloß noch ein Bett für mich finden. Und selbstverständlich einen Ort zur Rast unterwegs.“
„Du hast Glück, dort gibt es ein Feriendorf“, erwiderte Tryggve. „Eine kleine Anlage, die sogar über ein einfaches Restaurant verfügt. Wie ich gehört habe, läuft das ganz gut und hat auch das ganze Jahr über geöffnet.“
„Wirklich?“, sagte Anki. „Aber die werden vermutlich nur Pizza und die üblichen langweiligen Salate anbieten. Da bringe ich mir besser selbst was zu essen mit.“
Tryggve musste über ihre unnötige Sorge lächeln.
„Da irrst du dich, es scheint sehr authentische und leckere Tex-Mex-Küche zu sein. Auch wenn ich mir das nicht ganz erklären kann, so weit draußen.“
Sie beugte sich zu ihm hinüber und legte ihm die Hand auf den Arm.
„Danke dir. Wirklich sehr lieb von dir, dass du das für mich organisiert hast.“
Er winkte ab. „Ach, nichts zu danken. Hoffen wir, dass alles gut geht und du eine schöne Zeit hast. Am besten ohne Regen.“
Er hatte Glück gehabt, ihr doch noch so kurzfristig helfen zu können, obwohl er es vollkommen vergessen hatte.
„Wenn du am Strand entlangreitest, könntest du in Hällinge haltmachen. Ich kenne den Bauern dort, der legt sicher gern ein bisschen Heu für euch bereit, wenn du magst. Ruf ihn mal an und grüß ihn von mir. Da gibt es auch eine Pumpe, für frisches Wasser für dich und Austri ist also ebenfalls gesorgt.“
„Das wäre wirklich wundervoll“, sagte Anki. „Dann meistere ich den langen Ritt bestimmt gut.“
„Wann willst du los?“, fragte Tryggve.
„Morgen“, antwortete sie. „Das Wetter über Christi Himmelfahrt soll großartig werden, es gibt also keinen Grund, länger zu warten. Einen so langen Ritt im Regen muss man sich nun nicht gerade antun.“
Er hob die Tasse zum Mund und trank den verbliebenen Tee aus.
„Ach ja, und dann ist da noch Putte“, sagte er. „Du willst wirklich auf ihn aufpassen? Es war ja nicht abzusehen, dass meine eigentlichen Hundesitter plötzlich verhindert sein würden.“
Er strich sich übers Kinn, sein Bart kratzte. Heute Morgen hatte er sich keine Zeit zum Rasieren genommen.
„Wie geht es deinen armen Nachbarn denn?“, fragte Anki und legte die Stirn in Sorgenfalten.
„Den Umständen entsprechend gut, glaube ich“, antwortete er, „aber man darf halt nicht vergessen, wie alt die beiden sind. Der Schlaganfall des Mannes vor ein paar Wochen bedeutet eben, dass sie es für eine Weile ruhig angehen müssen. Hundespaziergänge in zügigem Tempo sind gerade nicht das Richtige für sie.“
Anki blieb eine Weile still und betrachtete Putte, der neben dem Tisch lag. Tryggve wusste, dass Anki anfangs sehr großen Respekt vor dem Hund gehabt hatte, mittlerweile waren sie jedoch gute Freunde geworden.
„Wenn du meinst, dass ich das hinbekomme“, sagte sie schließlich. „Aber du lässt ihn auf eigene Gefahr bei mir. Ich bin keine geübte Hundehalterin. Pferde sind eine ganz andere Geschichte.“
„Ich könnte mir niemand Besseres vorstellen“, erwiderte Tryggve, beugte sich vor und kraulte seinen vierbeinigen Freund zwischen den Ohren. „Was meinst du, Putte? Wir kommen Montagnachmittag vorbei, bevor ich abreise.“
Als Anki nach Hause aufgebrochen war, holte Tryggve den Karton mit den Unterlagen wieder hervor. Der Fall hatte sich vor vielen Jahren in Smissarve ereignet. Nicht aufgeklärt, Ermittlungen eingestellt. Kein Täter konnte mit der Tat in Verbindung gebracht werden, obwohl Tryggve so sicher gewesen war, wer die Schuld trug. Seit vielen Jahren verjährt. Er blätterte durch die dünnen Seiten, die zum Großteil verblichen waren. Das Kopierpapier der Siebzigerjahre war von entsetzlicher Qualität, es ließ sich fast nichts mehr entziffern. Trotzdem legte er alles sorgfältig zurück, verknotete den Karton wieder mit der Schnur und trug ihn zusammen mit dem in Ungnade gefallenen Koffer in den ersten Stock. Der Tag war noch lang, er würde ohne Weiteres bis in die Stadt fahren können, um sich einen neuen Koffer mit Rollen zu besorgen. Aber er hatte nicht vor, Anki davon zu erzählen.
2
Björn Jonsson schloss die Tür zu dem Haus, in dem er die vergangene Stunde verbracht hatte. Kurz blieb er auf der Veranda stehen und erschauderte, obwohl die Maisonne ihn mit Wärme empfing. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Kollar hoch.
Die Eltern dort drinnen im Haus waren gelähmt vor Trauer, und er hatte nicht viele tröstende Worte für sie gehabt, nur versucht, ihnen bestmöglich bei der Planung der Beerdigung zu helfen. Die Lieder mussten ausgewählt werden, und Björn brauchte ein paar Informationen über den Sohn, damit er eine ihm würdige Trauerpredigt halten konnte. Anfangs hatte der Vater nichts gesagt, was hilfreich gewesen wäre. Die Mutter hatte mit zitternden Händen Kaffee aufgesetzt, während Björn selbst etwas vorschlug. Schönster Herr Jesu war als Schlusslied üblich, aber sonst? Hatten sie eigene Wünsche? Schweigen. Konnten sie sich Von guten Mächten wunderbar geborgen vorstellen? Keine Reaktion.
„Er hält die ganze Welt in seiner Hand“, sagte der Mann plötzlich.
„Was?“, fragte die Frau und drehte sich mit der Kanne in der Hand zu ihrem Mann um. „Das ist doch ein Kinderlied.“
Der Mann starrte trotzig zurück.
„Aber er ist doch unser Kind. Beziehungsweise war. Es gibt auch noch diese eine Bibelstelle. ›Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt.‹ … Jetzt hat er genommen. Er hat uns unseren Jungen genommen.“
An diesem Punkt war seine Stimme gebrochen. Die Mutter hatte aufgeschluchzt, die Kaffeekanne weggestellt und zu ihrem Taschentuch gegriffen. Björn hatte seine Notizen überflogen, die er sich vorab gemacht hatte, um bloß nichts zu vergessen, und war dann dazu übergegangen, ihnen Fragen zu ihrem Sohn zu stellen, der sich wenige Tage zuvor auf dem Heuboden erhängt hatte. Wer war er gewesen? Was hatte er gemocht? Wie war er in der Schule gewesen, was hatte er in seiner Freizeit gemacht? Aber Björn bekam keine anderen Antworten, als dass er nett und fleißig gewesen war und es keinerlei Anzeichen dafür gegeben hatte, dass er zutiefst unglücklich oder krank gewesen war.
Björn seufzte schwer und versuchte, sich auf der Veranda zu sammeln. Das Dunkle im Innern zeigte sich nicht immer, man konnte durchaus ein Doppelleben führen, das wusste er selbst nur zu gut.
Er ging zu seinem Fahrrad, das er gegen die Steinmauer zwischen dem Haupthaus und dem Nebengebäude gelehnt hatte. Ulrika, die Pfarrerin, hatte ihm geraten, sich ein Fahrrad anzuschaffen, weil es hier in der Gemeinde ein praktisches Fortbewegungsmittel war. Außerdem hatte sie vorgeschlagen, dass er manchmal den Diakon begleiten könne, der nur zu gern radelte, wohin er konnte. Björn hegte allerdings starke Zweifel daran, dass Raymond Dixén sehr erbaut wäre, wenn sich ihm jemand an die Fersen hinge. Zum einen konnte Björns Rad definitiv nicht mit dem nagelneuen Mountainbike des Diakons mithalten – auch wenn dieser es auf dem wahrlich platten Gotland niemals wirklich ausnutzen können würde. Zum anderen hatten sie ganz verschiedene Aufträge zu erfüllen und damit auch unterschiedliche Ziele. Björn würde also auf eigene Faust fahren und auf die Gesellschaft des nörgeligen Alten verzichten müssen, der zudem endlich mal akzeptieren sollte, dass er längst in Pension gehörte.
Aber er musste der Pfarrerin zugestehen, dass es noch aus einem weiteren Grund lohnenswerter war, das Fahrrad dem Auto vorzuziehen. Alles Schwere, was Björn bei seinen Hausbesuchen im Vertrauen zu hören bekam, wurde für einen kurzen Moment vom Wind weggeblasen. Alles, worüber er wegen der Schweigepflicht mit keinem anderen Menschen sprechen durfte, flog hinfort. Fast alles. Manches blieb, wurde zur Belastung und summte durch seinen Kopf wie eine wütende Biene in ihrem Stock.
Beerdigungsvorbereitungen, besonders solche Gespräche wie das gerade geführte, gehörten zum schwersten Teil seiner Arbeit. Seelsorgerische Gespräche, durch die er in die finstersten Probleme eingeweiht wurde, die das Leben bot, waren auch nicht leicht, egal ob sie nun davon handelten, dass jemand die Lust zu leben verloren hatte oder ihm vielleicht sogar gestand, jemanden ermordet zu haben. Björn würde sich nie daran gewöhnen. Er war zweiunddreißig, bald dreiunddreißig, und seit sechs Jahren Geistlicher. Trotzdem hatte er immer noch Schwierigkeiten mit der absoluten Schweigepflicht, die von einem Pfarrer verlangt wurde. Leider ließen sich manche Aufgaben nicht ablehnen, selbst wenn man sie fast nicht ertrug. Viel zu häufig, wenn ein Gemeindemitglied zu ihm kam, um ihm seine Sorgen anzuvertrauen, trafen sie einen empfindlichen Punkt bei Björn, und dann war es aus. Dann erwachten die Dämonen in ihm. Nach solchen Gesprächen musste er länger Fahrrad fahren oder direkt nach Hause, um unter die Decke zu kriechen und sich auszuweinen.
Seine Mutter war eine der wenigen, mit denen er sprechen konnte. Sie war immer für ihn da gewesen, der Fels in der Brandung seiner Jugend. Hatte ihn während des Studiums mit Briefen und Geld unterstützt, manchmal selbst mit Lebensmitteln. Er war ihr zu ewigem Dank verpflichtet, ohne sie hätte er es niemals geschafft. An seinen freien Tagen fuhr er für gewöhnlich mit dem Rad zu ihr. Sie wohnte in der Gemeinde, sie war es sogar gewesen, die ihn damals auf die freie Stelle aufmerksam gemacht hatte. Davor war er in Stockholm angestellt gewesen, aber es hatte nicht viel Überzeugungsarbeit gekostet, ihn dazu zu bewegen, in die Heimat zurückzukehren. Obwohl es bedeutete, dass er noch weiter von Pernilla entfernt war.
Björn warf einen Blick auf die Uhr. Es blieb noch genug Zeit bis zum Mittagessen, um einen ersten Entwurf der Trauerpredigt zu schreiben. Den Feinschliff würde er morgen vornehmen.
Der Geruch von Kaffee begrüßte ihn, als er das Gemeindebüro von Smissarve betrat, das sich im Giebel des Pfarrhofs befand. Die Kaffeepause war eigentlich vorbei, aber er konnte sicher schnell im Stehen eine Tasse trinken, bevor er sich an die Arbeit machte. Der Kaffee bei der trauernden Familie war sehr dünn gewesen.
Raymond faltete gerade die jüngste Ausgabe der Kirchenzeitung zusammen, als Björn hereinkam.
„Na, hallo“, sagte er und lächelte breit. „Und der Hausbesuch ist gut gelaufen?“
Björn erschauderte, als er die breiten, glänzenden Zahnreihen sah, es musste sich um diese Veneers handeln, von denen er gelesen hatte. Das graue Haar war ordentlich gekämmt und im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst. Raymonds Haut war wettergegerbt nach all den Jahren im Ausland, die vermutlich von vielen Freiluftaktivitäten geprägt gewesen waren.
„Wieso fragst du?“, wollte Björn wissen und nahm sich eine Tasse aus dem Schrank.
Er füllte sie und blieb an die Spüle gelehnt stehen.
„Ich habe so viel Mitleid mit der Familie“, sagte Raymond. „Das jüngste Kind und der Einzige, der noch übrig war, um den Hof zu übernehmen. Die anderen beiden sind längst aufs Festland gezogen und haben ganz andere Berufe gewählt.“
„Vielleicht hat er es ja genau deshalb getan“, murmelte Björn.
„Was hast du gesagt?“
„Vielleicht hat er sich ja deshalb das Leben genommen. Der Druck, all das zu übernehmen, kann überwältigend sein.“
Björn trank die Tasse aus und stellte sie in die Spülmaschine. Die Pfarrerin duldete keine Unordnung im Personalraum.
„Tja, das kann wohl niemand mit Sicherheit sagen“, bemerkte Raymond. „Hoffentlich habt ihr passende Lieder gefunden, genauso wie du hoffentlich die richtigen Worte für den Sohn finden wirst. Das ist sehr wichtig, und ich gehe davon aus, dass dir das bewusst ist.“
Raymond gab erneut sein künstlich blendendes Lächeln zum Besten. Björn spürte, wie die Wut in ihm aufstieg.
„Kümmer du dich um deine Arbeit, ich kümmere mich um meine“, sagte er durch zusammengebissene Zähne und mit geballten Fäusten.
„Schon gut, schon gut“, erwiderte Raymond und hielt beschwichtigend eine Hand hoch. „Ein wenig Lebenserfahrung werde ich wohl teilen dürfen. Ihr jungen Leute habt es immer so eilig, das führt schnell zu Nachlässigkeiten, manchmal seid ihr einfach zu unbedacht. Aber ich vertraue darauf, dass du die letzte Reise des Jungen würdevoll und feierlich gestaltest.“
Björn starrte seinen Kollegen an, ohne dass ihm noch etwas zu sagen einfiel. Deshalb verließ er ohne ein weiteres Wort den Raum, ging in sein Büro und sank auf seinen Stuhl. Er faltete die Hände auf dem Schreibtisch und atmete tief durch.
„Fesselnd für alle Krimi-Fans, die es nicht so blutig mögen“
„Marianne Cedervall rockt die Krimiliteratur, und das so grandios wie nur wenige andere ihrer Zunft! (…) Ihre Fälle sind so spannend-amüsant wie die einer Miss Marple. (…) Ein unschlagbar genialer Krimihit!“
Kunstvoll, klug und souverän erzählt Silvio Blatter von der Erfüllung von Lebensplänen und den großen Auseinandersetzungen zwischen den Generationen. Rezension ursprünglich auf www.lovelybooks.de veröffentlicht.
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