Das Verschwinden der Stephanie Mailer Das Verschwinden der Stephanie Mailer - eBook-Ausgabe
Roman
— So intensiv, stimmungsvoll und packend wie „Harry Quebert“„Joel Dickers Talent besteht darin, trotz großer Komplexität den Leser jederzeit zu unterhalten. Seine Protagonisten sind vielschichtig, die Wendungen rasant – ohne ins Lächerliche abzudriften. Sein Stil ist jugendlich frisch. Er schafft es, dass selbst Gelegenheitsleser die 672 Seiten verschlingen.“ - Ruhr Nachrichten
Das Verschwinden der Stephanie Mailer — Inhalt
„Ein Buch für die ewige Bestenliste.“ WDR 2 „Lesen“
Es ist der 30. Juli 1994 in Orphea, ein warmer Sommerabend an der amerikanischen Ostküste: An diesem Tag wird der Badeort durch ein schreckliches Verbrechen erschüttert, denn in einem Mehrfachmord sterben der Bürgermeister und seine Familie sowie eine zufällige Passantin. Zwei jungen Polizisten, Jesse Rosenberg und Derek Scott, werden die Ermittlungen übertragen, und sie gehen ihrer Arbeit mit größter Sorgfalt nach, bis ein Schuldiger gefunden ist. Doch zwanzig Jahre später behauptet die Journalistin Stephanie Mailer, dass Rosenberg und Scott sich geirrt haben. Kurz darauf verschwindet die junge Frau ...
Die idyllischen Hamptons sind Schauplatz einer fatalen Intrige, die Joël Dicker mit einzigartigem Gespür für Tempo und erzählerische Raffinesse entfaltet.
„Macht süchtig!“ Elle
Leseprobe zu „Das Verschwinden der Stephanie Mailer“
Zu den Ereignissen des 30. Juli 1994
Nur wer sich mit den Hamptons im Staat New York sehr gut auskennt, dürfte gehört haben, was am 30. Juli 1994 in Orphea geschehen ist, einem kleinen, piekfeinen Badeort am Atlantik.
An jenem Abend wurde das allererste Theaterfestival von Orphea eröffnet, und diese Veranstaltung hatte aus dem ganzen Land ein großes Publikum angezogen. Schon seit dem Spätnachmittag strömten Touristen und Einheimische zur Hauptstraße, um an den zahlreichen von der Stadt organisierten Festivitäten teilzunehmen. Es hatten so viele Anwohner [...]
Zu den Ereignissen des 30. Juli 1994
Nur wer sich mit den Hamptons im Staat New York sehr gut auskennt, dürfte gehört haben, was am 30. Juli 1994 in Orphea geschehen ist, einem kleinen, piekfeinen Badeort am Atlantik.
An jenem Abend wurde das allererste Theaterfestival von Orphea eröffnet, und diese Veranstaltung hatte aus dem ganzen Land ein großes Publikum angezogen. Schon seit dem Spätnachmittag strömten Touristen und Einheimische zur Hauptstraße, um an den zahlreichen von der Stadt organisierten Festivitäten teilzunehmen. Es hatten so viele Anwohner ihre Viertel verlassen, dass diese wie ausgestorben wirkten: keine Spaziergänger mehr auf den Gehsteigen, keine Paare auf den Veranden, keine Kinder mit Rollschuhen auf der Straße, niemand in den Gärten. Alle Welt tummelte sich im Zentrum.
Gegen 20 Uhr war im menschenleeren Penfield-Viertel das einzige Lebenszeichen ein Auto, das langsam durch die verlassenen Straßen fuhr. Mit einem Anflug von Panik im Blick suchte der Mann am Steuer die Gehsteige ab. Er hatte sich noch nie so allein auf der Welt gefühlt. Nirgendwo irgendwer, der ihm helfen konnte. Er wusste nicht ein noch aus: Seine Frau war vom Joggen nicht zurückgekehrt.
Samuel und Meghan Padalin gehörten zu den wenigen Einwohnern von Orphea, die beschlossen hatten, an diesem ersten Festivalabend zu Hause zu bleiben. Sie hatten keine Karten mehr für die Eröffnungsveranstaltung bekommen, denn der Vorverkauf war gestürmt worden, und sie hatten keine Lust verspürt, das Volksfest an der Hauptstraße und der Marina zu besuchen.
Also war Meghan abends, wie jeden Tag, gegen 18 Uhr 30 laufen gegangen. Mit Ausnahme der Sonntage, an denen sie ihrem Körper ein wenig Ruhe gönnte, drehte sie täglich die gleiche Runde. Sie lief bei sich zu Hause los und die Penfield Street hinauf bis zum Penfield Crescent, wo die Straße im Halbkreis um einen kleinen Park herum führte. Dort hielt sie an, um auf dem Rasen ein paar Übungen zu machen – immer die gleichen –, und kehrte dann auf demselben Weg nach Hause zurück. Alles zusammen dauerte genau eine Dreiviertelstunde. Manchmal auch fünfzig Minuten, wenn sie mehr Zeit für ihre Gymnastik aufgewandt hatte. Aber länger nie.
Um 19 Uhr 30 hatte Samuel Padalin es seltsam gefunden, dass seine Frau noch nicht zurück war.
Um 19 Uhr 45 hatte er begonnen, sich Sorgen zu machen.
Um 20 Uhr tigerte er unruhig durch die Wohnung.
Um 20 Uhr 10 nahm er schließlich, als er es nicht mehr aushielt, seinen Wagen, um das Viertel abzufahren. Er hielt es für das Naheliegendste, an Meghans üblicher Joggingstrecke zu suchen. Was er dann auch tat.
Er fuhr in die Penfield Street und hinauf bis zum Penfield Crescent, wo der Weg sich gabelte. Es war 20 Uhr 20. Keine Menschenseele weit und breit. Er blieb einen Moment stehen und blickte forschend in den Park, konnte aber niemanden entdecken. Auf dem Rückweg bemerkte er etwas auf dem Gehsteig. Zunächst hielt er es für einen Kleiderhaufen. Dann begriff er, dass es ein Körper war. Mit klopfendem Herzen stürzte er aus dem Auto. Es war seine Frau.
Der Polizei erzählte Samuel Padalin später, er habe zunächst gedacht, sie sei wegen der Hitze zusammengebrochen. Er habe einen Herzanfall befürchtet. Aber als er auf Meghan zugelaufen sei, habe er das Blut und das Loch in ihrem Hinterkopf gesehen.
Er fing an zu schreien und um Hilfe zu rufen und wusste einfach nicht recht, ob er bei seiner Frau bleiben oder losrennen und an Türen trommeln sollte, damit jemand den Notarzt rief. Doch ihm wurde schwarz vor Augen und seine Beine trugen ihn nicht mehr. Schließlich hörte ihn der Bewohner einer Parallelstraße, der den Notarzt alarmierte.
Wenige Minuten später riegelte die Polizei das Viertel ab.
Einer der ersten Polizeibeamten vor Ort bemerkte, als er das Absperrband anbrachte, dass die Tür zum Haus des Bürgermeisters, vor dem Meghans Leiche lag, ein wenig offen stand. Neugierig sah er sich die Sache genauer an. Und stellte fest, dass die Tür aufgebrochen worden war. Er zog seine Waffe, erklomm mit einem Satz die Stufen der Außentreppe und machte sich durch Rufen bemerkbar, doch er erhielt keine Antwort. Mit der Fußspitze stieß er die Tür ganz auf und sah eine Frauenleiche im Flur liegen. Rasch forderte er Verstärkung an, bevor er sich langsam weiter ins Haus vorwagte, die Waffe schussbereit. In einem kleinen Wohnzimmer zu seiner Rechten entdeckte er voller Entsetzen die Leiche eines Jungen. In der Küche fand er dann den Bürgermeister, in seinem Blut badend, ebenfalls ermordet.
Die ganze Familie war niedergemetzelt worden.
ERSTER TEIL
Abgründe
– 7
Das Verschwinden einer Journalistin
Montag, 23. Juni – Dienstag, 1. Juli 2014
Jesse Rosenberg
Montag, 23. Juni 2014
33 Tage vor der Premiere des 21. Theaterfestivals von Orphea
Auf dem kleinen Empfang, der anlässlich meines Ausscheidens aus dem Polizeidienst des Staates New York veranstaltet wurde, sah ich Stephanie Mailer, die sich unauffällig unter die Gäste gemischt hatte, zum ersten und letzten Mal.
An jenem Tag hatte sich eine große Menge Polizisten aus sämtlichen Brigaden unter der Mittagssonne vor dem hölzernen Podium versammelt, das bei solchen Anlässen immer auf dem Parkplatz der Regionalzentrale der State Police aufgebaut wurde. Ich stand auf dem Podium, neben mir mein Vorgesetzter, Major McKenna, der während meiner gesamten Polizeilaufbahn mein Chef gewesen war und sich jetzt in seiner Dankesrede schier überschlug.
„Captain Jesse Rosenberg ist noch ein junger Polizist, aber er hat es offensichtlich sehr eilig zu gehen“, sagte der Major, was das Publikum mit Gelächter quittierte. „Ich hätte nie gedacht, dass er vor mir den Hut nehmen würde. Es geht im Leben wirklich nicht gerecht zu: Alle würden sich freuen, wenn ich ginge, ich bin aber immer noch da, und Jesse hätten alle gerne behalten, aber Jesse geht.“
Ich war fünfundvierzig Jahre alt und hatte meinen Abschied aus freien Stücken genommen. Nach dreiundzwanzig Dienstjahren hatte ich beschlossen, den mir mittlerweile zustehenden Ruhestand anzutreten, denn ich wollte endlich etwas verwirklichen, das mir schon lange am Herzen lag. Bis zum 30. Juni hatte ich noch eine Woche zu arbeiten. Danach würde ich ein neues Kapitel in meinem Leben aufschlagen.
„Ich erinnere mich noch an Jesses ersten großen Fall“, fuhr der Major fort. „Einen grausamen Vierfachmord, den er brillant gelöst hat, dabei hatte ihm das keiner in der Brigade zugetraut. Er war ja damals noch ein totales Greenhorn. Und von da an war es jedem klar, was für ein Kaliber dieser Jesse hat. Jeder, der mit ihm gearbeitet hat, weiß es: Er ist ein außergewöhnlich guter Ermittler. Ich kann wohl mit Fug und Recht behaupten: Er ist der Beste von uns allen. Wir haben ihn den Hundertprozentigen getauft, weil er die Fälle, an denen er dran war, alle gelöst hat. Das macht ihn einzigartig. Seine Kollegen bewundern ihn und jahrelang war er ein gefragter Sachverständiger und Ausbilder der Polizeiakademie. Eins kann ich dir sagen, Jesse: Schon seit zwanzig Jahren sind wir alle neidisch auf deinen Erfolg!“
Wieder lachte das Publikum.
„Wir haben nicht ganz verstanden, was das eigentlich für eine neue Sache ist, die da auf dich wartet, aber wir wünschen dir dabei alles Gute. Glaub mir, du wirst uns fehlen! Du wirst der Polizei fehlen, vor allem aber unseren Frauen, denn zu unseren Polizeifesten sind sie hauptsächlich deinetwegen gekommen …“
Nach diesen Worten brandete der Applaus auf. Der Major umarmte mich freundschaftlich. Dann stieg ich von der Bühne, um alle zu begrüßen, die mir zuliebe gekommen waren, ehe sie sich aufs Buffet stürzen würden.
Als ich einen Augenblick alleine dastand, wurde ich von einer sehr hübschen Frau um die dreißig angesprochen, die ich, soweit ich mich entsann, noch nie gesehen hatte.
„Dann sind Sie also der berühmte Hundertprozentige?“, fragte sie in schmeichelndem Ton.
„Scheint so“, antwortete ich lächelnd. „Kennen wir uns?“
„Nein. Ich heiße Stephanie Mailer. Ich bin Journalistin beim Orphea Chronicle.“
Wir gaben uns die Hand. Dann sagte Stephanie: „Stört es Sie, wenn ich Sie den Neunundneunzigprozentigen nenne?“
Ich runzelte die Brauen. „Wollen Sie damit andeuten, dass es da einen Fall gibt, den ich nicht gelöst habe?“
Sie zog bloß einen Zeitungsausschnitt aus dem Orphea Chronicle vom 1. August 1994 aus ihrer Tasche und reichte ihn mir.
Vierfachmord in Orphea:
Bürgermeister und Familie getötet
Samstagabend wurden Joseph Gordon, der Bürgermeister von Orphea, seine Frau und ihr zehnjähriger Sohn im eigenen Haus erschossen. Das vierte Opfer hieß Meghan Padalin, 32 Jahre alt. Die junge Frau hatte zur Tatzeit ihre Jogging-runde gedreht und wurde vermutlich unfreiwillig zur Zeugin des Mordes. Sie wurde auf offener Straße vor dem Haus des Bürgermeisters erschossen.
Den Artikel zierte ein am Tatort aufgenommenes Foto von mir und meinem damaligen Partner, Derek Scott.
„Worauf wollen Sie hinaus?“, fragte ich sie.
„Diesen Fall haben Sie nicht gelöst, Captain.“
„Was wollen Sie damit sagen?“
„1994 haben Sie sich im Täter geirrt. Ich dachte mir, das wüssten Sie bestimmt noch gerne, bevor Sie den Dienst quittieren.“
Ich hielt das Ganze zunächst für einen blöden Scherz der Kollegen, bis ich begriff, dass Stephanie es ernst meinte.
„Führen Sie hier eigene Ermittlungen durch?“
„Gewissermaßen, Captain.“
„Gewissermaßen? Das müssen Sie mir schon etwas genauer erklären, wenn ich Ihnen glauben soll.“
„Es ist die Wahrheit, Captain. Ich werde gleich im Anschluss an diesen Empfang jemanden treffen, der mir wahrscheinlich einen unwiderlegbaren Beweis liefert.“
„Und wer soll dieser Jemand sein?“
„Na hören Sie mal“, erwiderte sie amüsiert, „ich bin doch keine blutige Anfängerin. So einen Knüller will man sich als Journalistin ja nicht durch die Lappen gehen lassen. Ich verspreche Ihnen, Sie an meinen Ergebnissen teilhaben zu lassen, wenn es so weit ist. Bis dahin möchte ich Sie um einen Gefallen bitten: Gewähren Sie mir Einsicht in die Akten der State Police.“
„Sie nennen es einen Gefallen, ich nenne es Erpressung!“, erwiderte ich. „Zeigen Sie mir erst einmal Ihre Beweise, Stephanie. Das sind schwerwiegende Behauptungen.“
„Dessen bin ich mir bewusst, Captain Rosenberg. Und genau aus diesem Grund wäre es mir gar nicht lieb, wenn die State Police mir zuvorkommen würde.“
„Ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie verpflichtet sind, die Polizei zu unterrichten, wenn Ihnen ermittlungsrelevante Informationen in die Hände fallen. So steht es im Gesetz. Ich könnte auch eine Haussuchung Ihrer Zeitung anordnen lassen.“
Stephanie schien von meiner Reaktion enttäuscht.
„Na denn, Sie Neunundneunzigprozentiger“, sagte sie. „Ich dachte, die Sache würde Sie interessieren, aber Sie sind in Gedanken wahrscheinlich schon im Ruhestand und bei diesem neuen Vorhaben, von dem der Major gesprochen hat. Was haben Sie vor? Wollen Sie einen alten Kahn wieder seetauglich machen?“
„Das geht Sie gar nichts an“, erwiderte ich schroff.
Sie zuckte die Schultern und schickte sich schon zum Gehen an. Ich war mir sicher, dass sie bluffte, und tatsächlich blieb sie nach wenigen Schritten stehen und drehte sich noch einmal um: „Die Lösung lag genau vor Ihren Augen, Captain Rosenberg. Sie haben sie einfach nicht gesehen.“
Ich war jetzt doch neugierig, und zugleich ärgerte ich mich. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie richtig verstanden habe, Stephanie.“
Da hielt sie mir ihre Hand vors Gesicht. „Was sehen Sie, Captain?“
„Ihre Hand.“
„Ich habe Ihnen aber meine Finger gezeigt“, korrigierte sie mich.
„Ich sehe aber Ihre Hand“, erwiderte ich, denn ich verstand nicht, worauf sie hinauswollte.
„Genau das ist das Problem“, sagte sie zu mir. „Sie haben gesehen, was Sie sehen wollten, nicht, was da war. Genau das war auch vor zwanzig Jahren Ihr Fehler.“ Das waren ihre letzten Worte. Sie ging und ließ mich mit ihrem Rätsel, ihrer Visitenkarte und der Kopie des Artikels stehen.
Ich entdeckte Derek Scott am Buffet, meinen alten Partner, der mittlerweile in der Verwaltung dahinvegetierte, eilte zu ihm und zeigte ihm den Zeitungssauschnitt.
„Du hast dich gar nicht verändert, Jesse“, sagte er, amüsiert über das alte Foto. „Was wollte diese Frau denn von dir?“
„Sie ist Journalistin und behauptet, wir hätten uns 1994 geirrt. Angeblich haben wir damals bei der Ermittlung etwas übersehen und uns den Falschen geschnappt.“
„Aber das ist doch Unsinn! Was hat sie genau gesagt?“
„Wir hätten die Lösung direkt vor Augen gehabt und sie nicht gesehen.“
Für einen Moment wirkte auch Derek verunsichert, sagte dann aber: „Keine Sekunde nehme ich ihr das ab. Das ist doch nur wieder so eine zweitklassige Journalistin, die mit einem billigen Trick auf sich aufmerksam machen will.“
„Vielleicht“, erwiderte ich nachdenklich. „Vielleicht aber auch nicht.“
Als ich den Blick über den Parkplatz schweifen ließ, sah ich Stephanie ins Auto steigen. Sie winkte herüber und rief: „Bis demnächst, Captain Rosenberg.“
Aber es sollte kein „demnächst“ geben.
Denn das war der Tag, an dem sie verschwand.
Derek Scott
Ich erinnere mich noch genau daran, wie alles anfing. Es war am Samstag, dem 30. Juli 1994.
An jenem Abend hatten Jesse und ich Dienst. Wir gingen zum Essen ins Blue Lagoon, ein damals beliebtes Restaurant, in dem Darla und Natascha abends und an den Wochenenden als Bedienung arbeiteten.
Natascha und Jesse waren schon seit Jahren ein Paar. Mit Darla, einer ihrer besten Freundinnen, wollte sie ihr eigenes Lokal eröffnen. Einen Standort hatten die beiden schon gefunden, jetzt bemühten sie sich um die erforderlichen Genehmigungen. Und legten die Hälfte ihres Lohns aus dem Blue Lagoon als Startkapital für ihr zukünftiges Restaurant auf die hohe Kante.
Sie hätten lieber im Büro oder in der Küche gearbeitet, aber der Besitzer des Blue Lagoon hatte zu ihnen gesagt: „Wer ein so hübsches Gesicht und einen so hübschen kleinen Hintern hat, dessen Platz ist im Speisesaal. Was beschwert ihr euch denn, durch die Trinkgelder nehmt ihr mehr ein, als ihr in der Küche je verdienen könntet.“
Letzteres stimmte: Viele Kunden kamen nur ihretwegen ins Blue Lagoon. Sie waren schön, freundlich und immer gut drauf: Ihr Restaurant würde zweifellos ein Hit werden.
Darla war Single. Und ich muss zugeben, dass ich seit unserer ersten Begegnung nur noch an sie dachte. Ich lag Jesse ständig in den Ohren, wir sollten doch ins Blue Lagoon gehen und einen Kaffee bei den beiden trinken. Und wenn sie sich bei Jesse und Natascha trafen, um an ihrem Restaurantprojekt zu arbeiten, dann lud ich mich selbst ein und versuchte Darla zu bezirzen, was leider nicht so richtig klappte.
Am Abend jenes berühmten 30. Juli aßen Jesse und ich also an der Theke zu Abend und plauderten ein bisschen mit Natascha und Darla, als wir plötzlich angepiepst wurden, und zwar beide gleichzeitig. Wir sahen einander erstaunt an.
„Wenn der Piepser gleich bei euch beiden losgeht, muss ja was Schlimmes passiert sein“, bemerkte Natascha.
Sie deutete auf die Telefonkabine des Restaurants und den Apparat auf dem Tresen. Jesse ging in die Kabine, ich nahm den am Tresen.
„An alle Einheiten, ein Vierfachmord“, erklärte ich Natascha und Darla, nachdem ich aufgelegt hatte, und stürzte zur Tür.
Jesse zog noch seine Jacke an.
„Jetzt beeil dich doch“, schimpfte ich. „Die Einheit, die zuerst am Tatort ist, bekommt die Ermittlungen.“
Wir waren jung und ehrgeizig. Das war unsere Chance auf einen ersten großen Fall. Ich hatte mehr Erfahrung als Jesse und mir bereits den Dienstgrad eines Sergeants erarbeitet. Meine Vorgesetzten schätzten mich. Jeder sagte mir eine steile Polizeikarriere voraus.
Wir rannten zum Auto und sprangen hinein, ich hinters Steuer, Jesse auf den Beifahrersitz.
Mit quietschenden Reifen fuhr ich los, und Jesse schnappte sich das Signallicht vom Boden. Er schaltete es ein, setzte es durchs offene Fenster aufs Dach unseres Zivilfahrzeugs und erhellte die Nacht mit blauen und roten Lichtblitzen.
So fing alles an.
Jesse Rosenberg
Donnerstag, 26. Juni 2014
30 Tage vor der Premiere
Meine letzte Woche bei der Polizei hatte ich mir so vorgestellt: Ich würde durch die Gänge schlendern und mich bei einem Kaffee von meinen Kollegen verabschieden. Doch seit drei Tagen hatte ich mich in meinem Büro verschanzt und von morgens bis abends die Ermittlungsakte des Vierfachmordes von 1994 studiert, die ich aus dem Archiv gefischt hatte. Der Auftritt dieser Stephanie Mailer hatte mich aus der Bahn geworfen. Ich konnte nur noch an den Artikel und diesen einen Satz von ihr denken: „Die Lösung lag direkt vor Ihren Augen, Sie haben sie einfach nicht gesehen.“
Aber anscheinend hatten wir alles gesehen. Je tiefer ich mich in die Akte wühlte, desto überzeugter war ich, dass ich hier eine der stichhaltigsten Ermittlungen meiner Karriere durchgeführt hatte. Es passte alles zusammen, die Beweise gegen den mutmaßlichen Mörder waren erdrückend. Derek und ich hatten äußerst gewissenhaft an dem Fall gearbeitet, und ich konnte nicht die geringste Nachlässigkeit erkennen. Wie sollten wir uns da also im Täter geirrt haben?
An jenem Nachmittag nun schlug Derek bei mir im Büro auf. „Was machst du da, Jesse? In der Cafeteria warten alle auf dich. Die Kolleginnen aus dem Sekretariat haben dir einen Kuchen gebacken.“
„Ich komme, Derek, tut mir leid, ich bin mit meinen Gedanken gerade ganz woanders.“
Er betrachtete die Papiere, die über meinen gesamten Schreibtisch verstreut waren, schnappte sich eins und rief: „Ach nee! Jetzt sag bloß nicht, du nimmst den Schwachsinn dieser Journalistin ernst.“
„Ich wollte nur sichergehen, dass …“
Er fiel mir ins Wort: „Jesse, die Beweisführung war niet- und nagelfest! Das weißt du so gut wie ich. Na los jetzt, wir warten alle auf dich.“
„Gib mir eine Minute, Derek. Ich komme gleich.“
Er seufzte und ging wieder. Ich nahm Stephanies Visitenkarte, die vor mir lag, und wählte ihre Nummer. Ihr Telefon war ausgeschaltet. Ich hatte bereits am Vorabend vergeblich versucht, sie zu erreichen. Sie selbst hatte sich seit unserer Begegnung am Montag nicht wieder gemeldet, und so beschloss ich, nicht länger zu insistieren. Sie wusste ja, wo sie mich finden konnte. Schließlich sagte ich mir, dass Derek recht hatte, dass es keinen Grund gab, die Ergebnisse der Ermittlung von 1994 anzuzweifeln, und ging beruhigt zu meinen Kollegen in die Cafeteria.
Aber als ich eine Stunde später wieder in mein Büro kam, erwartete mich ein Fax der State Police von Riverdale in den Hamptons, in dem das Verschwinden einer jungen Frau gemeldet wurde: Stephanie Mailer, 32 Jahre, Journalistin. Seit Montag hatte man nichts mehr von ihr gehört.
Ich reagierte sofort, riss das Blatt aus der Maschine und stürzte zum Telefon, um die Kollegen in Riverdale anzurufen. Am anderen Ende erklärte mir ein Beamter, Miss Mailers Eltern hätten sich am frühen Nachmittag besorgt an die Polizei gewendet, weil ihre Tochter sich seit Montag nicht mehr gemeldet hatte.
„Warum haben die Eltern direkt die State Police kontaktiert und nicht erst die örtliche Polizei?“, fragte ich.
„Das haben sie ja, aber die Beamten vor Ort haben die Sache offenbar nicht ernst genommen. Daher dachte ich mir, ich gebe das mal besser gleich an die Beamten weiter, die sich mit den Kapitaldelikten befassen. Hat ja vielleicht gar nichts zu bedeuten, aber so war es mir trotzdem lieber.“
„Das haben Sie gut gemacht. Ich kümmere mich drum.“
Stephanies Mutter, die ich umgehend anrief, sagte mir, sie mache sich große Sorgen. Sie habe am Montagmorgen zum letzten Mal mit ihrer Tochter gesprochen. Seither herrsche Funkstille. Ihr Handy sei abgeschaltet. Ihre Freundinnen hätten sie auch nicht erreichen können. Schließlich seien sie mit einem Beamten des örtlichen Reviers in ihre Wohnung gegangen, aber da sei Stephanie auch nicht gewesen.
Ich suchte Derek in seinem Büro auf. „Stephanie Mailer“, sagte ich zu ihm, „die Journalistin, die am Montag hier war, ist verschwunden.“
„Was erzählst du da, Jesse?“
Ich hielt ihm die Vermisstenmeldung hin. „Sieh selbst. Wir müssen nach Orphea. Wir müssen überprüfen, was da los ist. Das kann doch kein Zufall sein.“
Er seufzte: „Jesse, wolltest du nicht deinen Abschied nehmen?“
„Erst in vier Tagen. Ich bin noch vier Tage Polizist. Als ich Stephanie am Montag sprach, erzählte sie mir, sie wolle jemanden treffen, der ihr die fehlenden Puzzleteile für ihre Nachforschung liefern würde …“
„Übergib den Fall einem deiner Kollegen“, riet er mir.
„Kommt nicht infrage! Derek, die junge Frau war sich ganz sicher, dass wir 1994…“
Er ließ mich nicht aussprechen: „Der Fall ist abgeschlossen, Jesse! Das ist Vergangenheit! Was hast du nur plötzlich? Warum willst du um jeden Preis wieder darin herumstochern? Willst du das wirklich alles noch einmal durchmachen?“
„Du kommst also nicht mit mir nach Orphea?“
„Nein, Jesse. Tut mir leid. Du spinnst doch.“
Also fuhr ich allein nach Orphea, zwanzig Jahre nachdem ich zuletzt einen Fuß in diesen Ort gesetzt hatte. Seit den Ermittlungen zum Vierfachmord.
Von der Regionalzentrale der State Police war es etwa eine Autostunde bis dorthin, aber um Zeit zu gewinnen, schaltete ich die Sirene und das Blaulicht meines Zivilfahrzeugs ein. Ich nahm den Highway 27 bis zur Abzweigung nach Riverhead, dann den 25 in nordwestlicher Richtung. Im letzten Abschnitt führte der Weg durch prächtige Wälder und vorbei an mit Seerosen bedeckten Seen. Ich erreichte schon bald die lang gestreckte und leere Route 17 nach Orphea selbst und schoss wie ein Pfeil darüber. Ein riesiges Straßenschild verkündete mir kurz darauf, dass ich angekommen war.
Willkommen in Orphea, New York.
Nationales Theaterfestival, 26. Juli – 9. August.
Es war fünf Uhr nachmittags. Ich fuhr auf die Hauptstraße mit ihren üppigen Rabatten. Sah die Restaurants, Terrassen und Boutiquen an mir vorüberziehen. Es herrschte friedliche Ferienstimmung. Da der 4. Juli bevorstand, waren die Straßenlaternen mit Sternenbannern dekoriert, und Schilder kündigten für den Abend des Nationalfeiertags ein Feuerwerk an. Entlang der von Blumenbeeten und gestutzten Büschen gesäumten Marina schlenderten die Spaziergänger an den Buden der Fahrradverleiher und der Veranstalter von Whale-Watching-Touren vorbei. Diese Stadt wirkte wie eine Filmkulisse.
Der erste Besuch galt dem örtlichen Polizeirevier. Ron Gulliver, der Leiter der Polizei von Orphea, empfing mich in seinem Büro. Ich musste ihn nicht erst daran erinnern, dass wir uns vor zwanzig Jahren schon einmal begegnet waren: Er erkannte mich sofort.
„Sie haben sich nicht verändert“, sagte er und schüttelte mir die Hand.
Das konnte man von ihm nicht behaupten. Man sah ihm sein Alter an, und er war ziemlich dick geworden. Obwohl es weder Mittags- noch Abendessenszeit war, aß er Spaghetti aus einem Plastikschälchen. Und während ich ihm den Grund meines Besuches erläuterte, schlang er auf sehr unappetitliche Art und Weise die Hälfte dieser Mahlzeit herunter.
„Stephanie Mailer?“, fragte er erstaunt mit vollem Mund. „Das haben wir schon ad acta gelegt. Ist kein Vermisstenfall. Ich habe es den Eltern doch erklärt, das sind ja vielleicht Nervensägen! Gehen zur einen Tür heraus und kommen zur nächsten wieder hinein.“
„Oder einfach Eltern, die sich um ihre Tochter sorgen“, lautete mein Kommentar. „Sie haben seit drei Tagen keinerlei Nachricht von Stephanie und sagen, das sei sehr ungewöhnlich für sie. Sie werden verstehen, dass ich das mit der notwendigen Sorgfalt behandeln möchte.“
„Stephanie Mailer ist zweiunddreißig Jahre alt, sie kann tun und lassen, was sie will, oder? Glauben Sie mir, Captain Rosenberg, wenn ich Eltern hätte wie die, bekäme ich auch Lust, die Flucht zu ergreifen. Machen Sie sich keine Gedanken, Stephanie hat sich bloß eine Weile abgesetzt.“
„Wie können Sie da so sicher sein?“
„Das hat mir ihr Boss gesagt, der Chefredakteur des Orphea Chronicle. Sie hat ihm Montagabend eine Nachricht auf sein Handy geschickt.“
„Also am Abend ihres Verschwindens.“
„Aber wenn ich Ihnen doch sage, dass sie gar nicht verschwunden ist“, regte Gulliver sich auf.
Bei diesem Ausruf versprühte er ein Feuerwerk al pomodoro. Ich wich einen Schritt zurück, um zu verhindern, dass die Projektile auf meinem sauberen Hemd landeten. Nachdem der Polizeichef geschluckt hatte, fuhr er fort: „Mein Kollege hat die Eltern zu ihrer Wohnung begleitet. Sie haben sie mit ihrem Zweitschlüssel aufgeschlossen und durchsucht: Alles war in Ordnung. Die Nachricht an ihren Chefredakteur ist ein weiterer Beweis, dass es keinen Grund zur Besorgnis gibt. Stephanie ist niemandem Rechenschaft schuldig. Und wir haben unsere Arbeit korrekt gemacht. Ich bitte Sie also, gehen Sie mir nicht auf den Senkel!“
„Die Eltern sind sehr besorgt“, beharrte ich, „und falls Sie nichts dagegen haben, würde ich mich doch gerne selbst davon überzeugen, dass alles in Ordnung ist.“
„Wenn Sie mit so was Ihre Zeit verplempern wollen, Captain, nur zu! Sie müssen bloß warten, bis Jasper Montagne, mein Kollege und Stellvertreter, von seiner Streife zurückkommt. Er hat sich um die Geschichte gekümmert.“
Als Deputy Chief Jasper Montagne endlich kam, stand ich vor einem Schrank von einem Mann, der mit seinen Muskelpaketen einen furchterregenden Anblick bot. Er erläuterte mir, er habe die Eltern Mailer zu Stephanies Wohnung begleitet, aber sie sei nicht da gewesen. Keine Auffälligkeiten. Kein Anzeichen eines Kampfes, nichts Ungewöhnliches. Montagne hatte anschließend die Nachbarstraßen nach Stephanies Wagen abgesucht, vergeblich. Er hatte seinen Eifer sogar so weit getrieben, bei sämtlichen Krankenhäusern und Polizeistationen der Region anzurufen: nichts. Stephanie Mailer war einfach nur nicht zu Hause.
Als ich einen Blick in Stephanies Wohnung werfen wollte, bot er mir an, mich zu begleiten. Sie wohnte in der Bendham Road, einer kleinen ruhigen Straße nicht weit von der Hauptstraße, in einem schmalen, dreistöckigen Gebäude. Im Erdgeschoss gab es eine Eisenwarenhandlung, in der Wohnung darüber einen weiteren Mieter, im zweiten Stock wohnte Stephanie.
Ich klingelte lange an ihrer Tür, trommelte mit den Fäusten dagegen, schrie – vergebens. Offenbar war niemand zu Hause.
„Da sehen Sie’s, keiner da“, erklärte Montagne mir.
Ich drehte den Türknauf, die Tür war abgesperrt. „Können wir hineingehen?“, fragte ich ihn.
„Haben Sie einen Schlüssel?“
„Nein.“
„Ich auch nicht. Beim letzten Mal haben die Eltern aufgeschlossen.“
„Dann können wir also nicht rein?“
„Nein. Damit fangen wir gar nicht erst an, dass wir bei den Leuten grundlos die Tür eintreten! Falls Sie ganz sicher sein wollen, gehen Sie zur Lokalzeitung und sprechen Sie mit dem Chefredakteur, der wird Ihnen die Nachricht zeigen, die er am Montag von Stephanie erhalten hat.“
„Und der Nachbar unten?“, fragte ich.
„Brad Melshaw? Ich habe ihn gestern befragt, er hat nichts gesehen und auch nichts Auffälliges gehört. Bei ihm brauchen wir gar nicht erst zu klingeln, der arbeitet nämlich als Koch im Café Athéna, diesem Moderestaurant auf der Hauptstraße, und da ist er jetzt gerade.“
Ich läutete trotzdem bei diesem Brad Melshaw. Doch umsonst.
„Ich habe es Ihnen ja gesagt“, seufzte Montagne und ging die Treppen hinunter, während ich noch eine Weile hartnäckig vor der Tür stehen blieb.
Als ich selbst die Treppe hinunterkam, war Montagne schon aus dem Haus. Das nutzte ich, um Stephanies Briefkasten in Augenschein zu nehmen. Durch den Schlitz sah ich einen Umschlag, den ich mit den Fingerspitzen herausangeln konnte. Ich faltete ihn einmal und ließ ihn diskret in meine Gesäßtasche gleiten.
Nach unserem Abstecher zu Stephanies Wohnung begleitete mich Montagne in die Redaktion des Orphea Chronicle ganz in der Nähe der Hauptstraße, damit ich mit dem Chefredakteur Michael Bird sprechen konnte.
Die Redaktion befand sich in einem roten Backsteingebäude. Von außen sah es zwar ganz gut aus, doch drinnen bot sich mir ein Bild des Verfalls.
Mr. Bird empfing uns in seinem Büro. Er war schon 1994 in Orphea gewesen, aber ich konnte mich nicht erinnern, ihm begegnet zu sein. Er erklärte mir, durch eine Verkettung von Umständen habe er drei Tage nach dem Vierfachmord die Leitung des Orphea Chronicle übernommen, und habe daher damals vor allem am Schreibtisch hocken müssen, statt von vor Ort berichten zu können.
„Wie lange arbeitet Stephanie Mailer schon für Sie?“, fragte ich Michael Bird.
„Etwa neun Monate. Ich habe sie letzten September eingestellt.“
„Ist sie eine gute Journalistin?“
„Sehr gut. Sie hebt das Niveau dieser Zeitung. Das ist ein Glück für uns, denn es ist nicht immer leicht, qualitätsvolle Inhalte zu bringen. Wissen Sie, finanziell geht es der Zeitung sehr schlecht. Wir können nur überleben, weil die Stadtverwaltung uns diese Räume zur Verfügung stellt. Heutzutage lesen die Leute ja keine Zeitung mehr, also werden auch nicht mehr genug Anzeigen geschaltet. Früher waren wir ein wichtiges Regionalblatt, doch heute – warum sollten Sie sich den Orphea Chronicle kaufen, wenn Sie die New York Times online haben können? Ganz zu schweigen von denen, die überhaupt keine Zeitung mehr lesen und sich lieber über Facebook informieren.“
„Wann haben Sie Stephanie Mailer zum letzten Mal gesehen?“, fragte ich ihn.
„Montagmorgen. Bei der wöchentlichen Redaktionssitzung.“
„Und ist Ihnen da etwas aufgefallen? Hat sie sich irgendwie ungewöhnlich verhalten?“
„Nein, überhaupt nicht. Ich weiß, dass Stephanies Eltern sich Sorgen machen, aber wie ich ihnen und Deputy Chief Montagne gestern schon sagte, hat Stephanie mir spät am Montagabend eine Nachricht geschickt, in der sie schrieb, sie müsse für eine Weile fort.“
Er holte sein Handy aus der Tasche und zeigte mir eine Nachricht, empfangen um null Uhr, in der Nacht von Montag auf Dienstag:
Ich muss für eine Weile weg aus Orphea.
Es ist wichtig. Ich erklär dir alles später.
„Und seit dieser Mitteilung haben Sie nichts mehr von ihr gehört?“, fragte ich.
„Nein. Aber mal ganz ehrlich, ich mache mir da keine Sorgen. Stephanie ist eine sehr selbstständige junge Frau. Sie hat ihren eigenen Arbeitsrhythmus. Ich mische mich da nicht groß ein.“
„Womit befasst sie sich gerade?“
„Sie schreibt übers Theaterfestival. Jedes Jahr gegen Ende Juli findet in Orphea ein bedeutendes Theaterfestival statt …“
„Ja, das ist mir bekannt.“
„Also, und Stephanie wollte in einer Reihe von Artikeln aus Sicht der Akteure darüber berichten. Zurzeit interviewt sie die ehrenamtlichen Helfer, ohne deren Einsatz über all die Jahre dieses Festival gar nicht möglich gewesen wäre.“
„Ist es typisch für sie, einfach so zu ›verschwinden‹?“, fragte ich nach.
„Ich würde das eher ›abtauchen‹ nennen. Ja, sie taucht regelmäßig ab. Wissen Sie, als Journalist muss man oft seinen Schreibtisch verlassen.“
„Hat Stephanie Ihnen erzählt, dass sie einer größeren Sache auf der Spur war?“, fragte ich weiter. „Sie hatte mir gesagt, sie habe am Montagabend ein wichtiges Treffen …“
Ich wurde absichtlich nicht deutlicher, denn ich wollte keine weiteren Details verraten. Aber Michael Bird schüttelte den Kopf.
„Nein“, erwiderte er, „darüber hat sie nicht mit mir gesprochen.“
Beim Verlassen der Redaktion sagte Montagne: „Polizeichef Gulliver möchte wissen, ob Sie dann jetzt wieder fahren.“
„Ja“, antwortete ich, „ich glaube, ich habe alles gesehen.“
Als ich wieder im Auto saß, öffnete ich den Umschlag aus Stephanies Briefkasten. Es war eine Kreditkartenabrechnung. Ich las sie aufmerksam.
Abgesehen von den Ausgaben für den täglichen Bedarf (Benzin, Lebensmittel, Barabhebungen vom Automaten, Einkäufe in der Buchhandlung von Orphea) fielen mir zahlreiche Belege der Mautstation von Manhattan auf. Stephanie war also in letzter Zeit regelmäßig nach New York gefahren. Aber vor allem hatte sie sich ein Flugticket nach Los Angeles gekauft, für einen Kurztrip vom 10. bis zum 13. Juni. Einige Ausgaben vor Ort – vor allem eine Hotelrechnung – bestätigten, dass sie die Reise tatsächlich auch gemacht hatte. Vielleicht hatte sie einen Freund in Kalifornien? Jedenfalls war sie offenbar eine umtriebige junge Frau. Dass sie mal für eine Weile wegfuhr, erschien da nicht ungewöhnlich. Ich konnte die örtliche Polizei bestens verstehen: Rein gar nichts deutete auf ein Verschwinden hin. Aus Mangel an Indizien war ich schon geneigt, die Ermittlung ebenfalls einzustellen, als eine Sache mich plötzlich ansprang. Etwas fiel aus dem Rahmen: die Redaktion des Orphea Chronicle. Diese Zeitung passte so gar nicht zu dem Bild, das ich mir von Stephanie gemacht hatte. Natürlich kannte ich sie kaum, aber wegen des Selbstvertrauens, mit dem sie mich ein paar Tage zuvor angesprochen hatte, konnte ich sie mir viel besser bei der New York Times vorstellen als in der Lokalredaktion eines kleinen Badeortes in den Hamptons. Es war allein dieser Gedanke, der mich dazu brachte, noch ein wenig tiefer zu schürfen und Stephanies Eltern, die zwanzig Minuten entfernt in Sag Harbor lebten, einen Besuch abzustatten.
Es war 19 Uhr.
Zur gleichen Zeit parkte Anna Kanner auf der Hauptstraße von Orphea vor dem Café Athena, in dem sie mit ihrer Kindheitsfreundin Lauren und deren Ehemann Paul zum Abendessen verabredet war.
Lauren und Paul gehörten zu den wenigen Freunden, die Anna, seit sie von New York nach Orphea gezogen war, noch regelmäßig traf. Pauls Eltern hatten ein Ferienhaus im etwa fünfzehn Meilen entfernten Southampton, in dem er und Lauren regelmäßig verlängerte Wochenenden verbrachten, wobei sie Manhattan schon am Donnerstag verließen, um den dicksten Verkehr zu vermeiden.
Als Anna gerade aussteigen wollte, sah sie Lauren und Paul, die bereits auf der Terrasse des Restaurants saßen. Aber ihr fiel auf, dass sie in Begleitung eines Mannes waren. Da Anna sofort begriff, was los war, rief sie Lauren an.
„Willst du mich in die Falle locken, Lauren?“, fragte sie, sobald diese ans Handy gegangen war.
Es folgte ein peinliches Schweigen. „Kann schon sein“, sagte Lauren schließlich. „Wie kommst du darauf?“
„Mein siebter Sinn“, log Anna. „Ach, Lauren, wie kannst du mir das antun!“
Das Einzige, was sie an ihrer Freundin auszusetzen hatte, war, dass sie ständig versuchte, Anna auf Teufel komm raus zu verkuppeln.
„Der da wird dich umhauen“, versicherte ihr Lauren, nachdem sie sich vom Tisch entfernt hatte, weil der Mann in ihrer Begleitung das Gespräch nicht mithören sollte. „Glaub mir, Anna.“
„Weißt du was, Lauren, heute passt es mir im Grunde nicht so recht. Ich bin noch im Büro und hab eine Menge Papierkram zu erledigen.“ Es amüsierte Anna zu sehen, wie Lauren auf der Terrasse nervös wurde.
„Anna, ich verbiete dir, mich zu versetzen! Du bist dreiunddreißig Jahre alt, du brauchst einen Mann! Wie lange ist es her, dass du mit einem im Bett warst, hm?“
Dieses Argument war immer Lauras letztes Geschütz. Aber Anna hatte wirklich keine Lust, sich ein arrangiertes Date anzutun. „Tut mir leid, Lauren. Außerdem habe ich Bereitschaftsdienst …“
„Ach, komm mir nicht schon wieder mit deinem Bereitschaftsdienst! In dieser Stadt passiert nie was. Du hast auch das Recht, dich ein bisschen zu amüsieren!“
In dem Moment hupte ein Auto, und Lauren hörte das Geräusch zugleich vor dem Lokal und durchs Telefon. „Aha! Jetzt hast du dich verraten“, rief sie aus und stürmte auf die Straße. „Wo bist du?“
Anna blieb keine Zeit zu reagieren.
„Ich sehe dich!“, schrie Lauren. „Glaubst du etwa, du kannst dich so aus der Affäre ziehen und mich hier sitzen lassen? Ist dir eigentlich klar, dass du fast jeden Abend allein verbringst wie eine alte Oma? Also weißt du, ich frag mich schon, ob das eine so gute Idee von dir war, dich hier lebendig begraben zu lassen …“
„Lass es gut sein, Lauren! Du hörst dich fast schon an wie mein Vater!“
„Aber wenn du so weitermachst, dann bleibst du bis zum Ende deines Lebens einsam und allein, Anna!“
Anna musste lachen und stieg aus dem Auto. Wenn man ihr bei diesen Worten jedes Mal eine Münze geschenkt hätte, hätte sie inzwischen ein Schwimmbad voller Taler. Sie musste sich allerdings eingestehen, dass Lauren nicht ganz unrecht hatte: Sie war frisch geschieden, kinderlos und lebte allein am Ende der Welt.
Laut Lauren gab es gleich mehrere Gründe, warum ihre Beziehungen immer scheiterten: Zum einen lag es an ihrem Mangel an gutem Willen und zum anderen an ihrem Beruf, der ›den Männern Angst macht‹. „Ich sage ihnen vorher nie, wie du dein Geld verdienst“, hatte Lauren ihr mehrfach erklärt. „Ich bin sicher, das schüchtert sie nur ein.“
Anna ging zu ihnen auf die Terrasse. Der Kandidat des Tages hieß Josh. Er hatte dieses schreckliche Auftreten von Männern, die sehr von sich eingenommen sind. Als er Anna begrüßte, verschlang er sie ungeniert mit den Blicken. Sie wusste sofort, dass sie ihrem Traumprinzen an dem Abend nicht begegnen würde.
„Wir sind sehr beunruhigt, Captain Rosenberg“, sagten Trudy und Dennis Mailer, Stephanies Eltern, wie aus einem Munde. „Sie meinte, sie sei in einer Redaktionssitzung und werde mich zurückrufen. Aber das hat sie nie getan.“
„Stephanie ruft sonst immer zurück“, versicherte mir Dennis Mailer.
Ich begriff sofort, warum die Eltern Mailer den Polizeibeamten auf die Nerven gegangen waren. Sie machten aus allem ein Drama, selbst aus der Tatsache, dass ich bei meiner Ankunft ihren Kaffee abgelehnt hatte.
„Mögen Sie keinen Kaffee?“, hatte Mrs. Mailer ganz verzweifelt gefragt.
„Vielleicht hätten Sie lieber Tee?“, schlug Mr. Mailer vor.
Nachdem ich schließlich erfolgreich ihre Aufmerksamkeit für das eigentliche Thema gewonnen hatte, konnte ich ihnen ein paar einleitende Fragen stellen. Hatte Stephanie irgendwelche Probleme? Nein, absolut nicht. Nahm sie Drogen? Auch nicht. Hatte sie einen Verlobten? Einen festen Freund? Nicht, dass sie wüssten. Könnte es irgendeinen Grund für ihr Verschwinden geben? Keinen.
Stephanies Eltern versicherten mir, es sei nicht die Art ihre Tochter, ihnen irgendetwas zu verheimlichen. Aber ich merkte schon bald, dass das nicht so ganz stimmte.
„Warum ist Stephanie vor zwei Wochen nach Los Angeles gefahren?“, fragte ich sie.
„Nach Los Angeles?“, wiederholte die Mutter erstaunt. „Was meinen Sie damit?“
„Vor zwei Wochen war Stephanie für drei Tage in Kalifornien.“
„Davon wussten wir nichts“, sagte der Vater bedauernd. „Das passt nicht zu ihr, nach Los Angeles zu fahren, ohne uns Bescheid zu geben. Vielleicht hat sie das für die Zeitung gemacht? Sie ist immer sehr verschwiegen, was die Artikel anbelangt, an denen sie arbeitet.“
Ich bezweifelte, dass der Orphea Chronicle es sich leisten konnte, seine Journalisten für eine Reportage ans andere Ende der Staaten zu schicken. Obendrein war ihre Anstellung bei diesem Lokalblatt genau der Punkt, der noch etliche Fragen aufwarf.
„Wann und wie ist Stephanie nach Orphea gekommen?“, erkundigte ich mich.
„Davor hat sie in New York gelebt“, erklärte Trudy Mailer. „Sie studierte Literatur an der Notre-Dame-Universität. Schon als sie noch ganz klein war, wollte sie Schriftstellerin werden. Sie hat bereits Kurzgeschichten veröffentlicht, zwei davon im New Yorker. Nach dem Studium hat sie bei der New York Review of Literature gearbeitet, aber im September wurde ihr gekündigt.“
„Aus welchem Grund?“
„Offenbar wirtschaftliche Schwierigkeiten. Als es dann mit der Anstellung beim Orphea Chronicle klappte, beschloss sie, hierher zurückzukommen. Sie schien froh zu sein, aus Manhattan wegzugehen und wieder in eine ruhigere Gegend zu ziehen.“
Stephanies Vater zögerte kurz, ehe er sagte: „Captain Rosenberg, wir gehören nicht zu denen, die die Polizei wegen jeder Lappalie belästigen, glauben Sie mir. Wir hätten keinen Alarm geschlagen, wenn meine Frau und ich nicht überzeugt wären, dass Stephanie etwas zugestoßen ist. Die Polizei von Orphea hat uns sehr klar gesagt, dass kein Grund für eine Ermittlung vorliegt. Aber selbst wenn sie nur kurz nach New York gefahren ist, hat Stephanie uns immer eine Nachricht geschickt oder nach ihrer Rückkehr angerufen, um uns zu sagen, dass alles bestens ist. Warum sollte sie eine Nachricht an ihren Chefredakteur schicken und an uns nicht? Wenn sie gewollt hätte, dass wir uns keine Sorgen machen, dann hätte sie uns auch Bescheid gesagt.“
„Apropos New York“, hakte ich weiter nach, „warum fährt Stephanie so häufig nach Manhattan?“
„Ich habe nicht gesagt, dass sie oft dort hinfährt“, korrigierte mich ihr Vater, „ich wollte das nur als Beispiel anführen.“
„Sie fährt sogar sehr oft hin“, erwiderte ich. „Meist an den gleichen Wochentagen und zur gleichen Zeit. Als fände dort ein regelmäßiges Treffen statt. Was könnte das sein?“
Die Mailers schienen wieder nicht zu wissen, wovon ich sprach. Trudy Mailer, die begriff, dass sie mich nicht ganz vom Ernst der Lage überzeugt hatten, fragte: „Waren Sie schon in ihrer Wohnung, Captain Rosenberg?“
„Nein, aber ich würde sie mir gern anschauen.“
„Wenn Sie möchten, können wir jetzt zusammen hinfahren. Vielleicht fällt Ihnen ja etwas auf, das wir übersehen haben.“
Ich ging darauf ein, allerdings nur, um mir diesen Fall endgültig aus dem Kopf zu schlagen. Ein Blick in Stephanies Wohnung würde mich überzeugen, dass die Polizei von Orphea recht hatte: Es gab kein Indiz, das auf ein Verbrechen hinwies. Stephanie konnte nach Los Angeles oder New York reisen, so viel sie wollte. Und was ihre Arbeit beim Orphea Chronicle anging, so erschien es plausibel, dass sie nach ihrer Kündigung die erstbeste Gelegenheit ergriffen hatte und dort auf ihre Chance zum Absprung wartete.
Es war genau 20 Uhr, als wir vor dem Haus in der Bendham Road ankamen. Wir gingen alle drei zu Stephanies Wohnung hinauf. Trudy Mailer reichte mir den Schlüssel, aber als ich aufschließen wollte, ließ er sich nicht drehen. Die Tür war gar nicht mehr abgesperrt. Ich spürte, wie mir das Adrenalin in die Adern schoss: Es war jemand in der Wohnung. Womöglich Stephanie?
Ich drückte vorsichtig die Klinke herunter und machte den Eltern ein Zeichen, sie sollten still sein, dann schob ich langsam die Tür auf, die sich geräuschlos öffnen ließ. Sofort bemerkte ich das Durcheinander im Flur: Irgendwer hatte die Wohnung durchsucht.
„Gehen Sie nach unten“, sagte ich leise. „Gehen Sie zurück zum Auto und warten Sie dort auf mich.“
Dennis Mailer nickte und zog seine Frau mit sich fort. Ich griff nach meiner Waffe, ehe ich mich ein paar Schritte weit in die Wohnung vorwagte. Alles war durchwühlt. Ich begann mit der Inspektion des Wohnzimmers. Die Regale waren umgeworfen worden, die Sofakissen aufgeschlitzt. Verschiedene auf dem Boden verstreute Gegenstände weckten meine Neugier, und so bemerkte ich nicht, dass sich mir jemand von hinten näherte. Erst als ich mich umdrehte, um die anderen Zimmer zu begutachten, sah ich direkt vor mir eine schemenhafte Gestalt, die mir Tränengas ins Gesicht sprühte. Meine Augen brannten, ich bekam keine Luft mehr. Dann erhielt ich einen Schlag.
Und alles um mich herum wurde schwarz.
20 Uhr 05 im Café Athena.
Die Liebe kommt zwar vermutlich ohne Vorwarnung, aber es bestand kein Zweifel, dass sie an diesem Abend beschlossen hatte, zu Hause zu bleiben. Josh redete jetzt schon eine Stunde lang ohne Unterlass. Anna hörte ihm längst nicht mehr zu und machte sich einen Spaß daraus, die Ichs zu zählen, die wie kleine Kakerlaken aus seinem Mund kamen und sie jedes Mal etwas mehr anwiderten. Lauren, die nicht mehr wusste, wohin mit sich, war bei ihrem fünften Glas Wein angelangt, während Anna sich mit alkoholfreien Cocktails begnügte.
Schließlich griff Josh, wahrscheinlich von seinem eigenen Wortschwall erschöpft, nach einem Wasserglas und trank es in einen Zug aus. Nach diesem wohltuenden Moment der Stille fragte er Anna etwas herablassend: „Und du, Anna, was machst du so beruflich? Lauren wollte es mir nicht verraten.“
Genau da klingelte das Telefon. Als sie die Nummer auf dem Display sah, begriff sie sofort, dass es sich um einen Notfall handelte.
„Entschuldige“, sagte sie, „den Anruf muss ich annehmen.“
Sie stand vom Tisch auf, entfernte sich wenige Schritte, bevor sie schnell zurückkam und verkündete, sie müsse leider gehen.
„Jetzt schon?“, fragte Josh sichtlich enttäuscht. „Wir hatten noch gar keine Zeit, uns richtig kennenzulernen.“
„Also ich weiß alles über dich, das war … wirklich sehr informativ.“
Sie küsste Lauren und ihren Mann auf die Wange, verabschiedete sich von Josh mit einem Winken, das „auf Nimmerwiedersehen!“ heißen sollte, und weg war sie. Doch offenbar hatte sie es dem armen Josh sehr angetan, denn er folgte ihr und lief neben ihr her über den Gehsteig.
„Soll ich dich nicht irgendwo absetzen?“, fragte er. „Ich habe ein …“
„Mercedes Coupé. Ich weiß, das hast du mir bereits zweimal erzählt. Vielen Dank, wir stehen schon vor meinem Wagen.“
Während sie den Kofferraum öffnete, blieb Josh hinter ihr stehen.
„Ich werde Lauren um deine Nummer bitten. Ich bin oft in dieser Gegend, wir könnten mal einen Kaffee zusammen trinken.“
„Gute Idee“, sagte Anna, damit er endlich ging, während sie eine große Segeltuchtasche öffnete, die fast den ganzen Kofferraum einnahm.
Josh redete unbeirrt weiter: „Du hast mir noch nicht gesagt, was du so beruflich machst.“
Er hatte gerade zu Ende gesprochen, als Anna eine kugelsichere Weste aus ihrer Tasche holte und sie anlegte. Beim Anblick des Reflektorbands mit der Aufschrift
POLICE
fielen Josh fast die Augen aus dem Kopf.
„Ich bin Deputy Chief der Polizei von Orphea“, sagte sie, holte den Holster mitsamt der Dienstwaffe heraus, und befestigte ihn an ihrem Gürtel.
Während sie mit quietschenden Reifen davonfuhr, zuckten bereits die roten und blauen Blitze ihres Signallichts durch die Dämmerung, und die Sirene tat ein Übriges, um die Blicke sämtlicher Passanten auf sie zu ziehen.
Laut Zentrale war ein Beamter der State Police in einem Wohnhaus ganz in der Nähe angegriffen worden. Alle verfügbaren Streifen und die Bereitschaft waren zum Einsatz gerufen worden.
Sie raste mitten auf der Fahrbahn die Hauptstraße hinunter. Immerhin hatte sie Erfahrung mit Notrufeinsätzen zur Hauptverkehrszeit in Manhattan. Die Fußgänger, die gerade die Straße überqueren wollten, sprangen zurück auf den Gehsteig, und zu beiden Seiten wichen die Autos an den Straßenrand aus, sobald sie sie heranrauschen sahen.
Als sie vor dem Haus ankam, war schon eine Polizeistreife vor Ort, und beim Betreten des Gebäudes kam ihr auf der Treppe ein Kollege entgegen, der ihr zurief: „Der Verdächtige ist durch die Hintertür geflohen!“
Anna rannte quer durchs Erdgeschoss zum Notausgang, der zu einem verlassenen Gässchen führte. Dort war es seltsam still: Sie spitzte die Ohren, lauschte auf ein Geräusch, das ihr einen Hinweis liefern könnte, ehe sie weiterlief und an einen kleinen menschenleeren Park kam. Wieder völlige Stille.
Sie glaubte, ein Knacken im Gestrüpp zu vernehmen, zog die Waffe und betrat den Park. Nichts. Plötzlich sah sie einen Schatten vorbeihuschen, machte sich an die Verfolgung, verlor jedoch schnell die Spur. Am Ende blieb sie stehen, orientierungslos und außer Atem. In ihren Schläfen pulsierte das Blut. Da raschelte es kaum hörbar hinter einer Hecke. Langsam und mit klopfendem Herzen ging sie auf das Geräusch zu. Sie sah eine Gestalt, die sich auf leisen Sohlen vorwärtsschlich. Im geeigneten Moment sprang sie vor, zielte auf den Verdächtigen und befahl ihm, mit erhobenen Händen stehen zu bleiben.
Es war Montagne, der sie ebenfalls im Visier hatte. „Scheiße, Anna, bist du bekloppt?“, schrie er.
Mit einem Seufzen steckte sie ihre Waffe in den Holster zurück. „Montagne, was machst du denn hier?“
„Das frag ich dich! Du hast heute Abend gar keinen Dienst!“
In seiner Funktion als stellvertretender Leiter war Montagne ihr Vorgesetzter. Sie war nur zweite stellvertretende Leiterin.
„Ich habe Bereitschaft“, erklärte Anna. „Die Zentrale hat mich gerufen.“
„Und dabei hatte ich ihn schon fast geschnappt!“, entfuhr es Montagne verärgert.
„Ihn geschnappt? Ich war vor dir da. Es war nur ein Streifenwagen vor dem Gebäude.“
„Ich bin von hinten gekommen. Du hättest deine Position über Funk durchgeben müssen. Das macht man so im Team. Man gibt seine Informationen weiter und markiert nicht den Helden.“
„Ich war allein, ich hatte kein Funkgerät.“
„Du hast doch eins in deinem Wagen, oder etwa nicht? Echt, Anna, du nervst! Seit deinem allerersten Tag hier nervst du uns alle!“
Er spuckte aus und ging wieder zum Gebäude zurück.
Anna folgte ihm. Die Bendham Road war mittlerweile vor Einsatzfahrzeugen verstopft.
„Anna! Montagne!“, schnauzte ihr Vorgesetzter Ron Gulliver sie an.
„Er ist uns durch die Lappen gegangen, Chef“, murrte Montagne. „Ich hätte ihn erwischt, hätte Anna nicht wie immer alles versaut.“
„Du kannst mich mal, Montagne“, schrie sie.
„Gleichfalls, Anna“, brüllte Montagne zurück. „Hau ab, das ist mein Fall!“
„Nein, das ist mein Fall! Ich war vor dir da.“
„Tu uns allen einen Gefallen und mach dich vom Acker!“, röhrte Montagne.
Anna drehte sich zu Gulliver um. „Chef … würden Sie sich bitte dazu äußern?“
Gulliver hasste Konflikte. „Du bist nicht im Dienst, Anna“, versuchte er sie zu beschwichtigen.
„Ich habe Bereitschaftsdienst!“
„Überlass bitte Montagne den Fall“, beendete Gulliver die Diskussion.
Montagne setzte ein triumphierendes Lächeln auf, ging ins Haus und ließ Gulliver und Anna einfach stehen.
„Das ist nicht fair, Chef!“, fauchte sie stinksauer. „Und wieso lassen Sie zu, dass Montagne so mit mir redet?“
Gulliver wollte nichts mehr hören. „Komm schon, Anna, mach jetzt keine Szene!“, bat er sie freundlich. „Die Leute schauen schon, das kann ich gerade gar nicht gebrauchen.“
Er musterte die junge Frau neugierig, dann fragte er: „Hattest du eine Verabredung?“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Wegen dem Lippenstift.“
„Ich trage oft Lippenstift.“
„Der ist anders. Du siehst aus, als hättest du ein Date gehabt. Dann geh doch da wieder hin! Wir sehen uns morgen auf dem Revier.“
Gulliver ging ebenfalls ins Haus und ließ sie stehen. Plötzlich hörte sie, dass jemand nach ihr rief, und wandte sich um. Es war Michael Bird, der Chefredakteur des Orphea Chronicle.
„Was ist hier los, Anna?“, fragte er, als er bei ihr angekommen war.
„Dazu werde ich keinen Kommentar abgeben“, antwortete sie, „ich habe hier keinerlei Funktion.“
„Das wirst du aber bald“, sagte er lächelnd.
„Was willst du damit sagen?“
„Na ja, sobald du die Polizeidirektion dieser Stadt übernimmst! Hast du dich deshalb gerade mit Montagne gestritten?“
„Ich habe keine Ahnung, wovon du redest, Michael“, sagte Anna.
„Tatsächlich nicht?“, erwiderte er mit gespieltem Erstaunen. „Jeder weiß, dass du als nächste Polizeichefin gehandelt wirst.“
Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, ging sie zu ihrem Auto, legte die kugelsichere Weste ab, warf sie auf die Rückbank und setzte sich ans Steuer. Sie hätte ins Café Athena zurückkehren können, aber dazu hatte sie überhaupt keine Lust. Stattdessen fuhr sie nach Hause, setzte sich mit einem Glas Wein und einer Zigarette auf ihre Veranda und genoss den lauen Abend.
Anna Kanner
Ich bin am Samstag, dem 14. September 2013, nach Orphea gezogen.
Von New York aus sind es gerade mal zwei Stunden Fahrt, trotzdem hatte ich das Gefühl, am anderen Ende der Welt gelandet zu sein. Aus Manhattans Wolkenkratzerdschungel kam ich nun in diese kleine friedliche Stadt, die vor mir im sanften Sonnenlicht des ausgehenden Tages badete. Nachdem ich von der Hauptstraße abgebogen war, fuhr ich im Schritttempo durch mein neues Viertel und beobachtete dabei die Spaziergänger, die Kinder, die sich vor dem Wagen eines Eisverkäufers drängten, die gewissenhaften Anwohner bei der Pflege ihrer Blumenrabatten. Alles war so ruhig und friedlich.
Schließlich kam ich zu dem Haus, das ich gemietet hatte. Ein neues Leben lag vor mir. Die einzigen Spuren meines alten Lebens waren meine Möbel, die ich mir aus New York von einer Umzugsfirma hatte bringen lassen. Ich sperrte die Eingangstür auf, ging hinein und schaltete im Flur das Licht an. Zu meiner Überraschung musste ich feststellen, dass alles mit meinen Umzugskartons vollgestellt war. Ich rannte durchs Untergeschoss: Die Möbel waren noch eingepackt, nichts war aufgebaut worden, meine sämtlichen Sachen befanden sich nach wie vor in den Kisten, die man wahllos in den Zimmern aufgestapelt hatte.
Ich rief gleich die Umzugsfirma an, aber die Person, die meinen Anruf entgegennahm, antwortete kurz angebunden: „Ich glaube, Sie irren sich, Miss Kanner. Ich habe Ihren Auftrag vor mir liegen, und Sie haben ganz offensichtlich die falschen Dinge angekreuzt. Das Auspacken war in dem von Ihnen gewünschten Leistungsumfang nicht enthalten.“ Sie legte wieder auf. Um dieses Durcheinander nicht länger sehen zu müssen, ging ich aus dem Haus und setzte mich auf die Vortreppe. Ich war schwer genervt. Da näherte sich jemand, ein Bier in jeder Hand. Es war mein Nachbar Cody Illinois. Ich war ihm bereits zweimal begegnet, erst bei der Hausbesichtigung und später dann, als ich nach Unterzeichnung des Mietvertrags zur Umzugsvorbereitung hier gewesen war.
„Ich wollte Sie willkommen heißen, Anna.“
„Das ist aber nett“, antwortete ich mit einem halbherzigen Lächeln.
„Was ist passiert? Sie sehen nicht sehr glücklich aus“, sagte er.
Ich zuckte mit den Schultern. Er reichte mir ein Bier und setzte sich neben mich. Als ich ihm von meinem Missgeschick mit der Umzugsfirma erzählte, bot er mir an, mir beim Kisten-Auspacken zu helfen. Wenig später bauten wir in dem Raum, der mein Schlafzimmer werden sollte, das Bett auf. Ich fragte ihn: „Was kann ich tun, um mich hier zu integrieren?“
„Da müssen Sie sich gar keine Gedanken machen, Anna. Die Leute werden Sie mögen. Aber Sie können sich trotzdem nächsten Sommer als freiwillige Helferin beim Theaterfestival engagieren. Das schweißt zusammen.“
Cody war der erste Mensch, mit dem ich in Orphea Freundschaft schloss. Er hatte eine wunderbare Buchhandlung auf der Hauptstraße, die schon bald zu einem zweiten Zuhause für mich wurde.
An jenem Abend, als Cody längst gegangen war und ich gerade die Kleiderkartons in Angriff nahm, erhielt ich einen Anruf von meinem Ex-Mann.
„Im Ernst jetzt, Anna?“, fragte er, sobald ich dranging. „Du bist aus New York weggezogen, ohne dich von mir zu verabschieden?“
„Ich hab mich schon vor langer Zeit von dir verabschiedet, Mark.“
„Aua! Das tut weh!“
„Warum rufst du an?“
„Ich wollte mit dir reden, Anna.“
„Mark, ich hab keine Lust zu ›reden‹. Wir werden uns nicht mehr zusammenraufen. Es ist vorbei.“
Er ignorierte meine Bemerkung. „Ich war heute Abend mit deinem Vater essen. Es war wunderbar.“
„Lass meinen Vater in Ruhe.“
„Ist es meine Schuld, dass er mich mag?“
„Was soll das, Mark? Willst du dich rächen?“
„Hast du schlechte Laune, Anna?“
„Ja, ich hab schlechte Laune“, schnauzte ich ihn an. „Meine Möbel sind in Einzelteile zerlegt, ich habe keinen Schimmer, wie ich sie wieder zusammenbauen soll, und habe daher wirklich Besseres zu tun, als dir zuzuhören!“
Ich bereute diese Worte sofort, denn er packte die Gelegenheit beim Schopf: „Brauchst du Hilfe? Bin schon unterwegs!“
„Nein, bloß nicht!“
„Ich bin in zwei Stunden bei dir. Wir werden die ganze Nacht deine Möbel aufbauen und die Welt neu erfinden … wie in den guten alten Zeiten.“
„Mark, ich verbiete dir zu kommen.“
Ich beendete die Verbindung und schaltete mein Telefon aus, um meine Ruhe zu haben. Aber am nächsten Morgen erlebte ich eine unliebsame Überraschung, denn Mark stand vor meiner Tür.
„Was willst du hier?“, raunzte ich ihn an.
Er antwortete mit einem breiten Lächeln. „Was für ein warmherziger Empfang! Ich wollte mit dir die Möbel aufbauen.“
„Wer hat dir meine Adresse gegeben?“
„Deine Mutter.“
„Das darf doch nicht wahr sein!“
„Anna, sie träumt davon, uns wieder zusammen zu sehen. Sie möchte Enkelkinder!“
„Leb wohl, Mark.“
Er hielt die Tür fest, als ich sie ihm gerade vor der Nase zuschlagen wollte.
„Warte, Anna. Lass mich dir wenigstens helfen.“
Ich brauchte viel zu dringend Unterstützung, um dieses Angebot auszuschlagen. Und im Übrigen war er jetzt ja sowieso schon da. Er spielte den perfekten Hausmann: Schleppte meine Möbel rum, hängte Bilder auf und schloss eine Deckenlampe an.
„Wirst du hier allein leben?“, fragte er mich schließlich zwischen zwei Einsätzen mit der Bohrmaschine.
„Ja, Mark. Hier beginnt mein neues Leben.“
Der folgende Montag war mein Arbeitsantritt in der Dienststelle. Es war acht Uhr morgens, als ich in Zivil beim Empfangsschalter erschien.
„Wollen Sie Anzeige erstatten?“, fragte mich ein Polizist, ohne die Nase von seiner Zeitung zu heben.
„Nein“, antwortete ich, „ich bin Ihre neue Kollegin.“
Er schaute auf, lächelte mir freundlich zu, und dann rief er in den Raum: „Jungs, sie ist da!“
Ich sah eine Horde von Polizisten auftauchen, die mich beäugten wie ein exotisches Tier im Zoo. Polizeichef Gulliver kam und reichte mir die Hand: „Willkommen, Anna.“
Ich wurde herzlich empfangen. Ich begrüßte jeden einzelnen der neuen Kollegen, man bot mir Kaffee an und stellte mir viele Fragen. Einer krähte fröhlich: „Mensch, Jungs, den Weihnachtsmann gibt’s doch: Da geht so ein alter, buckliger Bulle in Rente und für ihn kommt ein hübsches junges Ding!“ Sie brachen alle in Gelächter aus. Leider sollte diese friedliche Stimmung nicht lange anhalten.
Jesse Rosenberg
Freitag, 27. Juni 2014
29 Tage vor der Premiere
Früh am Morgen war ich wieder auf dem Weg nach Orphea.
Ich wollte unbedingt verstehen, was am Vortag in Stephanie Mailers Wohnung vorgefallen war. Für Polizeichef Gulliver handelte es sich um ein banales Einbruchsdelikt, doch daran glaubte ich keinen Augenblick. Die Kollegen von der Spurensicherung waren bis spät in der Nacht dort geblieben, um mögliche Fingerabdrücke zu sichern, aber sie hatten nichts gefunden. Die Brutalität, mit der man mich niedergeschlagen hatte, ließ lediglich vermuten, dass der Angreifer ein Mann war.
Wir mussten Stephanie finden. Ich spürte es, die Zeit war knapp. Ich fuhr jetzt auf der Route 17 und gab auf der letzten geraden Strecke vor der Stadt Gas, ohne Blaulicht oder Sirene eingeschaltet zu haben.
Erst als ich am Ortseingangsschild vorbeiraste, bemerkte ich das Zivilfahrzeug der Polizei, das sich dahinter versteckt hatte und sofort Jagd auf mich machte. Ich hielt auf dem Seitenstreifen und sah im Rückspiegel eine hübsche junge Frau in Uniform aus dem Auto steigen. So lernte ich die erste Person kennen, die bereit sein sollte, mir dabei zu helfen, diesen Fall aufzudröseln: Anna Kanner.
Als sie sich meinem Wagen näherte, zückte ich meine Polizeimarke und hielt sie ihr lächelnd hin.
„Captain Jesse Rosenberg“, las sie. „Ein Notfall?“
„Habe ich Sie gestern nicht kurz auf der Bendham Road gesehen? Ich bin der Polizist, der sich hat niederschlagen lassen.“
„Deputy Chief Anna Kanner“, stellte die junge Frau sich vor. „Wie geht es Ihrem Kopf, Captain?“
„Gut, danke. Aber ich gestehe, was sich in dieser Wohnung zugetragen hat, fand ich recht verstörend. Polizeichef Gulliver meint zwar, es handle sich um einen Einbruchsdiebstahl, aber daran glaube ich keine Sekunde. Ich denke, da steckt etwas ganz anderes dahinter.“
„Gulliver ist nicht gerade der Hellste“, sagte Anna. „Erzählen Sie mir doch Ihre Theorie dazu, das interessiert mich.“
Da begriff ich, dass Anna in Orphea eine wertvolle Verbündete sein könnte. Ich schlug ihr also vor: „Anna, wenn du mir erlaubst, dich zu duzen, darf ich dich dann auf einen Kaffee einladen und dir alles erzählen?“
Später sollte ich feststellen, dass sie obendrein noch eine hervorragende Polizistin war.
Ein paar Minuten später erklärte ich Anna am Tisch eines kleinen ruhigen, direkt an der Straße gelegenen Diners, dass Stephanie Mailer Anfang der Woche auf mich zugekommen war, um mir von ihrer Recherche zum Vierfachmord von 1994 zu erzählen, und damit alles ins Rollen gebracht hatte.
„Was war das denn für ein Mord?“, fragte Anna.
„Damals sind der Bürgermeister von Orphea und seine Familie umgebracht worden“, erklärte ich. „Außerdem eine Passantin, eine Joggerin. Ein wahres Gemetzel. Es war der Eröffnungsabend des Theaterfestivals von Orphea. Und vor allem war es mein erster großer Fall. Mein damaliger Kollege Derek Scott und ich haben den Fall nach monatelangen Ermittlungen schließlich aufgeklärt. Aber letzten Montag kam Stephanie Mailer und erklärte mir, wir hätten uns geirrt, der Fall sei nicht gelöst; wir hätten den falschen Täter erwischt. Seither ist sie verschwunden, und gestern ist nun ihre Wohnung durchwühlt worden.“
Anna hörte sich meinen Bericht aufmerksam an, und nach unserem Kaffee gingen wir gemeinsam in Stephanies Wohnung, die zwar zugesperrt und versiegelt war, deren Schlüssel mir Mr. und Mrs. Mailer aber überlassen hatten.
Dort war alles auf den Kopf gestellt worden, und der einzige konkrete Hinweis, den wir hatten, war die Tatsache, dass man die Wohnung nicht aufgebrochen hatte.
Ich sagte zu Anna: „Laut Aussage der Eltern gab es nur einen Ersatzschlüssel, und der befand sich in ihrem Besitz. Im Klartext heißt das: Die Person, die sich hier eingeschlichen hat, muss Stephanies eigenen Schlüssel benutzt haben.“
Da ich zuvor die Nachricht erwähnt hatte, die Stephanie an Michael Bird, den Chefredakteur des Orphea Chronicle, geschickt hatte, meinte Anna: „Wenn jemand Stephanies Schlüssel hat, dann hat dieser Jemand vielleicht auch ihr Handy.“
„Willst du damit sagen, dass sie die Nachricht gar nicht selbst verschickt hat? Aber wer dann?“
„Vielleicht jemand, der Zeit gewinnen wollte?“
Ich zog den Briefumschlag, den ich am Vortag aus dem Briefkasten gefischt hatte, aus meiner Hosentasche und reichte ihn Anna.
„Das ist Stephanies Kreditkartenauszug“, erklärte ich. „Sie ist Anfang des Montags nach Los Angeles geflogen, und wir müssen noch herausfinden, worum es dabei ging. Soweit ich das überprüfen konnte, ist sie seither nicht mehr in ein Flugzeug gestiegen. Falls sie freiwillig die Stadt verlassen hat, dürfte sie also das Auto genommen haben. Ich habe den Wagen zur Fahndung ausschreiben lassen. Sollte sie irgendwo unterwegs sein, wird die Autobahnpolizei sie schnell finden.“
„Das ging ja fix!“, sagte Anna beeindruckt.
„Wir haben keine Zeit zu verlieren“, antwortete ich. „Ich habe auch eine Kopie ihrer Telefonrechnungen sowie ihrer Kreditkartenabrechnung der vorigen Monate beantragt. Die bekomme ich hoffentlich heute Abend.“
Anna warf einen kurzen Blick auf den Kontoauszug. „Letzten Montagabend um 21 Uhr 55 wurde ihre Kreditkarte zum letzten Mal benutzt, im Kodiak Grill. Das Restaurant liegt an der Hauptstraße. Wir sollten da mal hingehen. Vielleicht ist jemandem etwas aufgefallen.“
Nachdem der Wirt des Kodiak Grill sich den Personalplan für die Woche angesehen hatte, zeigte er uns, wer von den anwesenden Mitarbeitern am Montagabend Dienst gehabt hatte. Eine der von uns befragten Bedienungen erkannte Stephanie auf dem Foto, das wir ihr zeigten.
„Ja, ich erinnere mich an sie. Sie war Anfang der Woche hier. Eine hübsche junge Frau, ganz allein.“
„Ist Ihnen etwas Besonderes an ihr aufgefallen, dass Sie sich an sie erinnern?“
„Sie war nicht zum ersten Mal hier. Sie wollte immer den gleichen Tisch. Sie sagte, sie warte auf jemanden, aber der kam nie.“
„Und Montag, was geschah da?“
„Sie kam gegen 18 Uhr, wir hatten gerade erst geöffnet. Sie hat erst gewartet. Schließlich hat sie einen Cesar Salad und eine Cola bestellt, und als sie aufgegessen hatte, ist sie gegangen.“
„Gegen 22 Uhr, stimmt.“
„Möglich. Auf die Uhrzeit habe ich nicht geachtet, aber sie ist lange geblieben. Das ist alles, woran ich mich erinnere.“
Als wir aus dem Kodiak Grill kamen, fiel uns auf, dass sich gleich daneben eine Bank mit einem Bankautomaten befand.
„Dann muss es dort auch Kameras geben“, sagte Anna. „Vielleicht ist Stephanie am Montag gefilmt worden.“
Wenige Minuten später standen wir in dem engen Überwachungsraum der Bank, wo uns ein Mitarbeiter die verschiedenen Sichtfelder seiner Kameras zeigte. Eine filmte den Gehsteig, und man konnte die Terrasse des Kodiak Grill sehen. Er führte uns die Videoaufnahmen von Montag ab 18 Uhr vor. Ich sah mir auf dem Bildschirm die vorbeikommenden Passanten genau an, und plötzlich entdeckte ich sie.
„Stop!“, schrie ich. „Da ist sie, das ist Stephanie.“
Der Sicherheitsbeamte hielt das Video an.
„Und jetzt bitte langsam rückwärts laufen lassen.“
Auf dem Bildschirm ging Stephanie rückwärts. Die Zigarette, die sie im Mund hatte, wurde wieder länger, sie zündete sie schließlich mit einem goldenen Feuerzeug an, nahm sie zwischen die Finger und steckte sie in eine Zigarettenschachtel, die sie wieder in ihre Tasche packte. Sie ging noch weiter zurück, verließ den Gehsteig und lief zu einem kleinen kompakten Auto, in das sie einstieg.
„Das ist ihr Auto“, sagte ich. „Ein dreitüriger blauer Mazda. Am Montag habe ich sie auf dem Parkplatz der State Police in genau diesen Wagen einsteigen sehen.“
Ich bat den Sicherheitsbeamten, die Sequenz noch einmal vorwärts abzuspielen, und man sah Stephanie aus dem Auto steigen, sich eine Zigarette anzünden, rauchend ein paar Schritte vor dem Lokal auf und ab gehen, bevor sie den Kodiak Grill betrat.
Dann spulten wir die Aufnahme bis 21 Uhr 55 vor, der Uhrzeit, zu der Stephanie ihr Abendessen mit der Kreditkarte bezahlt hatte. Zwei Minuten später sah man sie wieder auftauchen. Sie wirkte nervös und ging zu ihrem Auto. Als sie gerade einsteigen wollte, holte sie ihr Telefon aus der Tasche. Jemand rief an. Sie nahm den Anruf entgegen, das Gespräch war kurz. Offenbar sagte sie selbst nichts, sondern hörte nur zu. Nachdem sie das Telefonat beendet hatte, setzte sie sich ins Auto und verharrte kurz reglos. Durch das Autofenster war sie deutlich zu sehen. Dann suchte sie offenbar eine Nummer in den Kontakten ihres Handys und rief an, brach den Anruf aber sofort wieder ab. Als ob er nicht durchgehen würde. Dann blieb sie ein paar Minuten hinter dem Steuer ihres Wagens sitzen und wartete. Sie wirkte nervös. Sie rief ein zweites Mal an, und diesmal sah man sie reden. Das Gespräch dauerte etwa zwanzig Sekunden. Schließlich fuhr sie los und verschwand Richtung Norden.
„Das ist wahrscheinlich die letzte Aufnahme von Stephanie Mailer“, murmelte ich.
Wir verbrachten den halben Nachmittag mit der Befragung von Stephanies Freunden. Die meisten wohnten in Sag Harbor, dem Ort, aus dem sie stammte.
Keiner von ihnen hatte seit Montag etwas von Stephanie gehört, und alle machten sich Sorgen, zumal die Eltern Mailer sie auch alle angerufen hatten. Sie hatten versucht, sie telefonisch zu erreichen, per Mail, über die sozialen Medien, hatten bei ihr an die Tür geklopft, alles ohne Erfolg.
Aus diesen Gesprächen konnten wir schließen, dass Stephanie in jeder Hinsicht eine tolle Person war. Sie nahm keine Drogen, sie trank nicht übermäßig viel und verstand sich mit allen gut. Ihre Freunde wussten mehr über ihr Liebesleben als ihre Familie.
Eine ihrer Freundinnen versicherte uns, sie habe kürzlich einen Freund gehabt: „Ja, da gab es einen Typen, einen gewissen Sean, den sie eines Abends angeschleppt hat. Das war seltsam.“
„Was war daran seltsam?“
„Die Chemie zwischen den beiden. Irgendwas stimmte da nicht.“
Eine andere behauptete, Stephanie sei von ihrer Arbeit total vereinnahmt worden: „In letzter Zeit bekam man sie fast gar nicht mehr zu Gesicht. Sie sagte, sie habe unheimlich viel zu tun.“
„Und woran arbeitete sie?“
„Das weiß ich nicht.“
Eine dritte erzählte uns etwas über ihre Reise nach Los Angeles: „Ja, sie ist vor vierzehn Tagen nach Los Angeles geflogen, hat mir aber gesagt, ich solle nicht darüber reden.“
„Weshalb war sie dort?“
„Das weiß ich nicht.“
Der Freund, der sie als Letztes gesehen hatte, war Timothy Volt. Stephanie und er hatten sich am vorigen Sonntag getroffen.
„Sie hat mich besucht“, erzählte er uns. „Ich war allein zu Hause, wir haben ein paar Gläser getrunken.“
„Kam sie Ihnen nervös vor, beunruhigt?“, fragte ich.
„Nein.“
„Was für eine Frau war Stephanie?“
„Sie war genial, super brillant, aber sie hatte einen ziemlich schwierigen Charakter und konnte verdammt dickköpfig sein. Wenn sie sich was in den Kopf gesetzt hatte, dann zog sie es mit allen Mitteln durch.“
„Hat sie mit Ihnen darüber geredet, woran sie zurzeit arbeitet?“
„Ein bisschen. Sie sagte, sie sei da an einem ganz großen Projekt dran, hat sich aber nicht über Details ausgelassen.“
„Was für ein Projekt?“
„Ein Buch. Jedenfalls ist sie dafür hier in die Gegend zurückgekehrt.“
„Wieso das?“
„Stephanie ist unglaublich ehrgeizig. Sie träumt davon, eine berühmte Schriftstellerin zu werden, und das wird ihr auch gelingen. Ihren Lebensunterhalt hat sie mit einem Nebenjob bestritten, bis letzten September hat sie bei einer Literaturzeitschrift gearbeitet … der Name fällt mir jetzt gerade nicht ein …“
„Die New York Review of Literature.“
„Ja genau, das war’s. Aber das war wirklich nur ein Job, mit dem sie ihre Rechnungen bezahlte. Als sie gefeuert wurde, sagte sie, sie wolle zurück in die Hamptons ziehen, um ein ruhiges Leben zu führen und schreiben zu können. Ich weiß noch gut, wie sie eines Tages zu mir sagte: ›Ich bin hier, um ein Buch zu schreiben.‹ Ich glaube, sie brauchte Zeit und Ruhe, und das hat sie hier auch gefunden. Denn warum sonst hätte sie einen Job als Journalistin bei einer Lokalzeitung annehmen sollen? Ich sag Ihnen mal was, das ist eine ganz Ehrgeizige. Die will hoch hinaus. Sie ist nur nach Orphea gekommen, weil sie einen guten Grund dazu hatte. Vielleicht konnte sie sich in dem New Yorker Trubel nicht konzentrieren? Das hört man doch oft, dass Schriftsteller sich aufs Land zurückziehen.“
„Wo hat sie geschrieben?“
„Bei sich zu Hause, nehme ich mal an.“
„Auf einem Computer?“
„Keine Ahnung. Warum?“
Nachdem wir uns von Timothy Volt verabschiedet hatten, machte Anna mich darauf aufmerksam, dass es bei Stephanie keinen Computer gegeben hatte.
„Vielleicht hat ihn ja der ›Besucher‹ von gestern Abend mitgenommen.“
Da wir sowieso schon in Sag Harbor waren, gingen wir auch bei Stephanies Eltern vorbei. Die hatten noch nie etwas von einem Freund namens Sean gehört, und Stephanie hatte keinen Computer bei ihnen gelassen. Vorsichtshalber fragten wir, ob wir einen Blick in Stephanies Zimmer werfen könnten. Sie wohnte schon seit dem Abschluss der Highschool nicht mehr darin, und genau wie damals sah es noch aus: Poster an den Wänden, Plüschtiere auf dem Bett, Trophäen von Sportwettkämpfen und Schulbücher im Regal.
„Stephanie lebt schon seit Jahren nicht mehr hier“, teilte uns Trudy Mailer mit. „Nach der Highschool ging sie zur Uni, und dann blieb sie bis zu ihrer Kündigung bei der Review of Literature in New York.“
„Gibt es einen bestimmten Grund, warum Stephanie ausgerechnet nach Orphea gezogen ist?“, fragte ich, ohne zu verraten, was Timothy Volt mir anvertraut hatte.
„Wie ich Ihnen schon sagte, sie verlor in New York ihren Job und bekam dann Lust, in die Hamptons zurückzukehren.“
„Aber warum Orphea?“, beharrte ich.
„Weil das die größte Stadt in der Gegend ist, nehme ich mal an.“
Ich wagte zu fragen: „Und in New York, Mrs. Mailer, hatte Stephanie da Feinde? Hatte sie mit irgendjemandem Streit?“
„Nein, nichts von alledem.“
„Lebte sie allein?“
„Sie hatte eine Mitbewohnerin, eine junge Frau, die auch für die New York Review of Literature arbeitete. Alice Filmore. Wir sind ihr einmal begegnet, nachdem Stephanie beschlossen hatte, aus New York wegzugehen, und wir ihr beim Umzug halfen. Sie hatte wirklich nur ein bisschen Kleinkram, wir haben alles direkt in ihre Wohnung in Orphea bringen lassen.“
Da wir weder bei ihr noch bei ihren Eltern irgendetwas gefunden hatten, beschlossen wir, nach Orphea zurückzufahren und uns den Computer anzuschauen, den Stephanie bei der Zeitung benutzt hatte.
Es war 17 Uhr, als wir in den Büroräumen des Orphea Chronicle ankamen. Michael Bird führte uns durch die Arbeitszimmer seiner Angestellten. Er zeigte uns Stephanies Schreibtisch, der sehr ordentlich aufgeräumt war, darauf ein Bildschirm, eine Tastatur, eine Packung Taschentücher, eine Unmenge identischer Kugelschreiber in einer Teetasse, ein Notizblock und ein paar lose Blätter. Ich sah sie schnell durch, ohne etwas sonderlich Interessantes zu finden, und fragte dann: „Hat jemand in den letzten Tagen Zugang zu ihrem Computer gehabt?“
Ich drückte auf den Knopf der Tastatur, der den Rechner einschalten sollte.
„Nein“, antwortete Michael, „jeder Computer ist durch ein individuelles Passwort geschützt.“
Da der Bildschirm schwarz blieb, versuchte ich es erneut, während ich nachhakte: „Es ist also ausgeschlossen, dass jemand ohne Stephanies Wissen ihren Computer durchsucht hat?“
„Völlig ausgeschlossen“, versicherte Michael. „Nur Stephanie kennt den Code. Niemand sonst, nicht einmal unser Informatiker. Ich weiß übrigens nicht, wie Sie ohne Passwort an die Inhalte auf ihrem Computer rankommen wollen.“
„Wir haben da so unsere Spezialisten, die werden sich der Sache annehmen, machen Sie sich mal keine Gedanken. Aber es wäre schön, wenn er sich wenigsten anschalten ließe.“
Ich bückte mich unter den Schreibtisch, um nachzuschauen, ob der Computer auch tatsächlich an den Bildschirm angeschlossen war, aber da war gar keiner. Da war nichts.
Ich hob den Kopf und fragte: „Wo ist Stephanies Computer?“
„Na ja, da unten, oder nicht?“, antwortete Michael.
„Nein, hier ist er nicht!“
Michael und Anna bückten sich nun auch und mussten feststellten, dass es da nur ins Leere hängende Kabel gab.
Michael rief wie vor den Kopf geschlagen: „Jemand hat Stephanies Computer geklaut!“
Um 18 Uhr 30 parkte eine ganze Flotte von Fahrzeugen der Polizei von Orphea und der State Police vor dem Gebäude des Orphea Chronicle.
Drinnen bestätigte uns ein Beamter der Spurensicherung, dass tatsächlich ein Einbruch stattgefunden hatte. Michael, Anna und ich folgten ihm im Gänsemarsch hinunter in den Technikraum im Untergeschoss, der auch als Abstellkammer und Notausgang diente. Im hinteren Teil öffnete sich eine Tür auf eine steile Treppe, die zur Straße hinaufführte. Das Glas war eingeschlagen worden, anschließend hatte der Eindringling nur noch die Hand durchstrecken, von innen die Klinke herunterdrücken und die Tür öffnen müssen.
„Betreten Sie nie diesen Raum?“, fragte ich Michael.
„Nein, hier ist nur das Archiv, und da schaut nie jemand was nach.“
„Es gibt weder eine Alarmanlage noch Kameras?“, erkundigte sich Anna.
„Nein, wer sollte das bezahlen? Glauben Sie mir, wenn wir Geld hätten, würden wir als Erstes die Leitungen erneuern lassen.“
„Wir haben versucht, die Spuren auf den Türklinken zu sichern“, erklärte der Kriminaltechniker, „aber es gibt hier so viele Fingerabdrücke und so viel Schmutz aller Art, das ist so gut wie unverwertbar. An Stephanies Schreibtisch haben wir auch nichts gefunden. Wenn Sie mich fragen, der Täter ist hochgegangen, hat sich Stephanies Computer gekrallt und ist dann auf demselben Weg wieder verschwunden.“
Wir gingen zurück nach oben.
„Michael“, sagte ich, „könnte das auch ein Kollege aus der Redaktion getan haben?“
„Aber nicht doch!“, erwiderte Michael entrüstet. „Wie kommen Sie auf so eine Idee? Ich habe größtes Vertrauen in meine Mitarbeiter.“
„Aber wie sollte jemand, der nicht zur Zeitung gehört, wissen, welcher Computer Stephanies ist?“
„Ich habe keine Ahnung“, sagte Michael seufzend.
„Wer ist morgens immer als Erster da?“, fragte Anna.
„Shirley. Normalerweise schließt sie auf.“
Wir ließen Shirley kommen. Ich fragte sie: „Ist Ihnen an einem der letzten Tage morgens bei Ihrer Ankunft etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“
Shirley runzelte erst zweifelnd die Stirn, überlegte dann kurz, und plötzlich erhellte sich ihre Miene.
„Ich habe nichts gesehen. Aber Newton, einer der Journalisten, hat mir tatsächlich am Dienstagmorgen gesagt, sein Computer sei eingeschaltet gewesen. Er wisse genau, dass er ihn am Abend zuvor ausgemacht hatte, und er sei als Letzter gegangen. Er hat mir eine Szene gemacht und behauptet, jemand hätte ohne sein Wissen seinen Computer benutzt, aber ich nahm an, dass er doch einfach vergessen hatte, ihn auszumachen.“
„Welches Büro ist das von Newton?“, fragte ich.
„Das erste neben dem von Stephanie.“
Ich drückte auf den Einschaltknopf, denn ich wusste, dass keine verwertbaren Fingerabdrücke mehr darauf sein konnten, da er in der Zwischenzeit verwendet worden war. Der Bildschirm leuchtete auf:
Benutzer: Newton
PASSWORT:
„Er hat einfach einen Computer nach dem anderen durchprobiert, bis er den richtigen gefunden hatte.“
„Was beweist, dass es niemand aus der Redaktion war“, warf Michael erleichtert ein.
„Was vor allem heißt, dass der Einbruch in der Nacht von Montag auf Dienstag stattgefunden hat. Also in der Nacht, in der Stephanie verschwunden ist.“
„Verschwunden?“, wiederholte Michael verdutzt. „Was meinen Sie damit?“
Ich antwortete ihm mit einer Gegenfrage: „Michael, könnten Sie mir alle Artikel ausdrucken, die Stephanie geschrieben hat, seit sie hier bei der Zeitung arbeitet?“
„Selbstverständlich. Aber wollen Sie mir nicht verraten, was hier vor sich geht, Captain? Denken Sie, dass Stephanie etwas zugestoßen ist?“
„Das denke ich tatsächlich. Und zwar etwas Schlimmes.“
Als wir die Redaktion verließen, begegneten wir Polizeichef Gulliver und Alan Brown, dem Bürgermeister von Orphea. Sie standen auf der Straße und besprachen die Lage.
Der Bürgermeister erkannte mich sofort wieder. „Sie hier?“, fragte er erstaunt. Es klang, als wäre er gerade einem Gespenst begegnet.
„Guten Tag, Herr Bürgermeister. Ich hätte Sie auch lieber unter anderen Umständen wiedergesehen.“
„Von welchen Umständen reden Sie? Was ist hier los? Seit wann setzt sich die State Police wegen einem banalen Einbruch in Bewegung?“
„Sie sind gar nicht befugt, hier einzugreifen!“, schob Gulliver hinterher.
„In dieser Stadt wird jemand vermisst, Polizeichef Gulliver, und vermisste Personen fallen in den Zuständigkeitsbereich der State Police.“
„Eine vermisste Person?“, wiederholte der Chief aufgebracht. „Dafür gibt es nicht den geringsten Hinweis, Captain Rosenberg! Haben Sie schon den Staatsanwalt angerufen? Das hätten Sie längst tun müssen, wenn Sie Ihrer Sache so sicher sind! Vielleicht sollte ich dort mal anrufen?“
Ich ging, ohne ihn einer Antwort zu würdigen.
In jener Nacht wurde die Feuerwehr von Orphea zu einem Brand in der Bendham Road 77 gerufen, der Adresse von Stephanie Mailer.
„Joel Dickers Talent besteht darin, trotz großer Komplexität den Leser jederzeit zu unterhalten. Seine Protagonisten sind vielschichtig, die Wendungen rasant – ohne ins Lächerliche abzudriften. Sein Stil ist jugendlich frisch. Er schafft es, dass selbst Gelegenheitsleser die 672 Seiten verschlingen.“
„Falsche Fährten, fiese Finten. Joel Dicker tanzt seiner großen Fangemeinde erneut mit diebischer Freude auf der Nase herum.“
„(Dicker) schreibt anspruchsvoll und gleichzeitig schnörkellos. Auch wer nicht so viel liest, muss keine Angst vor diesem Buch haben. Man rauscht förmlich durch diesen Wälzer und tappt wie die Ermittler sehr lange völlig im Dunkeln. Einen so fantastischen Autor wie Joel Dicker gibt es nicht so oft und Das Verschwinden der Stephanie Mailer ist ein Buch für meine ewige Bestenliste.“
»Joël Dicker bleibt seinem Setting treu: wieder spielt die Geschichte in den idyllischen Hamptons an der Ostküste, wieder ist ein kleines Städtchen Schauplatz von Intrigen und Machtgier, wieder führen Spuren eines alten Falls bis in die Gegenwart. Ähnlich wie im Bestseller Harry Quebert treibt Dicker die Geschichte rasant vorwärts und überrascht immer wieder mit neuen Enthüllungen.«
„So mitreißend wie eine gelungene Fernsehserie.“
„›Das Verschwinden der Stephanie Mailer‹ ist Krimi und Sittengemälde zugleich, raffiniert pendelnd zwischen verschiedenen Zeitebenen und Erzählperspektiven.“
„Raffiniert spinnt Bestsellerautor Joel Dicker seine Handlung, springt zwischen verschiedenen Zeitebenen hin und her. Das macht diesen Krimi zu etwas Besonderem.“
„Dicker ist ein geschickter Arrangeur, der mehrere Handlungsebenen zugleich am Laufen halten kann, der Fährten legen und verfolgen kann, die sich später als Irrwege erweisen. Seine Geschichte und deren überraschende Auflösung hat Dicker voll und ganz im Griff.“
„Atemberaubend!“
„überraschende Wendungen, Perspektivenwechsel, exaktes Timing, viele Teufel im Detail. Geschickt gemacht. Spannend bis zum Schluss“
„Joel Dicker bereichert seinen Roman mit derart verrückten Typen, dass ein ganz eigenes Biotop entsteht … Dreh- und Angelpunkt dieser Kalamitäten ist ein Theaterstück, von dem unklar ist, ob es überhaupt existiert. Der Autor will im Rahmen der Aufführung den Namen des Mörders verraten. Kein Wunder, dass die Karten ausverkauft sind.“
„In ›Die Wahrheit über Harry Quebert‹ verschränkte Joel Dicker Kunstkrimi und Krimikunst … Auch Das Verschwinden der Stephanie Mailer folgt dem etablierten Muster. Wiederholungstäter Dicker versteht sich auf Trickbetrug. Und man geht ihm gern auf den Leim.“
„Dicker rollt ein Geflecht aus Handlungssträngen, Rückblenden und Erzählperspektiven aus, das den Leser in den Bann zieht. Ein Buch wie ein Magnet!“
„Ein echter Page-Turner! Eben ein Joel Dicker!“
„Seine Romane machen süchtig.“
„Packend!“
„Ein wahrhaft amüsantes Buch.“
„Joel Dicker dokumentiert ›Das Verschwinden der Stephanie Mailer‹ so minutiös, als sei man selbst mittendrin im Geschehen.“
„Kein Krimi von der Stange, sondern ein spannend und kunstvoll erzählte Geschichte voller zum Teil absurder Überraschungen.“
„Die idyllischen Hamptons sind Schauplatz einer fatalen Intrige, die Joel Dicker mit einzigartigem Gespür für Tempo erzählerische Raffinesse entfaltet.“
„Joel Dicker beweist auch mit seinem jüngsten Roman, dass er ein geschickter Geschichtenerzähler ist.“
„Dicker überrascht seine Leser mit immer neuen Wendungen und einem Faible für absurde Situationen. Ein raffiniertes Mordrätsel!“
„Raffiniertes Mordrätsel“
„Ein großartiges Werk, das man nur so verschlingt. Komplex und undurchsichtig, absolute Klasse.“
„Temporeicher Kriminalroman mit vielen Wendungen“
„Dicker schreibt anspruchsvoll, aber schnörkellos, temporeich und raffiniert. Er spinnt ein Netz voll überraschender Wendungen, das den Leser gefangen nimmt. Große Unterhaltung!“
„Temporeich, mit geschickt eingebauten Cliffhangern, die aber keineswegs so inflationär sind wie etwa bei Dan Brown, nimmt Dicker seine Leserschaft mit auf eine atemberaubende Zeitreise. Er stellt die Weichen neu, er stellt sie anders – und er stellt sie zuweilen falsch. Darauf beruht ja all seine Cleverness und seine so ausgeprägte Lust am Tarnen und Täuschen.“
DATENSCHUTZ & Einwilligung für das Kommentieren auf der Website des Piper Verlags
Die Piper Verlag GmbH, Georgenstraße 4, 80799 München, info@piper.de verarbeitet Ihre personenbezogenen Daten (Name, Email, Kommentar) zum Zwecke des Kommentierens einzelner Bücher oder Blogartikel und zur Marktforschung (Analyse des Inhalts). Rechtsgrundlage hierfür ist Ihre Einwilligung gemäß Art 6I a), 7, EU DSGVO, sowie § 7 II Nr.3, UWG.
Sind Sie noch nicht 16 Jahre alt, muss zwingend eine Einwilligung Ihrer Eltern / Vormund vorliegen. Bitte nehmen Sie in diesem Fall direkt Kontakt zu uns auf. Sie selbst können in diesem Fall keine rechtsgültige Einwilligung abgeben.
Mit der Eingabe Ihrer personenbezogenen Daten bestätigen Sie, dass Sie die Kommentarfunktion auf unserer Seite öffentlich nutzen möchten. Ihre Daten werden in unserem CMS Typo3 gespeichert. Eine sonstige Übermittlung z.B. in andere Länder findet nicht statt.
Sollte das kommentierte Werk nicht mehr lieferbar sein bzw. der Blogartikel gelöscht werden, ist auch Ihr Kommentar nicht mehr öffentlich sichtbar.
Wir behalten uns vor, Kommentare zu prüfen, zu editieren und gegebenenfalls zu löschen.
Ihre Daten werden nur solange gespeichert, wie Sie es wünschen. Sie haben das Recht auf Auskunft, auf Berichtigung, auf Löschung, auf Einschränkung der Verarbeitung, ein Widerspruchsrecht, ein Recht auf Datenübertragbarkeit, sowie ein Recht auf Widerruf Ihrer Einwilligung. Im Falle eines Widerrufs wird Ihr Kommentar von uns umgehend gelöscht. Nehmen Sie in diesen Fällen am besten über E-Mail, info@piper.de, Kontakt zu uns auf. Sie können uns aber auch einen Brief schicken. Sie erhalten nach Eingang umgehend eine Rückmeldung. Ihnen steht, sofern Sie der Meinung sind, dass wir Ihre personenbezogenen Daten nicht ordnungsgemäß verarbeiten ein Beschwerderecht bei einer Aufsichtsbehörde zu. Bei weiteren Fragen wenden Sie sich gerne an unseren Datenschutzbeauftragten, den Sie unter datenschutz@piper.de erreichen.