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Das Weiße Haus am Rhein Das Weiße Haus am Rhein - eBook-Ausgabe

Helene Winter
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Roman

— Das Buch zur packenden ARD-Serie

„Ein leicht lesbarer, aber nicht flacher Roman, der Fakt und Fiktion unterhaltsam verbindet.“ - buchblinzler.com

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Das Weiße Haus am Rhein — Inhalt

Im luxuriösen Rheinhotel Dreesen, einem Ort voller Geschichte und Geschichten, sucht ein junger Mann im Konflikt mit seinem Vater nach seinem Platz im Leben, kämpft eine Frau um ihre Unabhängigkeit und eine Familie um ihren Zusammenhalt. In ihrem großen Familienroman „Das Weiße Haus am Rhein“ erzählt Helene Winter eine fesselnde und emotionale Geschichte um Verrat und Liebe, Macht und Glück vor der Kulisse eines geschichtsträchtigen Ortes.  

Erbe eines Luxushotels, Sohn einer kultivierten, wohlhabenden Familie – Emil Dreesen scheint ein glanzvolles Leben vorherbestimmt. Doch dramatische Zeiten ziehen auf: Krieg, Besatzung, Fall und Neuanfang. Selbst im Privaten stehen die Zeichen auf Sturm:
Von seinem Vater trennen Emil politisch Welten – als es darauf ankommt, haben beide dennoch nur ein Ziel: „Das Weiße Haus am Rhein“ zu erhalten.
Von Elsa, einem selbstbewussten Zimmermädchen, trennen Emil Klassenschranken – doch sie wird seine erste Liebe.
Von der französischen Künstlerin Claire trennt ihn die spannungsreiche Geschichte der beiden Nationen – aber sie wird für ihn zum Inbegriff von Glück, Liebe und den Chancen einer neuen, brandgefährlichen Zeit.

€ 15,00 [D], € 15,50 [A]
Erschienen am 01.09.2021
480 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-06285-5
Download Cover
€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 01.09.2021
448 Seiten
EAN 978-3-492-99959-5
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Leseprobe zu „Das Weiße Haus am Rhein“

Dezember 1918
1

Heimat.

Emil sog die Luft ein. Tief, ganz tief, bis in die letzten Winkel seiner Lungen. Er roch die klare Winterluft des Rheins, den harzigen Duft der Fichten. Er musste fast zu Hause sein. Eilig schritt er voran, bis der Wald lichter wurde.

Da! Er hatte sich nicht geirrt! Vor ihm lag der Drachenfels, die Burgruine!

Kinderlachen erfüllte plötzlich seinen Kopf. Sein helles Lachen, Heinrichs meckerndes, nur Ulla hatte nie gelacht, wenn Heinrich die kleine Schwester mitspielen ließ. Viel zu sehr war sie in ihrer Rolle des stolzen Ritters [...]

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Dezember 1918
1

Heimat.

Emil sog die Luft ein. Tief, ganz tief, bis in die letzten Winkel seiner Lungen. Er roch die klare Winterluft des Rheins, den harzigen Duft der Fichten. Er musste fast zu Hause sein. Eilig schritt er voran, bis der Wald lichter wurde.

Da! Er hatte sich nicht geirrt! Vor ihm lag der Drachenfels, die Burgruine!

Kinderlachen erfüllte plötzlich seinen Kopf. Sein helles Lachen, Heinrichs meckerndes, nur Ulla hatte nie gelacht, wenn Heinrich die kleine Schwester mitspielen ließ. Viel zu sehr war sie in ihrer Rolle des stolzen Ritters aufgegangen, welcher neben den Brüdern die Burg stürmen musste, um den Drachen mit Holzschwert und Gebrüll daraus zu vertreiben. Sein Blick haftete an der Ruine. So oft hatten die drei Geschwister die Burg ausgekundschaftet, angegriffen, erobert, Heinrich mit seinem von Ulla selbst geschnitzten Holzschwert immer an vorderster Front.

An vorderster Front. Wie im preußischen Heer.

Heinrichs Lachen in Emils Kopf verstummte abrupt. Es war mit seinem Bruder im Graben geblieben, zerfetzt von einem französischen Geschoss.

Und Robert? Würde er ihn je wiedersehen? Emil schluckte. Das blasse Gesicht seines Freundes schob sich vor seine Augen. Die Angst in Roberts Blick, als sie das letzte Mal Abschied nahmen, als Robert blieb und er … Emil schluckte erneut. Als er …

Er schüttelte den Kopf. Wie sollte er seinem Vater gegenübertreten, wenn er das Wort nicht einmal in seinem Kopf aussprechen konnte?

Er hatte das Richtige getan. Dennoch wurde sein Schritt langsamer, als könnte er damit dem Unausweichlichen doch noch ausweichen. Wie sollte er seinem Vater erklären, dass er nicht als Kriegsheld, nicht einmal als Soldat, sondern als … Fahnenflüchtiger nach Hause zurückkehrte?

Sein Vater würde es nicht verstehen. Verzeihen schon gar nicht. Es würde das Andenken an Heinrich, den gefallenen Helden, beschmutzen. Sein Sohn ein Feind des Heeres. Des Deutschen Reiches. Vater würde ihn davonjagen. Lieber gar keinen Sohn mehr als einen Vaterlandsverräter.

Emil ließ den Drachenfels hinter sich, erreichte die Kurve und blieb abrupt stehen. Vor ihm erstreckte sich der Lauf des Rheins. Mächtig und wunderschön. Das Wasser winterschwarz und wild. Sein Blick folgte dem Strom flussabwärts, saugte sich an dem größten und schönsten Gebäude am gegenüberliegenden Ufer fest. Die Wintersonne glitzerte in der filigranen Fensterfront der an beiden Enden mit Erkertürmchen eingefassten Rheinfassade. Sein Blick wanderte nach oben und verweilte auf den märchenschlossartigen Turmaufbauten des Satteldaches.

Das Weiße Haus am Rhein, wie seine Gäste es nannten. Offiziell das Rheinhotel Dreesen, wie der Großvater es hatte eintragen lassen.

Seine Heimat.

Wie oft hatte er sich im Schützengraben dieses Bild vor Augen geholt, hatte sich jedes kleinste Detail in Erinnerung gerufen, sich vorgestellt, er säße im eingedeckten Speisesaal, vor sich einen von Jupp Pützers legendären Wildbraten, als könnte der Gedanke an gestärkte Servietten und grüne Polster, an elektrische Kronleuchter und bollernde Zentralheizung die Kälte und den Schmutz der rattenverseuchten Gräben wenigstens für ein paar Minuten lindern.

Und nun war er zurück. Die weichen Polster und wärmespendenden Heizkörper in greifbarer Nähe. Und natürlich Ulla, Mutter, Großmutter, Onkel Georg und Vater.

Er ging weiter, wurde immer schneller, als ahnten seine Füße, dass der Gewaltmarsch bald ein Ende hatte. Schon kam die Straße in Sichtweite und mit ihr der schier endlose Zug an Soldaten.

Erschöpft und zerlumpt schleppten sie sich dahin, nicht der winzigste Funken an Kampfgeist war geblieben. Die einst so siegessichere deutsche Armee war unübersehbar geschlagen, ausgeblutet in einem letzten patriotischen Aderlass.

Emil schlug den Kragen hoch. Nur noch ein paar Schritte, dann würde er die Soldaten erreicht haben.

Verstohlen suchte er den Zug nach einem bekannten Gesicht ab, sah die Leere in den Mienen, den Hunger, die Kälte, die Erschöpfung. Sie mussten seit Tagen unterwegs sein, manche hielten sich kaum mehr auf den Beinen, andere wurden gestützt, sie trugen zerfetzte Hosen und fleckige Jacken, viele von ihnen blutgetränkte Verbände. Der Anblick trieb Emil das Wasser in die Augen. Es hätte nie so weit kommen dürfen. Schon vor Monaten hätten sie einen Verhandlungsfrieden suchen und diesen Krieg beenden müssen.

Er hatte das Richtige getan, als er das sinnlose Gemetzel verkürzen wollte. Nicht er sollte angeklagt werden, nicht er war der Landesverräter, sondern die Oberste Heeresleitung!

Unauffällig trat er neben einen der Soldaten. Der schien ihn nicht einmal zu bemerken, seine Augen waren auf den Boden gerichtet, von seiner Hand löste sich ein blutiger Verband. Zu gerne hätte Emil ihn gefragt, zu welchem Regiment er gehöre, ob er Robert Harthaler begegnet sei, von wo sie gerade kämen. Doch Emil schwieg. Jede Frage wäre verdächtig, würde verraten, dass er nicht dazugehörte.

Er war auf der Flucht. Das durfte er nicht vergessen, auch wenn er nicht vor dem Feind, sondern vor den eigenen Leuten floh.

Dumpfes Trampeln weiter vorn kündigte die Pontonbrücke an. Der Rhein umspülte die Pontons, zog und zerrte an ihrer Verankerung, die darauf befestigten Abschnitte schwankten unter dem unablässigen Strom an Soldaten. Emil betrat die Behelfsbrücke. Sogleich spürte er das leichte Schaukeln in Beinen und Magen.

Nun bewegte sich der Zug noch langsamer. Emil passte seinen Schritt an. Auch gut. So konnte er sich noch einmal überlegen, was er Vater sagen wollte. Die Wahrheit? Und … Emils Mund wurde noch trockener.

Wenn sein Vater bereits Bescheid wusste? Wenn die Nachricht seines Verrats den Weg von Berlin nach Godesberg schneller gefunden hatte als er selbst? Wäre er noch willkommen?

Der Zug kam fast zum Stillstand, und diesmal erkannte Emil, warum. Sein Magen zog sich zusammen. Ein Wachtposten! Ausgerechnet hier, wenige Minuten Fußmarsch entfernt von seinem Zuhause. Dann hatte sich also herumgesprochen, dass er geflohen war und wahrscheinlich Zuflucht im Hotel des Vaters suchen würde. Emil senkte den Kopf tiefer in den Kragen. Geschickt ließ er sich zurückfallen, bis er neben einem Versehrten landete, der von einem älteren Soldaten gestützt wurde.

„Ich helfe euch“, murmelte er und legte seinen Arm um die Hüfte des Verwundeten. Verbissen starrte Emil zu Boden, den Kopf nach unten gebeugt, den Arm fest um den Soldaten neben sich gelegt. Für dich habe ich mich dem Aufstand angeschlossen, lag ihm auf der Zunge, für dich und ihn und ihn und den und …

Sie verließen die Brücke, der Wachtposten war nun nur noch wenige Meter entfernt. Emil wagte nicht zu atmen. Hier war er zu Hause, man kannte sich, ein aufmerksamer Blick genügte, um ihn zu identifizieren. Der Wachtmeister winkte ihn zu sich. Emil verkrampfte.

„Weiter, weiter“, der Wachtmeister winkte erneut, doch nicht ihm, er scheuchte sie alle voran, „immer die Uferstraße lang, in fünfzig Metern gibt es Tee, haltet eure Tassen bereit.“

Tee? Emil horchte auf. Wer in Godesberg teilte Tee an Heimkehrer aus? Sicherlich nicht das Militär. Und sicherlich nicht der Bürgermeister. Langsam bewegte er sich mit dem Zug weiter, den Blick suchend nach vorne gerichtet. Überall am Wegrand standen Menschen, die Mienen betroffen, manche suchend, als hofften sie, einen schmerzlich vermissten Rückkehrer in dem endlosen Tross der Niederlage zu erkennen. Wie sehr sich das Bild doch gewandelt hatte, seitdem die ersten Truppen unter dem Jubeln der Menge in diesen sinnlosen Krieg gezogen waren.

Weiter vorne erkannte Emil den Pferdewagen des Hotels. Hörte den unverwechselbaren Bariton ihres Chefkochs. Jupp Pützer! Nervös streckte er sich. Wenn er nur sehen könnte, wer mit Jupp den Tee austeilte. Vater? Es sähe ihm ähnlich, diese letzte Chance zu nutzen, um mit Jupp die deutschen Truppen zu unterstützen.

Er musste von der Straße, jetzt, bevor er Jupp und seinem Vater direkt in die Arme lief.

„Viel Glück, Kamerad“, murmelte er und löste vorsichtig seine Hand von der Seite des Verwundeten. Dann trat er seitlich aus dem Zug und bog links ab, weg vom Ufer, die schmale Gasse über den Meisengarten hinauf. Hastig marschierte er im Schatten der Bäume weiter, den Kopf tief im hochgezogenen Kragen versteckt. Er sah erst wieder hoch, als er den Garten des Hotels erreichte. Nun lief er die letzten Meter, vorbei an den alten, mächtigen Kastanienbäumen, der Säulenhalle, dem Musikpavillon, den Gemüsegärten und Obstwiesen.

Endlich zu Hause!

Er erreichte die herrschaftliche Auffahrt und lief zum Säulenportal des Hoteleingangs. Emil zögerte kurz, dann ging er weiter, vorbei an den bodentiefen Rundbogenfenstern des Empiresaals, vorbei am Nebeneingang. Aufgeregt trat er um die Ecke in den breiten, von den Stallungen und dem verwinkelten Wirtschaftsgebäude umrandeten Hof. Es war ungewöhnlich still, keine Lieferanten, die Karren abluden, kein Gärtner, der den Hof kehrte, kein Stallbursche, der die Pferde vor Kutschen spannte.

Am Lieferanteneingang sah Emil sich um, drückte die Tür auf und stahl sich heimlich hinein in das so vertraute Haus. Der Flur lag verlassen vor ihm, niemand, der ihn gesehen, erkannt oder begrüßt hätte oder zumindest gefragt, was er hier suche. Ein Soldat in Uniform verlief sich schließlich nicht alle Tage im Küchentrakt des Rheinhotels. Auf Vorsicht bedacht, schlich er den Flur entlang, unschlüssig, was er als Nächstes tun sollte – durch die Küche gehen zum Empfang? Oder einen Küchenjungen nach Mutter schicken lassen?

Der Geruch von frischer Hühnersuppe stieg in seine Nase, begleitet von einem lauten Knurren seines Magens. Wann hatte er das letzte Mal etwas gegessen?

Zielstrebig hielt er auf die Küche zu.

„Verzeihen Sie!“, rief da eine Stimme hinter ihm. Er versuchte, sie zuzuordnen, für Mutter war sie zu hell, für Ulla zu kräftig.

Emil blieb stehen und drehte sich um. Eine junge Frau, etwa Anfang zwanzig wie er selbst, kam auf ihn zu. Sie sah ihn freundlich, aber fragend an. „Haben Sie sich verlaufen?“ Sie zeigte den Flur zurück. „Der Eingang ist auf der anderen Seite, die Straße vor und dann links.“

Emil musterte die junge Frau neugierig. Sie trug die Kluft der Zimmermädchen, das schlichte schwarze Kleid, darüber die weiße Schürze, im dichten dunkelbraunen Haar das weiße Häubchen, so wie er es kannte. Nur ihr Gesicht hatte er noch nie gesehen. Wache blaue Augen, die durch die dunklen Haare besonders intensiv wirkten, ein ovales, gleichmäßiges Gesicht mit einem außerordentlich schönen Mund.

„Oder suchen Sie das Restaurant? Durch den Haupteingang, dann im Foyer rechts, oder Sie nehmen direkt den zweiten Eingang. Es hat offiziell geschlossen, aber ich denke, dass sich für einen Soldaten ein Teller Suppe finden wird.“ Noch immer zeigte sie lächelnd den Flur entlang.

Emil rührte sich nicht. Er konnte seinen Blick nicht von ihrem Lächeln lösen. Es war einladend und zurückweisend in einem, das Lächeln einer Prinzessin, die einen unbotmäßigen Verehrer in seine bürgerlichen Schranken verwies. Hätte er sie schon einmal im Hotel gesehen, hätte er sich ihr Gesicht eingeprägt – Namen mochten ihm ab und an, wenn auch nur selten entfallen, Gesichter jedoch wusste er sich einzuprägen und zuzuordnen, wie dies für einen guten Hotelier unerlässlich war. Und dieses Gesicht konnte er nicht zuordnen.

„Wenn ich Ihnen weder mit Empfang noch Restaurant helfen kann, darf ich dann fragen, was Sie hier suchen?“, riss ihre Stimme ihn aus seinen Gedanken, der Ton nun eine Nuance bestimmter, fast zu bestimmt für ein einfaches Zimmermädchen.

„Meinen Vater.“ Emil bemerkte die Veränderung in ihrem Blick, die Augen wurden größer, als sie begriff, wen sie vor sich hatte.

„Natürlich, verzeihen Sie bitte, ich … ich habe Sie nicht sogleich erkannt.“ Nun zog sich eine leichte Röte über ihre Wangen. „Willkommen zurück, Herr Dreesen, ich sage Ihrer …“

Hupen und Motorenlärm unterbrachen ihre Worte. Emil erstarrte.

Ein Militärlastwagen! Laute Befehle in französischer Sprache drangen durch die Tür, gefolgt von schweren Schritten, die kreuz und quer über den Hof zu laufen schienen.

Das Zimmermädchen sah zur Tür, dann zu Emil, musterte ihn von seinen schmutzigen Soldatenstiefeln bis hoch zum Stehkragen des feldgrauen Waffenrocks. Dann stieß sie ihn an. „Kommen Sie, schnell!“

Ihre Worte lösten seine Erstarrung. Eilig lief er hinter ihr her zur Nebentreppe, die Stufen hoch bis ins Dachgeschoss zu den zum Hof gelegenen Personalräumen. Sie öffnete eine Tür und ließ ihn in das bescheidene Mansardenzimmer treten. Links und rechts ein Bett, in der Mitte ein kleiner, runder Tisch mit zwei Stühlen, neben der Tür auf der einen Seite ein einfacher Kleiderschrank, auf der anderen ein schmuckloser Waschtisch.

„Warten Sie hier“, sagte sie atemlos, „ich gebe Ihrer Mutter Bescheid.“

Emil nickte, schon auf dem Weg zu der kleinen Gaube zwischen den Betten. Halb hinter dem Vorhang versteckt, sah er hinab. Er konnte nicht den ganzen Hof überblicken, aber was er sah, genügte, um zu erahnen, dass der Aufmarsch der Franzosen nicht mit der Plünderung der hoteleigenen Speisekammer beendet wäre. Zwei Militärlastwagen parkten in der Auffahrt, Soldaten schleppten zwar Kisten in das Hotel hinein, aber nichts heraus. Hufe klapperten auf den Pflastersteinen, dann kamen vier Reiter in Emils Sichtfeld. Sie trugen Offiziersuniformen, einer zeigte auf die Stallungen, dann aufs Haupthaus, nickte zustimmend und stieg ab. Schon eilte ein einfacher Soldat herbei und übernahm das Pferd, während der Offizier aus Emils Sichtfeld Richtung Haupteingang verschwand.

Inzwischen war der Tumult auch im Inneren des Hauses angelangt. Schwere Stiefel trampelten durch die Flure, Treppen hinauf und hinab, Türen knallten, Befehle hallten durch die Gänge.

Unruhig wandte Emil sich vom Fenster ab. Was sollte er tun? Sich verstecken?

Wieder sah er vorsichtig durchs Fenster auf den Hof hinab. Ein weiterer Schwung Soldaten marschierte die Auffahrt entlang.

Und dann? Selbst wenn er sich auf Dauer verstecken konnte, was brächte es? Allem Anschein nach machten die Franzosen sich ausgerechnet hier, im Hotel seiner Familie, breit. Wozu sie als Sieger wahrscheinlich berechtigt waren. Sollte er die nächsten Wochen und Monate wie eine Kakerlake mit den Soldaten Verstecken spielen?

Die Tür flog auf. Instinktiv griff Emil an die Seite, wo bis vor Kurzem noch seine Waffe gesteckt hatte. Hereingestürmt kam Onkel Georg, hinter ihm blieb das Zimmermädchen in der Tür stehen.

„Emil!“, rief Georg gedämpft. Mit zwei Sätzen war er bei ihm und legte ihm die Hände auf die Schultern. „Junge! Lass dich ansehen!“

„Onkel.“ Emil lächelte. „Was ist da unten los?“ Aus den Augenwinkeln sah er, wie das Zimmermädchen die Tür von außen schloss.

„Franzosen.“ Georg schüttelte verärgert den Kopf. „Als ob es nicht schon schlimm genug wäre … Wahrscheinlich leeren sie unsere Speisekammer und nehmen das Tafelsilber mit.“

„Psst!“ Emil legte die Hand an den Mund und sah angespannt zur Tür. Schnelle Schritte näherten sich über den Flur.

Erleichtert lief Emil zur Tür. Er kannte diese Schritte. Forsch und unbeschwert, als wäre das ganze Leben ein Spiel.

Die Tür flog auf und Ulla direkt in seine Arme. Sie hatte sich verändert, ihre braunen Haare waren kürzer und lockiger und ließen ihr schmales, sommersprossiges Gesicht voller und älter als ihre achtzehn Jahre wirken. Doch ihre Augen sprühten wie eh und je vor Wildheit und Lebenslust.

„Emil!“ Sie drückte und herzte ihn. „Was hast du nur so lange gebraucht?!“

„Wann bist du so erwachsen geworden?“ Emil hielt sie von sich weg.

Da stand schon seine Mutter vor ihm, der Mund schmal, die braunen Haare streng hochgesteckt, die Augen tränennass.

„Mein Sohn“, flüsterte sie und streckte die Hände nach ihm aus. „Mein Sohn.“

Emil nahm ihre Hände. „Mutter.“ Er spürte Tränen in sich hochsteigen. Es war vorbei. Endlich.

Er war zu Hause.

Nie wieder musste er in einen Krieg ziehen. Nie wieder Menschen töten, über Leichen steigen, Kameraden bergen, begraben, betrauern. Nie wieder musste er Befehle befolgen, die er aus tiefstem Herzen verabscheute.

Onkel Georg verließ leise den Raum, als wollte er Emil Zeit mit seiner Mutter und Schwester geben.

„Sie nehmen uns unser Hotel weg“, sagte Maria Dreesen gepresst. „Du kannst nicht hierbleiben.“

„Wo soll ich denn hin, Mutter?“, fragte Emil, mit einem Mal sterbensmüde. Er ließ ihre Hände los und setzte sich auf einen der zwei einfachen Holzstühle. Nicht einen Moment länger konnte er sich auf den Füßen halten.

2

Elsa verstaute den Hut mit der strassbesetzten Straußenfeder in der aufwendig bemalten Hutschachtel. Er war so übertrieben wie seine Trägerin oberflächlich. Sie schloss die Schachtel und stellte sie zu den anderen drei Hutschachteln neben die Kofferablage.

Ob Emil Dreesen noch in ihrem Mansardenzimmer war? Wie erschöpft er ausgesehen hatte. So anders als auf dem Familienporträt im Speisesaal. Das Gesicht schmaler, die braunen Augen müder, die dunklen Haare lockiger und länger.

„Elsa!“ Die hohe Stimme der Hutträgerin schnitt durch die Suite. „Wie lange soll ich nun noch auf meinen Tee warten?“

Elsa ging zu der grünen Sitzecke im Wohnraum der Suite. Frau von Hevenkamp saß auf dem zierlichen, geblümten Sofa, eine Stickerei in der Hand. Anklagend sah sie von ihrer Handarbeit auf. „So etwas ist mir in all den Jahren noch nicht passiert!“

„Ich weiß nicht, warum der Zimmerservice heute so lange braucht“, log Elsa höflich, denn Frau von Hevenkamp brauchte weder zu wissen, dass sie ihre Teebestellung wegen der unerwarteten Rückkehr von Emil Dreesen verspätet aufgegeben hatte, noch, dass französische Soldaten wahrscheinlich gerade die Speisekammer mitsamt dem Tee plünderten. „Aber wenn Sie wünschen, gnädige Frau, kann ich nachsehen.“

„Jaja, tun Sie das, ich warte nun geschlagene zwanzig Minuten!“ Frau von Hevenkamp schüttelte verärgert den Kopf. „Früher wäre so eine Nachlässigkeit undenkbar gewesen.“

Es war klar, was sie mit „früher“ meinte: zu Zeiten des Kaisers, als die Welt noch in Ordnung gewesen war. Elsa wandte sich schnell ab, bevor Frau von Hevenkamp ihr ansah, wie wenig sie von den früheren Zeiten hielt. Allerdings waren die jetzigen auch nicht gerade leicht. Selbst wenn die wenigen Gäste, die noch das Hotel besuchten, so taten, als hätte es keinen Krieg und keine Niederlage gegeben. Dabei fehlte es genau deswegen an allem. Elsa ging zur Tür, als es laut im Flur polterte.

„Allez! Allez!“, dröhnte eine laute Stimme. Erschrocken legte Elsa den Kopf an die Tür. Was wollten die Franzosen im Gästebereich? Sie hörte, wie Türen aufgerissen wurden. „Sortez! Verlassen Sie die Zimmer, das Hotel ist besetzt.“

Besetzt? Elsa wich entsetzt von der Tür zurück. Die Franzosen wollten bleiben? Sie hatte damit gerechnet, dass sie das Hotel plündern würden. Dass sie mitnahmen, was ihnen in die Hände fiel, aber das …

„Was ist das denn nun für ein unwillkommener Lärm?“, klagte Frau von Hevenkamp. Elsa drehte sich um und ging zu ihr zurück.

„Französische Besatzer. Sie räumen die Zimmer. Ich befürchte, Ihr Tee kommt heute nicht mehr.“

„Sie … Bitte?“ Frau von Hevenkamp starrte sie entgeistert an. In dem Moment wurde die Tür aufgerissen. Elsa wirbelte herum, sah, wie ein französischer Soldat ins Zimmer stürmte. „Allez! Prenez vos affaires, vous avez cinq minutes pour sortir.“ Er hielt zur Verdeutlichung seiner Worte fünf Finger in die Luft, dann verschwand er wieder nach draußen.

„Was wollte dieser Rüpel?“, fragte Frau von Hevenkamp.

„Er gibt Ihnen fünf Minuten, um Ihre Sachen zu packen.“

„Das … ist doch …“, japste Frau von Hevenkamp.

„Das ist ein Ultimatum“, sagte Elsa. „Was in fünf Minuten nicht gepackt ist, werden Sie hierlassen müssen. Wir sollten keine Zeit verschwenden.“ Ohne weiter auf Frau von Hevenkamp zu achten, lief sie zur Kofferablage und schleppte den größeren der beiden Koffer zum Schrank. Sie riss ihn auf und warf die Kleidungsstücke wahllos hinein.

„Holen Sie Ihren Schmuck!“, rief sie Frau von Hevenkamp zu. „Und Ihre Schreibsachen und Kämme und Tiegel.“

Etwas in ihrer Stimme schien bei der Frau zu wirken. Tatsächlich begann die sonst so behäbige Dame, sich zu bewegen. Schneller als Elsa ihr zugetraut hätte, stürzte sie zu dem Schminktisch im Schlafbereich.

„Meine Kämme! Das Parfum und … ojemine!“

Elsa schlug den ersten Koffer zu, holte den zweiten, verstaute Schuhe und Unterwäsche darin und schleppte ihn zu Frau von Hevenkamp. „Reichen Sie mir die Sachen!“

Eilig gab Frau von Hevenkamp Elsa die Kämme und den Schmuck und all die Tiegel und Fläschchen, die sie so sorgfältig auf dem Schminktischchen aufgereiht hatte.

Die Tür wurde erneut aufgerissen. „Schluss jetzt, c’est terminé! Je vous ordonne de sortir immédiatement, exécution! Sofort raus!“ Es war derselbe Soldat wie eben, schwarze, glatte Haare, buschige Brauen, volle Lippen, die hämisch grinsten, als machte ihm der übereilte Rauswurf einen Heidenspaß.

Mit drei Sätzen war er bei Elsa und packte sie am Ärmel. „Raus!“

„Laissez-moi!“ Elsa riss sich los und packte den großen Koffer. „Wir gehen ja schon.“ Sie drehte sich zu Frau von Hevenkamp. „Kommen Sie, und nehmen Sie den zweiten Koffer.“

Frau von Hevenkamp sah sie mit großen Augen an, packte dann den Koffer und schleifte ihn zur Tür. Bei den Hutschachteln stoppte sie kurz, zog den strassbesetzten Hut aus der obersten Schachtel und setzte ihn auf. „Den lasse ich nicht zurück.“

Im Flur schwirrten erboste Drohungen der anderen Gäste durch die Luft, manche waren kaum korrekt bekleidet, geschweige denn hatten sie ihre Koffer dabei, andere trugen nur ein kleines Gepäckstück oder eines, das sichtbar zu leicht für seine Größe war.

„Ohne Ihre Tatkraft hätte ich jetzt wohl auch nur eine Hutschachtel unter dem Arm“, sagte Frau von Hevenkamp. „Ich muss mich bei Ihnen bedanken.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wo haben Sie das gelernt?“

„Im Frontlazarett. Wenn Minuten über Leben und Tod entscheiden, lernt man, zu reagieren und zu funktionieren.“ Elsa schauderte. Leben und Tod. Es war eine viel zu freundliche Umschreibung für das blutige Gemetzel, das der Krieg den Schwestern und Ärzten im Lazarett tagein, tagaus beschert hatte.

„Wie heißen Sie noch, Elsa?“

„Wahlen. Elsa Wahlen.“

„Wenn Sie in der Zukunft eine neue Position anstreben, Frau Wahlen“, sagte Frau von Hevenkamp freundlich, „dann scheuen Sie sich nicht, bei mir vorzusprechen.“

„Vite, schneller!“ Der Soldat mit den schwarzen Haaren und buschigen Brauen stupste sie an. „Je vous demande de moins bavarder et plus marcher.“

Frau von Hevenkamp sah fragend zu Elsa.

„Weniger schwätzen, mehr laufen.“ Elsa lächelte Frau von Hevenkamp an. „Danke für Ihr Angebot. Ich werde es mir merken.“

Unten im Foyer standen bereits weitere Gäste und umringten Fritz, Maria und Adelheid Dreesen, die aufgeregt auf einen französischen Offizier einredeten. Elsa stellte Frau von Hevenkamps Koffer an der Rezeption ab und ging zurück Richtung Treppe.

„Nein“, blaffte der Offizier Fritz Dreesen an. „Sie haben hier absolut gar nichts mehr zu sagen.“

Der Hotelier zuckte zusammen, sein Gesicht wurde puterrot. Elsa hielt den Atem an. Fritz Dreesen war die unbestrittene Autorität des Hotels, niemand, nicht einmal seine Mutter Adelheid Dreesen, würde je wagen, sich ihm gegenüber derartig im Ton zu vergreifen.

Den Offizier jedoch schien Fritz Dreesen nicht weiter zu interessieren. Er richtete sich an Adelheid Dreesen, unverkennbar die Grande Dame des Hauses, die Frau des lange verstorbenen Gründers, die noch immer im Hintergrund die Fäden zog. „Es interessiert mich nicht, ob Sie den Kronprinzen oder irgendwelche wichtigen Leute kennen, die mir nichts zu befehlen haben, denn sie werden an der Sache nichts ändern. Das Hotel ist vom französischen Oberkommando als französischer Stützpunkt ausgewiesen worden, und Sie tun besser daran, Ihre Sachen zu packen. Ich werde nicht eine Sekunde Verzug dulden! Guten Tag, Madame.“

„Aber …“, rief Maria Dreesen fassungslos, doch der Offizier drehte sich abrupt um und bahnte sich einen Weg durch den eilig auseinanderweichenden Halbkreis der Gäste.

„Sie!“ Er blieb vor Elsa stehen, musterte sie vom Häubchen bis zum Schürzenende. „Arbeiten Sie hier?“

Elsa nickte. Schluckte. Was wollte der Offizier von ihr?

„Bringen Sie mich zur besten Suite, die das Hotel zu bieten hat.“

***

So geräuschlos wie möglich richtete Elsa das Schlafzimmer der Suite. Durch die offene Verbindungstür hörte sie das Rascheln von Dokumenten auf dem filigranen Schreibtisch im Salon, das Kratzen einer Feder auf Papier. Colonel Soter hieß der hagere Offizier mit dem schütteren Haar, soweit sie das von den ein und aus gehenden Soldaten richtig verstanden hatte. Und er hatte hier offensichtlich das Sagen. Was er bei seinen Männern im Gegensatz zu dem Wortgefecht mit den Dreesens im Foyer durchweg mit maßvollem Ton zustande brachte. Sie strich die Tagesdecke glatt und sah sich prüfend in dem Raum um, den vor kaum einer Stunde noch Frau von Hevenkamp bewohnt hatte.

Plötzlich knallte es. Sie zuckte zusammen.

Ein Schuss!

Stocksteif stand sie neben dem Bett. Wer hatte auf wen geschossen?

Im Nebenraum scharrte Colonel Soters Stuhl über den Boden, die Tür zum Flur wurde aufgerissen.

„Was ist das für ein Irrenhaus! Escoffier! Warum halten Sie dem Mann eine Pistole an den Kopf? Hat er geschossen? Wer ist das?“

„Ihr Capitaine hat geschossen“, sagte eine Stimme, die Elsa bekannt vorkam, die sie jedoch nicht zuordnen konnte. „Auf mich. Er wollte mich nicht zu Ihnen durchlassen. Ich bin Emil Dreesen.“

Elsa legte die Hand auf den Mund. Emil Dreesen! War er verrückt?

„Was wollen Sie?“ Colonel Soters Stuhl fuhr erneut über den Boden, Papier raschelte. Er musste sich wieder gesetzt haben. „C’est bon, Escoffier, Sie können gehen.“

„Ich möchte mit Ihnen reden. Über diese … äh … unglückliche Situation.“

„Ich habe Ihrem unerträglichen Vater alles gesagt, was nötig ist: Wir bleiben, Sie gehen.“

Erneut ging die Tür auf. „Monsieur!“, rief die dominante Stimme von Adelheid Dreesen.

Elsa hörte ihre resoluten Schritte. „Sie sollten wissen, zu meinen guten Freunden gehören auch wichtige Befehlshaber Ihrer Armee. Muss ich diesen Herren wirklich einen Beschwerdebrief über diesen vollkommen unnötigen Beweis mangelnder Umgangsformen schreiben?“

Colonel Soter stöhnte entnervt auf. „Was wollen Sie noch, Madame? Egal, was Sie sagen, es wird die Situation nicht ändern.“

„Schenken Sie meinem Enkel fünf Minuten Ihrer Zeit.“

„Das ist alles?“

„Erschießen Sie ihn nicht.“

„Ich werde mich beherrschen.“

„Monsieur.“

Elsa stellte sich Adelheid Dreesens’ würdevolles Nicken vor. Schritte entfernten sich, dann fiel die Zimmertür zu.

Mit angehaltenem Atem spähte Elsa zu der halb offenen Verbindungstür. In ihrem Spiegel sah sie Emil Dreesens Profil. Er stand vor dem Schreibtisch des Colonels, als sei er ebenso unschlüssig, was er als Nächstes tun sollte, wie sie selbst. Sollte sie sich endlich bemerkbar machen und an Soter und Dreesen vorbei die Suite verlassen? Oder sich weiterhin still verhalten, zumindest, bis die fünf Minuten vorbei waren? Sie sah, wie Emil Dreesen die Hände ineinander verschränkte.

„Fünf Minuten, Dreesen“, sagte Soter kühl. „Sie können sie gerne schweigend verbringen.“

„Ich bin nicht Ihr Feind.“ Emil Dreesen sprach so leise, dass Elsa sich vorbeugte, um besser zu hören.

„Sie sind ein deutscher Soldat, wie können Sie nicht mein Feind sein?“

„Ich war Soldat und habe für mein Land gekämpft. Genau wie Millionen Soldaten der Entente.“

„Um die Länder zu verteidigen, denen Sie den Krieg erklärt hatten. Wenn das dann alles war …“

Elsa hörte ein Rascheln, als würde Colonel Soter sich wieder seinen Dokumenten widmen.

„Wir wurden belogen. Wir dachten, wir ziehen für eine gerechte Sache in den Krieg, und dann, dort …“ Emil Dreesen verstummte. Senkte den Kopf. „Colonel, Sie waren auf den gleichen Schlachtfeldern wie ich. Wir haben Männer mit Bajonetten aufgespießt, die zu einer anderen Zeit Freunde hätten sein können. Als ich in den Krieg gezogen bin, wusste ich nicht, was es bedeuten würde. Die feurigen Worte der Generäle hatten mit der grausamen Realität nichts zu tun.“

Wieder trat eine Pause ein. Es gluckerte, dann sah Elsa im Spiegel, wie Colonel Soter Emil Dreesen ein Glas mit Wasser reichte. Dreesen trank einen Schluck, drehte das Glas dann nachdenklich in seiner Hand.

„Als mein Bruder starb, wurde mir klar, dass wir nur noch zum Sterben an die Front geschickt wurden.“

„Das ist nun mal der Krieg“, sagte Soter, „wir alle haben jemanden verloren.“

„Ich habe meine Eltern angefleht, mich nach Hause zu holen. Aber sie hatten Angst, dass ich als jämmerlicher Feigling dastehe. Verstehen Sie? Lieber noch ein toter Sohn als ein feiger …“

„Warum erzählen Sie mir das?“ In Soters Ton mischte sich Ungeduld. „Soll ich Mitleid heucheln?“

„Ich habe mich für den feigen Sohn entschieden.“

„Sie … Ich verstehe nicht.“

Dreesen räusperte sich. „Ich habe mich gegen die Generäle und einen verlorenen Krieg und ein sinnloses Gemetzel entschieden und mich der Novemberrevolution angeschlossen. Das … das weiß hier niemand. Ich … ich zähle auf Ihre Diskretion als Soldat und Ehrenmann.“

Elsa verschluckte sich fast. Emil Dreesen ein Putschist? Ein Roter? Er war … einer von ihnen? Unmöglich!

„Un déserteur“, murmelte Colonel Soter. „Warum sollte ich auch nur ein weiteres Wort mit Ihnen reden? Sie haben Ihre Kameraden feige im Stich gelassen.“

„Oder mein Leben aufs Spiel gesetzt, um Tausende unnötige Tote auf beiden Seiten zu verhindern. Deutsche Kameraden wie französische … War das falsch?“

„Der Krieg war für Sie verloren.“

„Und doch wurden wir weiter in den Kampf geschickt, statt einen Frieden auszuhandeln. Ich habe Kopf und Kragen riskiert, um dazu beizutragen, den Krieg zwischen unseren Völkern endlich zu beenden, und heute hat mir Ihr Capitaine fast das Gehirn weggeschossen, als ich mit Ihnen über diesen Frieden reden wollte.“

„Sie … wozu?“ Soter klang verwirrt.

„Was bringt ein Frieden auf dem Papier, wenn die Menschen diesen Frieden nicht leben? Wir müssen uns wieder annähern, und wo könnte das besser geschehen als in diesem Hotel?“

Elsa lächelte. Langsam wurde ihr klar, worauf Emil, der Revolutionär und Fahnenflüchtige, hinauswollte.

„Sie und Ihre Leute bekommen den besten Service, den man sich am Rhein kaufen kann“, fuhr Emil Dreesen fort, „nur, dass er für Sie kostenlos ist. Sagen wir, eine stilvolle Form der Reparation. Dafür sorgen Sie für die Lebensmittel, und meine Familie darf in einem kleinen Teil des Hauses weiterhin Hotel und Restaurant betreiben, um die Angestellten bezahlen zu können. Was sagen Sie?“

„Stilvolle Reparation …“, sagte Colonel Soter nach einer bedächtigen Pause. „Bis zu diesem gottverdammten Krieg bin ich mein ganzes Leben lang mit den Deutschen gut ausgekommen. Warum es nicht versuchen … Aber vergessen Sie nicht, junger Dreesen: Sie wandeln auf hauchdünnem Eis – machen Sie Ihren Leuten das klar!“

Elsa sah, wie Emil Dreesen Soter die Hand reichte, dann verschwand er aus dem Spiegel, sie hörte Schritte, das Knallen der Tür.

Emil Dreesen. Ein Revolutionär.

Elsa setzte sich auf das perfekt geglättete Tagesbett.

Emil Dreesen. Ein Roter.

Das war fast so gut wie die Tatsache, dass sie nun ihre Stellung und ihr Einkommen behalten würde.

***

Elsa rückte ihr Häubchen zurecht, strich die Schürze glatt und reihte sich neben Hilde zwischen den anderen Zimmermädchen auf dem Weg in die Küche ein. Punkt elf Uhr sollten sie sich dort versammeln, hieß es, warum, hatte man ihr nicht gesagt, aber jeder im Hotel konnte es sich denken: das Auftauchen der Franzosen gestern, die das Hotel besetzten, sogar die Wäscherei, die mittlerweile in den Hosen, Jacken und Hemden der französischen Soldaten schier versank. Sie war heilfroh, dass sie keinen Wäschedienst hatte. Die Kleidung sollte angeblich zum Himmel stinken, voller Kot und Blut, was die Zuber schneller braun färbte, als neues Wasser aufgesetzt werden konnte. Da hatte sie mit dem Beziehen der Betten eindeutig das leichtere Los gezogen.

„Wenn wir jetzt zu den Franzosen auch noch besonders aufmerksam sein sollen, kündige ich“, zischte Hilde ihr in einem Ton zu, der so gar nicht zu ihrem kindlich unschuldigen Gesicht passte. „Vergiften sollte man die Brut, die elende.“

Elsa tat so, als hätte sie Hildes Bemerkung nicht gehört. Es waren genug Menschen für ein ganzes Jahrhundert gestorben, durch den Krieg und nun durch die Influenza, warum konnten Menschen wie Hilde nicht verstehen, dass ihr Hass nur neuen Hass schürte?

„Der junge Dreesen hätte die nicht herholen dürfen.“ Aus Hildes hellen blauen Augen sprühte pure Feindseligkeit, auf ihren ohnehin immer leicht geröteten Wangen leuchteten vor Ärger dunkelrote Flecken. „Der alte Dreesen sagt, dass er die Franzosen vertrieben hätte, wenn der Junge nicht so vorgeprescht wäre. Der Alte hatte schon wichtige Leute angerufen, und dann haben der alte und der junge Chef sich so gestritten, dass der junge gegangen ist.“

„Gegangen?“ Elsa kräuselte die Nase. Er war doch gerade erst zurückgekehrt! Gesund! Begriff Fritz Dreesen denn nicht, dass sein Sohn nur das Beste für alle gewollt hatte?

Gemeinsam mit Hilde betrat sie die Küche und steuerte zur Spülecke, in der sich die Mägde und anderen Zimmermädchen bereits versammelt hatten. Aufgeregt tuschelten sie miteinander, Elsa hörte sogar vereinzeltes Kichern, aufgeregt wie das Kichern junger Mädchen, die das erste Mal ein Kompliment von einem feschen Burschen einheimsten.

Für manche ging das Leben einfach weiter. Als hätte es den Krieg nie gegeben, und vielleicht war das ja auch gut so, das Leben musste weitergehen, wenn es nur nicht immer wieder so wehtäte. Sie spürte den Druck in der Nase, die Tränen in den Augen.

„Nehmen Sie es nicht so schwer, die Besatzung wird schon nicht so schlimm“, flüsterte da eine helle Stimme in ihr Ohr. Überrascht bemerkte sie Ulla Dreesen, die Tochter des Besitzers, neben sich.

Nicht so schlimm? Was wusste diese Dreesen schon vom wahren Leben? Mit ihren achtzehn Jahren war Ulla Dreesen gerade mal ein Jahr älter als Hilde, aber im Gegensatz zu Hilde und den anderen Zimmermädchen hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie einen Finger krumm machen müssen, um sich das Essen auf ihrem Teller zu verdienen. Stattdessen saß sie mit einem Zeichenblock herum und kritzelte vor sich hin. Wann war sie je mit der echten Welt in Berührung gekommen? Behütet und geschützt im Hotel der Familie, dieser Kreuzung aus Märchenschloss und Bunker, umgeben von den Reichen und Mächtigen, die sich von Menschen wie Elsa und Hilde von vorne bis hinten bedienen ließen.

Erst jetzt bemerkte sie, dass das Kichern hinter ihr verstummt war und Fritz Dreesen die Küche betreten hatte. Er stellte sich neben den heute leeren Pass, auf dem sonst die Speisen für die Kellner bereitgestellt wurden, und ließ seinen Blick so langsam durch die volle, enge Küche schweifen, als prüfe er nach, ob auch wirklich alle Zimmermädchen, Mägde, Küchenhilfen und Köche, Stallburschen, Ober und Pagen sich versammelt hatten. Abschließend nickte er zufrieden und hob wie ein Lehrer den Finger in die Luft.

„Wie Sie alle wissen, haben wir den Feind im Haus.“ Fritz Dreesen ließ das „s“ am Ende von „Haus“ so giftig nachzischen, dass Elsa schauderte. „Vier Jahre haben wir für unseren Kaiser und unser glorreiches Vaterland gekämpft, der Sieg wäre unser gewesen, wenn die abtrünnigen Matrosen, Fahnenflüchtigen, Sozialisten und Kommunisten unserem ruhmreichen Heer nicht aufs Schändlichste in den Rücken gefallen wären …“

„Tod den Roten!“, brüllte Chefkoch Jupp Pützer und schwang eine Gusseiserne über dem Kopf, das Gesicht hummerrot, wie immer, wenn er sich aufregte.

„Ist gut, Pützer.“ Fritz Dreesen räusperte sich. „Wir haben gekämpft. Wir wurden, im Felde unbesiegt, dem Feind ans Messer geliefert. Nun werden wir unsere Vaterlandspflicht erfüllen und hier die Stellung halten.“ Dreesen ließ seinen Blick erneut prüfend über das versammelte Hauspersonal gleiten. Elsa presste die Lippen weiter zusammen. Sie war kurz davor zu platzen. Wie konnte der alte Dreesen so vermessen sein und die hier Versammelten mit den Soldaten auf die gleiche Stufe stellen? Niemand in dieser Küche hatte auch nur einen Tag auf dem Schlachtfeld verbracht. Hatte einen Schützengraben gesehen, einen Schuss abgegeben oder gar eine Kugel eingesteckt.

„Wir werden die Franzosen scharf im Auge behalten“, fuhr Fritz Dreesen fort, „aber wir werden ihnen keine Angriffspunkte geben, die uns das Haus kosten könnten.“ Sein Blick glitt zu Pützer, der die Gusseiserne wieder auf den Herd gestellt hatte. „Pützer?“, fragte er streng.

Pützer stand stramm. „Jawoll, habe verstanden, kein Angriff. Aber verteidigen“, schon hievte er die Gusseiserne erneut über den Kopf, „das lasse ich mir nicht verbieten.“

Elsa unterdrückte ein Augenrollen. Wie stellte Pützer sich das vor? Er, der untersetzte Koch, als untauglich ausgemustert, allein mit der Bratpfanne gegen die Pistolen und Gewehre eines Bataillons? Es wäre ein kurzes Schauspiel.

„… gefährdet das gesamte Haus“, drang Dreesens eindringlich mahnende Stimme an Elsas Ohr.

„Was gefährdet das Haus?“, fragte sie Hilde flüsternd.

„Ungehorsam.“ Hilde legte missbilligend den Finger auf ihre Lippen. „Hör halt hin!“

„Stellung halten heißt aufmerksam sein und vaterlandstreu.“ Fritz Dreesen hielt die Hand an sein Herz und nickte Pützer zu, vielleicht aber auch dem Kaiserbild an der Wand hinter dem Chefkoch. „Mit dem Besatzer wird nur das Nötigste gesprochen; wem eine Unregelmäßigkeit auffällt, der hat die Pflicht, das unverzüglich seinem Vorgesetzten zu melden. Dazu gehört zum Beispiel die Entwendung von Hoteleigentum oder das öffentliche Urinieren oder …“ Sein Blick, der bislang bei Pützer und seinen jugendlichen Hilfsköchen, Gasser, dem alterskrummen Oberkellner, und Alfred, dem schwerhörigen Sommelier, verweilt hatte, driftete zu den Zimmermädchen. „Vertraulichkeiten mit dem feindlichen Besatzer sind strikt untersagt und werden nicht geduldet.“ Er musterte die Frauen misstrauisch.

Elsa verschluckte sich vor lauter Wut. Sie hustete, schmeckte das Blut der aufgebissenen Lippen. Hilde warf ihr einen giftigen Blick zu, Fritz Dreesen einen irritierten, während Ulla Dreesen ihr besorgt den Rücken tätschelte. Allerdings viel zu schwach, um außer weiteren Aufsehens irgendetwas zu erreichen. Schließlich beruhigte sich der Hustenreiz in Elsas Luftröhre, nicht jedoch ihre Wut. Nicht ein einziges Mal in den letzten zehn Minuten hatte der Hotelbesitzer sich direkt an die Frauen im Raum gewandt, als wären sie unfähig, ihn zu verstehen. Und dann warnte er sie vor Vertraulichkeiten mit dem Besatzer? Für was hielt der alte Dreesen sie? Sie und all die anderen Frauen, die er gerade unter den Generalverdacht gestellt hatte, den Besatzern schöne Augen zu machen?

Helene Winter

Über Helene Winter

Biografie

Helene Winter ist das Pseudonym der erfolgreichen Autorin Janet Clark, die den Namen im Gedenken an ihre Großmutter gewählt hat. Janet Clark ermutigt als Autorin, Aktivistin und Mutter seit Jahren Mädchen und Frauen, neue, selbstbewusste Wege zu gehen, so wie die Heldinnen in „Das Weiße Haus am...

Helene Winter im Interview

Worum geht es in Ihrem Roman „Das Weiße Haus am Rhein“?

Um einen realen, geschichtsträchtigen Ort, nämlich das Rheinhotel Dreesen in Bonn/Bad Godesberg, das auch „Das Weiße Haus am Rhein“ genannt wird, und um die (fiktionalisierte) Geschichte der Familie Dreesen, die dieses Hotel seit über einem Jahrhundert führt. Im Zentrum der Geschichte steht dabei der Sohn der Familie, Emil Dreesen. Gerade zurück aus dem Ersten Weltkrieg, muss er sich dem Kampf um das von den Siegermächten besetzte Hotel stellen, in dessen Mikrokosmos sich die Zerwürfnisse der Weimarer Republik und das pulsierende Leben der 1920er Jahre ebenso spiegeln wie der Wahnsinn des Dritten Reichs.

Hier trifft Emil zwei Mal auf die große Liebe: auf die rebellische, faszinierende Elsa, die seine vom Krieg geprägte Weltanschauung beeinflusst, und auf die schillernde Künstlerin Claire, die mit ihm die Zeitenwende zur Moderne einläutet, bis Hitlers Machtergreifung diese in Deutschland wieder erstickt.

Was ist das Besondere an Ihrem Roman „Das Weiße Haus am Rhein“?

Die Verquickung von erzählter Geschichte und Fiktion. Das Rheinhotel Dreesen war schon 1897 eines der modernsten Hotels seiner Zeit, mit fließendem Wasser, Zentralheizung und elektrischem Licht in allen Zimmern. Kaum verwunderlich, dass es die entsprechende Klientel angelockt hat – vom kaiserlichen Kronprinzen über die bekanntesten Politiker der Weimarer Republik bis hin zu Adolf Hitler, der dort als Stammgast eine ungewöhnliche Verbindung zu dem Hotelbesitzer aufbaute – trotz dessen jüdischer Wurzeln. Eine großartige Kulisse für einen mitreißenden Roman, in dem fiktive Charaktere und realhistorische Figuren miteinander verquickt werden.

Fühlt es sich anders an, in einem Roman Figuren auftreten zu lassen, hinter denen realhistorische Personen stehen, als rein fiktive Charaktere?

Absolut. Ich gehe als Autorin mit sehr viel Respekt an diese Figuren heran. Ich möchte ihnen gerecht werden, sie nicht in einem verzerrten oder gar falschen Licht darstellen. Das hemmt natürlich. Glücklicherweise hat mir die Familie Dreesen Zugang zu ihrem Privatarchiv gegeben und mir bereitwillig Auskunft erteilt. Das hat sehr geholfen.

Welche Ihrer Romanfiguren imponiert Ihnen am meisten?

Elsa. Sie ist eine Vorreiterin ihrer Zeit, eine mutige und kluge Frau, die an der Front des Ersten Weltkriegs als Krankenschwester gelernt hat, beherzt zu handeln. Beeinflusst von den Frauenrechtlerinnen und bestärkt durch die ersten Errungenschaften des Feminismus, setzt sie sich unerschrocken für ihre Kolleginnen ein und kämpft in der jungen Republik gegen Nationalismus und für eine gerechtere Welt.

Wie sähe ein Tag im Rheinhotel anno 1900 aus?

Für das Personal wäre er geprägt von viel harter Arbeit. Zu dieser Zeit hatte das Hotel noch eigene Gemüseund Obstwiesen, Hühner, Schweine, eine eigene Bäckerei und Patisserie und natürlich eine Waschküche, in der die Angestellten per Hand die Hotelwäsche reinigten. Wurde geschlachtet, kam ein Schlachter ins Haus. Obgleich das Hotel auf der Höhe der modernen Technik war und voll elektrifiziert, gab es damals natürlich keine Wasch­ oder Spülmaschinen und ähnliche moderne Hilfsmittel.

Die für damalige Zeiten revolutionär moderne Zentralheizung musste angeschürt und am Laufen gehalten werden, ebenso der Kohleherd in der Küche. Die Speisen wurden auf Silber vorgelegt, das regelmäßig geputzt werden musste, ebenso die vielen Jugendstilornamente des Prachtbaus. Dazu betrieb die Familie Dreesen den Rheinpavillon, eine Gaststätte direkt am Rhein, neben der das imposante Hotel erbaut wurde.

Die Gäste erfreuten sich im Hotel an dem modernen Komfort und der unmittelbaren Nähe zum Rhein und auch an vielen Veranstaltungen. So der wöchentliche Tanztee mit hauseigener Musikkapelle, mannigfaltige weitere Musikveranstaltungen, Soireen, Karnevalfeste und so weiter.

Pressestimmen
buchblinzler.com

„Ein leicht lesbarer, aber nicht flacher Roman, der Fakt und Fiktion unterhaltsam verbindet.“

Ludwigsburger Wochenblatt

„Der Roman ist großartig recherchiert und spannend geschrieben.“

Sempacher Woche (CH)

„Eine große, dramatische Familiengeschichte um Liebe und Verrat, Macht und Verluste, die zugleich auch ein Stück der deutschen Geschichte widergibt. Viele Stunden spannender Lektüre sind garantiert.“

Frau von Heute

„Mitreißende, spannende Familiensaga!“

General-Anzeiger Bonn

„Geschichte und Fiktion verbinden sich vor der Kulisse zu einem spannenden Lesevergnügen.“

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