Das Zelt — Inhalt
Eine Katze kommt in den Himmel, wenn auch gänzlich gegen ihren Willen, denn sie hat Höhenangst. Gott sitzt dort mit pelzigen Klauen in einem Baum und spricht freundlich mit ihr – allerdings etwas träge und mit vollem Mund, und dazu ist der Boden unter dem Baum übersäht mit abgebissenen Engelsflügeln ... Gewohnt geistreich und weitblickend, amüsant und scharfzüngig reflektiert Margaret Atwood die Welt und unsere Zeit. Auf höchst prägnante, fantasievolle Weise widmet sie sich in Das Zelt den Themen Liebe und Beziehung, Geschichte, Literatur und Kunst.
Leseprobe zu „Das Zelt“
Lebensgeschichten
Woher kommt der Hunger nach solchen Geschichten? Wenn es überhaupt Hunger ist. Vielleicht ist es eher eine Art Herrschsucht. Vielleicht wollen wir nur über das Leben verfügen können, egal wer es gelebt hat.
Fotos sind dabei eine echte Hilfe. Die Abgebildeten haben keine Wahl mehr – wir nehmen das hier, werfen das da weg. Die, die das in Frage stehende Leben gelebt haben, hatten ihre Chancen, die sie meist nicht genutzt haben. Sie hätten den Fotografen im Busch entdecken müssen, sie hätten nicht mit offenem Mund essen dürfen, sie mussten [...]
Lebensgeschichten
Woher kommt der Hunger nach solchen Geschichten? Wenn es überhaupt Hunger ist. Vielleicht ist es eher eine Art Herrschsucht. Vielleicht wollen wir nur über das Leben verfügen können, egal wer es gelebt hat.
Fotos sind dabei eine echte Hilfe. Die Abgebildeten haben keine Wahl mehr – wir nehmen das hier, werfen das da weg. Die, die das in Frage stehende Leben gelebt haben, hatten ihre Chancen, die sie meist nicht genutzt haben. Sie hätten den Fotografen im Busch entdecken müssen, sie hätten nicht mit offenem Mund essen dürfen, sie mussten das trägerlose Oberteil ja nicht tragen, sie hätten nicht gähnen, nicht lachen sollen: diese Gebisse sind so unattraktiv. So sah sie also aus, sagen wir und verbinden diesen Schnappschuss mit dem Jahr, in dem sie ihre wilde Affäre hatte. Ein Gesicht wie eine angeknabberte Pizza, und ist er das etwa, der ihr in den Ausschnitt starrt? Was hat er in ihr gesehen außer ihrem Geld? Der hatte ja schon fast eine Glatze. Was ist denn daran so aufregend?
Ich arbeite an meiner eigenen Lebensgeschichte. Ich meine damit nicht, dass ich sie zusammensetze; nein. Ich nehm sie auseinander. Es kommt vor allem auf die Schnitte an. Wenn Ihr lieber was Erzählerisches wolltet, hättet Ihr früher danach fragen sollen, als ich noch alles wusste und mehr als bereit war, es zu erzählen. Das war, bevor ich die Tugenden der Schere entdeckte, die Tugenden der Streichhölzer.
Ich wurde geboren, so hätte ich angefangen, früher. Aber schnipp, schnipp, weg sind Mutter und Vater, weiße Papierstreifen, die im Wind davontreiben, die Großeltern auch gleich mit raus, wenn wir schon dabei sind. Ich habe meine Kindheit verbracht. Das brauchen wir auch nicht. Adieu schmutzige Kinderkleider, adieu abgetretene Schuhe, die mir so eine Qual bereiteten, adieu von Fäusten verschmierte Tränen und abgeschürfte Knie und an den Rändern verschlissene Trauer.
Die Adoleszenz kann auch gestrichen werden mit ihrer salzigen, gebräunten Haut, ihrer Trägheit und ihren abgeschmackten Romanzen und ihrem Sickern saisonalen Blutes. Wie war das, so schwer zu atmen, als wär man unter Drogen, während man sich in dunklen Gassen an seltsamen Ledermänteln rieb? Ich weiß es nicht mehr.
Wenn man erst mal angefangen hat, macht es Spaß. So viel Freiraum öffnet sich da. Zerreißen, zusammenknüllen, verbrennen, aus dem Fenster werfen. Ich wurde geboren, ich wuchs heran, ich studierte, ich liebte, ich heiratete, ich pflanzte mich fort, ich sagte, ich schrieb – das ist jetzt alles weg. Ich ging, ich sah, ich tat. Lebt wohl, ihr bröckelnden, historisch wertvollen Türme, lebt wohl, Eisberge und Kriegsdenkmäler, all diese jungen Steinmänner mit zum Himmel erhobenen Augen, lebt wohl, ihr riskanten Reisen mit wimmelndem Ungeziefer und zweifelhaften Hotels und Türen, die sich nach innen und außen öffnen. Lebt wohl, Freunde und Geliebte, ich habe euch aus den Augen verloren, ihr seid ausradiert, gesichtslos geworden: Ich weiß, ihr hattet mal merkwürdige Frisuren und erzähltet Witze, aber ich habe sie vergessen. Unter die Erde mit euch, ihr zärtlichen Katzen und Hunde und Pferde und auch Mäuse mit den Fellgehirnen: Ich habe euch geliebt, Dutzende von euch, aber wie hießt ihr noch?
Ich komm jetzt voran, ich fühl mich leichter. Ich löse mich von den Notizheften, den Fotoalben, den Tagebüchern und Journalen, vom Raum, von der Zeit. Nur ein Absatz ist noch übrig, nur ein oder zwei Sätze, nur ein Flüstern.
Ich wurde geboren.
Ich wurde.
Ich.
Kleiderträume
Oh nein. Nicht schon wieder. Das ist der Kleidertraum. Den hab ich schon seit fünfzig Jahren. Gang um Gang, Schrankvoll um Schrankvoll, Metallständer um Metallständer mit Kleidung, unter dem grellen Licht von Neonröhren erstrecken sie sich bis in die Ferne – so bunt und bestickt und verwirrend, und schließlich so düster und bedrückend wie die Träume eines langjährigen Opiumrauchers. Warum bin ich gezwungen, diese Kostüme zu betasten und durchzuforsten, die Bügel durcheinanderzubringen, über Seidenbänder zu stolpern, an einem Haken oder Knopf hängen zu bleiben, während Federn und Glanzknöpfe und falsche Perlen auf den Boden fallen wie Ameisen aus einem brennenden Baum? Was ist der Anlass? Wen muss ich beeindrucken?
Es riecht nach altem Achselschweiß. Alles ist schon getragen worden. Nichts passt. Zu klein, zu groß, zu magentafarben. Diese Polster, Reifen, Raffungen, Drahtkrägen, Samtkapuzen – keine dieser Verkleidungen ist meine. Wie alt bin ich in diesem Traum? Habe ich Brüste? Wessen Leben lebe ich? Wessen Leben vermag ich nicht zu leben?
Flasche
„Ich will doch nur so sein wie alle anderen“, sagte ich.
„Bist du aber nicht“, sagte er mir. „Du bist nicht wie die.“
„Warum nicht?“, sagte ich. Ich war geneigt, auf ihn zu hören. Er hatte eine überzeugende Art.
„Weil ich dich liebe.“
„Das ist alles?“
„Ich bin nicht irgendwer“, sagte er.
„Niemand ist das“, sagte ich.
„Siehst du“, sagte er, „das mein ich ja, du bist nicht wie alle anderen. Du hast ein Auge für Details, du beziehst das Charakteristische ein, du erkennst künftige Entwicklungen. Das sind die Eigenschaften, die ich suche.“
„Soll das eine Verführung sein?“, sagte ich.
„Nein. Die Verführung hat schon vor einer Weile stattgefunden; das hast du gar nicht gemerkt. Darüber sind wir hinaus. Wir sind beim Einstellungsgespräch. Gerade handeln wir die Konditionen aus.“
„Was muss ich tun?“, sagte ich.
„Mit mir schlafen, das ist ja wohl klar. Ich sorg schon dafür, dass du was davon hast.“
„Was noch?“
„Ich schätze Loyalität. Denk dran, du bist keine Anwältin: bums nicht mit den Klienten.“
„Würd ich sowieso nicht. Ihr Karma war immer schlecht. Was noch?“
„Nur das, was du ohnehin schon tust“, sagte er. „Ein paar Routineaufgaben. Ein bisschen Rauch einatmen, ausgesuchtes Pflanzenmaterial kauen, ein paar Rätsel erzählen, Dinge auf Laubblätter schreiben. Ab und zu mal eine Beschwörung; ein paar Besichtigungstouren durch die Hölle führen. Den Stil des Etablissements wahren.“
„Nichts mit Schlangen? Das kann ich nicht, wenn’s Schlangen geben soll. Da hab ich eine Phobie.“
„Schlangen hatten wir letztes Jahr.“
„Gut. Wo soll ich unterschreiben? Moment noch – was krieg ich dafür?“
„Ihr Frauen seid so materialistisch.“
„Nein, im Ernst?“
„Du wirst klug. Klüger, als du schon bist, mein ich.“
„Das ist nicht genug.“
„Na gut: Du kannst ein bisschen Unsterblichkeit kriegen. Hier. Sie ist in dieser Flasche. Siehst du sie?“
„Der kleine Staubhaufen?“
„Guck mal genauer hin.“
„Oh ja. Funkelt das immer so?“
„Nur am Anfang.“
„Und du weißt ganz bestimmt, dass es Unsterblichkeit ist?“
„Vertrau mir. Wenn du nur eine Prise davon nimmst, wirst du immer eine Stimme haben.“
„Eine Stimme haben oder eine Stimme sein?“
„Das eine oder das andere.“
„Na gut, vielen Dank auch.“
„Lass die Flasche nicht fallen. Geh vorsichtig damit um. Man muss auf diese Dinge achtgeben, sie haben die Eigenheit, größer zu werden. Sie können so groß werden wie der Himmel. Man kann in sie reingezogen werden, bevor man’s richtig merkt. Das ist der Vakuum-Effekt. Stell sie jetzt hin, da drüben in der Ecke, zieh den dicken Mantel aus und leg deine Arme …“
„Mir ist schwindlig. Das ist mir ein bisschen zu intensiv hier. Ich hab heute Mittag zu viel gegessen. Ich glaub, ich sollte nach Hause gehen und mich hinlegen.“
„Leg dich auf der Stelle hin! Du schuldest mir was, das weißt du doch noch? Nichts geht über die Gegenwart. Schneid ’ne Kehle durch, spendier ein Trinkopfer, leer deinen Verstand, schließ die Augen, mach Platz für mich, denk an Höhlen …“
„Aua. Lass mich los! Ich muss einmal Luft holen. Ich kann jetzt nicht. Wie wär’s mit nächster Woche?“
„Liebst du mich nicht?“
„Darum geht’s nicht. Es ist nur – bist du wirklich das, was du zu sein behauptest?“
„Ich bin, was ich bin. Ich bin auch alles, was du willst. So ist das mit Göttern, und ich bin schließlich einer.“
„Also bist du gar nicht da. Du bist nur in meinem Kopf. Du bist nur ein – du bist nichts.“
„Mehr oder weniger.“
„Das hab ich mir gedacht. Warte, komm zurück!“
„Ich bin nicht blöd. Ich versteh ein Nein, wenn ich eins hör.“
„Ich hab das nicht so gemeint. Lass uns reden.“
„Du kannst nicht mit nichts reden.“
„Aber –“
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