Denkanstöße 2022 (Denkanstöße) - eBook-Ausgabe
Ein Lesebuch aus Philosophie, Kultur und Wissenschaft
— JahrbuchDenkanstöße 2022 (Denkanstöße) — Inhalt
„Die wichtigsten Erkenntnisse zusammengefasst.“ Spiegel Online
Wie können wir in unsicheren Zeiten vernünftig mit Risiken und Gefahren umgehen? Was können wir tun, um rassistische Strukturen zu überwinden? Wieso müssen wir Natur und Gesellschaft ganz neu denken, wenn wir der Klimakrise wirklich etwas entgegensetzen wollen? Und wie konnte es dazu kommen, dass die Bewältigung der Corona-Krise die Politik in diesem Jahr so sehr überfordert hat? Die Denkanstöße 2022 versammeln kompaktes Wissen und ausgereifte Argumente eines Jahres von bekannten Autorinnen und Autoren wie Julian Nida-Rümelin, Stefan Aust, Mohamad Amjahid, Katja Gloger und Georg Mascolo. Eine Einladung zum Mit- und Weiterdenken!
Leseprobe zu „Denkanstöße 2022 (Denkanstöße)“
Vorwort
„Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn“, hat der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges einmal gesagt. Wie wichtig und horizonterweiternd das Denken mit fremden Gehirnen gerade in unserer krisengebeutelten, herausfordernden Zeit ist, kann gar nicht genug betont werden. Bei der Diskussion um Maßnahmen der Pandemiebekämpfung, der aktuellen Rassismusdebatte oder der Frage nach dem richtigen Umgang mit der Klimakrise entsteht allzu oft der Eindruck, es gebe nur noch Schwarz oder Weiß. Das politische Klima polarisiert sich mehr und mehr, Teile [...]
Vorwort
„Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn“, hat der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges einmal gesagt. Wie wichtig und horizonterweiternd das Denken mit fremden Gehirnen gerade in unserer krisengebeutelten, herausfordernden Zeit ist, kann gar nicht genug betont werden. Bei der Diskussion um Maßnahmen der Pandemiebekämpfung, der aktuellen Rassismusdebatte oder der Frage nach dem richtigen Umgang mit der Klimakrise entsteht allzu oft der Eindruck, es gebe nur noch Schwarz oder Weiß. Das politische Klima polarisiert sich mehr und mehr, Teile der Bevölkerung stehen einander in scheinbar unversöhnlichen Lagern gegenüber, durch die Gesellschaft verlaufen tiefe weltanschauliche Gräben. Wie wohltuend kann es da sein, den eigenen Denkhorizont ganz bewusst zu verlassen und die eigenen Positionen mit dem Wissen und den Thesen fremder Gehirne zu bereichern.
Die hier versammelten Texte der „Denkanstöße 2022“ laden Sie ein zu einer Reise weit hinaus über die Grenzen der eigenen Gedankenwelt. Julian Nida-Rümelin und Nathalie Weidenfeld erläutern, wie wir vernünftig mit Risiken und Gefahren umgehen können. Fabian Scheidler zeigt, warum unser technokratisches Weltbild, das die Natur zu einer beherrschbaren Ressource in der Hand des Menschen degradiert, ein fataler Irrtum ist. Mohamed Amjahid gibt wichtige Impulse für antirassistisches Denken und Handeln, Katja Gloger und Georg Mascolo liefern Innenansichten des politischen Geschehens in der Corona-Pandemie, und Stefan Aust nimmt uns in seiner Autobiografie mit durch eine besonders spannende Episode der bundesdeutschen Geschichte. Ursula Nuber erläutert, warum Beziehungsprobleme in Wahrheit oft Bindungsprobleme sind. Doris Reisinger und Christoph Röhl decken auf, wie der ehemalige Papst und das „System Ratzinger“ sexuellen Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche jahrzehntelang geleugnet, vertuscht und verschwiegen haben. Und der UNO-Sonderbeauftragte für Folter Nils Melzer zeigt, warum die Verfolgung von Julian Assange einen der größten Justizskandale unserer Zeit darstellt.
Die hier versammelten Autorinnen und Autoren setzen sich kritisch mit der Wirklichkeit auseinander, in der wir leben. Sie leihen uns also ihre Gehirne, damit wir unser Denken und Tun hinterfragen und gegebenenfalls neu ordnen können. Dabei wünsche ich Ihnen viel Vergnügen und erhellende Einsichten.
Isabella Nelte
ERKENNTNISSE
Aus Wissenschaft und Philosophie
Julian Nida-Rümelin, Nathalie Weidenfeld
Die Realität des Risikos. Über den vernünftigen Umgang mit Gefahren
Risiko ist kein Konstrukt
In Nigeria bringt ein Taxifahrer eine blutende Patientin in ein Krankenhaus. Beim Abladen der Patientin erfährt er, dass diese an Ebola leidet. Er brüllt, rauft sich die Haare und schreit das Krankenhauspersonal an. Er weiß genau, dass bei einer so ansteckenden Krankheit wie Ebola diese Fahrt möglicherweise sein eigenes Todesurteil bedeutet.
Als New York von riesigen, eiskalten Flutwellen überschwemmt wird, bricht eine Massenpanik aus. Die Bewohner flüchten auf Hochhäuser, in U-Bahn-Schächte. Wer hätte gedacht, dass die nahende Eiszeit jetzt schon beginnt?
Nach einem Erdbeben wird ein Atomkraftwerk im Süden Koreas schwer beschädigt. Die Mitarbeiter wissen nicht, was zu tun ist. Der Cheftechniker rät dem Direktor des Werks, offiziell Alarm auszurufen und die Anwohner zu benachrichtigen, damit diese evakuiert werden können. Der aber weigert sich. Stattdessen herrscht er die Arbeiter an weiterzuarbeiten. „Es gibt überhaupt keinen Grund durchzudrehen. Gehen Sie ganz normal Ihrer Arbeit nach.“ Die Mitarbeiter sehen ihn entgeistert an. Will er die Gefahr unbewusst verdrängen? Oder geht er bewusst ein Risiko ein, in der Hoffnung, dass die Folgen doch nicht so schlimm sein werden, wie eigentlich zu erwarten ist? Aber selbst der Präsident Südkoreas zögert, eine Evakuierung anzuordnen. Was, wenn eine Massenpanik ausbricht? Wären dann die Kollateralschäden nicht größer?
Szenen wie diese stammen aus Katastrophenfilmen wie 93 Days, The Day After Tomorrow und Pandora. Leider sind Situationen wie diese aber nicht nur auf Filme beschränkt – wir hatten es in der Vergangenheit sowohl mit beschädigten Atomkraftwerken wie auch mit ausbrechenden Ebola-Pandemien zu tun, auch wenn uns eine innerhalb weniger Stunden hereinbrechende Eiszeit wie in The Day After Tomorrow bislang noch erspart geblieben ist. Katastrophen sind ein Teil unserer Menschheitsgeschichte. In all diesen Situationen geschieht meist das, was in Filmen auch geschieht. Politiker versuchen, Massenpanik zu vermeiden, Risiken zu beschränken und ihr Image nicht zu beschädigen. Sie sind in der schwierigen Position, sich von der Gesamtlage ein Bild zu machen und auf dieser Basis Entscheidungen zu treffen, was vor allem angesichts sich zuweilen widersprechender Expertenmeinungen nicht einfach ist. Es droht ein Clash zwischen der Bevölkerung und der Regierung, der vorgeworfen wird, die Krise nicht gut zu bewältigen. Und dann sind da natürlich auch noch die Menschen mit ihren individuellen psychologischen Reaktionen auf Krisensituationen. Manche behalten einen kühlen Kopf, manche werden hysterisch und überschätzen die Gefahrenlage, und andere wiederum denken selbst in Krisensituationen nur an ihren eigenen ökonomischen Vorteil.
Aber es ist nicht nur das Individuum, das, konfrontiert mit Unsicherheiten und Gefahren, ratlos oder sogar kopflos werden kann, auch ganze Gesellschaften müssen sich Risiken stellen und auf diese reagieren. Ohne Verständigung über das, was gefährdet ist, und das, was eine angemessene Reaktion sein könnte, werden Gesellschaften und Kulturen in der Krise handlungsunfähig. Die Covid-19-Pandemie hat große Teile der Welt in eine anhaltende Ratlosigkeit gestürzt und nicht nur viel Leid über betroffene Familien gebracht, Todesopfer und Gesundheitsschäden verursacht, sondern auch aufgezeigt, wie vulnerabel die global vernetzte Ökonomie ist. Institutionen und Systeme wurden auf den Prüfstand gestellt, und Prüfungen solcher Art wird es auch in Zukunft geben. Daher ist es wichtig, über individuelle Risiken nachzudenken und Kriterien eines rationalen Umgangs mit diesen zu entwickeln. Dazu verbindet dieser Beitrag wissenschaftliche Erkenntnisse und philosophische Überlegungen mit lebensweltlichen Erfahrungen und fiktionalen Beispielen insbesondere aus Filmen. Die Lektüre soll zum eigenen Nachdenken anregen, aber auch Orientierung geben. Orientierung in der Welt der Werte und Normen im Umgang mit individuellen und kollektiven Risiken. Covid-19 ist nur das aktuelle Ausgangsbeispiel. Aber es steht für das Ganze eines sensiblen, aufgeklärten, vernünftigen und moralischen Umgangs mit der Realität des Risikos. Risiko ist kein Konstrukt. Es ist real. Und wir sind herausgefordert, uns mit dieser Realität zu arrangieren.
Das Covid-19-Exempel
Am Ufer von Chinas wichtigstem Strom ranken sich Ungetüme aus Glas und Stahl in den Himmel. 438 Meter misst der höchste dieser Türme, an einem weiteren, der über 600 Meter in die Lüfte ragen soll, wird gerade gebaut. Schon jetzt nimmt es Wuhans Skyline mit den weitaus bekannteren Metropolen der Welt auf. Elf Millionen Menschen leben in Chinas neuntgrößter Stadt und damit mehr als in Paris, London oder New York. Die zentralchinesische Stadt ist ein Verkehrsknotenpunkt. Der Flughafen zählt zu den größten des Landes, er ist Ausgangspunkt für Direktflüge nach Europa, konkret Rom, Paris und London. Noch bequemer sind die Anschlüsse innerhalb des Riesenreichs. Vom modernen Hauptbahnhof, einer Kathedrale aus Kuppeln und Glas, brauchen Hochgeschwindigkeitszüge gerade mal vier Stunden und zwanzig Minuten in die Hauptstadt Beijing, die 1150 Kilometer nördlich liegt. Nur ein paar Blöcke hinter dem Bahnhof tut sich aber eine andere, alte, fast schon archaische Welt auf. Auf mehr als 50 000 Quadratmetern breitet sich der Hunan-Fischgroßmarkt aus, wo an die tausend Händler an Ständen ihre Ware feilbieten. Angeboten werden neben allerlei Meerestieren auch Süßwasserfische und Reptilien. Im westlichen Teil des Marktes wirkt die Szenerie, die auf Bildern festgehalten wird, gleich einmal rauer. Dicht gedrängt stehen dort Käfige, in denen wilde Tiere gefangen sind. Was Kunden dort erwartet, ist fern von europäischen Vorstellungen. Neben Füchsen, Schlangen und etlichen Gürteltieren sind dort auch „Delikatessen“ wie Wolfswelpen, Marderhunde und Fledermäuse zu haben. (…) In diesem Umfeld, inmitten des Gestanks und Lärms, der Enge zwischen Tier und Mensch, passiert im Herbst 2019 etwas, das, auch wenn es pathetisch klingen mag, der Geschichte einen neuen Verlauf gibt.
Aus: Addendum (Hrsg. Michael Fleischhacker)
Anfang Dezember 2019 kommt es in der chinesischen Metropole Wuhan zu zahlreichen Fällen einer bis dahin unbekannten Krankheit, die vor allem die Lungen angreift. Ende Dezember wird ein neues Coronavirus als Ursache identifiziert. Die lokalen chinesischen Behörden vertuschen diese Erkenntnis. Die WHO, von China informiert und involviert, kommt um den Jahreswechsel zu dem Ergebnis, dass die rätselhafte Lungenkrankheit wenig besorgniserregend sei, weil es wohl nicht zu einer Mensch-zu-Mensch-Übertragung komme. Noch in der ersten Januarhälfte 2020 kommt es zu den ersten Covid-19-Todesfällen. Ende Januar lässt sich nicht mehr verheimlichen, dass es Mensch-zu-Mensch-Übertragungen in großer Zahl gibt, auch ein Teil des medizinischen Personals ist betroffen. Die chinesische Regierung reagiert nun mit drastischen Maßnahmen: Zunächst wird die Millionenstadt Wuhan abgeriegelt, dann über die gesamte Provinz Hubei mit der Einwohnerzahl Italiens ein Lockdown verhängt.
Auch in Europa werden nun erste Fälle registriert, aber in den EU-Gremien dominiert die Einschätzung, man habe alles unter Kontrolle. Im Februar bleibt es weiterhin bei der Einschätzung, das Ansteckungsrisiko sei gering, die notwendigen Vorbereitungen auf das großflächige Übergreifen der Pandemie nach Europa unterbleiben. Grenzkontrollen werden nicht erwogen, Reisebeschränkungen auch gegenüber China abgelehnt. Zunächst gelingt es in Deutschland noch, das Aufflammen der Pandemie lokal einzuschränken (der Fall Webasto), aber kurz darauf verlieren die Gesundheitsämter auch hier die Kontrolle über das Geschehen.
Italien leidet da schon massiv in zwei nördlichen Regionen (Lombardei und Emilia-Romagna) unter der neuartigen Krankheit. In Bergamo und Umgebung fällt ihr, wie die Einheimischen sagen, eine ganze Generation von Großeltern zum Opfer. Das örtliche Gesundheitssystem bricht zusammen, und es gelingt nicht, die Ressourcen des Landes insgesamt so zu mobilisieren, dass tragische Triage-Situationen ausbleiben. Zu den Fehleinschätzungen des Risikos zu Beginn der Pandemie (statt zeitlich und regional punktueller Risikoeinschätzungen hätte es diachrone und strukturelle geben müssen, also Einschätzungen, besser noch unterschiedliche Szenarien, zur weiteren zeitlichen und räumlichen Entwicklung des Pandemie-Geschehens) gesellt sich die ausbleibende europäische Solidarität gegenüber dem zunächst am stärksten betroffenen Land Italien, und es zeigen sich massive organisatorische Defizite im Land. Auch die weitgehende Privatisierung und Ökonomisierung des Gesundheitswesens unter Lega-Regierungen im Norden macht sich als Krisentreiber zunehmend bemerkbar.
Am 8. März 2020 werden in Deutschland Großveranstaltungen angesichts der nun auch hierzulande rapide zunehmenden Verbreitung verboten, am 16. März folgen Schulschließungen, und am 22. März das, was man seitdem als „Lockdown“ bezeichnet, also massive Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen, die allerdings in Deutschland nicht so rigide sind wie in den Nachbarländern Österreich, Italien, Frankreich und Spanien. Die Zahl der Neuinfektionen pro Zeiteinheit geht im Laufe der zweiten Märzhälfte deutlich zurück, sodass die erwartete Überforderung der Intensivbettenkapazitäten und des Gesundheitssystems im Ganzen in Deutschland nicht eintritt.
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