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Denn Engel wohnen nebenan

Denn Engel wohnen nebenan

Ilse Gräfin von Bredow
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Rückkehr in die märkische Heide

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Denn Engel wohnen nebenan — Inhalt

Nach der Wiedervereinigung kehrt Ilse Gräfin von Bredow in ihre Heimat Lochow zurück und lässt die unbeschwerten Jahre der Kindheit und Jugend Revue passieren, aber auch den Krieg, die Flucht und den Neuanfang. Die große Erzählerin nimmt uns mit auf eine eindrucksvolle Reise zwischen Gegenwart und Vergangenheit.

€ 10,00 [D], € 10,30 [A]
Erschienen am 02.05.2016
256 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-30896-0
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Leseprobe zu „Denn Engel wohnen nebenan“

1


Es ist ein strahlender Junitag. Der Sommer ’94 hat vielversprechend begonnen. Wir sitzen hinter Luzie Trägenapps Haus im Garten, von dem man einen weiten Blick über die angrenzende Wiese und über ein Stück vom Witzker See hat, und bewundern ihre Blumen. Rittersporn, Löwenmäulchen, Vergissmeinnicht und Levkojen. Luzie klagt über die Quecken mit ihren langen Wurzeln. Sie sind anscheinend so wenig auszurotten wie die Mücken, die meine Vorfahren hier schon vor sechshundert Jahren plagten, als die Bredows dem Teufel im Flug aus dem Sack purzelten und sich [...]

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1


Es ist ein strahlender Junitag. Der Sommer ’94 hat vielversprechend begonnen. Wir sitzen hinter Luzie Trägenapps Haus im Garten, von dem man einen weiten Blick über die angrenzende Wiese und über ein Stück vom Witzker See hat, und bewundern ihre Blumen. Rittersporn, Löwenmäulchen, Vergissmeinnicht und Levkojen. Luzie klagt über die Quecken mit ihren langen Wurzeln. Sie sind anscheinend so wenig auszurotten wie die Mücken, die meine Vorfahren hier schon vor sechshundert Jahren plagten, als die Bredows dem Teufel im Flug aus dem Sack purzelten und sich im Havelland verstreuten. Doch im Moment lassen sie uns in Ruh.
„ Keine Mücken dieses Jahr ? Ich weiß wirklich nicht, was ihr immer habt “, sage ich.
„ Da hättest du mal vor vier Wochen hier sein sollen “, sagt Luzie. Nach anfänglichem Zögern sind ’92 sie und ihr Mann Sigmund Mateke wieder von West-Berlin in das Heimatdorf Lochow zurückgekehrt. Auf dem Trägenappschen Grundstück hat sich das Ehepaar ein Häuschen gebaut. Es waren anstrengende Monate gewesen. » Erinnere mich nicht an diese­ Zeit «, sagt Luzie. Die Großstadt vermisst sie nicht. Sie kann sich kaum noch vorstellen, dass sie es so lange in Berlin überhaupt ausgehalten hat.
„ Kunststück “, sage ich, „ bei dieser Lage ! “
Die hohen Bäume vom Nachbargrundstück, unserem ehemaligen Forstgarten, geben angenehmen Schatten. Gerade weht eine leichte Brise, so dass wir die selbst gebackenen Windbeutel und den Ausblick doppelt genießen. Leider ist ein Grasmäher dabei, der Wiesenblumenpracht den Garaus zu machen. Auch einige Rehkitze werden wohl, wie früher, in dem dichten Gras ihr Leben lassen müssen.
Außer meiner Schwester gehören zu Luzies Kaffeegästen auch ihre Schwägerin Genia Mateke, ihre Schwester Ilse und ihr Schwager Arno Mateke. Wir sind sozusagen der letzte Rest der „ Eingeborenen “, ein Häuflein klein, die meisten von uns inzwischen Rentner und von den üblichen Alterszipperlein geplagt. Trotz der Grenze waren wir immer in Verbindung geblieben, auch mit anderen alten Bekannten aus dieser Gegend, mal mehr, mal weniger, wie es die Lebensumstände gerade so mit sich brachten. Lochow, der früher so idyllische Ort mit seinen wenigen Häusern, hat sich im Laufe der Jahre in Richtung Luch gestreckt. Schöner ist er dadurch nicht geworden. Baracken am Ufer des kleinen Sees, ein ausgebrannter Wohnwagen, ein leerer, allmählich zusammenstürzender Kuhstall der LPG und dicht bei dicht Finnenhütten auf unserer ehemaligen Koppel hinter der Scheune.
Meine Schwester und Luzie haben begonnen, von den beschaulichen Zeiten unserer Kindheit zu reden, von den heißen Sommern, wenn uns der Sand fast die nackten Fußsohlen verbrannte, Frauen und Mädchen im Dorf nur Schlüpfer und eine Kittelschürze darüber trugen und meine Mutter auf dem Flügel das Lied vom Nöck spielte. „ Komm wieder, Nöck, du singst so schön, wer singt, kann in den Himmel gehn. “ Wir Kinder plärrten : „ Anneliese Lohse macht sich in die Hose ! “ Und nach Feierabend ließ jemand am Witzker See sein Horn klagen : „ Schön ist die Jugendzeit, sie kommt nicht mehr. “ Das Frühjahr, das sich jedes Mal Zeit ließ – „ Mein Gott, dieses Jahr wird’s ja wohl überhaupt nicht mehr Frühling ! “ –, und plötzlich, wie durch Zauberhand, waren die Wiesen voller Sumpfdotterblumen, tummelten sich die Kiebitze über der Wiese, wurde alles wieder grün, und die Waldmeisterbowle brachte uns in Schwung. „ Waldeslust, Waldeslust, oh, wie einsam schlägt die Brust. “ Die Männer von Luzie und Ilse, die Matekes und ihre Vettern und Kusinen hatten Ähnliches erlebt. Auch sie sind auf dem Land groß geworden, erst in Wolhynien und dann im Warthegau, wohin sie nach dem Pakt zwischen Stalin und Hitler umgesiedelt worden waren.
Wir reden darüber, wie Luzies Mutter über den Gartenzaun in Richtung unserer Küche rief : „ Erna, bei ’ne Weile Brot holen ! “ Bäcker Scheer aus Ferchesar kam mit Pferd und Wagen nur einmal in der Woche. Das Brot backte sich das Dorf selbst, im Backofen neben unserer Scheune. Den Backofen gibt es nicht mehr, und die Eiche mit den Hornissen vor Trägenapps Haus ist einem Sturm zum Opfer gefallen. Wir reden dies, wir reden das und verklären die Erinnerungen. Im Winter das Schlittschuhlaufen auf dem Witzker See und den überschwemmten Wiesen. Eine endlose Eisfläche dehnte sich und glitzerte im Mondlicht, während der kalte Ostwind uns ins Gesicht blies. Das Fischen mit Aalpuppen und Netzen, und dann der Schnee, der jedes Geräusch erstickte.
An unsere Liese­, die Kriegsveteranin aus dem Ersten Weltkrieg, können sich allerdings nur noch meine Schwester und ich erinnern. Vor eine Kette Rodelschlitten gespannt, stampfte sie in einem für einen Kaltblüter erstaunlichen Tempo die Waldwege entlang, angefeuert von Gerhard Karge, der auf dem letzten Schlitten die Trommel meines Bruders schlug, dafür allerdings auch in der Kurve die Balance verlor und umkippte. Gerhard Karge ist inzwischen gestorben, wie schon so viele aus meiner Generation. Dann sind wir beim Adventssingen in unserem Haus angelangt, wo man sich um den Flügel versammelte und die Transparente bewunderte, während meine Mutter Weihnachtslieder spielte.
Mir fällt mal wieder Schauriges ein. „ Weißt du noch “, sage ich zu meiner Schwester, „ der Uhrmacher in den Zwanzigerjahren ? Der reizende alte Herr, der gütige Onkel, von den Kindern geliebt ? “
„ Keinen Schimmer “, sagt meine Schwester abwehrend. Sie ahnt, was kommt, und sieht ihre Kindheit gern als eine heile Welt.
„ Das weißt du nicht mehr ? “, frage ich ungläubig. » Er hat den Bauern die Uhren repariert und so ganz nebenbei meh­rere Kinder umgebracht. Auf unseren Streifzügen im Wald haben wir uns mit dieser Geschichte gegenseitig gegruselt. «
„ Typisch “, sagt meine Schwester. „ An so was erinnerst nur du dich. Pass auf, du kleckerst. “
Irritiert sehe ich auf das Tischtuch. „ Wo denn ? “ Ich schiebe­ den Teller beiseite. Tatsächlich, ein Obstfleck.
„ Macht doch nichts “, sagt Luzie.
„ Du warst schon immer eine Kleckerliese “, sagt meine Schwester. Sie ist fast fünfundsiebzig und ich fast zweiundsiebzig, aber die geschwisterlichen Reibereien funktionieren immer noch.
„ Noch jemand Kaffee ? “, fragt Luzie und, vorwurfsvoll : „ Ihr esst ja gar nichts. Greift doch zu ! “ Das Aufheulen eines Motors lässt uns zusammenzucken. Ein BMW-Fahrer mit Berliner Kennzeichen verwechselt offensichtlich den Plattenweg mit der Autobahn und gerät prompt ins Schleudern. Fast landet er in Luzies Gartenzaun. Entrüstet drehen wir uns nach ihm um. Es ist immer dasselbe mit den Städtern. Und schon fällt mir wieder ein : „ Schlimmer als Rüsselkäfer und Waldbrände zusammen ! “ Alles wie gehabt. Auch das Elternhaus, das uns nun wieder gehört. Nikolai Kolbatsch, der Onkel von Sigmund und Arno Mateke, hat es uns zurückgegeben. Er stammte aus der Ukraine und war mit seiner Familie seit ’40 bei uns. Nach der Enteignung war ihm als Siedler das Grundstück zugeteilt worden. Doch von Anfang an hatte er es nie als sein Eigentum betrachtet und auch bis zu seinem Tode keinen Hehl daraus gemacht, dass er es uns wieder überlassen würde.
„ Stimmt “, sagt Sigmund, Luzies Mann. » Er hat immer gesagt­ : › Die Grafen kommen wieder. Ist doch ihr Land, oder nicht ? ‹ Und er hat sein Versprechen gehalten. «
„ Zuletzt hat er auch nicht mehr leben wollen “, sagt Luzie. „ Seitdem Tante Olga gestorben war, hat er sich ganz in sein Haus verkrochen. Nicht mal mehr den Garten hat er zum Schluss bestellt. Und den Hund hat er auch weggegeben. “
„ Glaubst du, dass er sich nach seinem Hof in der Ukraine gesehnt hat ? “, frage ich.
„ Zu Anfang vielleicht nicht, aber zum Schluss, glaub ich, schon. “ Wir schweigen. Eine Gedenkminute für Nikolai Kolbatsch. Auch der Grasmäher schweigt. Bleierne Hitze liegt jetzt über dem Land. Für kurze Zeit herrscht Stille. Es ist die Stunde der Roggenmuhme, vor der man uns Kindern Angst machte, damit wir nicht durchs Getreide liefen und alles zertrampelten. Nikolai müssen unsere spärlichen Erträge ärmlich vorgekommen sein gegen das, was er auf seinem Hof in der Ukraine geerntet hatte, der Kornkammer Russlands, wie es hieß.
„ Der Onkel Kolla war so ein Mensch “, sagt Arno Mateke, Luzies Schwager, und beginnt, in seiner bedächtigen Weise den Onkel zu beschreiben, da bringt ihn ein voll aufgedreh­tes Autoradio zum Verstummen, das „ Katzenklo, Katzenklo macht jede Katze frisch und froh “ oder so ähnlich plärrt, so dass Arnos Promenadenmischung, die heute mal nicht ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgeht, die Schwalben auf den Telefondrähten anzubellen, kläffend aus dem Hof hinter dem Auto herwetzt.
„ › Katzenklo, Katzenklo ‹, so was Hirnrissiges “, lache ich. Aber dann fällt mir ein, dass die Schlager in meiner Kindheit auch nicht viel geistreicher waren : „ Es war einmal ein Teddybär, der blies Trompete und noch mehr. Und war man zu ihm grob und barsch, dann blies er den Radetzkymarsch. Oh, Mona ! “
„ Dreihundert Autos haben wir an einem Wochenende gezählt “, sagt Sigmund, „ das kann ja noch heiter werden. “ Und meine Schwester fügt hinzu : „ Gott erhalte uns den Plattenweg. “
„ Auf dem man nicht mal radeln kann “, ergänze ich bedauernd.
„ Da hättest du mal hier sein sollen, als die Russen das Luch noch als Übungsgelände für ihre Panzer benutzten “, sagt Ilse Mateke und fügt ohne Übergang hinzu : „ Am 24. April ’45 seid ihr weggemacht. Ich weiß es noch wie heute. Vier Tage nach Adolfs Geburtstag. Dein Vater ist noch zu meiner Mutter gekommen und hat gesagt : › Frau Trägenapp, geben Sie mir lieber Ihre Mädchen mit. Es wird schlimm werden. ‹ Aber Mutter wollte nicht. Sie konnte sich nicht von uns trennen. “


2


Ich erinnere mich. Nachdem ich mich von der Wehrkreis-Reit- und -Fahrschule abgesetzt hatte und auch meine Schwester, die im Herbst ’44 einen Vetter von uns geheiratet hatte, wieder in Lochow war und die Front allmählich näher und näher rückte, stand Vaters Entschluss, Lochow zu verlassen, fest. Ein Wagen wurde für die Flucht vorbereitet, Kisten und Koffer wurden gefüllt, und wir konnten uns nicht einig werden, was am wichtigsten zum Mitnehmen war. Auf jeden Fall einige Erinnerungsstücke, an denen unsere Herzen hingen, darunter auch der zerbeulte Serviettenring meines Bruders, den er zur Taufe bekommen hatte.
Nachdem wir Kisten und Koffer auf dem Treckwagen verstaut­ hatten, sich, o Wunder, auch das Oktavheftchen, in dem jeder Gegenstand verzeichnet war, wiederfand und das Haus in dem ganzen Durcheinander die Gemütlichkeit eines Güterwaggons ausstrahlte, hatte es sich Vater plötzlich doch anders überlegt. Wie sollte Nikolai ohne Pferde die Frühjahrsbestellung machen ? Auch würde es womöglich hei­ßen, wir hätten uns aus dem Staube gemacht und den Leu­ten keine Chance gegeben, mit ihren Kindern wegzukom-
men.
So wanderte alles wieder zurück in Schränke und Kommoden, und nur meine Mutter fuhr mit dem Treck einer befreundeten Familie voraus. Wir wollten mit den Rädern nachkommen und uns mit ihr, wie es die Situation ergab, entweder in Niedersachsen bei entfernten Verwandten oder in Schönweide, einem Gut in Holstein, treffen.
Am 23. April verwöhnte uns der Staat noch mit einer Son­derration Zucker, die ich aus Rathenow holen musste. Ich war noch nicht ganz aus der Stadt heraus, da begann die Eisenbahnflak zu schießen. Die Granatsplitter prasselten nur so durch die Bäume, als führe ich durch einen Platzregen. In der Nacht vom 23. zum 24. hörten wir es zum ersten Mal, dieses malmende Geräusch von Panzern. Mein Vater, der es vorher nicht so eilig gehabt hatte, drängte jetzt sehr. Er setzte sich mit meinem Onkel in Stechow in Verbindung, dessen Treck wir uns anschließen wollten. Wir packten unsere Rucksäcke und füllten unsere Feldflaschen mit Rotwein. An den Lenkstangen der Fahrräder befestigten wir Stalllaternen.
Möpschen, unseren Bernhardiner, konnten wir nicht mitnehmen. Er war nicht mehr der Jüngste und schon ziemlich steifbeinig. Er wedelte nur kurz, als wir ihn streichelten, zu sehr war er mit der Blutwurst beschäftigt, die wir ihm spendiert hatten. Nikolai würde sich um ihn kümmern.
Wir gingen noch einmal durchs Haus. Waren die Fenster auch verschlossen ? Die Schränke sollte man lieber offen lassen, hatten wir gehört. Die würden doch nur aufgebrochen. Während wir von Zimmer zu Zimmer gingen, fühlten wir uns ein bisschen verlegen. Waren wir nicht überängstlich ? Friedrich der Große in Öl über Vaters Schreibtisch blickte verächtlich. Das wollten nun Preußen sein. Im Flur zog ich noch einmal Großmutters Spieluhr auf. Vier Porzellanpüppchen im Rokokokostüm, die in einer Rosenlaube auf zierlichen Stühlchen an einem gedeckten Tisch saßen, hoben die Tassen und bewegten ihre Köpfe zu dem Menuett von Boccherini. So saßen und nickten sie wohl noch, als wir uns auf dem Hof vom Dorf verabschiedeten. Wir machten es kurz. Dann radelten wir davon, mit unseren beiden Hausmädchen Irmchen und Erna und dem jungen Münsterländer Buschi.
Schon auf dem Weg nach Ferchesar hatte Erna nach zwei Kilometern die Nase voll und wollte am liebsten wieder umkehren. „ Mein Nähzeug hab ick ooch vergessen. “ Vater wurde ungehalten. „ Seien Sie nicht albern. Los, los, wir müssen uns beeilen ! “ Erna fügte sich mit muckschem Gesicht.
„ Mensch, Erna “, sagte ich tröstend. Mit unseren Köchinnen und Hausmädchen hatten wir Kinder immer ein sehr gutes Verhältnis gehabt. Sie vertuschten unsere kleinen Sünden und ergriffen unsere Partei, vor allem, wenn sie sich über meine Mutter geärgert hatten. Irmchen und Erna waren die Letzten einer langen Reihe. Mit Erna standen meine Schwester und ich auf besonders vertrautem Fuß. Wir waren fast im selben Alter, lasen dieselben Bücher, sangen dieselben Schlager und radelten, wenn irgend möglich, mit ihr ins Kino oder gingen, mit Möpschen im Gefolge, gemeinsam baden. Erna stammte aus Witzke. Ihr Vater betreute die Pumpwerke am Kanal und war Jagdaufseher bei den Jagdpächtern. Nebenbei betrieben ihre Eltern eine kleine Landwirtschaft.
In Ferchesar war von Aufbruch nichts zu merken. Aber auf dem Weg von Ferchesar nach Stechow sah man bereits in östlicher Richtung eine riesige Rauchwolke und das Mündungsfeuer der Artillerie. Auf dem Gut meines Onkels Wilhelm Bredow wartete der Treck schon auf uns. Wir verstauten unsere Rucksäcke, und dann setzten sich die Wagen in Bewegung. Wir, auf unseren Rädern, bildeten das Schlusslicht.
Die Straße nach Rathenow war völlig verstopft, von flüchtendem Militär, endlosen Kolonnen von Ostflüchtlingen auf ihren Treckwagen und vielen kriegsgefangenen Russen, die wenig Lust zu verspüren schienen, sich von ihren Landsleuten befreien zu lassen. Im Wald links und rechts der Straße hatte deutsche Artillerie bereits Stellung bezogen, um die Stadt zu verteidigen. Rathenow selbst wirkte von einem Tag auf den anderen völlig verändert, was nicht an dem vielen Mili­tär und den Flüchtlingen lag. Daran waren wir gewöhnt. Es war das Entsetzen, das die Mauern der Stadt auszuschwitzen schienen, die Angst vor dem, was ihr bevorstand.
Wir passierten die Havelbrücke und kamen gegen Morgen in Briest an, einem kleinen Ort etwa fünfzehn Kilometer von Rathenow Richtung Elbe. Dort machten wir erst mal halt, um die Pferde zu füttern und selbst zu frühstücken.
Meine Erinnerung an diese Zeit hat große Lücken. Ich weiß nur noch, dass wir uns einmal, vor Tieffliegern Schutz suchend, voller Panik zu viert in eine Telefonzelle drängten, während mein Vater auf einer Anhöhe saß und ganz entrückt zusah, wie sie zwei Kilometer von uns entfernt eine kleine Brücke in die Luft jagten. Als er merkte, wohin wir geflüchtet waren, erhob er sich und holte uns dort raus. „ Was soll denn der Unsinn ? “
In Klietznick, nicht weit von der Elbe, hatten wir, auf der Suche nach einem geeigneten Nachtquartier, erschöpft auf einer kleinen Anhöhe haltgemacht und uns unter einem Schild für einen Augenblick ausgeruht. „ Was steht da eigentlich drauf ? “, fragte meine Schwester schläfrig. Und Erna ­sagte : „ Achtung, Feindeinsicht ! “ Da gab es auch schon ein merkwürdiges Sausen und Rauschen, und wir rannten, Buschi hinter uns herzerrend, in Deckung. Wir waren unter Artilleriebeschuss geraten. Zum Glück waren die Pferde ausgespannt. Aber einige Flüchtlinge wurden leicht verletzt und einer­ unserer Treckbegleiter von einem Splitter am Hals getroffen.
Nach diesem Erlebnis zogen wir es vor, im Wald zu übernachten. Aber an Schlaf war nicht zu denken. Es war hundekalt, und die Angst hatte uns voll im Griff. Obwohl die meisten von uns nach fünf Jahren Krieg auf solche Schrecken nicht ganz unvorbereitet waren, nützte das jetzt wenig. Glücklicherweise ist Angst nicht steigerbar. Da gibt es keinen Unterschied, ob es Krieg ist oder Frieden. Dafür bekamen wir sehr schnell, wie die anderen Flüchtlinge auch, einen Instinkt für die Gefahr. Am 25. April, gegen Morgen, hörten wir die Sirenen von Rathenow Feindalarm geben. Jede Überlegung, ob es nicht vielleicht doch besser war, wieder umzudrehen, konnten wir also vergessen.
Ich weiß auch nicht mehr, wie es mein Vater und mein Onkel schafften, mit Hilfe eines Parlamentärs mit den Amerikanern auf der gegenüberliegenden Seite der Elbe Kontakt aufzunehmen und, ebenso wie das Lazarett aus Jerichow, in dem sich viele verwundete amerikanische Kriegsgefangene befanden, die Genehmigung für den Treck zum Übersetzen zu erhalten. Der Treck war inzwischen bei einem Bauern in Klietznick untergekommen und zog am 26. April, vormittags, zum Elbufer, gefolgt von einem endlosen Tross von Flüchtlingen, voran ein Träger mit der weißen Fahne. Doch am anderen Ufer bei den Amerikanern rührte sich nichts. Einige Männer versuchten ihr Glück, auf eigene Faust hinüberzurudern, wurden aber sofort von den Amerikanern heftig beschossen und mussten wieder umkehren.
Erna und ich beschlossen daraufhin herauszufinden, wo der Übernahmeplatz des Lazaretts war. Vielleicht gab es ja dort eine Chance. Wir radelten im Schutze des Deichs in Richtung Jerichow und schauten ab und zu über die Krone, aber von Kähnen oder Fähren war nichts zu sehen. Als der Wiesenweg endete und wir unsere Räder über die Wiese in einen­ kleinen Wald schoben, begann die Artillerie wieder, sich auf uns einzuschießen. Auf dem Weg nach Jerichow kamen­ wir an unzähligen Unterständen der Wehrmacht vorbei, gefüllt mit Panzerfäusten, Patronentaschen, Karabinern, Stahlhelmen und Tellerminen. Dann sahen wir ein Hausdach durchs Gebüsch leuchten. War das schon Jerichow ? Aber es war nur ein einzelnes Gehöft. Haus- und Stalldach waren ziemlich zerschossen. Da aber auf einer Holzmiete einige Wäschestücke hingen, musste wohl hier noch jemand wohnen. Wir pirschten uns langsam näher und hatten das Haus fast erreicht, als wir plötzlich einem Amerikaner gegenüberstanden. Er sprach etwas Deutsch, so dass wir uns gut verständigen konnten. Wir versuchten herauszubekommen, wann und wo die Übernahme des Lazaretts erfolgen sollte. Aber er zuckte nur die Achseln. So kehrten Erna und ich zu unserem Treck zurück.
Allmählich glich das Elbufer einem riesigen Heerlager. Von den zugesagten Fähren war immer noch nichts zu sehen. Dafür kamen einige Amis herübergerudert, stolzierten zwischen den Flüchtlingen herum und sparten nicht mit höhnischen Bemerkungen in gebrochenem Deutsch. Erna war ganz empört. „ Wie kommen eigentlich diese Lackaffen dazu, unsere Wehrmacht schlechtzumachen ? “ Zwei Nächte froren und klapperten wir an der Elbe vor uns hin. Dann hieß es plötzlich : Franzosen ! Ehemalige französische Kriegsgefangene seien die einzige Chance, hinübergelassen zu werden. Jeder machte sich auf die Suche. Aber die Handvoll Franzosen, die sich unter den Flüchtlingen befand, war schnell vergriffen. Zuerst waren sie über das plötzliche Interesse an ihrer­ Person ganz perplex. Aber dann, als sie begriffen, um was es ging, wurden sie sehr wählerisch. Sie suchten sich die hübschesten Mädchen zum Beschützen aus. Wir gehörten nicht dazu.
Schließlich gaben wir auf. Vater beschloss, sich mit uns von dem Treck meines Onkels zu trennen und sich über Neumarkt­, Havelberg, Sandau, Perleberg, Ludwigslust und Schwerin Richtung Lübeck durchzuschlagen. Das hieß, wir mussten erst einmal wieder fast bis Rathenow zurück, und wir wussten nicht, ob die Russen dort bereits einmarschiert waren. Doch noch immer wurde, in diesem Fall zu unserem Glück, um Rathenow gekämpft.
Zwei unserer Räder waren uns inzwischen gestohlen worden, und so mussten wir teils zu Fuß, teils per Anhalter weiter. Hatten wir uns eingebildet, schlimmer als die letzten Tage könne es nicht kommen, wurden wir schnell eines Besseren belehrt. Das Chaos auf den Straßen war nicht mehr zu überbieten. Von den Tieffliegern zusammengeschossene Trecks, ineinander verkeilte Militärfahrzeuge, flüchtende Soldaten und halbe Kinder in Uniform, die unter der Anleitung eines Leutnants ein Flakgeschütz in Stellung brachten. Die Dorfbewohner gingen fast mit der Mistgabel auf den jungen Offizier los. „ Hau bloß ab, du Dussel ! Soll auch hier alles in Schutt und Asche gehen ? “ Der Leutnant verstand die Welt nicht mehr. „ Ich will Sie doch nur schützen ! “
Besonders eilig hatten es die Repräsentanten des Tausendjährigen Reiches. Sie schafften sich mit schneidigen Kommandos rücksichtslos Platz, ungerührt von dem Anblick der an Chausseebäumen aufgehängten Soldaten, die Schilder um den Hals trugen : „ Wer den Tod in Ehren fürchtet, stirbt ihn in Schande. “ Die Tiefflieger waren überall. Mal ging ein Munitionszug auf einem Bahnhof in die Luft, mal schossen sie ein Dorf in Brand. Erst die Dunkelheit gab wieder so etwas wie Sicher­heit. Sehnsüchtig wartete jeder, von einem Auto mit­genommen zu werden, und kaum hatte man es geschafft, musste man nach ein paar Kilometern schon wieder aussteigen, weil das Benzin ausgegangen war. Verwundete, die man kurzerhand auf die Straße gesetzt hatte, versuchten, sich mit letzter Kraft an bereits überfüllten Lastwagen hochzuziehen. Man schlug ihnen so lange auf die Finger, bis sie losließen. Niemand kam ihnen zu Hilfe, auch wir nicht. Wir waren zu sehr mit dem eigenen Überleben beschäftigt. Unsere Wünsche schrumpften zusammen. Sie beschränkten sich nur noch auf Essen, Trinken, Schlafen. Wohlig räkelten wir uns in einem Pferdestall auf trockenem Mist, und auch einen Schweinestall empfanden wir als ein durchaus passables Quartier. Als am 30. April jemand im Dunkeln der auf einen Weitertransport wartenden Menge mit getragener Stimme Adolf Hitlers Tod mitteilte, erweckte er damit dieselbe Aufmerksamkeit wie bei einem überfahrenen Huhn. Und Erna lamentierte weiter über ihren Rucksack mit den zwei Broten, den sie irgendwo stehen gelassen hatte.
Einer Kusine von uns war es nach der Flucht ähnlich ergangen. Glücklich darüber, der Hölle entronnen zu sein, nahm sie am 2. Mai diese Nachricht im Radio vollkommen unbeteiligt zur Kenntnis und ging laut pfeifend den Flur ihrer Gastgeber entlang. Darüber war der Hausherr aufs Tiefste schockiert. „ Stellt euch vor, er hatte sich sogar einen schwarzen Schlips umgebunden ! “
Obwohl wir dauernd getrennt wurden, weil wir nur noch drei Räder besaßen und immer zwei von uns sehen mussten, auf irgendeinem Fahrzeug Platz zu bekommen, fanden wir uns jedes Mal an den verabredeten Treffpunkten wieder zusammen. So auch in einem Café am 1. Mai in Lübeck. Da Erna und ich vor Müdigkeit zweimal unterwegs vom Rad gefallen waren, suchten wir erst einmal Quartier, um ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Eine Familie mit zahllosen Kindern zeigte für unsere Lage großes Verständnis, obwohl sie selbst recht beengt wohnte, und überließ uns ihre Betten.
Am Morgen machten wir uns weiter auf den Weg Richtung Eutin. Ein Lkw nahm uns samt Fahrrädern bis Schwartau mit. Im ersten Gehöft versuchten wir im Stockdunkeln in einer überfüllten Scheune Quartier zu finden. Zähneklappernd hockten wir auf der Diele, mit dem Rücken gegen die Wand. Als wir nach oben klettern wollten, um uns ins Stroh zu legen, wurden wir barsch angefahren : „ Bleibt bloß unten, hier ist kein Platz mehr ! “ Buschi bellte fast ununterbrochen. Und so schlichen wir durch den strömenden Regen in den Kuhstall.
Am nächsten Morgen trennten wir uns. Diesmal sollten Erna und ich samt Buschi per Anhalter weiterfahren. Mittags gegen drei Uhr hatten wir endlich Glück. Ein Lkw mit Anhänger hielt an und wurde von Flüchtlingen gestürmt. Aber erst als wir oben waren, sahen wir, was er geladen hatte : Muni­tion, Benzinfässer, Kisten mit Handgranaten und Panzerfäusten. Kaum waren wir ein paar Kilometer gefahren, tauchten Tiefflieger auf. Wir sprangen hinunter und suchten in dem nahegelegenen Wald Schutz. Das ging so fünfmal. Beim nächsten Tieffliegerangriff brannte schon das Fahrzeug vor uns, und ich sah aus der Munitionskiste, auf der ich mit einem Gefreiten saß, sich blaue Wölkchen ringeln. „ Höchste Zeit zum Verduften, Fräulein “, sagte der. „ Oder möchten Sie auf einer Wolke landen ? “ Wir warfen unser Gepäck hinunter, aber Erna kletterte noch einmal zurück, weil ein Rucksack fehlte. Es blieb gerade noch so viel Zeit, uns direkt neben dem Wagen in den Chausseegraben zu rollen. Da begann er auch schon zu brennen. Ein Versuch, von dem brennenden Wagen weg über das Feld zu robben, kostete mich fast das Leben. Einer­ der englischen Jäger erkor mich zum Ziel. Die Maschinengewehrgarbe ging hautnah an mir vorbei. Sie versengte meinen linken Ärmel und durchschlug meinen Rucksack. Die Maschine flog so tief, dass ich das Gesicht des Piloten erkennen konnte. Er musste längst mitbekommen haben, dass es vor allem Frauen und Kinder waren, auf die er es abgesehen hatte. Aber an Menschenjagd kann man sich schnell gewöhnen. Als er eine Schleife zog, robbte ich in den Graben zurück.
Ein junger Soldat rettete uns das Leben. Er sprang auf den Fahrersitz und fuhr mit dem brennenden Munitionszug los. Nach dreißig Metern flog er mit ihm in die Luft. Stundenlang zischte und krachte es um uns herum. Systematisch schossen die Tiefflieger Fahrzeug um Fahrzeug in Brand oder bombardierten sie. Wir vom Lande hatten bislang für die Bombenflüchtlinge und das, was sie durchgemacht hatten, nur in Maßen Verständnis gezeigt. Ihre Einquartierung wurde als eher lästig empfunden, und die Bürgermeister der Dörfer hatten Mühe, sie unterzubringen. Jetzt waren wir an der Reihe.
Buschi drehte durch. Er biss in Ernas Mantelgurt und zerrte­ wie ein Verrückter. Weinend irrten Frauen auf der Suche nach ihren Kindern umher und wurden sofort unter Beschuss genommen. In den Einmannlöchern drängten sich vier, fünf Schutzsuchende, ohne Rücksicht auf die unter ihnen Kauernden.
Als es dämmerte, trat endlich Ruhe ein. Jetzt erst sahen wir das ganze Ausmaß der Tragödie. Verkohlte Menschen und Tiere, aufgeplatzte Koffer, deren Inhalt auf dem Acker verstreut war oder in den Bäumen hing.
Gegen elf Uhr nachts erreichten wir Eutin. Die Panzersperren wurden gerade dichtgemacht und an den Straßenbäumen Tellerminen angebracht.
„ Mein Gott “, sagte ich, „ diese Idioten. Jetzt verteidigen sie auch noch die Stadt. “
Wir trotteten durch die menschenleeren Straßen. Die Haustüren waren fest verschlossen, die Fenster verrammelt. Die Stadt duckte sich in Erwartung des Krieges, von dem sie bis dahin verschont geblieben war. Auf der Suche nach einem Quartier wurden wir über den Gartenzaun einer Villa von einem­ jungen Mädchen angesprochen. „ Meine Eltern haben gesagt, ich soll jeden hereinholen, der eine Unterkunft sucht. “ Sie öffnete uns die Gartenpforte.
Die Gastfreundschaft in diesem Haus war überwältigend. Es wimmelte von Flüchtlingen, und jeder wurde versorgt, sogar die Soldaten mit Zivilkleidung. Wir durften uns mit Buschi in dem ehelichen Schlafzimmer einquartieren. Kreuz und quer, mit ihm in der Mitte, lagen wir auf den Ehebetten und schliefen tief und fest. Wir wachten nicht einmal auf, als ganz in unserer Nähe eine Panzerfaust explodierte und die Engländer die Kasernen mit Granaten beschossen. Glücklicherweise war, wie wir später erfuhren, Eutin noch rechtzeitig zur offenen Stadt erklärt worden. So waren die Engländer mit ihren Panzern Richtung Plön abgeschwenkt.
Am nächsten Morgen sahen wir uns in der Stadt um, ob vielleicht auch meine Schwester und mein Vater hier gelandet waren. Vergeblich. So machten wir uns zu Fuß auf nach Schönweide, unserem Endziel, zunächst wegen der Tiefflieger auf Nebenwegen bis Malente. Die Dörfer, durch die wir kamen, waren gepflegt, und den Gehöften sah man an, dass hier die Bauern reicher waren als in der Mark. Diese wunderschöne, friedliche Landschaft mit ihren Buchenwäldern und den großen Seen ließ uns das Grauen, das wir erlebt hatten, fast vergessen. Und dann – mitten auf einer Wiese, wie weggeworfener Müll – wieder einmal etwa zwanzig zusammengeschossene Treckwagen und tote Menschen. Das Grauen, die Angst hatten uns wieder eingeholt.
Ganz überraschend kamen uns auf halber Strecke mein Vater und meine Schwester entgegengeradelt. Sie waren schon am Vortage bis Schönweide durchgefahren und so dem Tieffliegerangriff vor Eutin entgangen. Wir verteilten das schwere­ Gepäck auf die Räder, und am 3. Mai kamen wir gegen Abend bei strömendem Regen auf dem Gut Schönweide an. Man brachte uns im Nachbarhaus des Schlosses, der sogenannten Meierei, unter. Ich teilte mir mit meiner Schwester ein Zimmer.
Nachts hörte ich sie weinen. „ Was ist denn ? “, fragte ich.
„ Ich glaube, ich habe die Masern “, schluchzte sie. Und so war es auch.
„ Immer noch besser als Typhus “, versuchte ich sie zu beruhigen.
Mit unserer Ankunft in Holstein war für uns der Krieg praktisch zu Ende und der Tag der endgültigen Kapitulation nur noch ein formeller Abschluss. Trotzdem, am Morgen des 9. Mai war ich früh aufgestanden, um die von den Engländern beschlagnahmte Milch heimlich für uns und die anderen Flüchtlinge abzusahnen. Danach lehnte ich mich, Buschi zu meinen Füßen, gegen die Stallwand und ließ mich von der Morgensonne wärmen. Kein Flugzeug am Himmel, keine Panzergeräusche, keine Detonationen. Es herrschte friedliche Morgenstille, nur ab und zu unterbrochen vom Krähen eines Hahnes und dem Gesang der Lerchen. Die Waffen schwiegen, wie es so pathetisch hieß. Vergessen war, was gerade­ hinter uns lag. Wir waren noch einmal davongekommen. Nur das allein zählte.


3


Täglich fanden sich auf Schönweide neue Flüchtlinge ein. Bald waren mehr als sechzig Personen zu verpflegen, darunter auch Jungen aus dem Arbeitsdienst, Soldaten und frei­willige Erntehelfer, dazu unsere Gastgeberin und ihre sechs Kinder. Allmählich gingen die alten Kartoffeln zu Ende, und wir lebten allein von Kohlrüben, die mal zu Suppe, mal zu Gemüse mit Einbrenne gestreckt wurden. Manchmal brachten uns die Engländer ein Reh oder Wildenten, die wir ihnen zurechtmachen mussten. Sie hatten das Schloss beschlagnahmt und, wie es der älteste Bruder meines Vaters, Onkel Achim, genannt hätte, die Möbel sortiert, das heißt, was sie nicht gebrauchen konnten, kurzerhand aus dem Fenster geworfen. Aber sie trugen auch den älteren Töchtern unserer Gastgeberin galant die Gießkanne, wenn sie am Schloss vorbei zum Friedhof gingen. Fraternisieren, wie das damals hieß, war natürlich streng verboten. Das hielt jedoch einen schottischen Sergeanten nicht davon ab, seine Soldaten direkt vor dem Küchenfenster der Meierei exerzieren zu lassen, um der hübschen blonden Schwägerin der Hausfrau, deren Mann sich noch in Gefangenschaft befand, zu imponieren. Die Hausfrau sah es nicht gern. „ Der arme Max “, hörten wir sie oft seufzen. Dass wir Flüchtlinge auf der Suche nach Freunden und Bekannten ständig unterwegs waren, stieß bei ihr auf Verwunderung. Das Absahnen der beschlagnahmten Milch dagegen billigte sie durchaus.
Wir versuchten, uns soweit wie möglich nützlich zu machen. Abgesehen von der Hausarbeit halfen wir in der Landwirtschaft, beim Rübenhacken und -vereinzeln und im Garten. Aus Lochow und der Umgegend hörten wir nur Gerüchte. Wie Onkel Achim, der in Tornesch bei Hamburg untergekommen war, uns schrieb, hatten in Görne, dem nur wenige Kilometer von Lochow entfernt liegenden Hauptgut, keine Kämpfe stattgefunden. Und auch in Friesack waren die Russen kaum noch auf Widerstand gestoßen. Wie Onkel Achim schrieb, habe es der Kampfkommandant und Nazistratege nicht besser gekonnt als die Quitzows vor 533 Jahren : Er habe die Burg Friesack auch nicht halten können.
Mein Vater ließ sich von uns nicht abbringen, noch einmal mit dem Rad in die Gegend von Stendal zu fahren, die zu der Zeit noch von den Amerikanern besetzt war. Dort wollte er von einem Freund, der sich noch auf seinem Gut sicher wähnte­, Näheres hören. Ganz betreten kehrte er wieder zurück, denn fast wäre er den Russen in die Hände gefallen. Ausgerechnet an diesem Tag waren die Amerikaner in der Nacht abgezogen. Im Laufe der Zeit wurde dieses unerfreuliche Erlebnis, wie in meiner Familie üblich, zu einer skurrilen Episode. Mein Vater habe gerade friedlich auf der Schlossterrasse bei einem Glas Schorle gesessen und der Freund tröstend gesagt : » Wenn ihr wirklich nicht mehr nach Lochow zurück­ könnt, dann machst du eben bei mir den Wald. « In diesem Augenblick sei der Diener auf der Terrasse erschienen, habe mit diskretem Räuspern auf sich aufmerksam gemacht und gesagt : „ Herr Baron, die Russen sind im Park. “
Die einzige Neuigkeit, die Vater über Lochow mitbrachte, war, dass es dort ein großes Russenlager geben sollte.
Im Spätsommer beschlossen wir, nach Niedersachsen überzuwechseln, wo meine Mutter auf einem Gut in der Nähe von Hannover untergekommen war. Mich schickte man als Vorbote los. Dazu verdingte ich mich als Kutscher bei einem großen Treck, der ebenfalls in diese Gegend wollte, da es in Holstein für die Flüchtlinge keine Arbeit gab. Außerdem hatte ich die Aufgabe, während der Fahrt durch die Dörfer bei den Gemeinden die nötigen Lebensmittelkarten zu beschaffen. Es war nicht immer leicht, für die vielen Menschen in den überfüllten Dörfern zusätzlich Quartier zu finden, und ein Teil von uns musste nachts auf den Wagen schlafen. Zwei-, dreimal wurden wir dabei überfallen. Die Plünderer hatten wohl nur mit Frauen und alten Männern gerechnet, aber in dem Treck hatten sich mehrere aus den Lagern entwichene deutsche Kriegsgefangene versteckt, und so waren die Diebe schnell in die Flucht geschlagen.
Der Inhalt unserer Rucksäcke hatte sich in dieser kurzen Zeit unseres Aufenthaltes in Holstein verdreifacht, woran man sieht, wie schnell sich Besitz vermehrt. Und so überraschte ich meine Mutter bei der Ankunft mit drei vollgestopften Hafersäcken.
Nach der ersten Wiedersehensfreude machten wir einen Rundgang durch unser neues Zuhause, ein wunderhübsches Wasserschloss, dem es jedoch, was ich sofort feststellte, wie allen Schlössern an Klos mangelte. Das Gut gehörte einer alten­ niedersächsischen Adelsfamilie. Einer der Vorfahren hatte sich nach dem Geschmack der Welfen zu sehr mit den Preußen arrangiert, und es wurde behauptet, noch heute werde sein Grabstein von so manch wackerem, immer noch dem ehemaligen Königshaus ergebenem Niedersachsen verstohlen angespuckt.
Dann stellte mich meine Mutter den drei alten Damen vor, die das Schloss bewohnten.
Vier Wochen später folgte Vater mit Irmchen, und bald darauf fand sich auch meine Schwester mit Erna und Buschi ein. Beide Mädchen fanden Arbeit und Unterkunft auf einem großen Bauernhof, und meine Schwester und ich zogen zunächst ins ehemalige Kavaliershaus des Schlosses. Unser Schlafzimmer lag nach Norden. Ein riesiger Kastanienbaum vor dem Fenster verdunkelte den Raum, die dunkelblaue Tapete mit den dunklen Möbeln tat ein Übriges. Meine Schwester besah sich staunend das Bild eines auf einem Stuhl sitzenden verwundeten Kriegers, hinter ihm, mit starrem Blick, ein riesiger Engel.
„ Willkommen im indischen Grabmal “, sagte ich.
Sie lachte. „ Grabmal ? Wohl eher Gruft. “
„ Das ist gehupft wie gesprungen “, sagte ich. Noch ahnte ich nicht, dass ich einmal viele Monate in diesem Zimmer verbringen sollte, in dem im Winter die Eiskristalle an den Wänden glitzerten.
„ Wie war die Reise ? “, fragte ich im leichten Plauderton meine Schwester, die gerade hundert Kilometer geradelt war und sich unter ziemlich dramatischen Umständen mit Erna und Buschi über die Elbe hatte setzen lassen. Dabei waren sie in ein schweres Gewitter geraten und wären fast ertrunken.
Bald mussten wir unser Quartier vorübergehend wieder räumen. Die beiden Zimmer waren für einen Offizier der
UNRRA beschlagnahmt worden, einer Organisation, die sich vor allem um die von den Nazis verschleppten Menschen kümmerte, sogenannte Displaced Persons. Der Engländer sagte, er sei mit sehr gemischten Gefühlen nach Deutschland gegangen, denn seine Familie sei bei einem Bombenangriff auf London ums Leben gekommen. Aber beim Anblick der zerstörten Städte und des großen Elends habe er seinen Hass vergessen.
Wir kamen erst einmal bei Ernas Bauern unter und halfen gelegentlich in der Landwirtschaft aus. Die meiste Zeit jedoch verbrachten wir im Wasserschloss. Das Leben dort mit den drei alten Damen, einer Vertreterin des leichten Gewerbes und einem sonderlichen Junggesellen war recht abwechslungsreich. Das energische Dienstmädchen der alten Damen lag mit ihm ständig in Fehde. Wenn er grußlos an ihr vorbeiging, sah sie uns bedeutungsvoll an, machte eine Handbewegung, als wolle sie tanzende Mücken fangen und sagte : „ Sie spellen all wedder. “ Das einzige Nahrungsmittel, das er zu sich nahm, war Milch, die er sich im Tausch gegen geflickte Fahrradreifen verschaffte. Sein Zimmer war bis oben hin voller Gerümpel, von dessen Verkauf er angeblich lebte. Und er fühlte sich immer von irgend jemandem beleidigt, häufig auch von meiner Mutter. Als sie sich etwas erstaunt zeigte, dass er dann plötzlich doch wieder mit ihr sprach, erklärte er : „ Ihr Mann ist genauso schlimm wie Sie. Aber einen Zweifrontenkrieg kann ich nun mal nicht führen. “
Die Dame des leichten Gewerbes bot ebenfalls viel Stoff. Sie besaß einen sehr gepflegten Spitz. Geschmückt mit einer roten Schleife, lag er den halben Tag auf dem Fensterbrett und schaute hochmütig auf den Schlosshof hinunter, wo sich die Rüden beknurrten und ihre Herzensdame anjaulten. Die englischen Kunden seiner Herrin grüßten stets höflich, wenn sie uns begegneten, und steckten uns gelegentlich etwas zu. Einmal gab es nachts ein wildes Handgemenge.
Mein Vater stürzte auf den Flur. Aber der Streit war schon vorbei. Schwer atmend stand die Dame in einem hellblauen Nylonnachthemd vor ihm. „ Man glaubt es nicht, Herr Graf, was es für Menschen gibt ! Dieser Kerl ist mir doch richtig dumm gekommen. Da hab ich einfach vergessen, dass ich eine Dame bin, und hab ihm eine geklebt. “
„ Früher “, sagte mein Vater, als er wieder einmal diese Geschichte von sich gab, und stopfte sich zum x-ten Mal seine Pfeife mit Tabak Marke Eigenbau von unerträglichem Gestank, „ kannte man so was nur aus Romanen. Heute lebt man damit Tür an Tür. “
„ Ja, ja, du sprachst schon davon. “ Meine Mutter machte eine abwehrende Handbewegung gegen den Qualm. „ Du wirst dich mit diesem Zeugs noch krank machen. “
Sie sollte recht behalten. Die selbst getrockneten und mit einer Lauge präparierten Tabakblätter bekamen seinem Magen nicht.
Erna kam zweimal in der Woche angewalzt und brachte uns Sahne, die wir durch geduldiges Schütteln in Butter verwandelten.
„ Aber Erna “, sagte meine Mutter etwas geniert, „ das geht doch nun wirklich nicht. Was sollen denn die Leute von uns denken ? “
Erna grinste. » Keene Bange, ick lass mich schon nich er­wischen. Und außerdem, wo die meisten im Dorf schwarz schlachten, da soll’n se man ganz stille sein. «
„ Trotzdem “, sagte meine Mutter, die sich für Erna immer noch verantwortlich fühlte, so wie sie es in all den Jahren mit ihrem Personal gehalten hatte. Stets hatte sie großen Wert darauf gelegt, dass die Mädchen abends pünktlich zu Hause waren. Doch ihre vorsorglich vorgebrachte Bitte, „ Ich kann mich hoffentlich darauf verlassen ! “, fand nie das rechte Echo. „ Mein Gott “, sagte Vater, „ lass sie. Sie sind nun mal jung. “
„ Und was sage ich den Eltern, wenn was passiert ? “
Bei Erna war das nicht anders gewesen. „ Wo kommen Sie nur so spät her ? Es ist bereits Mitternacht. So lange kann der Film in Rathenow ja wohl nicht gedauert haben. “
„ Ich hatte ’n Platten, Frau Gräfin, wirklich. “
„ So, so. “
Andererseits war sie sehr dafür, dass Erna sich ein bisschen hübsch machte, wenn sich einer ihrer Verehrer zeigte. „ Nun lassen Sie doch den jungen Mann nicht so lange draußen stehen, und ziehen Sie sich schnell ein anderes Kleid an. “
Erna, eher ein Mädchen von der burschikosen Sorte, machte ein bockiges Gesicht. „ Wieso ? Was will der Dussel überhaupt ? Ich hab zu tun. Ich muss noch Vokabeln lernen. “ Erna hatte sich einen Englischkurs schicken lassen. „ Nun gehen Sie schon, und binden Sie sich wenigstens die Schürze ab ! “ Erna tat es mit mauligem Gesicht.
Als sie bei uns anfing, versuchte es meine Mutter zunächst mit einigen Verhaltensmaßregeln. „ Also, wenn Gäste da sind, dann binden Sie sich bitte eine weiße Schürze um, klopfen an, öffnen die Tür und sagen : › Frau Gräfin, es ist angerichtet. ‹ “
„ Nee “, sagte Erna, „ det mach ick nich. So was tu ick einfach nich. “ Sie riss statt dessen die Tür auf und schmetterte : „ Essen steht auf’m Tisch ! “ Meine Mutter nahm es seufzend hin. „ Mit mir macht ja jeder, was er will. “
Nach der Flucht musste sich meine Mutter erst daran gewöhnen, dass Erna nicht mehr sozusagen ihr Küken war. Als Erna sich nämlich an einer landwirtschaftlichen Maschine nicht unerheblich verletzte und trotzdem nicht krankgeschrieben wurde, rauschte sie in die Praxis der verantwortlichen Ärztin und stellte sie zur Rede : „ Das Mädchen kann doch unmöglich mit der kaputten Hand auf dem Feld arbeiten ! “
Die Ärztin betrachtete sie kühl. „ Was haben Sie damit zu tun ? Bei Ihnen ist sie doch wohl nicht angestellt. Der Nächste, bitte. “
An dieser Niederlage hatte meine Mutter noch lange zu knacken. Erna tröstete sie. „ Lassen Se man, Frau Gräfin, ick mach doch, wat ick will. “
Nach und nach füllte sich das Schloss immer mehr mit Flüchtlingen, meist Standesgenossen. Der stark entwickelte Familiensinn des Adels trug Früchte. Außerdem hatte man durch Internate, Ritterakademie, renommierte Korps und Ordenszugehörigkeit stärkere Verbindungen untereinander als jede andere gesellschaftliche Schicht. Es gab ein eng geknüpftes Netz von Beziehungen, das allerdings nach dem Krieg recht rissig wurde, aber im Großen und Ganzen noch halbwegs hielt, auch wenn es zwischen denen, die ihren Besitz behalten hatten, und den Flüchtlingen manchmal heiß herging und Kränkungen nicht ausblieben : „ Zur Jagd hat er uns eingeladen, aber am Essen durften wir nicht teilnehmen. Dabei war ich der Jagdkönig. “
Wie früher die Bettler ihre Geheimzeichen an den Türen für ihre Kumpel hinterließen, so machten unter den Flüchtlingen jetzt Listen die Runde, bei wem auf Hilfe zu rechnen war und bei wem nicht. „ Herr von R., famoser Mann. Ihn kannst du fragen. “ Oder : „ Soll sehr schwierig und launisch sein. Es ist ratsamer, sich an die Frau zu wenden. “ Das anerzogene „ Noblesse oblige “ blieb dabei häufig auf der Strecke. Jetzt ging man mehr nach der Devise : „ Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. “ Die hochwohlgeborenen Mütter, die sich die nach und nach eintrudelnden hochwohlgeborenen Heimkehrer bereits als Schwiegersöhne ausgesucht hatten, grämten sich sehr, weil die adligen Flüchtlingsmädchen sie sich schnappten und das Töchterchen das Nachsehen hatte, sehr zur Schadenfreude der Verarmten. Klagen über das Erlittene und den Verlust des Besitzes waren kaum zu hören, und man war sich für keine Arbeit zu schade. Die Generation unserer Väter zog mit Besen und Bürsten über Land, verkaufte Haushaltswaren, oder es wurde, soweit noch Pferde vorhanden, ein Fuhrunternehmen gegründet.
Unter den Flüchtlingen war auch eine Verwandte mit vier Kindern. Ihr Mann war noch in russischer Kriegsgefangenschaft. Die Jüngste, Mone genannt, ein blondes Engelsgeschöpf, hatte sich dank ihrer schauspielerischen Fähigkeiten bei den Russen so manche Extras für den Lebensunterhalt der Familie zusammengebettelt und war deshalb ihr Ein und Alles gewesen. Damit war es nun vorbei, worunter das Kind sichtlich litt. Sie schrieb an die Tür des Sonderlings » der lange­ Mühler ist dof « und tat auch sonst allerlei Unnützes. Zur Strafe wurde sie jedes Mal auf den Boden geschickt. Sie gehorchte sofort, ja, sogar mit einer gewissen freudigen Er­regung. Als ihre Mutter sich eine andere Strafe für sie ausdachte, fing sie an zu heulen. Der Grund war schnell herausgefunden : Auf dem Boden stand der Siruptopf.
Eines Tages kam über Kisten, Holz- und Kohlenkästen ein Mann Ende zwanzig den Flur entlanggestolpert. „ Wer sind Sie denn ? “, fragte ich. Es war der Hausherr, den man gerade aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen hatte. Dass er in seinem eigenen Haus mit einem Notquartier vorliebnehmen musste und eine der alten Damen ungeniert mit ihrem Nachttopf früh am Morgen an seinem Bett vorbei zum Klo marschierte, nahm er mit Humor. Seine Frau und die beiden Söhne folgten erst ein Jahr später. Sie lebten noch bei ihrem­ Großvater in der Schweiz. Es war der Schriftsteller John Knittel, was uns tief beeindruckte. Wer hatte schließlich nicht „ Via Mala “ gelesen !
Trotz seines zerschossenen Beines verdingte sich Vater auf dem Nachbargut als Waldarbeiter. Er schlug Bäume, pflanzte und hackte, nicht anders als zu Hause, oder durfte, eine ihm vom Vorarbeiter gewährte besondere Vergünstigung, die Pferde des Forstmeisters halten, während der die Schonung inspizierte.
Anstatt uns an so viel Fleiß ein Beispiel zu nehmen, genossen meine Schwester und ich die neue Freiheit, wenn auch nach heutigen Begriffen eine noch sehr eingeschränkte. Wir waren immer unterwegs und mit uns ein ganzes Volk auf der Suche nach Angehörigen, nach Wohnung, nach einer neuen Existenz, nach Lebensmitteln. Im Gegensatz zu meiner Schwester, die meist ein festes Ziel im Auge hatte, ließ ich mich treiben, wie es sich gerade so ergab. Jahre des Reglements lagen hinter mir, vom Internat über den Arbeitsdienst bis zum Kriegsdienst bei der Reit- und Fahrschule. Nun richtete ich mich nur noch nach dem Zufall – und natürlich der Sperrstunde. Bald kannte ich mich in den Möglichkeiten, per Anhalter weiterzukommen, wie in einem Kursbuch aus und hätte gut einen Leitfaden für Anhalter herausgeben können, wo und wie man in jeder Stadt am besten weiterkam und was unbedingt zu vermeiden war. So empfahl es sich nicht, sich an steil ansteigende Straßen zu stellen, bei denen jeder Autofahrer in seinem meist auf dem letzten Loch pfeifenden Fahrzeug befürchten musste, den Motor nicht mehr in Gang zu kriegen.
Vielen Menschen ging es wie mir. Man tat sich für kurze Zeit mit den Weggenossen zusammen und trennte sich wieder. Ich schlief ohne Furcht in Feldscheunen und hatte in den Städten fast immer Glück mit Quartier, wenn die Sperrstunde nahte. Die Gründe, warum man einem wildfremden Menschen Gastfreundschaft gewährte, waren unterschiedlich. Es gab da neben ganz normaler Hilfsbereitschaft ein starkes Mitteilungsbedürfnis. Endlich hatte man einen Zuhörer, endlich konnte man wieder einmal über die Leidensgeschichte des Sohnes, der Tochter, der Enkelkinder sprechen. Erschlagen, verbrannt, verschleppt, erfroren. Man bekam die entsetzlichsten Dinge zu hören. Und doch waren sie inzwischen zu alltäglich, um noch bei den Nachbarn ein Echo zu finden. Ich kam mir mit meinen eigenen Erlebnissen dabei oft vor, als wollte ich jemandem, der gerade einem Erdbeben entronnen ist, von einem Hagelsturm berichten.
Der Krieg mit seiner Gewalttätigkeit war für viele noch lange­ nicht ausgestanden. Von den Deutschen als Arbeitskräfte verschleppte Polen, die auf ihre Heimkehr warteten, überfielen die Höfe in der Lüneburger Heide und gingen mit den Bewohnern nicht gerade zimperlich um. Ein englischer Kommandant ließ in einer Kleinstadt nationalsozialistische Literatur zu einem Scheiterhaufen türmen und anzünden, wobei die Parteimitglieder der Stadt gezwungen wurden, so nah am Feuer zu sitzen, dass sie Verbrennungen erlitten. Deutsche Heimkehrer schoren den Frauen die Köpfe, weil sie mit den Engländern fraternisiert hatten, und erlaubten sich auch sonst manches Unvorstellbare. So musste ich miterleben, wie sie einen ehemaligen Zwangsarbeiter aus dem fahrenden Zug warfen. Entsetzt starrte ich sie an. „ Aber das können Sie doch nicht machen ! “
„ Wenn du wüsstest, Mädchen, was die auf dem Kerbholz haben ! Da ist ja der Strick noch zu schade. “ Sie boten mir eine Zigarette an. Ich zögerte. Der Anführer nahm mich ins Visier. „ Na ? “ Ich nahm sie.
Auf den überfüllten Bahnhöfen liefen mir, trotz Hunderter von Menschen, die um einen herumwirbelten, erstaunlicherweise immer wieder Bekannte über den Weg. So eine ehemalige Kollegin aus der Reit- und Fahrschule und ein Angestellter des Landratsamtes in Rathenow, der die Kämpfe dort miterlebt hatte. Während wir in einem Kellerlokal mit an­geketteten Löffeln eine undefinierbare markenfreie Suppe aßen, erzählte er mir davon. „ Der Kirchturm von Rathenow ist zum Teil abgebrannt. Zehn Tage ist noch Widerstand geleistet worden. Erst am 6. Mai war es zu Ende. “
Im Wasserschloss schüttelte man über meine Schwester und mich den Kopf. Wir sollten uns mal lieber ein Beispiel an unserem Vater nehmen. Erna war ganz neidisch. „ Komtess haben’s gut. Immer auf Achse. Wo woll’n Se denn nu schon wieder hin ? “
„ Nach Flensburg, meine Freundin Corri besuchen. Aber dann ist auch endgültig Schluss. Jedenfalls für dieses Jahr “, setzte ich einschränkend hinzu. „ Die Tage werden ja schon kürzer, und dann wird’s schwierig, vor dem Dunkelwerden noch irgendwo unterzukommen. “
An meine Freundin konnte sich Erna noch gut erinnern. „ Da haben Sie doch direktemang den Koffer von ihr im Wald verloren, als Sie vom Bahnhof zurückgefahren sind. Weg war er. Warten Sie mal ’n Moment. “ Sie ging aus dem Zimmer und kam einen Augenblick später, verstohlen um sich blickend, wieder, ein eingewickeltes Stück Speck in der Hand. „ Nehmen Se man. Das hält länger vor als geröstete Kartoffeln. “
Corri war kurz nach mir im Arbeitsdienstlager eingetroffen. Zwei Abiturientinnen, eine Gräfin und nun auch noch die Tochter des preußischen Finanzministers ! Die nette Lagerführerin rang die Hände. Wie würde das die Gemeinschaft verkraften ! Die Gemeinschaft hatte ganz andere Sorgen. Was sie bewegte, brachte eine Verszeile zum Ausdruck. „ Wo die Freizeit knapp ist und die Männer rar, da ist deine Heimat für ein halbes Jahr. “
Ich hatte meine Freundin zum letzten Mal gesehen, als sie im Februar ’45 nach der Hinrichtung ihres Vaters Berlin verlassen wollte und ich sie zur Bahn brachte. Wir hatten Gott sei Dank den Bahnhof noch nicht betreten, da gab es einen fürchterlichen Knall, und große Teile der Halle gingen durch einen explodierenden Zeitzünder in die Luft.
Ich brauchte fast zwei Tage bis Flensburg, fand aber das Haus, in dem sie sich ein Zimmer gemietet hatte, ziemlich schnell. Die Wohnung ihrer Vermieterin war nicht weit vom Hafen, der noch voller deutscher Kriegsschiffe lag. Meine Freundin öffnete mir selbst die Tür. Sie starrte mich ungläubig an.
„ Schieß nicht, Graf Arthur, ich bin’s, dein Ännchen Liesmann “, sagte ich. Die Antwort kam prompt : „ › Das kann jeder Seehund sagen ‹, sagte Graf Arthur von Ramowski, legte an, schoss, und Ännchen Liesmanns weißer Leichnam schwamm auf den azurblauen Wogen des Meeres. “
Mit dieser albernen Geschichte von Ännchen Liesmann, die von ihrem Geliebten, dem Grafen Arthur von Ramowski, mit einem Seehund verwechselt und erschossen wird, aus einem­ der Alben des Zeichners Oberländer, war ich schon im Internat hausieren gegangen und später auch im Arbeitsdienst.
Das Eis war gebrochen. Wir umarmten uns. Sie musterte mich kritisch. „ Das erste Frührot der Jugend, wie bei Annchen, brennt auch nicht gerade mehr auf deinen lieblichen Wangen. Komm rein. “
Seltsamerweise war unser Wiedersehen ähnlich wie der Abschied in Berlin. Wir hatten gerade das Zimmer betreten, als es eine ungeheure Detonation gab. Das Haus bebte, und die Fensterscheiben flogen heraus. Blitzschnell kroch ich unters Bett und sie unter den Tisch. Wie wir später hörten, war im Hafen ein Schiff mit Munition in die Luft gegangen. Als der Spuk vorbei war, entdeckte Corri auf dem Tisch einen Feldpostbrief, den ihr die Wirtin dorthin gelegt hatte. Während sie ihn öffnete, bemühte ich mich, die überall im Zimmer verstreuten Scherben aufzusammeln. „ Hast du keinen Handfeger ? “, fragte ich und sah auf, als ich keine Antwort bekam. Corri weinte. Sie hatte die Nachricht bekommen, dass ihr bislang als vermisst gemeldeter ältester Bruder gefallen war.

Ilse Gräfin von Bredow

Über Ilse Gräfin von Bredow

Biografie

Ilse Gräfin von Bredow wurde 1922 in Teichenau/Schlesien geboren. Sie wuchs im Forsthaus von Lochow in der märkischen Heide auf und besuchte später ein Internat. Während des Krieges war sie im Arbeitsdienst und musste Kriegshilfsdienst leisten. Seit Anfang der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts...

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