Der Geschmack von Karamell und Liebe - eBook-Ausgabe
Roman
Der Geschmack von Karamell und Liebe — Inhalt
Zur großen Liebe fehlt nur eine kleine Prise Glück ...
Köchin Katie hat es geschafft – sie ist im Finale eines wichtigen Kochwettbewerbs! Dem Gewinner winkt eine Stelle als Küchenchef im angesagtesten Restaurant Londons. Nachdem die Neunundzwanzigjährige sich bisher als Küchenhilfe in einem Altenheim über Wasser gehalten hat, ist ihr großer Traum nun zum Greifen nahe. Und als auch noch ihre große Liebe Ben wieder in ihr Leben tritt, scheinen sich all ihre Wünsche zu erfüllen. Doch noch weiß Katie nicht, dass auch Ben einer der Finalisten ist – und damit ihr größter Konkurrent! Muss sie sich zwischen Traumjob und Traummann entscheiden?
Köstliche Kreationen und eine süße Liebesgeschichte lassen die Herzen höherschlagen! Nach „Die Liebe kommt selten allein“ ein neuer romantisch-witziger Liebesroman von Colleen Coleman mit dem Potenzial zum absoluten Lieblingsschmöker!
Leseprobe zu „Der Geschmack von Karamell und Liebe“
Kapitel 1
„Da sind Sie ja, Katie Kelly! Sie haben mal wieder nur diesen verdammten Sternekoch-Blödsinn im Kopf, was?“ Meine Chefin, Bernie, knallt ihr Klemmbrett auf die Küchenarbeitsplatte aus Edelstahl. „In mein Büro! SOFORT!“
Ich will den Mund öffnen und ein berechtigtes „Was habe ich denn verbrochen?“ herauslassen, es bleibt mir aber im Halse stecken. Mel und Zoe schauen mich gleichzeitig an, runzeln die Stirn und heben einen blauen Gummihandschuhfinger warnend an die Lippen. Das ist unser Code dafür, besser den Mund zu halten, um den Job nicht zu [...]
Kapitel 1
„Da sind Sie ja, Katie Kelly! Sie haben mal wieder nur diesen verdammten Sternekoch-Blödsinn im Kopf, was?“ Meine Chefin, Bernie, knallt ihr Klemmbrett auf die Küchenarbeitsplatte aus Edelstahl. „In mein Büro! SOFORT!“
Ich will den Mund öffnen und ein berechtigtes „Was habe ich denn verbrochen?“ herauslassen, es bleibt mir aber im Halse stecken. Mel und Zoe schauen mich gleichzeitig an, runzeln die Stirn und heben einen blauen Gummihandschuhfinger warnend an die Lippen. Das ist unser Code dafür, besser den Mund zu halten, um den Job nicht zu gefährden. Diese kleine Geste der Solidarität bedeutet, dass die bescheuerte Bernie nicht nur unsere Vorgesetzte ist; nein, sie ist eine despotische Irre. Am besten stimmt man ihr einfach zu und sagt sich: Es ist nur ein Job, es hat keinen Sinn, sich aufzuregen. Oder den Wochenlohn aufs Spiel zu setzen. Oder meine Selbstachtung zu verlieren, weil meine Chefin mich auf den Tod nicht leiden kann.
Alles klar. Die beiden haben recht.
Ich halte den Mund und ziehe mir das Haarnetz bis über beide Ohren. Als wäre es ein Schutzhelm und hätte die Macht, mich vor dem verbalen Überfall zu schützen, der mich zweifellos hinter Bernies Bürotür erwarten wird.
Mel summt eine Melodie. Fröhlich, optimistisch und absolut realitätsfern, um mich mental zu stärken und mir das große Ganze in Erinnerung zu rufen.
Im Kleinen sieht es allerdings so aus, dass ich eine kleine Küchenangestellte bin, die acht Stunden am Tag beige Breipampe in einem Altenheim herstellt und dabei unter Bernies Pantoffel steht.
Jetzt summe auch ich und beschwöre eine Perspektive herauf, um aus dieser karrieremäßigen Tiefpunktszene rauszuzoomen, die für meinen Geschmack viel zu sehr auf Großaufnahme eingestellt ist.
Zoe kann wohl meine Gedanken lesen, da sie mir hinterherruft: „Sei die Klügere, Katie. Denk immer daran, worüber wir gesprochen haben … wachse über dich hinaus!“
Ich drehe mich kurz zu ihr um, lächle sie matt an und nicke. Der Job hier ist schon ein Tiefpunkt, aber ganz am Boden bin ich noch nicht. Seitdem mein Restaurant dicht ist, ist dieser Job das Einzige, was sich noch zwischen mir und der Talsohle befindet. Und wie mir meine Freunde immer wieder sagen, ist der Job nur für den Übergang. Bis ich wieder festen Boden unter den Füßen habe, bis ich etwas anderes gefunden habe. Ich werde Bernie einfach in den Hintern kriechen, da ich derzeit keine andere Wahl habe. Ich hatte meine Chance, meine eigene Chefin zu sein, und hab’s vergeigt.
Und da bin ich nun. Hier und jetzt gerade in der Parklands Seniorenresidenz. Oberste Kartoffelschälerin. Leitende Topfspülerin. Hauptpüriererin, die fiese, undefinierbare Pampe in etwas weniger klumpige Pampe verwandelt. Der einzige Lichtblick dabei ist, dass ich Vollzeit arbeite, fünf Tage die Woche, und das Gehalt okay ist, der Arbeitsplatz sich in fußläufiger Entfernung zu meiner Wohnung befindet und ich das tun kann, wozu ich qualifiziert bin.
Überqualifiziert, heißt das natürlich … aber gut, in der Not frisst der Teufel eben Fliegen. Wie Bernie schon im Vorstellungsgespräch sagte: Eine Köchin ist eine Köchin ist eine Köchin. Schmeiß die Lebensmittel in den Kochtopf, servier pünktlich das Essen und bleib im Rahmen des Budgets – basta.
Daher hole ich tief Luft und folge Bernie vom Mise-en-place-Bereich, wo alle Zutaten vorbereitet werden, in ihr Büro. Bei jedem Schritt kaue ich auf der Innenseite meiner Wangen herum. Als ich im Büro bin, knallt Bernie die Tür hinter mir zu.
„Wollen Sie etwa unsere Bewohner umbringen?“, schreit sie mich an.
Ich habe nicht den blassesten Schimmer, was sie meint.
Bernie holt einen riesengroßen, wiederverschließbaren Plastikbeutel aus ihrer Tasche und schleudert ihn auf den Tisch zwischen uns.
„Ich rede von Schmuggelware!“ Sie deutet auf die kleinen Säckchen mit getrockneten Kräutern, die sich in dem Beutel befinden. „Petersilie – im Ernst? Oregano? Rosmarin. Thymian. Mir entgeht nichts, das kann ich Ihnen versichern. Die hier habe ich hinter den Suppenkonserven versteckt gefunden. Von Anfang an hatte ich meine Bedenken, was Sie betrifft, Katie, und wie es aussieht, hatte ich voll und ganz recht.“ Sie verschränkt die Arme vor der Brust und schürzt die stoppelige Oberlippe. „So, ich höre, Katie. Ich kann’s kaum erwarten, wie Sie sich da dieses Mal wieder rauswinden werden.“ Sie lehnt sich auf ihrem Schreibtischstuhl zurück und grinst mich süffisant an.
„Schön. Das sind meine. Ich habe sie mitgebracht und einen Hauch davon in die Suppe gestreut, um sie zu würzen, damit sie, Sie wissen schon … ein wenig Geschmack bekommt.“
Bernie drückt ihre Zunge fest in die Wangentasche, reißt mir den wiederverschließbaren Beutel aus der Hand, öffnet ihn und schnüffelt an dem Inhalt, als sei sie eine Zollbeamtin. „Wie oft noch, Katie? Das läuft hier nicht! Kräuter und Gewürze und dieser ganze Schickimicki-Kram stehen nicht auf den Rezepten! Und es ist Ihre Aufgabe, den Rezeptvorgaben NACH VORSCHRIFT zu folgen! Was Sie eindeutig nicht tun. Außerdem verbringen Sie zu viel Zeit im Service und unterhalten sich mit den Bewohnern. Ihre Aufgabe besteht darin, zu kochen und das Essen so zu servieren, wie wir es mögen – mehr nicht –, ohne sich dabei in weitschweifenden Gesprächen über sämtliche Einzelheiten des Tages unserer Bewohner zu verlieren. Was mich zum zweiten Punkt bringt. Was haben Sie mir zu Mrs Rosenblatts Nachtisch zu sagen?“
„Das kann ich erklären.“
Bernie löst sich von ihrem Schreibtisch und faltet die Hände. „Ich wusste es! Ich wusste, dass Sie dahinterstecken, Katie. Sie und Ihre sogenannte Haute Cuisine! Ist Ihnen klar, was Sie ihr angetan haben? Sie hat heute Morgen drei Stunden lang auf der Toilette gesessen. Drei Stunden! Die Schwester dachte schon, Mrs Rosenblatt hätte einen Darmvirus, und wollte sie ins Krankenhaus einliefern lassen. Aber die alte Dame hat sich geweigert und behauptet, dass ihr Nachtisch das Ganze ausgelöst habe.“
„Hervorragend!“ Ein Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus. „Mrs Rosenblatt sagte, sie leide unter Verstopfung, und bat mich um Hilfe. Ich wusste, dass eine kleine Trockenpflaume und ein gewürzter Birnen-Crumble die Sache in Gang bringen würde.“
Bernie ballt die Hand zur Faust. „So können Sie nicht weitermachen. Sie brechen die Regeln, tauschen den Speiseplan aus, bereiten Ihre eigenen Speisen für die Bewohner zu … das ist nicht die Art und Weise, wie wir hier arbeiten.“
„Ich soll mich also einstempeln, das Essen in den Kochtopf schmeißen und Verstand und Herz zu Hause lassen?“
„Ganz genau.“
„Tut mir leid, Bernie, das wird nicht passieren.“
Sie bebt. Und knurrt. Und nimmt eine seltsame Hautfarbe an. Ich würde sie als fleckiges Fleischklößchen bezeichnen.
Bernie beugt sich vor und wedelt mit erhobenem Zeigefinger vor meinem Gesicht herum. „Ich habe das so satt mit Ihnen! Ich habe dem Küchenleiter geradeheraus gesagt, dass ich mit Ihnen im Team nicht glücklich bin. Ich habe ihm alles berichtet – die andauernden Veränderungen, die Sie vornehmen, dass Sie nicht auf meine Anweisungen hören, dass Sie ständig Widerworte geben, dass Sie viel Zeit während der Essensausgabe damit vertun, mit den Bewohnern zu quasseln. Er ist einverstanden damit, dass Sie hier rausfliegen, sobald jemand den Laden betritt, der nur halbwegs qualifiziert ist. Sie passen hier nicht rein, Sie wollen auch nicht reinpassen, und ich persönlich sehe auch nicht, dass Sie irgendwann mal reinpassen könnten. Sie werden hier einzig und allein noch toleriert, weil wir sonst in der Klemme säßen.“ Bernie beißt die Zähne zusammen und kneift die Augen so zu, dass nur noch schmale Schlitze übrig bleiben.
Mir ist klar, dass sie mich damit nur verletzen oder ängstigen oder mich über diese Einschüchterungsversuche dazu zwingen will, nach ihrer Pfeife zu tanzen. Aber im Grunde empfinde ich alles so, wie sie es sagt. Ich will hier nicht reinpassen. Und ich bin einzig und allein hier, weil auch ich in der Klemme sitze.
Ich schließe die Augen und denke an meine Mutter. Ich stelle mir vor, was ihr vor ein paar Jahren auf einem Supermarktparkplatz passiert ist. Irgendein verrückter Autofahrer ist auf sie zugekommen und hat sie angebrüllt. Sie hat die ganze Zeit über nur gelächelt. Nachdem alles vorüber war, habe ich sie gefragt, warum sie das getan hat. Hätte sie nicht zurückbrüllen sollen? Hätte sie sich nicht verteidigen und den Mann in die Flucht schlagen sollen? Sie verneinte jedoch. Manchmal sei es das Beste, diejenigen einfach nur anzulächeln, die einen am Boden sehen wollen. Das bringe sie völlig aus dem Konzept.
Also öffne ich die Augen wieder und schenke Bernie mein breitestes strahlendes Lächeln, das ich zu bieten habe.
Meine Mutter wäre stolz auf mich. Und deswegen lächle ich noch ein wenig breiter und strahlender.
Bernie schüttelt den Kopf und verzieht den Mund. „Verschwinden Sie aus meinem Büro und nehmen Sie dieses bescheuerte Grinsen mit.“
Sie reißt die Tür auf, und ich darf gehen.
„Bringen Sie Mrs Rosenblatt ein Schmelzkäse-Sandwich auf ihr Zimmer – ein schlichtes Schmelzkäse-Sandwich –, ja? Das ist das Mindeste, was Sie nach all den Problemen, die Sie ihr bereitet haben, tun können!“
Ich hebe den Daumen, als ich das Büro verlasse.
Mrs Rosenblatt jedoch werde ich auf gar keinen Fall ein schnödes Schmelzkäse-Sandwich bringen.
Denn dafür mag ich sie viel zu gern.
Kapitel 2
„Hey, Mrs Rosenblatt! Ich habe gehört, die Trockenpflaume hat einen ganz schönen Wirbel verursacht – in vielerlei Hinsicht!“
Mrs Rosenblatt schaut mich über den Rand ihrer Zeitung hinweg an, ein Grinsen im Blick. „Dank Ihnen fühle ich mich pudelwohl.“
Sie ist makellos gekleidet, hat das Haar zu ihren markanten Elizabeth-Taylor-Gedächtnislocken frisiert, und mit ihren blau umrandeten Augen blinzelt sie mir lächelnd zu. Ihr Zimmer im Seniorenheim ist ganz anders als die anderen; so stelle ich mir ein Elsternnest vor. Juwelen funkeln hier in allen Formen und Farben; überall wird das Licht reflektiert, sodass es einem ins Auge sticht. Obwohl Mrs Rosenblatt das Heim nie verlässt, schminkt sie sich jeden Tag mit Rouge und Lippenstift, als wolle sie vor dem Theaterbesuch noch etwas trinken gehen.
Sie schiebt sich in ihrem Bett ein wenig hoch; dabei fällt mein Blick auf den Halsausschnitt ihres altrosafarbenen Nachthemds, der wunderschön mit Pailletten zu einem Pfauenmuster bestickt ist. Jedes Mal, wenn ich ihr Zimmer betrete, habe ich das Gefühl, Santas Weihnachtswerkstatt einen Besuch abzustatten – als gäbe es noch Güte und Magie, als stünden einem hier alle Möglichkeiten der Welt offen, und ich müsste nur lieb und brav sein und mich anstrengen, dann würde schon alles gut. Tatsächlich ist mir aufgefallen, dass meine bloße Anwesenheit hier schon dazu führt, dass mein Herz nicht mehr tausend ängstliche Schläge pro Sekunde rast. Sobald ich hier eintrete und die Duftmischung aus blumigem Parfum und Puder rieche, beruhigt mich das ungemein. Ich habe das Gefühl, dass die Zeit stehen bleibt, man sich um nichts sorgen muss und dass alles gut werden wird, wenn Mrs Rosenblatt mir das mit ihrer beruhigenden, lieblichen Stimme versichert.
Ich stelle die pochierten Eier und den Räucherlachs auf einen Serviertisch neben ihr Bett.
„Da ist viel Omega-3-Fettsäure drin“, erkläre ich ihr. „Das ist gut für das Gehirn, das Herz und das Immunsystem. Das sollten Sie also besser aufessen.“
Mrs Rosenblatt streckt die Hand aus. „Kommen Sie herüber und umarmen Sie mich mal. Sie haben eine alte Frau gerade sehr glücklich gemacht. Es sind diese kleinen Nettigkeiten, die an einem Ort wie diesem einen Unterschied ausmachen. Also Schluss jetzt mit diesem Mrs-Rosenblatt-Gedöns. Martha. Nennen Sie mich bitte Martha. Freundinnen sollten einander beim Vornamen nennen.“
Ich tue, worum Martha mich bittet, und lasse zu, dass sie mich warmherzig und weich umarmt. Es gibt keinen besseren Trost auf dieser Welt. Sie duftet nach frischen Bettlaken und Erdbeermarmelade.
Bevor sie sich über ihr Frühstück hermacht, öffne ich das Fenster und pflücke ein paar Pfefferminzblätter von dem kleinen Kräutergarten ab, den sie in ihrem Blumenkasten heranzieht. „Das ist gut für die Verdauung. Einfach ein wenig von der Pfefferminze mit einem Zitronenschnitz in heißes Wasser geben“, erkläre ich.
Martha nimmt mir die Blättchen aus der Hand und atmet den frischen, angenehmen Duft tief ein. „Oh, das duftet köstlich! Das erinnert mich an Marokko. Oskar und ich haben immer gern die Suks besucht und uns an allen Gewürzwundern dieser Märkte gelabt. Das war der Himmel auf Erden. Ja, ein frischer Pfefferminztee, das wäre eine wahre Gaumenfreude. Vielen Dank, Katie, Sie verwöhnen mich richtig.“ Sie deutet auf ein schweres, gebundenes Fotoalbum, das mit der Zeit immer mehr zu einer Art Sammelalbum geworden ist, in dem Einladungen, Konzertkarten, Postkarten und persönliche Briefe zwischen den Seiten stecken. „Seien Sie so gut und reichen Sie mir doch bitte das Album, dann kann ich Ihnen etwas zeigen.“
Ich hole das Album aus dem schmalen Buchregal neben ihrem Kleiderschrank und reiche es ihr.
Da meine Schicht inzwischen beendet ist, setze ich mich, während sie mich auf eine Reise durch ihre Erinnerungen mitnimmt. Sämtliche Fotos sind vorsichtig auf die dicken Kartonseiten geklebt, jedes einzelne davon ist mit Datum und Unterschriften in ihrer eleganten, fließenden Handschrift versehen. Welch ein unglaubliches Leben Martha hatte!
Sie blättert zur Mitte des Albums weiter und streicht mit der Hand über ein ganz kleines Foto mit einem gezackten Rand, dessen Farben mit der Zeit ein wenig verblasst sind. Darauf ist eine sehr viel jüngere Martha zu sehen, deren Haar in perfekte Wellen gelegt ist, sowie ein Mann mit einem Poirot-Bart, der breit in die Kamera grinst, während er ein Kamel in die Wüste führt.
„Kairo. Das waren unsere Flitterwochen. Oskar war der Meinung, wir sollten unser Eheleben mit einem Abenteuer beginnen, was wir dann auch getan haben. Zuerst war ich dagegen, es erschien mir zu verschwenderisch. Ich habe also protestiert, doch Oskar wollte nichts davon hören. Er sagte: Geh auf Reisen, kauf die Schuhe, iss den Kuchen! Das war sein Lebensmotto, und, du meine Güte, wie hat er sich daran gehalten! Wir haben also diese Reise gemacht. Ich kam als frischgebackene Ehefrau in Ägypten an und verließ das Land als werdende Mutter. Das war ein Abenteuer! Oskar Rosenblatt, du wusstest, wie man einem Mädchen eine schöne Zeit bereitet.“
Nachdem sie das Album sanft zusammengeklappt hat, lege ich es wieder an seinen besonderen Platz zurück. Als Martha danach durch ihre Zeitung blättert, unterhalten wir uns über Filme, Bücher und Urlaube, über die Arbeit und über Immobilienpreise, über Streiks bei den Fluglinien und alles andere. Ich schneide die Pflanzen im Blumenkasten ein wenig zurück, gieße die Kräuter und pflücke ein paar Blätter für mich. Ich habe keine Eile. Es gibt nichts, was ich tun müsste, ich muss nirgendwo sein. Dies ist ein riesengroßer Unterschied, der mir aufgefallen ist, seitdem ich mein eigenes kleines Restaurant schließen musste – ich habe unendlich viel Zeit. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich wirklich Zeit zur Verfügung. Ich weiß, dass die meisten jetzt wahrscheinlich denken, wie beneidenswert das ist. Aber um ehrlich zu sein: Ich hasse es. Mir wird erst jetzt klar, dass ich mit meiner Rolle als Restaurantbesitzerin verheiratet gewesen bin – darum fühlt es sich jetzt auch so an, als sei ich verlassen und im Stich gelassen worden, als sei meine Liebe nicht erwidert worden. Denn ich habe dieses Restaurant weiß Gott geliebt; ich habe mich ihm voll und ganz gewidmet. Ich habe alles aufgegeben, um mich einzig und allein auf das Restaurant zu konzentrieren, ich habe alles gegeben. Für mich galt tatsächlich: bis dass der Tod uns scheidet – obwohl es dann am Ende hieß: bis dass die Schulden uns scheiden …
Diese ganze endlose, ziellose Zeit ist eine der schlimmsten und am wenigsten erwarteten Folgen, wenn man pleitegeht und den Job sowie das Geschäft verliert. Ich nutze meine Zeit nicht mehr produktiv, was dazu führt, dass ich nur noch mehr von mir selbst enttäuscht bin. Ich verbringe meine Zeit damit, zu lange Etiketten in kleinen Feinkostläden zu studieren, in denen ich mir einen Einkauf nicht mehr leisten kann, und durch Food-Kanäle auf Instagram zu scrollen sowie auf Pinterest nach Kuchenrezepten zu suchen. Ich schleppe mich zu Fuß nach Hause, was mich an meinem geschlossenen Restaurant vorbeiführt. Dort sind die Vorhänge zugezogen, im Fenster hängt ein „Zu vermieten“-Schild. Es macht echt keinen Spaß, viel Zeit und wenig Kohle zu haben. Ich muss etwas zu tun haben, ich brauche eine Struktur, einen Sinn, ein Ziel. Davor habe ich mein Restaurantbaby gefüttert, in den Schlaf gewiegt, gebadet und Bäuerchen machen lassen. Es hat jede wache Minute in Beschlag genommen. Die Stunden hatten nicht ausreichend Minuten, die Tage nicht genügend Stunden. Weder hatte ich genug Zeit für mich oder meine Familie noch für meinen Freund, Ben. Na ja, wenigstens hat er mir das genauso gesagt, bevor er aufgebrochen ist, um seinen großen Traum im Ausland zu verwirklichen. Und jetzt, wo alles vorbei ist, sowohl mit Ben als auch mit meinem Restaurant, habe ich nicht die geringste Ahnung, was ich mit mir anstellen soll.
Zuerst und um wenigstens einen Silberstreif am Horizont zu sehen, dachte ich, na ja, jetzt habe ich jede Menge Zeit, all das zu tun, wozu ich vorher nicht gekommen bin, weil ich so verdammt viel und hart gearbeitet habe. Ich könnte Sport machen und fit werden, mich um Dates kümmern oder mir ein neues, mein Leben bereicherndes Hobby suchen.
Doch die Wahrheit ist, dass ich nicht gut mit dieser vielen Zeit zurechtkomme, die mir plötzlich zur Verfügung steht. Ich habe schlichtweg keine Lust, Hanteln zu stemmen, im Pub mit einem Fremden herumzusitzen oder zu lernen, wie ich mit Aquarellfarben malen kann.
Alles, was ich will, ist, Chefköchin zu sein. Und ich bezweifle, dass sich das je ändern wird. Und da ich das jetzt nicht sein kann, na ja, da bringt es mich quasi um, die Zeit totzuschlagen. Alles, was ich zuvor hatte, war eine kurze Aussicht auf das Paradies. Ich hatte einen Freund, den ich geliebt habe, und eine Karriere, für die ich gebrannt habe. Jeden. Einzelnen. Tag. All das zu verlieren, war die Hölle. Wahrscheinlich sitze ich also hier in diesem Fegefeuer fest und putze, schäle und schneide Kartoffeln, bis sich etwas Neues für mich ergibt.
Ich stelle den Wasserkocher an und bereite uns einen Pfefferminztee zu.
„Katie, ich bin verwirrt“, stellt Martha fest und hält die Zeitung hoch. „Ich muss Sie etwas fragen. Was um alles in der Welt ist eine ›Schneeflocke‹?“
„Eine Schneeflocke?“, wiederhole ich und zucke mit den Schultern. Martha war eine erfolgreiche Bankerin in der Stadt, außerdem hat sie keineswegs den Verstand verloren, daher ist mir klar, dass sie etwas anderes als das Offensichtliche meint. „In welchem Kontext denn?“, frage ich sie.
Sie hält mir die Zeitung hin. „Schauen Sie mal auf die allerletzte Seite; Sie werden diesen widerwärtigen Mann sicherlich wiedererkennen. Jean-Michel Marchand. Ein Narzisst, wie er im Buche steht … Er hat eine ganzseitige Werbung geschaltet. Ein schamloser Exhibitionist. Ich habe ihn einmal kennengelernt: kleiner Mann, riesengroßes Ego.“
Ich drehe die Zeitung um. Und tatsächlich, da ist er. Jean-Michel Marchand, der berühmteste Koch des Landes, hat eine ganzseitige Anzeige in der Zeitung geschaltet, auf der sein Gesicht in Lebensgröße abgedruckt ist – so nah, dass man das Gefühl hat, er starrt einem direkt entgegen. Quer über der Seite steht in fetten, großen Buchstaben: „Hast DU alles, was dich zu Jean-Michels nächstem Spitzenkoch macht?“
Ich lasse mich auf Marthas Bett nieder.
Martha setzt sich auf und deutet auf das Kleingedruckte unter seinem Kinn. „Sehen Sie? Dort unten steht: ›Hobbyköche oder Schneeflocken brauchen sich gar nicht erst zu bewerben.‹ Was um alles in der Welt meint er damit?“
Wow. Jean-Michel sucht einen neuen Koch. Und zwar nicht einfach irgendeinen Koch. Einen Spitzenkoch.
„Wissen Sie, was er damit meint, Katie?“
Ich drehe mich zu ihr und reiße mich vom Anblick eines Gesichts los, das ich in Rezeptbüchern und im Fernsehen studiert habe, seitdem ich wusste, dass das Kochen meine Zukunft ist. „Ich weiß es nicht ganz genau, Martha, aber ich glaube, dass es eine abwertende Bezeichnung für meine Generation ist. Manche Leute finden, dass wir mit dem echten Leben nicht klarkommen und uns immerzu von allem und jedem angegriffen fühlen. Daher werden wir als ›Schneeflocken‹ tituliert, weil man uns vorwirft, dass wir uns angeblich für etwas Besonderes und Einzigartiges halten und eine völlig überhöhte Anspruchshaltung besitzen, ohne zu wissen, was harte Arbeit wirklich bedeutet, und unter Druck sofort dahinschmelzen.“
Martha tippt auf die Zeitung und schüttelt den Kopf. „Von einem derartigen Unmenschen wie ihm erwarte ich auch nichts anderes als solch einen reißerischen Blödsinn.“
„Er mag ein Unmensch sein. Aber er ist definitiv auch ein kulinarischer Gott.“
Sie mustert mich einen Augenblick lang, bevor sie sich die Brille hochschiebt. „Sie sollten sich da melden, Katie. Mein ganzes Leben lang habe ich Wein getrunken, Speisen serviert bekommen und wunderbarste Gerichte gegessen, die hochgeschätzte Spitzenköche zubereitet haben. Ich kann Ihnen versichern, dass Sie das in sich haben. Diese Leidenschaft, diese Arbeitsmoral.“
Yep. Ich kenne dieses Geschwätz. Es ist verführerisch und kann einen in die vollkommen falsche Richtung leiten, wenn man es ernst nimmt. Man glaubt nachher noch, dass alles möglich ist, bla, bla, bla.
„Vielen Dank, Martha, aber dazu gehört schon ein wenig mehr. Meine Chance hatte ich bereits, dieses ›Versuch es, du kannst es schaffen, wenn du nur fest daran glaubst, du kannst alles erreichen, wovon du träumst‹. Ich habe daran geglaubt und bin voll und ganz auf die Nase gefallen. Und sowohl mein Schuldenverwalter als auch ich können Ihnen versichern, dass das nicht stimmt. Es ist vielmehr ein sehr teurer und höchst schmerzhafter Irrglaube, dass Leidenschaft und harte Arbeit ausreichen, um erfolgreich zu sein.“
Martha schürzt die Lippen und schaut mich mit zusammengekniffenen Augen an. „Sind Sie eine Hobbyköchin?“
Ich schüttele den Kopf. „Uh! Nein! Ich habe eine vierjährige Ausbildung an der Le Cordon Bleu London Culinary School absolviert. Ich bin eine diplomierte Köchin der französischen Küche.“
„Sind Sie eine Schneeflocke?“
Ich muss lachen. „Glauben Sie allen Ernstes, dass jemand, der über eine halbwegs überhöhte Anspruchshaltung verfügt, hier arbeiten würde? Mit Bernie?“
Martha tippt auf die Zeitung und schaut mir in die Augen. „Nun, Sie haben alles, was gefordert ist. Die Bewerbungsfrist endet heute um Mitternacht, deswegen würde ich vorschlagen, dass Sie jetzt mal Gas geben, Chefköchin!“
Dankbar für dieses lieb gemeinte Kompliment blinzele ich ihr zu, ganz gleich, wie unangebracht es auch sein mag. Es ist wirklich nett, dass sie mich pushen und mir einen Traum geben will, dem ich nachjagen soll. Doch Jean-Michel ist ein Hai. Er würde Hackfleisch aus mir machen und mich anschließend wieder ausspucken. Nach meinem großen Reinfall war es jetzt schon unmöglich, eine angemessene Stelle als Köchin zu bekommen. Ein schlechtes Wort von Jean-Michel, und ich wäre für immer und alle Zeiten in der Welt der erlesenen Speisen erledigt.
„Ich weiß Ihr Vertrauen sehr zu schätzen, Martha, aber wie Sie schon ganz recht sagten, ist der Mann ein Unmensch. Er erwartet, ja verlangt Perfektion in jeglicher Hinsicht. Ich bin gut, aber nicht gut genug für ihn. Da sprechen wir von einem ganz anderen Niveau. Jeder ernst zu nehmende Koch im Land würde alles tun, um mit Jean-Michel zusammen in einer Küche zu stehen. Der Konkurrenzkampf wäre ungeheuerlich. Und unbarmherzig. Selbst wenn ich also die Bewerbungsrunde überstehen sollte, würde er mich ganz sicher gleich in der ersten Phase der Kandidatensichtung rauswerfen. Da ist es weiser, mir die Zeit und den Ärger zu ersparen.“
Martha nimmt meine Hände in die ihren. „Alt zu sein, ist gar nicht so schlimm, wie Sie vielleicht denken mögen, wissen Sie? Mit dem Alter kommt Weisheit, was bedeutet, dass man viele Dinge anders sieht. Und Katie, ich sehe mir hier tagtäglich an, wie sie sich abmühen. Darum werde ich Ihnen das Folgende schlicht und einfach sagen: Sie glauben, Sie sparen Zeit und bleiben besser, wo Sie sind? Falsch. Denn es spielt absolut keine Rolle, meine Liebe, ob Sie nun neunundzwanzig oder neunundachtzig Jahre alt sind, denn keine von uns kann ihre Zukunft als selbstverständlich ansehen. Keine von uns hat Zeit zu verlieren oder Chancen zu vergeben. Jetzt ist Ihre Zeit, Süße; greifen Sie zu, sonst wird jemand anders es tun.“
Und genau in diesem Moment ist tief in meinem Inneren etwas entflammt. Es fühlt sich heiß und eindringlich an, wie Wut und Ehrgeiz und Empörung und Leidenschaft, und all das lässt mein Herz fast platzen. Die lähmenden Betriebskosten und die steigende Miete haben mich das Restaurant gekostet, das Versprechen eines beruflichen Aufstiegs und Abenteuers hat mir meinen Freund genommen, und eine grausame, unbarmherzige Krankheit hat mir meine Mutter entrissen. Und jetzt hat mir Bernie auch noch meine Kräuter weggenommen, Herrgott noch mal!
Ich kann nicht zulassen, dass mir noch jemand etwas wegnimmt.
Hier gibt es nichts mehr wegzuschnappen.
Ich blicke noch einmal zum Foto von Jean-Michel. Diese phänomenale Chance, mit einem der großartigsten Spitzenköche zu arbeiten, gilt es zu ergreifen. Ich lasse die Wut und den Ehrgeiz und die Empörung, die in seinen Brauen zu erkennen sind, die manische Intensität seiner Augen, die Anspannung seines Kiefers sowie die herausfordernde Art und Weise, wie sein Kinn gereckt ist, auf mich wirken. Er würde nicht bleiben, wo er ist. Er würde sich mit nichts weniger als der Perfektion zufriedengeben.
Was würde Jean-Michel tun, wäre er hier, jetzt in diesem Augenblick, in meiner derzeitigen Lage? Wo er ganz frisch nach einem kräftigen Anschiss die größte Gelegenheit der kulinarischen Welt vor der Nase hat? Er würde die Gelegenheit natürlich beim Schopfe packen. Er würde kraftvoll zupacken. So oder so würde er sich aus seiner Lage herauskämpfen, sich aus dem Mist herauswühlen und über alles hinauswachsen, was ihm in die Quere kommt.
Ich studiere seine Lippen, seine Finger, die tiefen Falten quer über seiner Stirn, die wie alte Kampfesnarben aussehen. Wer bist du wirklich, Jean-Michel? Wie hast du es geschafft, dein Imperium aufzubauen? Wie bist du dahin gekommen, wo du heute bist? Was treibt dich an? Was ist dein Geheimnis?
Ich schüttle gleichermaßen verwirrt wie fasziniert den Kopf. Eines ist sicher: Wenn es da draußen einen Lehrer gibt, der es wert ist, von ihm zu lernen, dann ist er es.
Martha beugt sich vor und drückt sanft meinen Ellbogen. „Katie, bei allem Respekt, was haben Sie zu verlieren?“
Wir beide kennen die Antwort auf diese Frage.
Kapitel 3
„Was zum Teufel …?“
Alice ist nicht nur meine beste Freundin, sondern hat mir als Eigenheimbesitzerin eine Notunterkunft angeboten, als ich meine Miete nicht mehr länger bezahlen konnte. Nun steht sie mit offenem Mund in der Tür und schlägt entsetzt die Hände vors Gesicht.
„Ich mache alles wieder sauber. Versprochen … Die Töpfe da vorn weichen schon ein.“
Alice befördert ihre High Heels, die sie zur Arbeit trägt, mit einem Tritt in die Ecke, öffnet ihren BH, zieht ihn durch die Ärmel ihrer Bluse aus und wirft ihn über den Sessel. Auf diesen Moment hat Alice den ganzen Tag lang gewartet, auf diesen Moment der Freiheit, wenn sie die Privatsphäre ihrer vier Wände betritt, wo sie ausatmen und es sich gemütlich machen kann und nicht mehr die verspannte, akkurate Fachanwältin mit dem Schwerpunkt Arbeitsrecht sein muss.
„Oh, tut das gut! Und wow, was duftet das hier gut!“ Sie schlängelt sich aus ihrem schwarzen Bleistiftrock und schlüpft in eine Shorts.
Ich reiße mich vom Anblick meines Steaks los, das ich gerade brate, und lasse den Blick durch die Küche schweifen, die ich komplett in Beschlag genommen habe. Auf jedem Kochfeld steht eine Pfanne, jeder Zentimeter der Arbeitsplatte ist mit Sachen aus dem Kühl- und Vorratsschrank überladen … Zutaten, Messer, Schneidebretter, Küchenwagen, Handmixer, Wein, Whiskey … für Fonds und Saucen natürlich.
„Tut mir leid, Alice. Hier sieht’s aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Ich habe mich nicht mehr bremsen können. Überraschung!“
Alice kommt zu mir und legt mir einen Arm um die Schultern. „Ach was, ist nicht schlimm. Aber du kochst wieder! Das ist TOLL!“ Sie taucht ihren kleinen Finger in die cremige Cognac-Sauce, die ich gerade vom Herd genommen habe. „Du meine Güte, Katie! Die ist der Wahnsinn! Ich brauche mehr von dieser Sauce in meinem Leben!“ Sie schnappt sich die Weinflasche und schenkt sich ein Glas ein. „Bitte sag, dass ich sie heute Abend essen werde und sie die letzten acht Stunden aus meinem Gedächtnis nahezu auslöschen wird.“
Ich schöpfe ein wenig aus dem Topf in eine Schüssel und reiche sie ihr mit einem Stückchen Brot. „Hast du heute überhaupt schon was gegessen?“
Alice schüttelt den Kopf. „Keine Zeit gehabt.“ Sie tunkt das Brot in die Sauce.
„Alles gut bei dir?“ Die arme Alice ist schon immer sehr intelligent gewesen, nur könnte man momentan meinen, sie würde dafür bestraft. Jedes Mal, wenn sie das Gefühl hat, nach Hause gehen zu wollen, hält man ihr einen Köder vor die Nase oder redet ihr ein schlechtes Gewissen ein, damit sie noch einen weiteren Klienten übernimmt, bevor der Kreislauf wieder von vorn beginnt und man ihr Versprechungen macht, die dann nicht eingehalten werden.
Alice zuckt mit den Schultern. „Wird schon wieder. Nichts Ernstes. Nur wieder der alte Kram bei der Arbeit. Spielt aber jetzt keine Rolle mehr; ich bin zu Hause, du bist hier, und diese Sauce bringt mich dazu, Babys mit ihr zeugen zu wollen, also … vergiss es, jetzt ist alles gut. Alles, was falsch war, ist hiermit wiedergutgemacht.“ Wieder tunkt sie ein warmes Stück Brot in die Schüssel und beginnt ihren Geschmacksorgasmus.
Zum Glück geht sie nicht oft zum Essen aus.
Sie bebt und stößt einen hohen Ton aus. „Das ist so gut! Das Geilste überhaupt! Das brauche ich auf Rezept. Aber eigentlich sollte ich jetzt damit aufhören. Alles beenden, Schluss, aus.“
Alice ist meine liebste Kritikerin. Sie liebt Essen, hat aber keine Ahnung, was zusammenpasst – so wurde sie durchaus schon dabei erwischt, wie sie Gemüsesticks in Nutella tunkte. Eine schlechte Farbwahl macht sie rasend; trägt man einen Lippenstift, der mehr ketchupfarben als signalrot ist, wird Alice nichts mehr mit einem zu tun haben wollen. Doch würde sie einen Pasta-Snack-Becher auf Blauschimmelkäse essen? O ja, problemlos.
Alice wischt mit einem Brotstück die letzten Soßenreste auf und küsst es, bevor sie es sich in den Mund schiebt. „Gibt es eigentlich so was wie die Anonymen Alkoholiker für Kohlenhydratjunkies?“
Als sie schließlich mit dem Seufzen aufhört, ist sie wieder Alice. Ihre großen Augen sind wieder klar und voller Begeisterung. Sie schaut mich an. „Was ist eigentlich der Grund hierfür? Ist etwas passiert? Ich dachte, du hättest damit abgeschlossen.“
Ich deute auf den Kühlschrank, von dessen Tür mich Jean-Michels intensiver Blick anstarrt; ich habe die ganze Zeitungsseite dort mithilfe von Buchstabenmagneten aufgehängt.
Alice kneift die Augen zusammen, um die Überschrift zu lesen. „Hast DU alles, was dich zu Jean-Michels nächstem Spitzenkoch macht?“ Sie schlägt sich die Hand vor den Mund und blinzelt. „Ist das dein Ernst?“
„Mein voller Ernst“, erwidere ich.
„Aber er ist ein Psycho! Hast du denn nicht die Dokumentation über ihn gesehen, die neulich im Fernsehen lief? Ohne Witz: Wir haben Teile davon in unserer Schulung geguckt, in der es um Rechte und Pflichten ging. Denn so, wie er seine Angestellten behandelt, wie er mit ihnen spricht, diese Kultur der Angst und Einschüchterung … Das ist illegal! Ich kann es gar nicht fassen, dass er bis jetzt noch nie verklagt wurde. Warum willst du dir das antun, Katie? Du hast doch schon genug durchgemacht. Mach doch mal eine Pause.“ Sie verzieht das Gesicht.
Ich schüttle den Kopf. „Ich verstehe schon, was du meinst. Aber ich habe bereits eine Pause gemacht, und ich bin so weit. Ich weiß, wie verrückt das klingt, aber ich vermisse es. Ich vermisse den ganzen Wahnsinn.“
Alice ballt ihre Hände zu Fäusten und pocht sich damit sanft an den Kopf. „Du weiß schon, dass das der pure Wahnsinn ist, oder? Bei der Arbeit muss ich wirklich viel hinnehmen. Ich habe einen Chef, der sich über jeden lustig macht, der mir andauernd in den Nacken pustet und mir ungeniert auf die Brüste glotzt. Morgens gehe ich im Dunkeln ins Büro, abends gehe ich im Dunkeln wieder nach Hause – keinen Tag dauert meine Mittagspause länger als acht Minuten Sonnenlicht. Ich unterhalte mich mehr mit Bildschirmen als mit echten Menschen. Aber in einer Umgebung mit höchstem Stressfaktor und mit einem für seine Launenhaftigkeit bekannten Spitzenkoch als Chef arbeiten? Ähm, nicht mal ich vertrage so viel Wahnsinn, besten Dank.“
„Das ist was anderes. Du hast eine anständige Karriere, du hast einen Kredit. Selbst wenn dich auf der Arbeit niemand leiden könnte, hättest du wenigstens den Respekt der anderen.“
Alice zeigt mir den Mittelfinger. „Na prima. Aber eigentlich bin ich diejenige, die die anderen nicht mag. Und die mögen sich nicht mal untereinander. Niemand ist glücklich und fühlt sich unterstützt. Wir sind alle gleichermaßen unglücklich.“
Ich schneide das Steak, das auf einem Teller geruht hat, und reiche ihr ein saftiges Stück auf einer Gabel. „Erinnerst du dich noch, wie überzeugt wir damals waren, London im Sturm zu erobern? Mit guten Jobs, einem megatollen gesellschaftlichen Leben, super Freunden?“
Alice nickt vehement. „Ja. Nach außen wirkte ich wie ein absolutes Londoner Stadtkind, das es so viel besser getroffen hatte als all unsere Klassenkameraden, die sich in kleinen, ländlichen Städten niedergelassen haben. Aber tatsächlich verbringe ich den Großteil meiner wachen Zeit damit, online blinde Wut gegenüber Fremden zu hegen, und wenn mein Jahresrückblick-Video auf Facebook ehrlich wäre, bestünde es ausschließlich aus Ausschnitten von mir, wie ich schreie und ständig ›Fuck!‹ brülle. Wie konnte das nur so schiefgehen?“
Ich stupse sie am Ellbogen an. „Zumindest haben wir den ›Beste Freundinnen‹-Teil richtig gemacht.“
Daraufhin muss sie lächeln. „Yeah! Und ich habe einen tollen Abend: Ich komme nach Hause und bekomme ein Sternemenü von meiner hauseigenen Privatköchin serviert, was will man mehr? Jetzt nur noch eine Massage und sechzehn Millionen Pfund. Wir bewegen uns auf ausgefahrenen Gleisen, aber was die Gleise betrifft, ist das nicht das Schlechteste. Bleiben nur noch die beschissenen Jobs. Wenn wir jetzt noch dagegen etwas unternehmen, dann haben wir’s geschafft.“
Ich halte meine Geheimwaffe in die Höhe, eine hundert Jahre alte Gusseisenpfanne, und stelle sie dann auf den Herd.
Alice versteht sofort. Sie weiß, was es bedeutet, wenn ich die Bratpfanne raushole. Sie kaut auf der Unterlippe und grinst. „Gut! Mach weiter! Die Spitzenköchin soll es also sein. Das ist also das letzte Puzzleteilchen! Natürlich brauchst du da jemanden, der den Chefvorkoster macht. Wo fangen wir an?“
Ich erzähle ihr alles rund ums Einstellungsverfahren: zuerst eine Online-Bewerbung, aufgrund derer dann eine engere Auswahl an Kandidaten in Jean-Michels Küche eingeladen wird, um ihre jeweilige eigene Menükreation in weniger als fünfzehn Minuten vor einer Fachjury zuzubereiten. Danach wird eine Reihe von Aufgaben die finale Kandidatenzahl nach und nach reduzieren. Die letzten übrigen Kandidaten müssen gegeneinander antreten und kämpfen, bis der Spitzenkoch gekürt ist.
Nachdem ich uns Wein eingeschenkt habe, nehmen wir die Gläser und prosten uns zu.
„Was uns nicht umbringt, macht uns stärker, nicht wahr?“
Alice neigt den Kopf zur Seite. „Du weißt schon, dass Nietzsche das gesagt hat, oder? Während er an Syphilis starb.“
„Na gut, du Besserwisserin.“ Nachdem ich das Glas geleert habe, schenke ich mir großzügig Wein nach und reiße mir noch ein Stück Brot ab. „Wie wäre es dann stattdessen mit: Was uns nicht umbringt, lässt uns mit einer Menge Bewältigungsmechanismen und einem Sinn für schwarzen Humor zurück.“
„Das klingt sehr autobiografisch gefärbt.“
Erneut stoßen wir an, bevor Alice in Gelächter ausbricht, während sie sich die Finger ableckt. „Wenigstens haben wir das hier.“ Sie hält das Brot hoch. „Das ist die einzige Sinneserfahrung, die mir noch geblieben ist. Manchmal denke ich, dass ich mich genauso gut dem Zölibat verschreiben könnte. Ich würde dann in ein großes, wunderschönes Landhaus ziehen, tagaus, tagein Wein trinken und Käse essen, mir nie wieder Gedanken um meine Körperbehaarung machen und mich einfach gehen lassen.“
Ich grinse sie an. „Man soll immer an seine Ziele glauben.“
Sie tut, als höre sie mich nicht, und wechselt das Thema. „Wann erfährst du, ob du in der engeren Auswahl bist?“, fragt sie.
„Der Einsendeschluss für die Online-Bewerbungen ist heute um Mitternacht. Meine Bewerbung habe ich bereits abgeschickt, wahrscheinlich werde ich dann in der nächsten Woche etwas hören. Aber ich möchte schon anfangen zu üben, für den Fall, dass ich angerufen werde. Für Jean-Michel kann man sich nicht gut genug vorbereiten.“
Ich bereite meine Spezialität Steak Diane zu Ende zu; danach trinken wir eine Flasche Wein, plündern die Chips-Vorräte, fertigen Comiczeichnungen von Alice’ Arbeitskollegen an und denken uns Limericks über jeden Einzelnen aus. Wir stellen uns vor, in der Todeszelle zu sitzen, und malen uns die wunderbarsten Speisen aus, die wir uns als Henkersmahlzeit bestellen würden … Ganz gleich, was sie kosten oder wie viele Kalorien sie haben mögen. Schließlich wünsche ich Alice eine gute Nacht, als sie sich in Richtung ihres Schlafzimmers verkrümelt, und rolle meinen Schlafsack auf dem Sofa aus. Seit fast zwei Jahren ist dies meine nächtliche Routine, während ich meine Schulden zurückzahle und dabei so viel wie möglich weglege, um mir ein eigenes kleines Polster anzusparen.
Ich weiß, dass ich das Richtige getan habe. Ab jetzt habe ich es nicht mehr selbst in der Hand. Ich habe die Bewerbung abgeschickt, jetzt gilt es abzuwarten. Das Warten ist das Schlimmste. Nicht zu wissen, wie oder wann ich etwas hören werde. Mir kommt in den Sinn, dass ich es nicht schaffen könnte, dass ich nicht weiterkommen und keinen Anruf erhalten könnte. Bei diesem Gedanken wird mir übel, sogar noch übler als nach der Riesenmenge Wotsits-Käseflips, die Alice und ich verputzt haben.
Just in diesem Moment wird mir klar, wie wichtig mir diese Bewerbung ist. Wie viel sie mir bedeutet. Mein letztes Wagnis war ein gewaltiger Reinfall, weshalb es jetzt für mich viel zu beweisen gilt. Allen, aber insbesondere all den Bernies dieser Welt, die mich für eine arrogante Nervensäge halten. Ich muss mir selbst beweisen, dass ich mehr als eine arrogante Nervensäge bin, die ihre Zeit verschwendet; dass ich etwas verfolge, das wirklich ein Ziel hat, irgendwo, irgendwann. Zuallererst muss ich meinem Dad beweisen, dass es die Sache wert war, Irland und die Familie zu verlassen. Dann meiner Schwester, Rachel, dass ich glücklich bin und vorwärtskomme, obwohl ich mit dem Restaurant pleitegegangen bin; meinen Brüdern, dass ich nicht unterzukriegen, sondern stark genug bin, um mit allen Hindernissen fertigzuwerden, die sich mir in den Weg stellen. Und mir selbst, dass ich die richtige Wahl getroffen habe, meine Karriere als wichtiger zu erachten als Ben.
Mein Handy klingelt. Ich nehme an, dass sich entweder jemand verwählt hat oder unabsichtlich an die Wähltaste gekommen ist. Um diese Uhrzeit würde mich niemand anrufen, es sei denn, es ist in der Familie etwas …
Ich kenne die Nummer nicht, aber angetrunken und zu logischem Denken nicht mehr fähig, beschließe ich, dennoch ranzugehen.
„Hallo? Wer ist denn da?“, frage ich, vollkommen panisch, dass es mein Dad sein könnte, weil ihm etwas zugestoßen ist.
„Spreche ich mit Katie Kelly?“ Die Stimme ist leise, tief, rau. Die Verbindung ist grottig, aber diese Person klingt weder englisch noch irisch. Ich kann den Akzent gar nicht lokalisieren. Mir klopft das Herz bis zum Hals, während mir tausend Gedanken durch den Kopf schießen.
„Ja. Wer will das wissen?“ Mit zitternder Hand knie ich mich aufs Sofa.
„Ich will das wissen. Jean-Michel Marchand.“
Ich krabbele vom Sofa und stelle mich aufrecht hin. Ist das etwa ein Telefonstreich? Ich schlage mir die Hand vor den Mund. Am liebsten würde ich ins Handy brüllen, dass sein Anruf um diese Uhrzeit mich zu Tode erschreckt hat. Wer zum Teufel ruft schon mitten in der Nacht an? Ich schlucke schwer. Du meine Güte, Jean-Michel, du bist wirklich ein Mistkerl.
„Sie haben sich für die nächste Runde qualifiziert. Finden Sie sich morgen um vier Uhr nachmittags im Rembrandt Hotel in Chelsea ein. Tragen Sie Ihre Kochuniform. Bringen Sie Ihre eigenen Zutaten mit. Für das Auswahlkomitee müssen Sie Ihr Gericht in weniger als einer Viertelstunde zubereiten.“
„Machen Sie Witze? Wie haben Sie …“
„Instinkt. Die wichtigste Eigenschaft eines jeden Anführers ist ein außergewöhnlicher Instinkt. Ohne Instinkt ist man ein Mitläufer, kein Anführer.“
Und damit ist die Leitung tot.
Wahrscheinlich ist das Jean-Michels Art zu gratulieren.
Aber um ehrlich zu sein, ist es mir vollkommen egal, wie er es sagt. All meinen Familienmitgliedern geht es gut, und ich habe gerade mit Jean-Michel Marchand telefoniert!
Ich bin eine Runde weiter. Ich habe es in die engere Auswahl geschafft. Er kannte meinen Namen. Er hat mich angerufen.
Der morgige Tag ist mit einem Mal der wichtigste Tag in meinem Leben.
Ich habe die erste Runde überstanden.
Morgen koche ich.
Für Jean-Michel. Für einen verrückten, launischen, wütenden, genialen Mistkerl wie ihn.
Schnell schnappe ich mir Papier und Stift, notiere meine Zutatenliste und stelle mir den Wecker für in drei Stunden.
Denn ich weiß genau, wo und wann es die besten Steaks gibt. Das bedeutet, dass ich um vier Uhr früh beim Smithfield Market sein muss. Bei diesem einen ganz bestimmten Metzger auf dem Großmarkt habe ich schon immer gekauft. Für mich als treue Kundin hat er immer noch etwas Besonderes gratis: ein zweites Filet, ein paar Koteletts oder Rindfleisch zum Kochen. Daher denke ich, ganz gleich, was passieren wird, Alice und ich würden uns abends über ein weiteres Festmahl hermachen können.
Ich ziehe mir die Bettdecke bis unters Kinn und versuche, mich zum Schlafen zu zwingen.
Schlafen. Als könnte ich jetzt schlafen!
Vielleicht bin ich ja tatsächlich verrückt.
Aber egal, ob ich mich jetzt zum Schlafen zwinge oder nicht: Der Wecker wird klingeln, und dann werde ich mich mit allem, was ich habe und bin, Jean-Michel widmen.
So oder so.
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