Der junge Doktorand Der junge Doktorand - eBook-Ausgabe
Roman
— Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2019„Dass Bremers Roman so fließend in der Wirklichkeit weitergespielt werden kann, liegt an seiner genialen, zärtlichen, lustig genauen Menschenbeschreibungskunst.“ - Der Spiegel
Der junge Doktorand — Inhalt
Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2019!
Zwei Jahre schon warten die Greilachs mit an Verzweiflung grenzender Vorfreude auf die Ankunft eines jungen Doktoranden in ihrer abgelegenen Mühle. Er soll dem alternden Maler Günter Greilach zu neuem Ruhm verhelfen. Für seine Frau Natascha dagegen wird er zum Lichtblick ihrer Alltagsroutine. Ihre Hoffnungen reichen nahezu bis ins Unendliche, doch als der junge Mann nach mehreren Absagen plötzlich doch vor ihrer Tür steht, kommt alles anders als selbst in wildesten Träumen ausgemalt.
„Eine Künstlernovelle, eine Ehegroteske und eine herrliche Komödie der Eitelkeiten.“ Die Welt
„Die karge, hinterlistige Prosa Bremers, seine träumenden, gebrochenen Narrenfiguren, haben dem Autor nicht ganz zu Unrecht den gern bemühten Vergleich mit Kafka und Robert Walser eingehandelt. Dabei sollte sich Bremers Prosa inzwischen selbst genug sein.“ Der Tagesspiegel
Leseprobe zu „Der junge Doktorand“
Seit einer Weile schon lauschte sie dem gleichmäßigen Atmen ihres Mannes nach. Jetzt drehte sie sich auf den Rücken, öffnete die Augen und sah ins blasse Licht, das durch das Fenster des Schlafzimmers hereinfiel. Warum nur war sie schon wieder wach? Es war doch noch viel zu früh. Die ganze Nacht hatte sie kaum geschlafen. Dabei musste sie heute ausgeruht sein. Heute musste sie sich im Griff haben. Es ließ sich doch gar nicht abschätzen, was ihr an diesem Tag noch alles bevorstand. Die Ankunft des jungen Doktoranden am späten Abend hatte sie völlig [...]
Seit einer Weile schon lauschte sie dem gleichmäßigen Atmen ihres Mannes nach. Jetzt drehte sie sich auf den Rücken, öffnete die Augen und sah ins blasse Licht, das durch das Fenster des Schlafzimmers hereinfiel. Warum nur war sie schon wieder wach? Es war doch noch viel zu früh. Die ganze Nacht hatte sie kaum geschlafen. Dabei musste sie heute ausgeruht sein. Heute musste sie sich im Griff haben. Es ließ sich doch gar nicht abschätzen, was ihr an diesem Tag noch alles bevorstand. Die Ankunft des jungen Doktoranden am späten Abend hatte sie völlig überrumpelt. Natürlich hatte sie mit dieser Ankunft rechnen müssen. Aber wie hätte sie das tun sollen? Es ließ sich ja auch kein vernünftiger Grund dafür finden, warum er jetzt tatsächlich gekommen war. Wie in einem Film so unwirklich war er aus dem Nichts aufgetaucht. Deshalb spürte sie auch noch immer das Befremden, das sie gestern sogleich erfasst hatte, als plötzlich diese Autolichter in ihrem Wohnzimmer aufleuchteten. Mit schweren Lidern hatte sie da bereits gemütlich auf der Couch gelegen und mit einem Mal hellwach zu ihrem Mann hingesehen, der wie erstarrt in seinem Sessel saß. „Wer kann denn das sein?“, hatte er noch zu ihr hin gefragt, als der schwere Eisenbeschlag schon gegen ihre Tür hämmerte, und sich dann zögerlich erhoben, um leicht gekrümmt mit schleichenden Schritten im Flur zu verschwinden. Schnell hatte sie mit emporgestreckten Händen ein Stoßgebet zum Himmel geschickt, dass es bloß nicht der junge Doktorand sein möge, aber noch während sie sich erhob, hatte sie schon die Stimme ihres Mannes von der Haustür her vernommen. „Nein, natürlich haben wir noch mit Ihnen gerechnet. Kommen Sie rein … Sie haben ja ein scheußliches Wetter mitgebracht … Bestimmt wollen Sie nach der langen Reise etwas essen … Stellen Sie das erst mal hier ab … Meine Frau Natascha wird Ihnen gleich einen herzhaften Teller zubereiten … Natascha, sieh mal, wen wir hier haben!“, und mit diesen Worten war er wieder ins Wohnzimmer getreten. „Er ist es“, hatte er ihr noch schnell zugezischt, und schon lag ihre Hand in der großen, fleischigen und nassen Hand des jungen Doktoranden, und sie hatte sie sofort wieder losgelassen und war rückwärtig in den Lehnsessel ihres Mannes gesunken. Sie war auch sehr erschöpft gewesen. Diese Tage, an denen sie und ihr Mann sich darauf einstellten, den Besuch des jungen Doktoranden zu erwarten, erforderten immer eine besondere Kraft. Ohne dass sie es sich eingestanden, waren sie beide an diesen Tagen entsprechend gereizt. Allein, dass ihr Mann an diesen Tagen schon am Frühstückstisch, während er den Kopf mechanisch über die Zeitung hielt, nervös mit seinen kurzen Fingern schnippte, ließ sie innerlich fast aus der Haut fahren. Dabei wusste sie, dass seine Gedanken sich genau wie ihre auf nichts anderes als die Ankunft des Postautos richteten. Nur war es halt seit jeher ihre Aufgabe, die Post am Vormittag aus dem Briefkasten zu holen, und wenn sie dann wieder ins Haus trat, hatte sich ihr Mann bereits nach oben in sein Atelier zurückgezogen. Es war ja auch, wie sie die Erfahrung gelehrt hatte, völlig aussagelos, ob sie die Postkarte, mit der der junge Doktorand seinen angekündigten Besuch wieder absagte, an diesem Tag im Briefkasten vorfand oder nicht. Das hatte sie sich gestern ebenfalls gesagt, als sie mit nichts als der Werbebroschüre des örtlichen Supermarkts wieder ins Haus getreten war, und sich über die nächsten Stunden mantraartig vorgebetet, dass es auch dieses Mal nicht den geringsten Grund zur Beunruhigung gäbe, dass auch dieses Mal das Ausbleiben der Postkarte keinerlei Bedeutung haben würde, weil nämlich, wie sie sich immer wieder vor Augen führte, von den neun Postkarten, mit denen der junge Doktorand seine bisherigen neun angekündigten Besuche wieder abgesagt hatte, sieben erst einen oder sogar zwei Tage nach dem Termin bei ihnen eingetroffen waren. Dennoch hatte auch diese scheinbare Gewissheit ihre heimliche Erregung nicht völlig dämpfen können. Sogar die große Portion Gulasch, die zu kochen ihr Mann ihr an diesen Tagen immer auftrug und von der sie dann zu zweit meist noch eine ganze Woche zehrten, hatte sie versalzen, und erst am Abend, als sie schon längst auf der Couch lag, fühlte sie, wie die Last des Tages allmählich von ihr wich und einer wohligen Entspannung Platz machte. Nur das erklärte ihren Schreck, der ihr mit dem Aufleuchten der Autolichter in ihrem Wohnzimmer in die Glieder gefahren war. Wer anderes als er hätte denn noch um diese Zeit zu ihnen kommen sollen? Nass klebte ihm das Haar am Kopf, und seine Lederjacke war an den Schultern dunkel verfärbt. Es war ja auch ein großes Pech, dass es ausgerechnet gestern Abend so stark hatte regnen müssen. Aber selbst wenn es nicht geregnet und der junge Doktorand eine bessere Sicht gehabt hätte, hätte man ihm kaum einen Vorwurf daraus machen können, dass er in der Dunkelheit nicht zu ihnen gefunden hatte. Schon bei schönem Wetter am helllichten Tag war es schwierig, den Abzweig zu erkennen, der zu ihrer Wassermühle hinunterführte. Was konnte auch der junge Doktorand dafür, dass ihr Mann sich seit jeher weigerte, ein ordentliches Schild dort oben an der Straße aufzustellen, und noch weniger konnte er dafür, dass sie überhaupt in diese Einöde gezogen waren. Wäre sie damals schon so weit gewesen wie heute, niemals wäre sie ihrem Mann an diesen abgelegenen, gottverlassenen Ort gefolgt. Doch für diesen Gedanken war es seit vielen Jahrzehnten zu spät, und ebenfalls zu spät war es dafür, dem jungen Doktoranden jetzt noch eine Wegbeschreibung zu schicken. Warum nur war sie nicht schon viel früher auf diese Idee gekommen? Es war ihr doch mehr als bewusst, dass eine solche Idee nur von ihr hätte stammen können. Für alles, was einen praktischen Wert besaß, hatte ihr Mann noch nie das geringste Gespür gehabt. Ihm war es schon immer völlig egal, auf welchen Umwegen die Menschen zu ihm gelangten. So eine Fahrt wie die des jungen Doktoranden bei diesem Wetter und in dieser Dunkelheit und den Kopf auf der verzweifelten Suche nach dem Abzweig immer dicht zur Scheibe vorgebeugt, hätte genauso gut tödlich enden können. Womöglich hätten sie sogar nie erfahren, dass es sich bei dem jungen Mann, dessen Unfalltod oben auf der Straße der hiesigen Zeitung einen kleinen Absatz wert gewesen wäre, um den jungen Doktoranden handelte, der gerade auf dem Weg zu ihnen war.
Sie hörte sich aufseufzen und hob kurz die Bettdecke an, um die Hitze entweichen zu lassen, die sich um sie herum aufgestaut hatte. Wenn der junge Doktorand gestern eine exakte Beschreibung der Lage ihres Hauses dabeigehabt und deshalb nicht diesen blöden Abstecher ins nahe gelegene Städtchen gemacht hätte, um ausgerechnet in Peters Bistro nach dem Weg zu ihnen zu fragen, hätte sich seine Ankunft gar nicht zu einem Problem für sie ausweiten müssen. Mehr noch als sein plötzliches Erscheinen war es diese Tatsache, die ihr den eigentlichen Schlag versetzte. Nur ihrer Geistesgegenwärtigkeit war es zu verdanken, dass sie sich das nicht hatte anmerken lassen. Dass sie überhaupt von diesem Abstecher erfahren hatte, war ja ohnehin nur dem glücklichen Umstand geschuldet, dass sie just in dem Moment, in dem der junge Doktorand ihrem Mann gerade von seinem Stopp im Städtchen berichtete, mit dem aufgewärmten Teller Gulasch aus der Küche ins Wohnzimmer zurückgekehrt war.
„Meinen Sie etwa Peters Bistro?“, hatte sie noch im Gehen gefragt.
„Was soll er denn sonst meinen?“, hatte ihr Mann statt seiner geantwortet. „Etwas anderes hat dort am Marktplatz um diese Zeit doch gar nicht mehr geöffnet.“
„Können Sie sich denn noch erinnern“, hatte sie nun gefragt und den Teller vor den jungen Doktoranden hingestellt, „welche Tische dort alle besetzt waren?“
„Warum willst du das denn wissen? Das ist doch völlig nebensächlich“, hatte wieder ihr Mann geantwortet.
„Ich frage nur, weil mir Jutta gestern noch erzählt hat, dass sie morgen nicht gehen wollten“, hatte sie sich nun mit dieser spontanen Lüge ihrem Mann zugewendet.
„Du weißt selbst am besten, was Jutta den lieben Tag über so alles erzählt“, hatte er abgewunken. „Die gehen doch immer.“
„Ich sehe eigentlich keinen Grund, warum ich ihr nicht glauben soll, wenn sie mir so etwas erzählt“, hatte sie erwidert und sich im Hinsetzen an den jungen Doktoranden gewandt. „Hat Sie denn niemand gefragt, wer Sie sind und was Sie bei uns eigentlich …“
„Das wäre ja noch schöner“, hatte ihr Mann sie barsch unterbrochen, „unsere Gäste gehen die gar nichts an!“
„Ich stelle diese Frage auch nur“, hatte sie sich jetzt, den Blick auf die Tischmitte gerichtet, geschickt verteidigt, „weil die gar nicht wissen können, dass wir einen Gast erwarten. Der junge Mann hier hätte doch auch ein Einbrecher sein können.“
„So einer fragt aber nicht nach dem Weg!“, hatte ihr Mann dazwischengerufen.
„Das kannst du heutzutage gar nicht mehr beurteilen“, hatte sie sich nicht beirren lassen und sich wieder an den jungen Doktoranden gewandt. „Bei wem haben Sie sich denn nach dem Weg zu uns erkundigt?“
„Bei wem soll er sich schon erkundigt haben. Was stellst du bloß für dumme Fragen! Natürlich geht man in einem solchen Fall immer zum Wirt.“
„Dich habe ich nicht gefragt!“, hatte sie nun scharf in Richtung ihres Mannes gezischt und sich sogleich wieder zu dem jungen Doktoranden hingedreht, der, ohne dass sie ihm schon eine Frage gestellt hatte, bereits erschrocken nickte. Trotzdem war sie fortgefahren. „Aber die Gäste haben sicher alle zu Ihnen hingesehen?“, hatte sie gefragt. „War denn auch der Tisch unter dem Fenster besetzt, und wenn nicht dieser, zumindest der Tisch links von …“
„Jetzt reicht es aber!“, hatte ihr Mann mit einem Schlag auf die Tischplatte das Gespräch beendet. „Es sind doch immer die gleichen Tische, die dort besetzt sind, und natürlich blicken die Leute zu einem hin. So ist das in einer Kleinstadt, oder habe ich nicht recht?“, hatte er sich mit jetzt wieder gedämpfter Stimme an den jungen Doktoranden gewandt, und der hatte erneut genickt.
Wieder hörte sie sich aufseufzen und richtete ihren Blick hinauf zur Schlafzimmerdecke. Selbstverständlich schauten die Gäste in Peters Bistro zu einem Fremden hin, sobald er das Lokal betrat. Das musste ihr Mann ihr nicht erst erklären. Sie wusste mindestens so gut wie er, wie es dort zuging. Das war aber gar nicht ihre Frage gewesen. Natürlich waren die Gespräche sogleich verstummt, als der fremde, junge Mann das Lokal betreten hatte. So ein Ereignis ließ sich an diesem Ort niemand entgehen und ganz bestimmt nicht ihre neugierige Freundin Jutta. Es erforderte nicht einmal Fantasie, sich vorzustellen, wie Jutta, kaum dass sich die Tür zu Peters Bistro zu später Stunde noch einmal öffnete, herrisch ihre Hand hob, um auch den Letzten an ihrem Tisch schnell zum Schweigen zu bringen. Genauso wenig Fantasie erforderte es, sich vorzustellen, wie Jutta jetzt, mit schief in Richtung des Tresens gerecktem Kopf, angespannt den Worten lauschte, die zwischen dem jungen Mann und dem Wirt gewechselt wurden, und erst recht keine Fantasie erforderte es, sich vorzustellen, wie ihr scharfer Blick dem Fremden beim Verlassen des Lokals folgte und wie sie noch eine Weile mit gerunzelter Stirn diesen Blick auf der zugefallenen Tür beließ, bevor sie sich mit einem plötzlichen Ruck, unter dem ihr ganzer Körper erbebte, wieder den anderen am Tisch zudrehte, die schon begierig auf ihre Worte warteten: Habt ihr das auch gesehen und gehört? Der junge Mann hat gerade nach dem Weg zu Greilachs gefragt. Meiner Meinung nach kann das nur der junge Doktorand gewesen sein, den sie seit Jahren erwarten, oder was glaubt ihr? Erst vor ein paar Tagen hat mir Natascha erzählt, dass er wieder seinen Besuch bei ihnen angekündigt hat. Mit übermütiger Geste hat sie mir zum Abschied noch nachgerufen, ich solle einfach mal vorbeikommen, sobald der junge Doktorand bei ihnen eingetroffen sei. Aber kommt euch das nicht auch merkwürdig vor? Das ist doch nicht der junge Doktorand, von dem sie immer erzählt. Ich zumindest habe mir ein ganz anderes Bild von ihm gemacht. Euch hat sie ihn doch auch immer wieder beschrieben. Ich irre mich bestimmt nicht … Ja richtig! Irgendetwas kann da nicht stimmen. Mehr will ich gar nicht sagen. Mir zumindest fällt es schwer, mir diese plumpe Gestalt, die eben hier war, auf einem Pferd vorzustellen und erst recht nicht bei einem königlichen Reitturnier in Andalusien.
Natascha Greilach hob die Hände unter der Bettdecke hervor und rieb sich über die Stirn. Hatte sie Jutta und den anderen, wenn in der Eisdiele das Gespräch auf den jungen Doktoranden gekommen war, wirklich ein so genaues Bild von ihm vermittelt? Es gab doch nur dieses eine angebliche Foto, und schon als sie Jutta und den anderen vor gut einem Jahr von diesem Foto zu erzählen begonnen hatte, das der junge Doktorand ihrem Mann und ihr, angeblich nach seinem Reitunfall, aus diesem andalusischen Krankenhaus von sich und der jungen, bildschönen spanischen Krankenschwester geschickt hatte, war ihr bewusst gewesen, dass sie gerade einen großen Fehler beging. Natürlich war auch Jutta über die nächsten Wochen nicht müde geworden war, sie zu drängen, ihr das Foto zu zeigen.
„Sieh bitte noch mal nach, Natascha, du kannst es doch nicht vollständig verlegt haben.“
„Wie oft soll ich dir denn noch sagen, dass ich bereits überall geguckt habe. Es ist einfach wie vom Erdboden verschwunden.“
„Aber einmal, liebe Natascha, einmal kannst du doch noch danach schauen.“
Diese unentwegte Aufdringlichkeit Juttas war es gewesen, die sie einige Male tatsächlich dazu hingerissen hatte, ein paar Worte zu viel über den jungen Doktoranden zu verlieren. Aber hatte sie sich wirklich so in den Details verloren? Seine großen, dunklen Augen, sein scharf geschnittener, sinnlicher Mund, seine dichten, schwarzen Locken. Dieses Bild von ihm, das tief in ihrem Herzen ruhte, hätte sie nie nach außen tragen können. Wie hätte sie auch einen Menschen beschreiben sollen, der nur in ihrer Vorstellung existierte? Dazu fehlte es ihr doch schlicht an Ausdrucksmöglichkeiten. Sie war ja, zum Glück, keine Künstlerin. Allenfalls waren es unscharfe Eindrücke, die sie Jutta und den anderen bei diesen Gelegenheiten in der Eisdiele von dem jungen Doktoranden gegeben haben konnte. Vielleicht hatte sie hin und wieder auf Juttas unermüdliche Nachfrage hin die Sportlichkeit des jungen Doktoranden zu sehr hervorgehoben. Aber das war doch nicht mehr als ein Begriff. Für sie sah ein sportlicher Mensch halt so aus wie der junge Mann, der da gestern mit hängenden Schultern groß und schwer auf einem ihrer Stühle gesessen und gierig eine Zigarette nach der anderen geraucht hatte. Warum auch hätte der junge Doktorand bei diesem königlichen Reitturnier vom Pferd fallen sollen, wenn er tatsächlich so sportlich gewesen wäre? Das passte viel besser zu dieser Gestalt, die gestern zur späten Stunde in ihrem Wohnzimmer aufgetaucht war und deren schmale Äuglein immerzu scheu zwischen ihrem Mann und ihr hin- und hergehuscht waren. Selbstverständlich hätte sich auch in diesen Menschen, der jetzt oben in ihrem Gästezimmer lag, ein bildschönes, junges spanisches Mädchen verlieben können. Es gab schließlich nichts, was es nicht gab. Auch ihr war der junge Doktorand im Laufe des Abends, nachdem sie erst den Schreck über sein Eintreffen und danach ihre Enttäuschung über seine äußere Gestalt überwunden hatte, noch fast lieb geworden. Natürlich entsprach er nicht dem Bild, das sie sich im Laufe der Zeit von ihm gemacht hatte, aber deswegen war er doch kein schlechter Mensch. Es war ja nicht seine Schuld, dass sie ihn sich so anders ausgemalt hatte. Vielmehr war ihre derzeitige Situation daran schuld. Wie hätte sie auch sonst mit ihrem Mann hier in dieser dunklen Mühle die letzten zwei Jahre überstehen sollen? Das war doch kein Leben. Manchmal antwortete er nicht einmal mehr, wenn sie zu ihm sprach. Den ganzen Tag saß er in seinem Atelier herum und stieg am Abend wortlos die Treppe hinab, und wenn sie nicht zwischendurch das Bild, das sie sich von dem jungen Doktoranden gemacht hatte, in sich aufgerufen hätte, wäre sie in den letzten zwei Jahren sicher vollständig verkümmert. Wie eine Blume ohne Wasser, so wäre sie eingeknickt. Ohne dieses schöne Bild des jungen Mannes, das sie auf all ihren stillen Gängen durchs Haus begleitete, wäre sie gar nicht über alle diese einsamen Tage hinweggekommen. Zu ihm konnte sie immer sprechen, und wenn sie aus dem Küchenfenster beobachtete, wie ein kleiner Vogel aus dem Gebüsch aufflog, war sie es nicht allein, die sich darüber freute. Nur diesem Bild war es zu verdanken, dass sie sich wieder bei jeder sich bietenden Gelegenheit vor dem Spiegel hin und her drehte, und wenn sie abends auf der Couch lag und zu ihrem schweigsamen Mann hinsah, dann war ihr sogar manchmal, als senkte sich dieses Bild traumschwer zu ihr hinab und ließe sie durch eine unvermittelte und köstliche Berührung plötzlich wieder spüren, dass das Blut noch immer in ihren Adern zirkulierte. Sobald das Strahlen dieser dunklen Augen heiß in ihr aufleuchtete, fühlte sie sich wie von einem Taumel ergriffen und die Sonne schien plötzlich heller und alles an ihr war kraftvoll und beweglich, und allein diesem Übermut, der sie dann immer überkam, war es geschuldet, dass sie bei ihrem letzten Treffen wie aus heiterem Himmel und gegen jede Vernunft im Falle des Eintreffens des jungen Doktoranden Jutta zu sich eingeladen hatte. Was war in diesem Moment bloß in sie gefahren! Natürlich würde Jutta die Gelegenheit, den jungen Mann endlich einmal aus der Nähe zu betrachten, sogleich ergreifen wollen. Sie war es doch, die von allen am meisten Anteil am Schicksal des jungen Doktoranden genommen hatte. Sobald sie in der Eisdiele saß, versuchte Jutta, die über so viele Jahre hinweg hochmütig über sie hinweggesehen hatte, den Platz neben ihr zu ergattern, und immer fragte sie sofort mit vor Neugierde blitzenden Augen, ob es etwas Neues von dem jungen Doktoranden gebe. Aber würde sie nach dem kapitalen Zerwürfnis ihrer beider Männer nur auf diese unbedachte Einladung hin es tatsächlich wagen, hier bei ihnen aufzukreuzen? Würde sie wirklich das Risiko eingehen, dass ihr Mann ihr hier die Tür vor der Nase zuschlug, dass er sie mit keuchendem Atem und erhobenen Fäusten davonjagte? Würde sie nicht viel eher versuchen, sich dem jungen Doktoranden auf eine wesentlich trickreichere Art zu nähern? Vielleicht lag Jutta in diesem Augenblick ebenso wach im Bett wie sie und schmiedete Pläne dafür? Vielleicht hatte Jutta längst beschlossen, dem jungen Mann direkt hinter ihrer Grundstücksgrenze im Wald aufzulauern, vielleicht hoffte sie, dass der junge Doktorand gemeinsam mit ihr heute, gleich nach dem Frühstück, auf ihren täglichen Spaziergang aufbrach und sie dann nur noch zum richtigen Zeitpunkt hinter einem breiten Baum hervortreten musste, um sich zwischen sie zu drängen: Entschuldigung, aber ich möchte mich nur kurz vorstellen. Ich bin die Frau eines ehemals guten Freundes ihrer Gastgeber. Natascha hat mir sehr viel von Ihnen berichtet, und es ist mir daher ein großes Anliegen, Ihnen aus tiefstem Herzen mein Beileid auszusprechen. Ich wollte das gestern eigentlich schon in Peters Bistro getan haben, aber da waren Sie leider so schnell wieder verschwunden. Es ist ja wirklich schrecklich, was Sie im letzten Jahr alles durchstehen mussten, und deshalb nur umso bewundernswerter, dass Sie trotz allem noch hierhergefunden haben, um Ihre Arbeit abzuschließen. Falls Sie irgendwelche Hilfe oder Unterstützung benötigen, können Sie sich gerne jederzeit an meinen Mann und mich wenden. Er ist übrigens auch Künstler und würde sich bestimmt freuen …
Natascha Greilach fuhr vom Kissen hoch und sah dabei aus dem Augenwinkel, wie diese Bewegung auch ihren Mann durchzuckte. Hatte Jutta vielleicht von vornherein viel heimtückischere Pläne verfolgt? Hatte sie die übliche Hochmütigkeit ihr gegenüber nur deshalb fahren lassen, weil es ihr die ganze Zeit nur darum gegangen war, den richtigen Moment abzupassen, in dem sie auf hinterhältige Weise sie und ihren Mann ausstechen wollte, um den jungen Doktoranden für sich und ihren Mann zu gewinnen? Hatte sie womöglich nur deshalb von Beginn an so viel über den jungen Doktoranden in Erfahrung bringen wollen, weil sie ihn insgeheim bereits in ihrem Haus, in ihrem Wohnzimmer und im Atelier ihres Mannes sah? Geradezu krankhaft war es, mit welcher Beharrlichkeit und Leidenschaft Jutta jede kleinste Information, die sie über den jungen Doktoranden preisgab, immer wieder wendete, um sie noch von der entlegensten Seite her betrachten zu können. Ohne Juttas Fragen, mit denen sie sie in der Eisdiele unaufhörlich löcherte, hätte sich der junge Doktorand vermutlich gar nicht auf diese beherrschende Weise in ihr erheben können. Nur diese permanenten Fragen, die sie immerzu zufriedenstellend beantworten musste, waren es doch, die diesen Menschen so lebendig hatten werden lassen. Einem Film gleich, so war sein Leben neben ihrem einhergelaufen. Wie hätte sie auch Jutta und den anderen gegenüber zugeben können, dass der junge Doktorand in Wahrheit mit seiner krakeligen Schrift, die er auf immer neue Postkarten hingeschludert hatte, nicht nur den ersten und zweiten, sondern auch alle weiteren angekündigten Besuche abgesagt hatte. Was war denn das für ein Doktorand! Damit hatte sie einfach nicht rechnen können. Das ließ sich doch keinem erklären. Es war ja auch nie mehr aus diesen Postkarten hervorgegangen, als dass er es, weil ihm etwas dazwischengekommen sei, sehr bedaure, seinen angekündigten Besuch erneut absagen zu müssen, und nun als neuen Termin stattdessen den soundsovielten in diesem oder jenem Monat vorschlage. Wer anderes als sie hätte diese spröden, nichtssagenden Postkarten denn sonst mit Leben füllen sollen? Ihr war gar keine Wahl geblieben. Wie gebannt hatte Jutta neben ihr gesessen. „… Was, er ist bei diesem Turnier dort unten in Andalusien vom Pferd gestürzt? … Wirklich, er arbeitet trotz seiner unaufhörlichen Kopfschmerzen auch in diesem andalusischen Krankenhaus weiter an seiner Arbeit? … Nein! So schnell hat er diese junge spanische Krankenschwester mit der hübschen Zahnlücke geheiratet? … Wie gemein, sie hat wirklich eine Fehlgeburt erlitten? Natürlich kann er da nicht zu euch kommen … O Gott, sag jetzt bitte nicht, sie hat sich umgebracht. Das ist ja schrecklich. Wie kann einem Menschen nur in so kurzer Zeit so viel Unglück widerfahren.“
Natascha Greilach ließ den Kopf zurück aufs Kissen sinken, und während sie mit geschlossenen Augen tief einatmete, fühlte sie, wie mit dem Bild des jungen Doktoranden, das jetzt schwebend und leicht vor ihr auferstand, auch die Hektik ihrer Gedanken schwand. Was wusste Jutta denn schon von diesem Menschen? Nichts von dem, was sie ihr preisgegeben hatte, berührte seinen wahren Kern. All diese furchtbaren Schicksalsschläge, angefangen mit dem königlichen Reitturnier in Andalusien, bei dem der junge Doktorand unter dem stürmischen Jubel des Publikums, das seinen Ritt bereits wie einen Triumph feierte, beim letzten Hindernis so tragisch von seinem schreckhaften Pferd gefallen war, waren für sie immer nur Äußerlichkeiten gewesen. Es waren doch immer nur diese Äußerlichkeiten, die sie wie nebenher aus irgendwelchen Zeitschriften und Fernsehfilmen aufsammelte, an denen sie Jutta hatte teilhaben lassen. In Wirklichkeit hatte nichts von dem für sie auch nur die geringste Bedeutung. Im Gegenteil hatte sie sogar jedes dieser Unglücke nur noch enger aneinandergeschweißt. Dieser Mensch gehörte allein ihr, und nur an ihrem Herzen fanden sie beide ihren Trost. Weder hatte sie Jutta jemals seine Nähe noch seine Herzlichkeit spüren lassen. All diese schönen Gefühle, die im Laufe der Zeit durch ihn in ihr geweckt worden waren, hatte sie stets für sich behalten. Dieser Mensch war ihr alleiniges Glück. Nur durch seine immerwährende, achtsame Aufmerksamkeit, war sie sich selbst wieder zu einer treuen Freundin geworden, und nur dank seiner würde sie jetzt auch dem jungen Doktoranden, der dort oben, wenige Meter von ihr entfernt, gerade friedlich in seinem Bett schlummerte, das sie gestern Nacht, bevor sie sich frühzeitig in ihr Schlafzimmer zurückgezogen hatte, eigens noch mal für ihn aufgeschüttelt hatte, zur treuen Freundin werden. Dieser junge Mann bedurfte doch der gleichen Zuneigung, der auch sie bedurfte. Allein, mit welch freudiger Erwartung er sich auch über den zweiten Teller des versalzenen Gulaschs gebeugt hatte, den sie ihm serviert hatte. Und selbst wenn ihr das gestern in ihrer Aufgewühltheit weitestgehend entgangen war, so erkannte sie doch jetzt die Dankbarkeit in seinen Augen, die, während er auch diesen Teller mit großen Happen leerte, immer wieder heimlich zu ihr hin leuchteten. Natürlich hatte ihr Mann die volle Aufmerksamkeit von ihm eingefordert, aber es war ihr Blick, den der junge Doktorand immer wieder suchte, und seine Stimme hatte sie, trotz ihrer Verwirrtheit, auf der Stelle für ihn eingenommen. Wie eine Hand, an die sich weich die Wange schmiegt, wenn einem der Kopf schwer zur Seite sinkt, so sanft war ihr diese Stimme, kaum dass der junge Mann zu dieser späten Stunde in ihr Wohnzimmer getreten war, sogleich erschienen.
Sie schlug die Augen wieder auf und starrte an die Decke. Worüber hatte der junge Doktorand eigentlich gesprochen? Natürlich war er froh, endlich hier bei ihnen zu sein, aber lag das wirklich nur am Regen, durch den er hatte fahren müssen? Dass er schon auf der Autobahn die falsche Abfahrt genommen habe, hatte er erzählt, oder hatte sie auch das nicht richtig verstanden? Dabei war sie eine gute Zuhörerin. Eigentlich konnte sie viel besser zuhören als ihr Mann. Nur hatte sie sich gestern in der Anspannung, in die sie die Ankunft des jungen Doktoranden versetzte, einfach nicht konzentrieren können. Es war ja auch eine schier endlose Fahrt, die der junge Mann da hinter sich gebracht hatte.
„Aha“, hatte sie irgendwann gesagt und ihm zum ersten Mal vorsichtig zugelächelt, „ein Leihwagen.“
„Was in der deutschen Literatur oft so bemüht wirkt, gelingt Bremer mit leichter Hand: einen Bezug zu aktueller Gesellschaftspolitik herzustellen ... Jeder Satz ist ein eleganter Auftritt der deutschen Syntax und bedeutet großen Lesegenuss.“
"Jan Peter Bremer zwirbelt Gegenwart und Vergangenheit, Hoffnung und Enttäuschung ineinander und entwickelt eine zauberhafte Poetik verschraubter Projektionen."
"Dieses Buch ist wirklich ein Kabinettstück über die Tragik und das Scheitern des Lebens."
„Eine Künstlernovelle, eine Ehegroteske und eine herrliche Komödie der Eitelkeiten.“
"Mehr Ratio in einem absurden Kammerspiel ist kaum denkbar."
"Bremer hat sich als einzigartiger Autor längst etabliert – Ähnlichkeiten mit Beckett, Robert Walser oder Kafka dabei nicht ausgeschlossen."
„So amüsant und stilsicher brillant, dass er jede Aufmerksamkeit verdient.“
„Feinste leise Komik, formuliert wie von Proust“
„Dass Bremers Roman so fließend in der Wirklichkeit weitergespielt werden kann, liegt an seiner genialen, zärtlichen, lustig genauen Menschenbeschreibungskunst.“
"Wie die Teilnehmer an diesem Stelldichein von vorn bis hinten aneinander vorbei reden! Wie jeder Einzelne, ohne ein Einzigartiger zu sein, in seinem eigenen lächerlichen Kosmos verhaftet bleibt! Wie sich das Leben als eine einzige Illusion, als einziges, gewaltiges, unauflösbares Missverständnis entpuppt! Das hat Jan Peter Bremer in seinem urkomischen, mit radikaler Lakonie in Szene gesetzten Trauerspiel einzigartig und höchst unterhaltsam in Szene gesetzt."
„Dieser Roman ist das witzigste, was ich in letzter Zeit gelesen habe und wird doch an keiner Stelle platt. Wie Jan Peter Bremer hier Projektion und Selbstinszenierung und Selbstbetrug aller Beteiligten inszeniert, das ist ebenso virtuos wie komisch. Ein großes Lesevergnügnen, das man jedem nur empfehlen kann.“
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