

Der Kuckuck Der Kuckuck - eBook-Ausgabe
Roman
— Ein Familienroman über Zugehörigkeit und Heimat von der SPIEGEL-BestsellerautorinDer Kuckuck — Inhalt
Drei Frauen. Die eine besonnen, die andere stolz, die dritte verloren. Verbunden durch ein Geheimnis.
Als ein Neugeborenes nachts auf ihrem Bauernhof abgelegt wird, ist Babett sicher, dass der kleine Junge der Sohn ihrer früheren Freundin Evelin ist. Als Kinder haben sie zusammen am Bach gespielt – Babett, die Gutsherrentochter Evelin und Rosl, die aus der ärmsten Familie im Dorf stammt – und von ihrem Leben als Erwachsene geträumt. Während Rosl in die Stadt ging und auf die schiefe Bahn geriet und Evelin mit ihrer Mutter das Dorf verließ, wurde Babett Bäuerin und blieb. Nun nimmt sie das Findelkind wie ein eigenes bei sich auf. Nicht ahnend, dass sie damit nicht nur das Leben des Jungen und ihrer eigenen Tochter, sondern auch das einer jungen Frau in der dritten Generation beeinflussen wird.
Ein kluger, anrührender und mitreißender Roman über Zugehörigkeit, Heimat und Familie.
SPIEGEL-Bestsellerautorin Gina Mayer verwebt in ihrem neuen großen Roman die bewegende Geschichte dreier Frauen. Und zeigt meisterhaft, wie Träume und Taten im Ries zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Kraft haben, bis ins Berlin der Neunzigerjahre Leben zu berühren und zu verändern. Ein Muss für Leserinnen und Leser von Alena Schröder und Sofía Segovia.
Inspiriert von der Familiengeschichte der Autorin: Auf dem Bauernhof ihrer Mutter, die im Ries aufwuchs, lag wirklich eines Tages ein Findelkind auf der Schwelle.
Leseprobe zu „Der Kuckuck“
1
Frankfurt, 1994
Vor dem Bürofenster ratterte ein Presslufthammer. Er klang wie die Nähmaschine ihrer Mutter, nur viel, viel lauter. Als ob fünfzig Mütter an fünfzig Nähmaschinen säßen und in perfekter Synchronität Vorhänge säumten. Das metallische Stottern bohrte sich in Ellas Kopf und nähte ihre Gedanken schief und krumm zusammen. Sie presste ihre Fingerspitzen gegen die Ohren. Das Rattern verstummte nicht ganz, aber es wurde sehr viel leiser.
Sie starrte auf ihren Computerbildschirm, auf dem der Cursor aufblinkte und wieder verschwand, in einem steten [...]
1
Frankfurt, 1994
Vor dem Bürofenster ratterte ein Presslufthammer. Er klang wie die Nähmaschine ihrer Mutter, nur viel, viel lauter. Als ob fünfzig Mütter an fünfzig Nähmaschinen säßen und in perfekter Synchronität Vorhänge säumten. Das metallische Stottern bohrte sich in Ellas Kopf und nähte ihre Gedanken schief und krumm zusammen. Sie presste ihre Fingerspitzen gegen die Ohren. Das Rattern verstummte nicht ganz, aber es wurde sehr viel leiser.
Sie starrte auf ihren Computerbildschirm, auf dem der Cursor aufblinkte und wieder verschwand, in einem steten Rhythmus. Wie das kleine Herz auf dem Ultraschallmonitor. Sechste Woche. Herzlicher Glückwunsch.
Ein Schweißtropfen löste sich aus Ellas kurzen Haaren, rann über ihre Stirn und dann ihre Wange entlang. Sie wischte ihn mit dem Handrücken weg und legte die Finger sofort wieder über die Ohren.
Impulse Water Melon. It’s magic.
Sie war am Morgen vor der Arbeit zur Frauenärztin gegangen. Der erste Termin war immer der beste, da kam man direkt dran. Nun saß sie seit einer Stunde im Büro, aber mehr als die fünf Worte hatte sie nicht geschrieben. Es war der Slogan der Deo-Marke, für die sie die neue Kampagne entwickeln sollten. Am Nachmittag gab es ein Meeting, bis dahin brauchte sie eine Idee. Oder eigentlich zwei. Eine mittelmäßige und eine gute. Die mittelmäßige Idee war nur für Mike zum Abschießen. Nachdem er etwas vernichtet hatte, war es einfacher, einen anderen Ansatz durchzubringen.
Im Moment hatte Ella allerdings weder eine mittelmäßige noch eine gute Idee. Dieses Deo interessierte sie nicht. Ihr Körper startete gerade seine eigene Kampagne, und sie wusste noch nicht, wie sie das finden sollte.
In der Praxis hatten sie ihr einen Mutterpass ausgestellt. „Am 10. Februar sind Sie ausgezählt“, hatte die Sprechstundenhilfe verkündet, als sie Ella das Dokument überreichte.
Es klang bedrohlich.
Es war besser, sich auf das Deo zu konzentrieren. Aber ihre Gedanken waren verklebt. Sie musste sie auseinanderreißen und dann neu zusammenfügen wie ihre Mutter die Patchworkdecken. Eine Kampagne aus Gedankenfetzen.
Im Zimmer vibrierte die Luft. Ella spürte die feuchten Schweißflecken unter ihren Achseln, die immer größer wurden. Es war der heißeste Sommer seit Jahren, die Sonne hörte gar nicht mehr auf zu scheinen. Und der lauteste Sommer, den sie jemals erlebt hatte. Vor dem Altbau, in dem die Werbeagentur untergebracht war, hatte sich noch vor wenigen Wochen eine zweispurige Straße befunden. Morgens und abends stauten sich dort die Autos, mittags meistens auch.
Jetzt war die Straße weg, und die Autos und der Stau waren auch verschwunden. Es sah aus wie im Krieg. Die Presslufthammer hatten die Weltherrschaft übernommen. Die Straße sollte unter die Erde verlegt werden. Vier Jahre würde das Ganze dauern. Vielleicht auch sechs.
Sie schnupperte an ihren Achseln, ohne dabei die Finger von den Ohren zu nehmen. Kein Schweißgeruch, immerhin. Ihr Deo wirkte. Was sie wieder zum Thema brachte.
Impulse Water Melon. Der Duft von morgen, stand im Briefing. Wollten die Frauen von morgen wie Wassermelonen riechen? Wie rochen Wassermelonen überhaupt?
Ella starrte auf den Bildschirm. Der Cursor blinkte erwartungsvoll. Ihr Kopf reagierte nicht.
Sie nahm die Finger von den Ohren, löschte die Worte und tippte stattdessen Ich bin schwanger. Während draußen der Presslufthammer ratterte, betrachtete Ella den Satz, der wie eine Lüge klang. Vielleicht war es ja ein Irrtum. Ihre Frauenärztin hatte nicht mal einen Test gemacht. „Der Ultraschall reicht“, sagte sie. „Da sieht man alles.“
Sie hatte Ella das Ultraschallbild mitgegeben. „Damit Ihnen Ihr Mann auch glaubt.“ Aber auf dem Bild sah man nichts als Schlieren. Das war doch kein Beweis.
Außerdem war Matthias gar nicht ihr Mann.
Sie hielt sich wieder die Ohren zu, und dabei stieg ihr Kaffeegeruch in die Nase.
Als sie den Kopf zur Tür drehte, stellte sie fest, dass sie offen war. Jan stand auf der Schwelle und lächelte entschuldigend.
Ella ließ die Hände sinken.
„Sorry“, sagte Jan. „Ich hab geklopft.“
„Was gibt’s?“, fragte Ella.
„Ich hab Kaffee gemacht“, sagte Jan. „Wollt ich nur sagen.“
„Cool“, sagte Ella.
„Und?“ Er lehnte sich gegen den Türrahmen. „Hast du schon was?“
Er nickte in Richtung ihres Computers. Sie guckte unwillkürlich auf ihren Bildschirm, auf dem immer noch Ich bin schwanger stand.
„Nein“, sagte sie, während sie auch diese Worte löschte, obwohl Jan sie von der Tür aus nicht sehen konnte.
Jan war neu in der Agentur, noch neuer als Ella, die ebenfalls noch kein Jahr hier arbeitete. Er kam frisch von der Uni und war blond und unschuldig und unglaublich eifrig. Wie ein junger Hund, der die ganze Zeit auf- und abhüpfte und unablässig wedelte.
„Wir sind auch noch nicht so weit“, sagte Jan.
Das Impulse-New-Business hatte höchste Priorität in der Agentur, drei Teams, die erst mal parallel Ideen entwickeln sollten, waren auf die Präsentation angesetzt. Ella und Werner, Jan und Konstantin, Jürgen und Heike.
„Wenn du Lust hast, können wir gleich mal zusammen brainstormen“, sagte Jan. „Ich mein, wir sind ja jetzt keine Konkurrenz oder so.“
Keine Konkurrenz. Ella hätte fast laut gelacht. Alles in der Agentur war auf Konkurrenz ausgerichtet, und natürlich arbeiteten die drei Teams auch gegeneinander. Es ging immer darum, die eigenen Ideen durchzusetzen.
Ella nickte. „Ich komm nachher mal rüber“, versprach sie.
Jans Büro hatte ein Fenster zum Innenhof, bei ihm war es leiser und kühler. Würde er ihr nicht so auf die Nerven gehen, hätte sie sich dauerhaft zu ihm an den Schreibtisch gesetzt.
„Danke fürs Kaffeemachen“, sagte sie.
Er machte die Tür wieder zu.
Auf der Baustelle verstummte der Presslufthammer. Ella stieß erleichtert die Luft aus. Endlich Ruhe.
Im nächsten Moment dröhnte ein Betonmischer los.
Sie ging in die kleine Kaffeeküche und schenkte sich einen Kaffee ein. Die Milch, die im Ausguss stand, war verdorben. Dann eben schwarz.
Mit der Tasse in der Hand trat sie ans Fenster und guckte auf den Innenhof hinunter, in dem eine Hollywoodschaukel stand. Das Polster war einmal orangefarben gewesen, jetzt war es schwarz verschimmelt. Niemand saß jemals darauf.
Ella nahm einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht. Total bitter. Durfte sie so was überhaupt noch trinken? Oder war Kaffee genauso schädlich für das Kind wie Alkohol und Zigaretten? Ratten fraßen alles Mögliche, aber um Kaffee machten sie einen Bogen, das hatte sie neulich gelesen. Sie ging zum Ausguss, schüttete den Kaffee weg und stellte die Tasse in die Spülmaschine.
„Morgen.“ Mike schlurfte in die Küche, die Zigarette im Mundwinkel, und griff nach der Kaffeekanne. „Alles frisch?“ Er selbst sah alles andere als frisch aus. Sein Dreitagebart schimmerte gräulich, und er wirkte noch dünner als sonst. Die Brille mit der dicken schwarzen Fassung betonte seine Augenringe. Er trug ein schickes Designerjackett über einer schwarzen Jeans. Ella hatte den Eindruck, dass ihn nur die gepolsterten Schultern der Jacke aufrecht hielten und er ohne das Jackett in sich zusammengesackt wäre.
„Danke“, sagte sie knapp. „Und bei dir?“
„Muss gleich zu Osram.“ Er verzog das Gesicht. Der Osram-Etat wackelte wie alles andere in der Agentur auch. Letzte Woche waren drei Leute entlassen worden. Kein Kreativer dabei, noch nicht. „Na, wir sehen uns heute Nachmittag im Meeting. Haut rein.“ Mike blies einen Schwall Zigarettenrauch in die Kaffeeküche, bevor er im Flur verschwand.
Ellas Cousine Heide hatte ihren positiven Schwangerschaftstest damals in einen Blumenstrauß gesteckt, den sie ihrem Mann mit einem Augenzwinkern überreichte. Thorsten hielt das Ganze jedoch für einen Wink mit dem Zaunpfahl, weil er in der Woche zuvor ihren Hochzeitstag vergessen hatte. Und da er das kleinlich und nachtragend fand, wurde er erst mal sauer.
Ella beschloss, auf eine ähnliche Inszenierung zu verzichten. Sie rief Matthias an und verabredete sich mit ihm für die Mittagspause.
Matthias war Architekt. Das Büro, für das er arbeitete, lag genau wie Ellas Agentur in der Innenstadt. Das war praktisch, sie aßen oft zusammen.
Heute holten sie sich in einer Metzgerei Möhrengemüse mit Bratwurst und setzten sich auf eine Parkbank. Ella war nervös.
Die Schwangerschaft war nicht geplant, aber Matthias wusste, dass Ella vor einem halben Jahr die Pille abgesetzt hatte, weil sie sie nicht vertragen hatte. Seitdem verhüteten sie mehr oder weniger experimentell und ganz offensichtlich nicht sehr wirkungsvoll.
Dennoch hatte Ella keine Ahnung, wie Matthias reagieren würde. Erfreut, bestürzt, erschrocken, stolz, panisch, entsetzt – alles war möglich. Sie hätte ja selbst nicht sagen können, wie sie sich fühlte.
„Ich war heute beim Frauenarzt“, sagte sie. „Ich bin schwanger.“
Matthias ließ seinen Plastikteller sinken und wischte sich mit der Serviette den Mund ab. Dann schob er seine Brille zurück auf die Nasenwurzel. Die Gläser hatten eine rote Kunststofffassung, die ständig nach unten rutschte.
„Wow“, sagte er nach einer Weile.
Ellas Magen sackte weg, so als wäre sie mit dem Auto in großer Geschwindigkeit über eine Bodenschwelle gerast.
„Schlimm?“, fragte sie.
„Nein.“ Er legte seinen Arm um sie und zog sie an sich. „Ich bin total überwältigt.“
Sie holte das Ultraschallbild aus der Tasche und reichte es ihm.
Er rückte die Brille zurecht und starrte lange auf die Schlieren, als wäre es eine detaillierte Bauzeichnung.
„Das sieht super aus“, sagte er dann.
Er würde ein begeisterter Vater werden, so viel war sicher.
Das Meeting war auf fünf Uhr angesetzt, pünktlich zum allgemeinen Feierabend. Aber das interessierte in einer Werbeagentur keinen.
Ella und Werner hatten in letzter Sekunde eine Idee entwickelt, in der eine überdimensionierte Wassermelone durch eine sommerliche Stadt rollte und eine Welle an Frische und Fröhlichkeit verbreitete. Überall, wo die Melone vorbeirollte, hellten sich die Gesichter auf, begannen die Menschen zu singen, wurde die Welt besser. Werner stellte das Ganze vor, Ella hörte zu und merkte, wie die Sache noch während der kurzen Präsentation unterging wie eine kaputte Luftmatratze.
„Find ich jetzt nicht so stark“, sagte Mike und blies einen Rauchkringel zur Decke. „Da müsst ihr noch mal ran.“
Sein Gespräch mit Osram war gut gelaufen, er sah ein bisschen besser aus als am Vormittag.
Herr Söndmann verschränkte die Arme vor der Brust. Er war glatzköpfig, braun gebrannt und muskulös wie Meister Propper.
Herr Söndmann hatte die Werbeagentur vor fünfzehn Jahren gegründet und tauchte nur noch sporadisch auf. Heute war er da, weil er mit Mike beim Kunden gewesen war, ansonsten überließ er das Tagesgeschäft den Creative Directors.
Die durften ihn auch Dieter nennen, für die Texter und Art Directors war er Herr Söndmann, während er ihre Vornamen verwendete, sofern sie ihm einfielen.
Jan und Konstantin waren als letztes Team an der Reihe. Sie hatten drei Ideen entwickelt und sogar schon Storyboards erstellt.
Eines der Keyvisuals war eine schwarzhaarige Schönheit an einem Marktstand, die Wassermelonen verkaufte. Um sie herum war die Hölle los, aber sie geriet dennoch nicht ins Schwitzen. Dank Impulse Water Melon.
„Das hat was“, sagte Herr Söndmann. „Ich seh die schon vor mir. So eine exotische Uschi mit echten Melonen.“ Er formte mit beiden Händen einen Atombusen, während er Jan und Konstantin anerkennend zunickte.
„Jaaa“, sagte Mike gedehnt und drückte seine Zigarette aus. „Könnte funktionieren.“
Konstantin zündete sich sofort eine neue an. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz, dass im Konfi stets eine Kippe qualmen musste. Oder besser noch drei oder vier. Früher hatten sie bei den Meetings wenigstens die Fenster geöffnet, aber seit es die Baustelle gab, blieben sie geschlossen.
„Dann verfolgen wir diesen Ansatz weiter, und die anderen Teams gehen zurück auf Start“, entschied Herr Söndmann.
Jan reckte die geballte Faust nach oben wie ein Marathonläufer beim Zieleinlauf. So viel zum Thema keine Konkurrenz.
„Sind wir dann fertig?“, fragte Ella und schob ihren Stuhl zurück.
„Willst du etwa schon nach Hause?“, fragte Mike missbilligend.
„Ich muss dann auch“, sagte Herr Söndmann und stand auf.
Ellas und Matthias’ Wohnung war nicht weit vom Zentrum entfernt, das war praktisch, weil sie beide zu Fuß zur Arbeit konnten. Das Apartment war allerdings winzig. Mit Baby würde das nicht lange funktionieren, dachte Ella, während sie die Wohnungstür aufschloss und in den schmalen Flur trat.
Zwei Zimmer, Küche, Bad. Ein kleiner Balkon, immerhin. Für die Miete hätten sie in Matthias’ Heimatdorf ein ganzes Haus haben können. Matthias wäre gerne rausgezogen, nicht unbedingt in dasselbe Dorf, aber eben aufs Land oder zumindest in die Vorstadt. Ella zögerte. Sie hatte ihr Leben lang in der Stadt gewohnt.
In der Wohnung staute sich die warme Luft, die Sonne hatte den ganzen Nachmittag gegen die Glastür im Wohnzimmer geschienen. Überall in der Nachbarschaft waren die Jalousien geschlossen, das hätten sie am Morgen auch mal tun sollen.
Ella machte die Tür zum Balkon auf, die heiße Luft schlug ihr ins Gesicht wie eine Faust. Dabei war es gerade mal Anfang Juni. Es ging kein Wind. Die Geranien, die sie vor drei Wochen in die Blumenkästen gesetzt hatte, ließen die Köpfe und Blätter hängen. Ella griff nach der Gießkanne und schüttete lauwarmes Wasser auf die getrocknete Erde, das am Rand der Kunststoffkästen hinunterlief und durch die Löcher im Boden wegfloss, ohne die Wurzeln der Pflanzen zu berühren.
Matthias hatte noch einen Termin in der Stadt, er würde nicht vor sieben nach Hause kommen. Ella zog einen Plastikstuhl in den Schatten der Hauswand und setzte sich. Unten rauschte der Verkehr. Sie schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, dass es das Meer wäre.
Sie schreckte zusammen, als das Telefon klingelte.
Der Apparat stand neben dem Fernseher. Die Schnur war ziemlich lang. Ella nahm ihn mit nach draußen auf den Balkon, bevor sie den Hörer abnahm.
„Hallo?“
„Gabi?“, fragte ihre Mutter.
Gabriele war Ellas richtiger Name, zumindest war sie darauf getauft worden.
Matthias war für den Namen Ella verantwortlich. Am Anfang hatte er sie im Spaß so genannt, dann hatte Ellas Freundin Ute den Spitznamen aufgegriffen und danach der Rest ihrer Freunde. Inzwischen stand sie sogar im Telefonbuch als Ella Hüls. Nur ihre Eltern und der Rest der Verwandtschaft nannten sie weiterhin Gabi.
„Mama“, sagte Ella. „Was gibt’s?“ Normalerweise telefonierten sie und ihre Eltern immer am Wochenende. Heute war Donnerstag.
„Ach, eigentlich nichts“, sagte ihre Mutter. Ihre Stimme klang seltsam atemlos, als wäre sie zum Telefon gerannt. Dabei war sie es doch, die angerufen hatte.
„Ist was mit Papa?“, fragte Ella misstrauisch.
„Nein, nein“, sagte ihre Mutter. „Ich wollte nur mal deine Stimme hören.“
Das war noch merkwürdiger. Ellas Vater rief manchmal einfach so an, um mit Ella zu plaudern, aber Lisbeth meldete sich niemals ohne Grund. Ihre Telefonate dauerten auch selten länger als zehn Minuten, ihre Mutter telefonierte nicht gerne.
„Bist du krank, Mama?“ Ella wickelte die Spiralschnur des Telefons um ihren Zeigefinger. Jetzt war sie wirklich beunruhigt.
„Alles okay, wirklich!“ Ihre Mutter lachte nervös. „Ist denn bei euch alles in Ordnung?“
„Klar.“ Ella hatte das mit ihrer Schwangerschaft eigentlich noch ein paar Tage für sich behalten wollen, aber nun entschloss sie sich, es zu erzählen. Sie war ein Einzelkind, es wäre der erste Enkel für ihre Eltern. 10. Februar. Bis dahin waren es noch acht Monate. So viel Zeit. So wenig Zeit. Doch bevor Ella fortfahren konnte, räusperte sich ihre Mutter.
„Sollen wir uns am Samstag mal treffen? Nur du und ich, meine ich“, fragte Lisbeth wieder in diesem leicht gehetzten Tonfall.
Ella hatte plötzlich einen bitteren Geschmack im Mund. Hier stimmte was nicht. Vielleicht war doch jemand krank.
„Klar“, sagte sie. „Wann soll ich kommen?“ Ihre Eltern wohnten ebenfalls in Frankfurt, aber ein Stück außerhalb.
„Wir treffen uns um drei im Hertie“, sagte ihre Mutter.
„Meine Mutter stammte aus einer Bauernfamilie in Zipplingen, einem kleinen Dorf am Rand des Nördlinger Ries‘. Sie ist 1938 geboren und war das siebte von acht Kindern. Ihre Eltern waren Kleinbauern und sind früh gestorben, ich habe sie nie kennengelernt. Nur über die vielen Geschichten, die meine Mutter über ihre Kindheit erzählt hat, bin ich mit meinen Großeltern verbunden.
Eine der Geschichten meiner Mutter handelte von dem Findelkind, das eines Nachts vor dem Haus ihrer Großmutter abgelegt wurde. Das Neugeborene lag in einem Korb, in dem auch ein Umschlag mit Geld und ein Zettel waren. „Kaspar ist mein Name", stand darauf. „Mei Mutter möcht gern Jungfrau sei, drum legt’s me in des Körble nei."
Die Familie ließ den Jungen auftragsgemäß Kaspar taufen, obwohl sie selbst schon einen Jungen dieses Namens hatten. Sie zogen ihn groß, von dem Geld wurden eine Schafherde und eine Gaststätte in Nördlingen für ihn gekauft. Angeblich – erzählte meine Mutter – sei immer wieder eine vornehm gekleidete Dame auf dem Hof erschienen und habe mit Kaspar gespielt. Bevor sie wieder verschwunden sei, habe sie ihm jedes Mal Geld gegeben.
Niemand hat je erfahren, wer die Dame war (falls es sie wirklich gab) und woher Kaspar stammte. Mir ist seine Geschichte nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Deshalb habe ich beschlossen, sie weiterzuspinnen und aufzuschreiben.
Der Kuckuck handelt aber nicht nur von dem rätselhaften Findelkind aus dem Ries, es ist auch ein Roman über die Freundschaft zwischen drei sehr unterschiedlichen Mädchen, über Mütter, die das Richtige wollen und das Falsche tun, und über das bäuerliche Leben im 20. Jahrhundert.
Im Gegensatz zu meiner Hauptfigur Ella bin ich auf dem Dorf aufgewachsen, aber den Großteil meines Lebens habe ich in der Stadt gewohnt. Die Recherche zu diesem Roman hat mich zurück aufs Land gebracht. Beim Schreiben wurde mir klar, wie sehr sich die Landschaft, das Leben und das Selbstverständnis der Bauern im Laufe der Jahrzehnte verändert haben. Wie gerne hätte ich über all diese Dinge mit meiner Mutter gesprochen, aber sie ist leider 2017 gestorben. Während der Arbeit an diesem Buch war sie dennoch ganz nah bei mir.
Ich hoffe, Sie finden diese Zeitreise durch das letzte Jahrhundert genauso faszinierend wie ich. Ich wünsche Ihnen viel Freude mit Ella, Babett, Evelin, Rosl und mit dem Kuckuckskind Kaspar."
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