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Der Läufer und der Wolf

Der Läufer und der Wolf

Mark Rowlands
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Wie ein wildes Tier uns den richtigen Weg zeigt

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Der Läufer und der Wolf — Inhalt

Mark Rowlands entspricht nicht dem üblichen Bild eines Philosophieprofessors. Denn welcher halbwegs vernünftige Mensch würde schon einen Wolf mit in eine Vorlesung nehmen. Rowlands ist aber auch kein typischer Läufer – er kämpft mit leichtem Übergewicht und schlechter Kondition. Dennoch sind Laufen und Philosophieren für ihn untrennbar miteinander verbunden. Denn beim Laufen lässt sich bestens über die Grundfragen des Lebens nachdenken: über die Liebe, den Tod, über Mensch und Tier, den Sinn des Lebens. Die Protagonisten dabei sind neben Platon, Sartre und Heidegger vor allem Rowlands Wolf Brenin sowie die beiden Hunde Tess und Hugo.

€ 12,99 [D], € 13,40 [A]
Erschienen am 11.05.2015
Übersetzt von: Michael Hein
240 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-40538-6
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Leseprobe zu „Der Läufer und der Wolf“

Vorwort: Laufen und Erinnern


Was ist Laufen? Welchen Sinn oder welche Bedeutung hat es, wenn ein Mensch läuft – zur Erholung in seiner Freizeit, so wie es Millionen Menschen Tag für Tag tun? Man könnte meinen, die Antwort auf diese Frage hänge von dem betreffenden Men-schen ab. Die Menschen laufen aus unterschiedlichen Gründen: Manche tun es, weil es ihnen Spaß macht, andere, weil sie sich dann gut fühlen oder weil Laufen sie gut aussehen lässt, weil es sie gesund erhält oder glücklich macht oder ihre Lebensgeister weckt. Manche laufen, weil sie [...]

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Vorwort: Laufen und Erinnern


Was ist Laufen? Welchen Sinn oder welche Bedeutung hat es, wenn ein Mensch läuft – zur Erholung in seiner Freizeit, so wie es Millionen Menschen Tag für Tag tun? Man könnte meinen, die Antwort auf diese Frage hänge von dem betreffenden Men-schen ab. Die Menschen laufen aus unterschiedlichen Gründen: Manche tun es, weil es ihnen Spaß macht, andere, weil sie sich dann gut fühlen oder weil Laufen sie gut aussehen lässt, weil es sie gesund erhält oder glücklich macht oder ihre Lebensgeister weckt. Manche laufen, weil sie Geselligkeit suchen, wieder andere, um sich vom Stress des Alltags zu erholen. Manchen geht es um die Herausforderung, den Vorstoß an die eigenen Grenzen, andere wiederum wollen herausfinden, wo ihre eigenen Grenzen im Vergleich zu den Grenzen anderer liegen. Offensichtlich unterscheidet sich die Bedeutung des Laufens von Mensch zu Mensch, weil diese Bedeutung letztlich davon abhängt, aus welchem Grund ein Mensch läuft.
Und dennoch ist heutzutage die Ansicht verbreitet, das Laufen habe nicht nur für den Einzelnen einen bestimmten Sinn, sondern sei für die Menschen insgesamt von Bedeutung. Diese Bedeutung, denken viele, hänge mit der Rolle zusammen, die das Laufen in unserer Evolutionsgeschichte gespielt hat, also bei dem Prozess, der uns – alle – zu dem gemacht hat, was wir heute sind. Manche glauben, und damit könnten sie recht haben, wir seien durch Jahrmillionen zufälliger Mutation und natürlicher Auslese dazu veranlagt, laufende Affen zu sein. Demnach hätten wir mit dem Laufen begonnen, um jagen zu können, damit wir uns von Tieren und nicht bloß von Pflanzen ernähren konnten. Und der daraus resultierende Anstieg des Proteinanteils unserer Ernährung habe dann zu der erheblichen Vergrößerung des menschlichen Gehirns beigetragen, zu der es in dieser Phase kam; so argumentieren Anthropologen wie etwa Richard Wrangham von der Harvard-Universität. Und wenn der Anstieg des Proteinanteils auch nicht die treibende Kraft bei dieser „Enzephalisierung“ war, wäre sie ohne ihn jedenfalls nicht möglich gewesen. Mit anderen Worten: Durch das Laufen überwand der Mensch eine wesentliche Hürde in seiner Entwicklung als Spezies. Andere haben die These vertreten, dass es zwischen dem Laufen unserer Vorfahren und den beeindruckenden kognitiven Fähigkeiten des Menschen heutzutage einen noch engeren Zusammenhang gebe. Grundlage der Jagdstrategie unserer Vorfahren sei nicht Geschwindigkeit, sondern Ausdauer gewesen: die Fähigkeit, einem einzelnen Tier auf der Spur zu bleiben, selbst wenn es Mitglied einer großen Herde war, und dieses Tier Kilometer für Kilometer zu verfolgen, ihm nachzusetzen und es dadurch dazu zu zwingen, weiterzulaufen, bis es zuletzt an Überhitzung zugrunde ging und starb. So hat der Biologe Bernd Heinrich von der Universität Vermont die These aufgestellt, dass die Notwendigkeit, sich auf ein einzelnes Tier zu konzentrieren und alle übrigen zu ignorieren, in dieser Aufmerksamkeit nicht nachzulassen, auch wenn das Tier Richtung Horizont verschwand, und sie über Stunden oder gar Tage aufrechtzuerhalten, die Grundlage all unserer kognitiven Fähigkeiten gewesen ist.
Ich halte diese Geschichten – wie so viele der Geschichten, die wir über uns erzählen – für wichtig, allerdings nicht in erster Linie wegen ihrer Aussagen, sondern weil sie uns etwas zeigen. Damit will ich nicht behaupten, dass sie unbedingt falsch sein müssen. Ganz im Gegenteil denke ich, dass sie viel Wahres enthalten. Aber viel Wahres für die ganze Wahrheit zu halten kann manchmal gefährlicher sein als eine Lüge. Derartige evolutionäre Erklärungen der Bedeutung des Laufens suchen diese Bedeutung in dem Nutzen, den das Laufen für die Spezies Homo sapiens hat. Daran ist nichts falsch, denn so funktionieren evolutionäre Erklärungen, und sie müssen so funktionieren. Implizit – und das ist es, was diese Geschichten zeigen – wird dem Laufen damit allerdings ein bestimmter Wert beigemessen. Laufen ist wertvoll, weil es etwas bewirkt. Laufen ist wertvoll um der anderen Dinge willen, die es uns gebracht hat.
Das Beimessen eines solchen Wertes wiederholt sich auf der Ebene des einzelnen Menschen, wenn wir die Bedeutung des Laufens anhand der Gründe erklären, die die Leute zum Laufen bewegen. Jeder Einzelne läuft, so die Annahme, weil das für ihn oder sie aus dem einen oder anderen Grund von Nutzen ist. Philosophen nennen einen Wert, der von einem Nutzen abgeleitet wird, einen „instrumentellen Wert“. Eine Sache hat instrumentellen Wert, wenn sie einen Wert als Instrument hat: als Mittel zu einem Zweck. Geld hat instrumentellen Wert: Sein Wert besteht im Wert der Dinge, die man mit ihm kaufen kann. Arznei hat instrumentellen Wert: Ihr Wert besteht im Wert der Gesundheit, die sie uns wiedergibt. Wenn etwas nur instrumentellen Wert hat, hat es keinen Eigenwert: Sein Wert liegt außerhalb von ihm, in etwas Anderem. Dieses Andere ist der eigentliche Wert.
Laufen hat instrumentellen Wert, keine Frage. Der Irrtum, den beide Erklärungen des Laufens, die evolutionäre wie die auf den Einzelnen bezogene, enthalten – ein Irrtum, der möglicherweise groß genug ist, um ihn als monströse historische Lüge zu bezeichnen –, besteht in der Annahme, dass dies der einzige Wert sei, den das Laufen habe. Es ist aber nicht sein einziger Wert, ja es ist nicht einmal sein hauptsächlicher Wert.

Wir leben in mancherlei Hinsicht in einem monströsen Zeitalter. In dieser instrumentalistischen Vorstellung vom Laufen spiegelt sich das streng utilitaristische Zeitalter, in dem wir leben: eine Zeit, in der alles einen Nutzen haben muss, „für etwas gut sein muss“. In seinem wegweisenden Vortrag „Die Frage nach der Technik“ argumentiert Martin Heidegger, vielleicht der bedeutendste Philosoph des 20. Jahrhunderts, im Wesen der modernen Technik walte ein „Gestell“. Mit anderen Worten: Die Moderne verkörpert eine bestimmte Art, die Welt, die uns umgibt, zu betrachten, eine Weltanschauung, die als solche andere Anschauungsweisen dieser Welt ausschließt. In dieser Hinsicht steht die Moderne keineswegs einzig da: Alle Menschenzeitalter hatten ihr charakteristisches Gestell. Das Kennzeichen der Moderne ist ein Gestell von einzigartig instrumenteller beziehungsweise utilitaristischer Form. Im Gestell der Moderne findet sich alles auf seine Funktion als Ressource der einen oder anderen Art reduziert. Wir begegnen den Dingen und verstehen sie nur mehr nach Maßgabe ihres Nutzens – grob gesprochen: was sie für uns tun können, im Positiven wie im Negativen – und erkennen dabei nicht einmal mehr, dass sie vielleicht noch einen anderen Wert haben. Selbst die Welt der Natur wird inzwischen als Ansammlung von natürlichen Ressourcen beschrieben. In seiner charakteristischen Neigung zu ausgefallenen Formulierungen bezeichnet Heidegger diese Tendenz des modernen Denkens zur Instrumentalisierung der Dinge als „Verdüsterung der Welt“. Die Wirklichkeit selbst wird nur mehr in ganz und gar technischen Begriffen verstanden.
Es geht vielleicht zu weit, wenn man sagt, dass wir inzwischen von unserer Anlage her gar nicht mehr dazu in der Lage seien, Wert in anderen Begriffen als dem einer Funktion des Nutzens zu denken. Aber es fällt uns schwer. Sicherlich rechtfertigen wir die Tätigkeit des Laufens auf solche Weise, anderen wie auch uns selbst gegenüber. Man läuft, so sagt man, um gesund zu bleiben, um schlank zu bleiben, um zu entspannen, um vital zu bleiben. Dem liegt die Annahme zugrunde, das Laufen, wenn es denn ein legitimer Zeitvertreib sein soll, müsse zu etwas gut sein«, das heißt, es müsse in irgendeiner Form von Nutzen sein. Dass das Laufen einen Wert haben könnte, der unabhängig davon ist, was es für uns tut, dass es also einen Wert haben könnte, der sich nicht in instrumentellen Begriffen erfassen ließe, ist eine Vorstellung, die wir nur schwer verstehen können. Ich spreche aus Erfahrung. Ich musste Jahre, besser gesagt Jahrzehnte der Verwirrung hinter mich bringen, ehe ich das erkannt habe.

Ich werde in diesem Buch viel Zeit darauf verwenden, das Laufen als Erlebnis und Erfahrung zu beschreiben, also, wie Philosophen das nennen, eine „phänomenologische“ Untersuchung durchführen. Ich tue das nicht als Selbstzweck oder weil ich Vergnügen an so etwas hätte. Tatsächlich empfinde ich es als eine schwierige, anstrengende und oft ermüdende Aufgabe. Vielmehr beschreibe ich die Erfahrung des Laufens, weil es, wie ich darlegen werde, die Erfahrung eines Wertes von einer ganz anderen Art ist, eines Wertes, der nicht instrumentell, nicht die Funktion eines Nutzens ist. Und in diesem Wert lässt sich etwas entdecken, zumindest in groben Umrissen, das wichtig ist im Leben. Ich stelle in diesem Buch eine Behauptung auf, die die meisten vermutlich seltsam finden werden. Es ist wahr, dass das Laufen in vielerlei Form instrumentellen Wert hat. Doch in seiner reinsten und besten Form hat das Laufen einen völlig anderen Wert. Er wird manchmal als „innerer“ oder „inhärenter“ Wert bezeichnet. Wenn man sagt, etwas habe einen inneren Wert, so meint man damit, die Sache als solche habe einen Wert, nicht bloß einen Wert um etwas willen, das sie einem zu erlangen oder zu besitzen ermöglicht. Das Laufen, so meine These, hat einen inneren Wert. Und deshalb kommt man, wenn man läuft und es aus dem richtigen Grund tut, mit dem inneren Wert des Lebens in Berührung.
Das hat eine Bedeutung, die viel weiter reicht als das bloße Verständnis davon, worin das Wesen des Laufens besteht – was das Laufen wirklich ist. Da wir in einer verdüsterten Welt leben, wird unser Leben durch die Unfähigkeit beeinträchtigt, einen inneren Wert zu erkennen, wenn wir ihm begegnen. Wir leben unser Leben, indem wir alles, was wir tun, stets um einer anderen Sache willen tun und diese Sache wiederum um einer anderen Sache willen. So leben wir siebzig, achtzig Jahre lang ein endloses „Um-einer-Sache-willen“: Jahrzehnte, in denen wir hinter etwas herjagen, das wertvoll ist, das wir aber nur selten erreichen. Etwas zu erfahren, das als solches Bedeutung hat und nicht bloß um etwas anderen willen, kann dieser Jagd ein Ende setzen, zumindest vorübergehend. Für eine Weile wenigstens jagt man nicht einem Wert hinterher, sondern wird von ihm erfüllt.
Manchmal fragen die Menschen: Was ist der Sinn des Lebens? Schließlich erwartet man von einem Philosophen, sich damit zu beschäftigen, auch wenn die wenigsten von uns das heutzutage tun. Aber die Frage ist in mindestens zweierlei Hinsicht unglücklich gestellt. Zum einen hat das Wort „Sinn“ manche Menschen zu der Annahme verleitet, die Antwort, nach der wir suchen, müsse eine mystische sein, wie sie etwa von einem Guru gegeben werden könnte. Und zweitens legt der Gebrauch des bestimmten Artikels den Schluss nahe, dass es auf die Frage nur eine Antwort geben könne – eine Art existenzieller Zauberkugel, die uns ohne jeden Zweifel sagt, was es mit dem Leben auf sich hat. In Wirklichkeit ist uns die Frage jedoch viel vertrauter, und sie ist weniger anspruchsvoll – eine Frage, die beinahe jeder und jede sich irgendwann einmal stellt: Was ist wichtig im Leben? Alternativ: Was ist wertvoll im Leben? Oder: Worauf sollte es mir ankommen im Leben? Oder, falls wir von der Annahme ausgehen, dass unsere Lebensweise das widerspiegelt, was wir wertschätzen: Wie soll ich leben? Mit Mystik ist uns dabei nicht gedient, denn eine Antwort hätte nur dann einen Nutzen für uns, wenn wir sie verstehen, und wenn wir sie verstehen können, ist die Antwort nicht mystisch. Und überdies gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass es nur eine Antwort auf diese Frage geben kann.
Laufen, so werde ich argumentieren, ist ein Weg, um zu verstehen, was wichtig oder wertvoll im Leben ist. Es ist ein Weg, mit dem inneren Wert in Berührung zu kommen, wo er sich im menschlichen Leben zeigt oder zu erkennen gibt. Laufen ist keinesfalls der einzige Weg, um das zu tun. Aber Laufen ist ein Weg, und als solcher ermöglicht das Laufen es uns, die Frage nach dem Sinn des Lebens zu beantworten, und zwar im einzig vernünftigen Sinn, den diese Frage haben kann, so banal und anspruchslos er auch sein mag. Diese Antwort ist, für mich jedenfalls, stets schwer zu fassen und immer unbeständig. Sie ist etwas, das ich nur für Momente verstehe, und schon ist es wieder weg. Doch sind das vielleicht die wichtigsten Momente in meinem Leben. Grundsätzlich werde ich versuchen, Sie davon zu überzeugen, dass sich im Laufen eine bestimmte Art von Erkenntnis ausdrückt. Wenn ich laufe, dann weiß ich, was wichtig ist im Leben – obgleich ich viele Jahre lang keine Ahnung davon hatte, dass ich es wusste. Es handelt sich dabei nicht um ein neu erworbenes, sondern um zurückgewonnenes Wissen. Als Junge wusste ich ebenfalls, was wichtig war im Leben. Ich vermute, wir alle wussten das, obgleich wir keine Ahnung hatten, dass wir es wussten. Aber es war etwas, das ich vergaß, als ich in das große Spiel des Heranwachsens und des Etwas-Werdens einstieg. Ja, ich musste es sogar vergessen, um in dem Spiel überhaupt mitspielen zu können. Es ist eine der großen Ironien des Lebens, dass diejenigen, die es am wenigsten nötig haben, seinen Sinn zu verstehen, gerade die sind, die ihn ganz natürlich und mühelos erfassen. Auf dem langen Lauf höre ich das Wispern einer Kindheit, die ich nie mehr zurückholen kann, und eines Zuhauses, in das ich nicht zurückkehren kann. In diesem Wispern, diesem Gemunkel und Gemurmel auf dem langen Lauf, gibt es Momente, in denen ich wieder verstehe, was es war, das ich einmal wusste.

Gedanken sind auf bedrucktem Papier festgehalten, aber sie hallen wider durch ein ganzes Leben wie das Echo einer Glocke, die langsam in der Ferne schlägt. Doch anstatt den Glockenschlag einfach nur zu wiederholen, verwandelt ihn das Echo unmerklich – immer aufs Neue, denn das Leben ist in steter Bewegung. Das ist der Dopplereffekt des Gedankens, wie er im Leben auftritt, die Verwandlung des Gedankens, der gelebt wird und nicht nur gedacht. Ein Buch über das Laufen, so wurde mir allmählich klar, muss die Struktur des Laufens haben, weil andernfalls die Gedanken, aus denen es besteht, einfach nicht hineinpassen und folglich keinen Sinn ergeben werden. Laufen ist undifferenzierte Tätigkeit. Jede Bewegung – jeder Schritt auf dem langen Lauf, jeder Schwung der Arme – geht fließend in die nächste über. Die Gedanken, aus denen dieses Buch besteht, sind von dieser Art. Sie gehen ineinander über, nie stehen sie fest oder halten ein, sondern sie verändern und verwandeln sich, so wie der Lauf selbst.
Die Gliederung in Kapitel ist in mancher Hinsicht willkürlich. Die Kapitel sind um Läufe herum aufgebaut, einzelne Episoden aus meinem Leben und dem Leben der anderen Läufer, die mit mir gelaufen sind, aber die Gedanken, die diese Läufe mit Leben erfüllen, gehen fließend ineinander über. Aus der Perspektive des Denkens, wenn auch nicht des Lebens, beginnt jedes Kapitel da, wo das vorhergehende aufhört, auch wenn die Läufe, die darin beschrieben werden, oft viele Jahre auseinanderliegen. Einfälle, von denen ich glaubte, ich hätte sie viele Kilometer und viele Jahre zuvor hinter mir gelassen, tauchen beharrlich in neuer, unmerklich veränderter Gestalt wieder auf. Logik: die ist auch noch vorhanden, aber eher wie ein Wegweiser, der den Lauf leitet, nicht so sehr wie die Arme und Beine, die ihn antreiben. Das Buch entwickelt sich nicht wie eine logische Argumentation, in der Hypothesen mit schöner Ordnung, Gründlichkeit und Bestimmtheit zu Schlussfolgerungen führen. Vielmehr enthält es die Aufzeichnungen von einem, der nach Kräften – und, wie bei vielen meiner Läufe, oft langsam und mühselig – versucht, in die ungefähre Richtung einer Schlussfolgerung zu laufen. Am Ende komme ich dort auch an, aber unterwegs gibt es viele Sackgassen und Wege, die mir versperrt sind. Gelegentlich musste eine Strecke auch mehrmals zurückgelegt werden, bevor mir klar wurde, wohin sie mich führen sollte. Ich bitte um Nachsicht, wenn es manchmal den Anschein hat, als wiederholte ich mich. In Wirklichkeit ändern sich die eingeschlagenen Routen stets unmerklich, was die Landschaft und das angesteuerte Ziel betrifft, und das ist eine ihrer wichtigsten Eigenschaften. Am Ende führt uns der Lauf immer nach Hause, zurück an unseren Ausgangspunkt, an den Start. Doch manchmal, wenn wir lange genug laufen, wird sich dieses Zuhause verändert haben. Das Ende dieses Buches ist zugleich sein Anfang. Doch wenn dieses Buch seinen Sinn erfüllt, dann wird sich dieser Anfang ganz entscheidend verändert haben.
Manchmal denke ich, dass das Laufen ein Ort ist, an dem ich meine Geschichte in bestimmte Bahnen lenke. Laufen ist ein Ort, an dem ich wirklich auf den Schultern von Riesen stehe – oder, um es passender zu sagen, im Windschatten der Begriffe von älteren und besseren Denkern laufe –, ein Ort, an dem Dinge, die ich gelesen und scheinbar vergessen habe, Dinge, die viele, viele Jahre unter den Trivialitäten des Lebens begraben lagen, plötzlich wieder auf der Bühne des Bewusstseins in Erscheinung treten, schmollend umherstolzieren und vorwurfsvoll fragen: Warum hast du mich vergessen? Auf dieser Bühne kommen und gehen sie und verändern dabei alles oder nichts, ohne dass ich sonderlich Einfluss darauf hätte. Laufen ist ein Ort, an dem ich mich erinnere. Und was am wichtigsten ist: Es ist ein Ort, an dem ich mich nicht an die Gedanken anderer erinnere, sondern an etwas, das ich einmal wusste, vor einem Menschenalter, aber gezwungen wurde, es zu vergessen, während ich heranwuchs und zu jemandem wurde. Ich wusste es, ohne zu wissen, dass ich es wusste, und in dieser Hinsicht war ich genau wie jeder andere. Laufen ist ein Ort, um sich zu erinnern. Es ist der Ort, an dem wir den Sinn des Laufens entdecken.

Mark Rowlands

Über Mark Rowlands

Biografie

Mark Rowlands, geboren 1962 in Wales, ist Professor für Philosophie an der Universität Miami. Er hat mehr als ein Dutzend Bücher veröffentlicht, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Auf Deutsch erschien von ihm der Erfolgstitel „Der Philosoph und der Wolf“.

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