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Der Liebesbegriff bei Augustin Der Liebesbegriff bei Augustin - eBook-Ausgabe

Hannah Arendt
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Versuch einer philosophischen Interpretation

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Der Liebesbegriff bei Augustin — Inhalt

Hannah Arendts 1929 als Dissertation veröffentlichte Schrift greift bereits grundlegende Figuren ihres Denkens auf: den Weltbegriff, das Dasein, die vita socialis, Verantwortung. Anhand des intersubjektiven Themas par excellence „Liebe“ erörtert Arendt mit und gegen Augustinus die vielfältige „Doppeltheit“ des Menschen zwischen Isolation und Gemeinschaft, Noch-nicht und Nicht-mehr, Gewohnheit und Bewusstsein. Arendt prüft kritisch die Fundamente abendländischen ethischen Denkens und nimmt dies mit Blick auf ein Personen-, Subjekt- und Liebesverständnis vor, das von andauerndem Interesse ist.

€ 14,00 [D], € 14,40 [A]
Erschienen am 31.05.2021
Herausgegeben von: Thomas Meyer
192 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31706-1
Download Cover
€ 13,99 [D], € 13,99 [A]
Erschienen am 31.05.2021
Herausgegeben von: Thomas Meyer
192 Seiten
EAN 978-3-492-99845-1
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Leseprobe zu „Der Liebesbegriff bei Augustin“

Erster Teil.
Amor qua appetitus.

1. Der Strukturbestand des appetitus.

Nihil enim aliud est amare, quam propter se ipsam rem aliquam appetere. Und etwas weiter: namque amor appetitus quidam est (De div. quaest. 83, qu. 35, 1 u. 2). Jeder appetitus ist gebunden an etwas Bestimmtes, das er begehrt. Dieses Was seines Begehrens hat das Begehren, ihn selbst, erst entzündet und ihm seine Richtung gegeben. Er ist bestimmbar nach dem Bestimmten, Vorgegebenen seines Strebens.[1] Dieses Bestimmte wird von ihm nicht erst auf seinem Wege entdeckt, sondern es ist für [...]

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Erster Teil.
Amor qua appetitus.

1. Der Strukturbestand des appetitus.

Nihil enim aliud est amare, quam propter se ipsam rem aliquam appetere. Und etwas weiter: namque amor appetitus quidam est (De div. quaest. 83, qu. 35, 1 u. 2). Jeder appetitus ist gebunden an etwas Bestimmtes, das er begehrt. Dieses Was seines Begehrens hat das Begehren, ihn selbst, erst entzündet und ihm seine Richtung gegeben. Er ist bestimmbar nach dem Bestimmten, Vorgegebenen seines Strebens.[1] Dieses Bestimmte wird von ihm nicht erst auf seinem Wege entdeckt, sondern es ist für ihn immer schon vorgegeben, er richtet sich aus auf eine gekannte Welt. Die gekannte res ist ein bonum, denn sie wird propter se ipsam erstrebt. In diesem Erstrebtsein ist die res für den amor unabhängig von ihren Bezogenheiten zu anderen Objekten und stellt nur das ihr isoliert zukommende bonum dar. Das Spezifische dieses bonum ist, daß es nicht gehabt wird. Wenn es gehabt wird, hört der appetitus auf, es sei denn, daß Gefahr besteht, das Erworbene wieder zu verlieren; in diesem Fall schlägt der appetitus habendi um in den metus amittendi. Der appetitus hat, da er das bonum und nicht beliebige Sachen erstrebt, neben seinem Ausgerichtetsein auf … die Rückbezogenheit des Für … Er ist rückbezogen auf den Menschen, der das bonum und malum der Welt kennt und bestrebt ist, beate vivere. Aus der Grundhaltung des beatum esse velle[2] wird dem appetitus jeweils sein bonum vorgegeben. Der appetitus bzw. der amor ist die Möglichkeit des Menschen, sich in den Besitz seines bonum zu setzen.[3]

Dieser amor schlägt um in den metus: qu. 33: Nulli dubium est non aliam metuendi esse causam nisi ne id quod amamus aut adeptum amittamus aut non adipiscamur speratum. Aus dem Haben- und Haltenwollen des appetitus entsteht die Furcht vor dem Verlust.

Im Augenblick des Habens wandelt sich das Begehren in die Furcht. Wie das Begehren das bonum begehrt, fürchtet die Furcht das malum. Das malum, vor dem die Furcht flieht,[4] bedroht das beate vivere, das im Besitz des bonum besteht. Solange der Mensch die res temporales begehrt, steht er ständig in dieser Bedrohung, und dem appetitus habendi entspricht dauernd der metus amittendi. Unabhängig von dem Menschen, der durch den appetitus an sie gebunden ist, entstehen und vergehen die temporalia bona. Durch appetitus und metus ständig an eine Zukunft gebunden,[5] von der es ungewiß ist, was sie bringen wird, verliert jede Gegenwart Ruhe und Möglichkeit des Genusses und damit eigenständige Bedeutung überhaupt.[6] Jede Gegenwart ist bestimmt nicht durch Zukunft schlechthin (wie es bei Augustin auch möglich ist, wie wir später sehen werden), sondern durch bestimmte, aus der Zukunft her erhoffte oder gefürchtete Ereignisse, die der Betroffene begehrt und herbeizuschaffen sucht oder flieht und aus dem Wege räumt. Die beatitudo besteht im Besitz (habere, tenere) des bonum und mehr noch in der Sicherheit des Nichtverlierens. Diese negative Bedeutung der Sicherheit, in der allein das bonum wirklich gehabt wird, ist nur zu verstehen aus der konkreten Bestimmung des bonum selbst. Das bonum und malum ist gut und schlecht für den, der beate leben will. A. führt Serm. CCCVI, 3 u. 4 aus, daß alle Menschen glücklich leben wollen, aber jeder unter glücklich und den Gütern, die zum Glück gehören, etwas anderes versteht und begehrt. Alle aber sind sich einig in dem Lebenwollen. Die beata vita ist somit die von jedem anders verstandene wahre vita. Das Leben, das ständig vom Tod bedroht wird, ist kein Leben, weil es ständig in der Gefahr steht, das, was es ist, zu verlieren, und es auch eines Tages sicher verliert (Serm. CCCVI, 7 ipsa est vita quae et aeterna et beata). Die beata vita ist dort, wo unser Sein keinen Tod haben wird.[7] Das bonum also, das der amor erstrebt, ist das Leben, und das malum, vor dem die Furcht flieht, ist der Tod. Die beata vita ist das unverlierbare Leben. Das irdische Leben ist eine mors vitalis oder eine vita mortalis, ein Leben, das unter der Bestimmung des Todes steht.[8] Dieses Leben wird zum ständigen timere. (Serm. CCCVI, 7: Sed sanitas et vita si timetur ne finiatur, iam non est vita. Non est enim semper vivere sed semper timere.)

Alle einzelnen Ängste vor bestimmten Übeln sind von dieser Grundfurcht geleitet. Der Tod, der dem Leben ein Ende macht, beschließt zugleich die ständige Sorge des Lebens in sich, und zwar sowohl in der Sorge um die irdisch-vergängliche beatitudo wie in der um das Leben nach dem Tode.[9] Dort, wo es keinen Tod und somit keine Zukunft gibt, ist es möglich, sine angore curae zu leben (ep. 55, 17). Die Furcht des Lebens vor dem Tod fürchtet sich vor sich selber als einem Leben, das sterben muß und als solches ständig in der Furcht ist.[10] So wird das Wovor der Furcht das Fürchten selbst.[11] Wo man nichts verlieren kann, herrscht die furchtlose Sicherheit des Besitzes. Diese Furchtlosigkeit erstrebt der amor. Der amor als appetitus ist bestimmt durch das Was, dem er zustrebt. Dieses Was ist das Freisein von Furcht (metu carere. De div. quaest. 83, qu. 34). Das amittere posse ist deshalb der Ausgang für die Bestimmung des amandum, weil das Leben ständig sich selbst im Näherkommen an den Tod verliert.[12]

So wird das bonum des amor als das bestimmt, was nicht verloren werden kann.[13] Wir sehen, daß das Gut des Menschen, das ihn zur beatitudo bringen soll, wesentlich aus zwei heterogenen Zusammenhängen her definiert ist: das bonum ist einmal das Erstrebte des appetitus, d. h. ein in der Welt vorfindbares Nützliches, das in den eigenen Besitz erhofft ist; das Bestimmende des bonum ist andererseits gewonnen aus der Furcht vor dem Tode, d. h. der Furcht des Lebens vor seiner eigenen Vernichtung. Alle übrigen Zufälle des Lebens, die der Mensch nicht in der Hand hat, werden zurückgeführt auf die mangelnde potestas über das Leben selbst.[14] Der Tod aber erfährt analog eine doppelte Ausdeutung: er ist einmal der Index für die mangelnde Verfügbarkeit des Lebens über sich selbst, und er ist andererseits das äußerste, auf das Leben zukommende malum, das dem Leben schlechthin Abträgliche. Als dieses äußerste malum kommt der Tod von außen auf das Leben zu, und das Leben flieht vor ihm, während in Ausdrücken wie vita mortalis das Leben von vornherein als sterbliches gesehen ist. Das Bewußtsein dieser mangelnden potestas, in der das Leben von vornherein als sterbliches angesetzt ist, widerspricht der Definition des amor als appetitus, weil der appetitus als Streben seinem eigenen Sinn nach etwas Erreichbares erstrebt, mag das Herbeiführen des Erreichbaren auch mißlingen. Ist der Tod nur als das äußerste malum gesehen, so ist die Einheitlichkeit der Argumentation gewahrt (amor qua appetitus).[15] Aber in der doppelten Auslegung des Todes wird gerade der doppelte Ansatz dieser ganzen Problematik deutlich. Wir halten vorläufig fest: das Leben erstrebt etwas, was es als vom Tode Bestimmtes prinzipiell nicht in seiner Hand hat und erstrebt dies als ein für es Verfügbares.

Jedes bonum oder malum steht bevor. Das an der letzten Grenze Bevorstehende, dem das Leben dauernd zulebt, ist der Tod. Jede Gegenwart des Menschen ist von diesem Bevorstehenden her bestimmt als ständiges Noch-nicht. Jedes Haben ist beherrscht von der Furcht und jedes Nichthaben von der Begierde. Die Zukunft, in der der Mensch lebt, ist also stets die erwartete Zukunft, die durch das gegenwärtige Ersehnen oder Fürchten restlos bestimmt ist. Die Zukunft ist nichts anderes als das Noch-nicht der Gegenwart, das droht oder erfüllt. Aber jede Erfüllung ist eine scheinbare, weil am Ende der Tod droht und mit ihm der radikale Verlust. Das heißt, das Noch-nicht der Gegenwart ist das immer zu Fürchtende. Zukunft kann für die Gegenwart nur bedrohlich sein. Nur eine Gegenwart ohne Zukunft ist nicht mutabilis, schlechthin unbedroht. In ihr lebt der ruhige Besitz. Dieser Besitz ist das Leben selber, denn alle bona waren ja nur für das Leben da, um es vor seinem Tode, seinem Verlorengehen zu schützen. Diese Gegenwart ohne Zukunft, die keine bona mehr kennt, sondern selber das absolute bonum (summum) ist, ist die Ewigkeit. Diese Ewigkeit ist das, was invitus amittere non potes. Der amor, der innerhalb des Irdischen nach etwas Sicherem strebt, über das er verfügen kann, wird dauernd enttäuscht, weil alles der Sterblichkeit verfallen ist. In dieser Enttäuschung schlägt er um und wird ausschließlich negativ bestimmt: zu lieben ist nur noch das metu carere. Diese Furchtlosigkeit existiert nur in der völligen Ruhe, die durch keine aus der Zukunft her zu erwartenden Ereignisse mehr zu erschüttern ist. Das bonum, das nur zu verstehen ist als Korrelat zu dem als appetitus bestimmten amor, und das für das sterbliche Leben sinnlos ist, wird herausprojiziert in eine absolute, nach dem Tode einsetzende Gegenwart, die für das irdische Leben zwar zur absoluten Zukunft wird, aber dennoch als begehrte so bevorsteht wie jedes andere aus der Zukunft her erwartete bonum auch, nur mit dem Unterschied, daß das Leben, das auf diese absolute Zukunft seine Erwartung richtet, nicht mehr enttäuscht werden kann. Das bonum aber behält seine Negativität und Inhaltlosigkeit – erstrebt wird die pure Ruhe, das pure metu carere –, die entstanden sind aus der Sinnlosigkeit des appetitus für ein Leben, das wesentlich vom Tode her verstanden ist und für das Verfügenwollen einfach widersinnig geworden ist.[16]

Von dem so gewonnenen Begriff des bonum, von der Ewigkeit aus wird nun die Entwertung und Relativierung der Welt und Zeitlichkeit vollzogen. Alle weltlichen Güter sind mutabilia, veränderlich; da sie keinen Bestand haben, sind sie auch eigentlich nicht.[17] Es ist auf sie kein Verlaß. Aber selbst wenn sie Bestand hätten, das menschliche Leben selbst hat ja keinen Bestand. Täglich verlieren wir das Leben selber. Indem wir leben, eilen wir dem Nichts zu.[18] Nur das, was gegenwärtig ist, ist wirklich.[19] Das Leben aber ist immer nicht mehr oder noch nicht.[20]

Wir sahen, daß der amor ein bonum erstrebt, das seinem Sinn nach außerhalb des Strebens selber liegt. Da aber alles, was von außen auf das Leben zukommt, nur erstrebt ist um des Lebens willen, so ist eigentlich das Leben zu erstreben. Das Leben wird selber zum erstrebten bonum. Als die wahre vita, die identisch ist mit dem esse, d.h. Bestand hat, ist das bonum herausprojiziert in die Ewigkeit und wird so wieder zu dem, was von außen bevorsteht, zu einem bonum, wenn auch zum höchsten. Charakteristisch und verräterisch ist die Bezeichnung Gottes als res qua fruendum est,[21] die die Identität von esse und vivere verkörpert und zugleich die aeterna res ist, die begehrt wird. Das Leben also ist eine res, die aus der Welt verschwindet, keinen Bestand hat. Das Leben ist angesehen auf seinen „sachlich“ weltlichen Bestand hin, es ist außerhalb, und zwar außerhalb seiner selbst, als das, was in der Welt vorkommt und als veränderlich sich an das Unveränderliche hält, um von ihm seinen Bestand zu erhalten. Dieses Bestand Verleihende ist die Ewigkeit, das Was des Begehrens. Wie den appetitus das Was seines appetere erst bestimmt, so bestimmt A. das Leben überhaupt nach dem Was seines Begehrens. Es begehrt die weltlich vorkommenden bona und wird selbst so zu einem weltlich vorkommenden bonum. Die res hat Bestand. Sie ist morgen dieselbe, die sie heute war. Das Leben verschwindet von Tag zu Tag, indem es dem Tode zueilt; es hat keinen Bestand, es bleibt nicht als Identisches bestehen,[22] es ist nicht immer gegenwärtig und ist es eigentlich nie, weil es immer noch nicht oder nicht mehr ist. Seiner eigenen Unbeständigkeit kann kein irdisches Gut Halt verleihen, die Zukunft wird sie ihm alle entreißen, im Tode verliert es mit sich selbst auch alles, was es erraffte. Alle weltlichen Güter sind zwar an sich als von Gott erschaffene gut. Erst das Leben, das sich an sie klammert und dessen Zukunft sie ihm immer entreißt, macht auch sie zu veränderlichen, mutabilia. Mundus enim appelatur non solum ista fabrica quam fecit Deus, coelum et terra […] sed habitatores mundi mundus vocantur […] omnes ergo dilectores mundi mundus vocantur (Ep. Ioan. tr. II, 12). Die Welt als irdische wird nicht nur durch die Werke Gottes als solche konstituiert, sondern durch die dilectores mundi, die Menschen und das, was die Menschen lieben. Erst die Liebe zur Welt macht coelum et terra zur Welt, zur res mutabilis. Das Streben nach Bestand, das den Tod flieht, hat sich gerade an das gehängt, was mit dem Tod sicher verlorengeht. Der amor hat ein falsches amatum, nämlich eines, das sein Streben dauernd enttäuscht. Der rechte amor besteht gerade in dem rechten amatum. Der sterbliche Mensch, der in die Welt gesetzt ist – Welt jetzt als coelum et terra – und aus ihr heraus muß, macht mit seinem sich an die Welt Klammern die Welt selber zu einer verschwindenden, nämlich der im Tode verschwindenden. Die spezifische Gleichsetzung von irdisch und sterblich ist erst möglich, wenn die Welt von dem Menschen, dem moriturus her gesehen ist. Diesen falschen amor, der sich an die Welt klammert und damit zugleich die Welt konstituiert, d.h. weltlich ist, nennt A. cupiditas, den rechten amor, der nach der Ewigkeit und der absoluten Zukunft strebt, caritas.

Hannah Arendt

Über Hannah Arendt

Biografie

Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 im heutigen Hannover geboren und am 4. Dezember 1975 in New York gestorben, studierte unter anderem Philosophie bei Martin Heidegger und Karl Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. 1933 emigrierte Arendt nach Paris, 1941 nach New York. Von 1946 bis 1948 arbeitete...

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