Der Mann im Wald — Inhalt
Ausgebrannt, einsam, verzweifelt: Als der Unternehmer Wolfgang Ködel Insolvenz anmelden muss, verliert er nicht nur seine Firma, sondern auch seine Familie, seine Freunde und sein Haus. Der Weg, den er nach diesem Zusammenbruch wählt, ist extrem: Er steigt aus und findet nur wenige Hundert Meter von seinem Haus entfernt ein neues Zuhause im Wald. Drei Jahre lebt er dort in einem Zelt, im Sommer wie im Winter, ohne Strom, ohne Feuer zu machen, mutterseelenallein, frei. Dann wird er von einem Spaziergänger entdeckt. Ehrlich und berührend erzählt das Buch vom Scheitern, von den Jahren im Wald und seinem Weg zurück in unsere Welt.
Leseprobe zu „Der Mann im Wald“
1
Ein Geräusch.
Ein Kratzen.
Ein leises Schleifen.
Tastende Schritte?
Im Haus ist es still. Die Wände schweigen, die Möbel verharren. Kein Atmen, kein Leben. Auch ich atme nicht, mein Puls sinkt, das Blut fließt zäh. Bin starr wie ein Tier im Winterschlaf.
Bin nicht da.
Schon fort.
Wieder ein Kratzen. Ein Scharren auch. Es kommt von draußen. So klang es oft, wenn sie kamen. Natürlich kamen sie tagsüber, meist am späten Nachmittag, nach der Arbeit. Die Männer trugen Sakkos, manchmal Anzüge, die Frauen hübsche Kleider, der Makler war jung und dynamisch, bei jedem [...]
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Ein Geräusch.
Ein Kratzen.
Ein leises Schleifen.
Tastende Schritte?
Im Haus ist es still. Die Wände schweigen, die Möbel verharren. Kein Atmen, kein Leben. Auch ich atme nicht, mein Puls sinkt, das Blut fließt zäh. Bin starr wie ein Tier im Winterschlaf.
Bin nicht da.
Schon fort.
Wieder ein Kratzen. Ein Scharren auch. Es kommt von draußen. So klang es oft, wenn sie kamen. Natürlich kamen sie tagsüber, meist am späten Nachmittag, nach der Arbeit. Die Männer trugen Sakkos, manchmal Anzüge, die Frauen hübsche Kleider, der Makler war jung und dynamisch, bei jedem Schritt federte er weich in den Knien. Er führte die Leute über den Vorplatz zum Haupthaus, und wenn sie eine Weile später wieder herauskamen, liefen sie erneut über den Platz und hielten auf mein Haus zu. Sie klopften an die Tür. Sie drückten den Klingelknopf; doch die Klingel war tot, der Strom längst abgestellt. Ich stand auf der anderen Seite der Tür und hielt den Atem an. Ich lauschte den Stimmen, energisch die der Männer, ein wenig aufgeregt die der Frauen. Sie klopften wieder, doch ich rührte mich nicht. Sie spähten durchs Fenster neben der Tür, liefen ums Haus herum, drückten ihre Gesichter an die Scheiben. Später, wenn ich die Lamellen der Jalousien vorsichtig auseinanderzog, sah ich die Abdrücke ihrer Nasen, ihrer Fingerkuppen.
Irgendwann gingen sie fort.
Doch ich wusste, sie würden wiederkommen. Sie oder andere. Würden die Tür aufbrechen und mich hinauszerren.
Aber nun habe ich einen Plan.
Das Schleifen auf der Straße wird leiser, entfernt sich, erstirbt schließlich. Die Nacht ist wieder still. Die Starre löst sich, ich atme wieder. Kein schlafloser Nachbar, der seinen Hund ausführt . . . Kein weiterer Vorstoß des neuen Besitzers . . .
Ich strecke die Hand nach der Säge. Die werde ich brauchen. Die Axt auch, beide Äxte. Ihre Klingen stoßen aneinander und klirren, als ich sie in die Tasche lege. Ich ziehe eine Schublade auf, nehme eine Kombizange heraus. Den Hammer? Ein paar Schraubenzieher? Die Brechstange?
Nein, nur das Nötigste.
Der Rest bleibt hier.
Mein Leben bleibt in diesem Haus zurück.
Vor drei oder vier Tagen hing ein Zettel an der Tür. Ich hatte seine Schritte gehört, hatte im Flur gestanden, als er klopfte, ungeduldig, fordernd. Ich hörte ihn meinen Namen rufen und seine Stimme klang scharf. Das Haus gehörte jetzt ihm. Er forderte sein Recht. Später, in der Nacht, als gegenüber die Lichter hinter den Fenstern erloschen waren, öffnete ich vorsichtig die Tür. Ein helles Rechteck im Dunkel und schiefe Druckbuchstaben: Auszug bis zum 13. Oktober, danach bestelle ich Container und räume. Leise schloss ich die Tür. Ich hatte keine Angst. Ich spürte weder Angst noch Wut noch Freude noch Traurigkeit noch Hoffnung. Ich war ohne Gefühl.
Lange schon.
Ich lege die Kombizange zu den Äxten und der Säge und zurre den Reißverschluss zu, als mein Blick auf das Seil fällt: Ein Kunststoffseil, zu einer Acht geschlungen, mit dem losen Ende zusammengebunden. Es liegt seit Jahren dort, ich kann mich nicht mehr erinnern, wozu ich es einmal gekauft habe. Ich öffne die Tasche und lege es zum Werkzeug.
Für alle Fälle.
Bäume gibt es genug im Wald.
Ich schließe die Kellertür und steige lautlos die Treppe hinauf. Lange schon bewege ich mich, ohne ein Geräusch zu verursachen. Unhörbar. Unsichtbar. Wie ein Dieb.
Nein . . . wie ein Geist.
Im Wohnzimmer fallen Lichtstreifen der Straßenlaterne durch die Schlitze der Jalousien. Im Halbdunkel sehen die Möbel wie Fremde aus und der Boden ist voller Schatten, ein Mosaik aus Grautönen, aus runden und rechteckigen Formen. Zeitungen, Hemden, Kartons, Flaschen, ungeöffnete Briefe. Es riecht nach kaltem Rauch. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal gelüftet habe. Ich weiß auch nicht, wann ich das letzte Mal aufgeräumt habe. Lange Zeit trieb ich dahin, nichts berührte mich, nichts interessierte mich. Erst seit ich einen Plan habe, seit mir jener Gedanke kam, ein oder zwei Tage nachdem der Zettel an der Haustür klebte, und ich begonnen habe, Sachen in den Wald zu bringen, strömt eine ungewohnte Energie durch meinen Körper.
Ich gehe den Flur entlang ins Bad, nehme Zahnbürste, Zahnpasta, Duschgel. Den Nagelknipser. Den Handspiegel. Eine Schere. In der Küche zwei Gabeln, Löffel, Messer. Ein Brett, einen Becher, einen Topf. Nein, keinen Topf. Ich werde nicht kochen, Rauch würde mich verraten. Ich stelle ihn zurück.
Auch im Schlafzimmer ist der Boden von Zeitungen übersät. Ich habe sie im Müll gefunden – man findet viele Zeitungen im Müll und es macht keinen Unterschied, ob Nachrichten von heute, gestern oder irgendwann sind, die Welt dreht sich ohnehin ohne mich. Am Fußende des Bettes stapeln sich Kisten, überall liegen Kleiderhaufen, eine ausgebreitete Decke. Sie gehörte Sam. Sie schlief am liebsten in meiner Nähe. Auch das ist lange her.
Ich gehe ums Bett herum. Unter meinen Füßen etwas Weiches – ein Pullover. Ich hebe ihn auf und stopfe ihn in den Beutel. Kissen und Decken habe ich schon fortgebracht; die leere Matratze leuchtet wie eine Insel im dunklen Durcheinander, hell und nackt.
Genug jetzt.
Es reicht.
Ich gehe zurück ins Wohnzimmer. Im Schrank Ordner mit Papieren, Zeugnissen, Verträgen, Policen, Urkunden – bleiben hier. Auf dem Sideboard das Foto vom Vater, das Bild von der Mutter, von Margaretha, von Sam. Bleiben hier. Schachteln voller Fotos von Reisen, mit Peter und Karl in Frankreich, 1977, wir hatten gerade den Führerschein, mit Rainer auf Deutschlandtour, ein paar Jahre später, Bilder von Susanne, von Christine. Vergangenheit.
Altes Leben.
Bleibt hier.
In diesem Haus zurück.
Ich öffne eine Schublade, finde einen alten Walkman, stopfe ihn in den Beutel. Als ich mich umdrehe, fällt mein Blick auf den Bilderrahmen neben dem Fenster – das Herzogliche Bräustüberl in Tegernsee, verschwommene Schatten in einem Rechteck, doch ich kann mir jeden Pinselstrich ins Gedächtnis zurückrufen. Das Aquarell hatte mir auf Anhieb gefallen, als ich es zum ersten Mal sah, bei einem Maler im Ort. Wie von fremder Hand gesteuert durchquere ich den Raum, nehme das Bild von der Wand, löse es aus dem Rahmen und rolle es zusammen. Dann öffne ich die Tür des Sideboards und ziehe die Fototasche mit der Spiegelreflexkamera heraus. In der Ferne schlägt die Kirchturmuhr, vier Mal streng und unnachgiebig, dann fünf weitere Schläge, heller, freundlicher. Ich hänge die Fototasche über die Schulter, den Beutel, schlage meinen Kragen hoch und gehe den Flur hinunter zum Schlafzimmer. Ziehe die Vorhänge beiseite und die Jalousie hoch, öffne das Fenster, steige hinaus, ziehe es leise hinter mir zu.
Es ist dunkel, die Straße leer.
Die Welt schläft.
Ich gehe.
Schaue nicht zurück.
Die Luft ist frisch, die Nacht klar. Eine schmale Mondsichel steht am Himmel und es ist vollkommen still. Keine Autos, keine Menschen, selbst die Vögel schlafen noch. Meine Schritte auf dem Asphalt sind nicht zu hören; sogar jetzt, obwohl niemand da ist, der mich bemerken könnte, bin ich totenstill. Das Leise ist mir zur Natur geworden. Die Unsichtbarkeit. Das Sich-Verstecken, das Unter-den-Dingen-Hinwegtauchen.
Am Ende der Straße beginnt der Wald. Der Boden ist weich. Es riecht nach Regen und nassem Holz und ich folge dem Pfad, der leichten Rechtskurve, die er beschreibt, vorbei an der Bank, weiter auf dem asphaltierten Wegstück, ein leichtes Gefälle hinab. Auf halber Höhe verlasse ich den Weg, laufe durchs Unterholz, auf die Landstraße zu. Kein Auto links, kein Auto rechts. Nur ein Tier, das laut und durchdringend ruft. Ich überquere die Straße. Laufe abseits der Wege, unter Fichten und kahlen Buchen hindurch, steige über umgestürzte Bäume, ab und zu knackt ein Zweig, Gräser streifen meine Beine. Mein Atem geht immer langsamer und gleichmäßiger.
Ich fühle mich erleichtert.
Befreit.
Schnell wird das Unterholz dichter, ein beinahe undurchdringliches Dickicht. Ich bleibe stehen, orientiere mich. Mit Sam bin ich hier oft spazieren gegangen, abseits der Wege und Pfade. Sie war ein neugieriges Mädchen und immer für Abenteuer zu haben. Sie war mein bester Freund, doch wenn ich an sie denke, fühle ich nichts. Ich wusste, dass sie gehen würde.
Ein Schrei.
Wütendes Fauchen.
Rascheln im Laub und eine jähe Jagd.
Dann wieder Stille. Die Luft riecht nach Moos und feuchter Erde und ich taste mich vorsichtig weiter. Irgendwo hier, ganz nah, muss das Gefälle sein, die erste Stufe. Der Platz liegt auf halber Höhe eines Hangs, wer ihn nicht kennt, findet ihn nicht. Um mich herum kahle Bäume. Schatten gleiten über ihre Stämme, rutschen herab, fallen zu Boden. Nach einer Weile verschwindet der Mond hinter einer Wolke. Ich bleibe stehen, warte, bis meine Augen sich an die Schwärze gewöhnt haben. Bis sich langsam, wie in einem Traum, Bäume, Büsche, düstere Silhouetten aus der Nacht schälen. Ich spüre meinen Puls, das Klopfen hinter den Schläfen.
Vorsichtig taste ich mit den Schuhspitzen über den Boden, suche nach Unebenheiten. Als ich den Busch erreiche, der wie eine Wand den Zugang zum Platz verdeckt, bücke ich mich, schiebe die Zweige beiseite, krieche durchs Unterholz. Der Boden wird feuchter; der Grundwasserspiegel in den Auen ist hoch. Plötzlich rutsche ich, verliere das Gleichgewicht, greife nach den Zweigen, suche Halt. Reglos verharre ich in der Kälte. Als die Wolken den Mond endlich wieder freigeben, richte ich mich auf. Vor mir liegt ein steiles Gefälle.
Darunter der Platz.
Im Dunklen erkenne ich die Umrisse des noch verpackten Zelts. Die Tasche mit den Decken. Den Stuhl.
Ich weiß nicht, was geschehen wird.
Doch ich spüre, dass alles unwiderruflich hinter mir liegt.
Und etwas Neues beginnt.
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