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Der Metamorph (Kantaki 2)Der Metamorph (Kantaki 2)

Der Metamorph (Kantaki 2) Der Metamorph (Kantaki 2) - eBook-Ausgabe

Andreas Brandhorst
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Die Kantaki-Saga 2

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Der Metamorph (Kantaki 2) — Inhalt

Auf dem Planeten Kerberos geschehen unheimliche Dinge: Ein Anschlag erschüttert ein Labor, in dem geheime Experimente zur Schaffung neuer, widerstandsfähiger Lebensformen durchgeführt werden. Und eines der erzeugten Wesen kann entkommen. Doch der sogenannte Metamorph ist nicht die einzige Gefahr, die den Planeten bedroht. Denn in seinem Inneren erwacht eine uralte Macht – bereit den Weltraum mit Krieg zu überziehen. „Brandhorst beweist, was man alles aus einer Space Opera machen kann. Erstklassige Unterhaltung!“ Phantastik-Couch

€ 11,00 [D], € 11,40 [A]
Erschienen am 01.09.2017
608 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-28122-5
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€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 02.05.2017
608 Seiten
EAN 978-3-492-97582-7
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Leseprobe zu „Der Metamorph (Kantaki 2)“

1 – Existenzen

 


Kerberos
3. Planet des Hades-Systems
April 421 SN (Seit Neubeginn)


Das Etwas sah ohne Augen, hörte ohne Ohren und fühlte ohne Haut. Es dachte, ohne ein Gehirn zu haben, und es nahm seine Umgebung ohne ein Nervensystem wahr, das Informationen empfing und weiterleitete. Zeit spielte für dieses Noch-nicht-Wesen keine Rolle. Minuten waren wie Stunden, Stunden wie Sekunden. Es schwebte in einer Zwischenwelt, als eine Möglichkeit, eine biologische Eventualität, die zwar schon Substanz, aber noch keine Struktur hatte. Die Zellen der Basismasse [...]

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1 – Existenzen

 


Kerberos
3. Planet des Hades-Systems
April 421 SN (Seit Neubeginn)


Das Etwas sah ohne Augen, hörte ohne Ohren und fühlte ohne Haut. Es dachte, ohne ein Gehirn zu haben, und es nahm seine Umgebung ohne ein Nervensystem wahr, das Informationen empfing und weiterleitete. Zeit spielte für dieses Noch-nicht-Wesen keine Rolle. Minuten waren wie Stunden, Stunden wie Sekunden. Es schwebte in einer Zwischenwelt, als eine Möglichkeit, eine biologische Eventualität, die zwar schon Substanz, aber noch keine Struktur hatte. Die Zellen der Basismasse bildeten ein amorphes Gebilde, das in einem speziellen Behälter ruhte, umgeben von Wärme und in Flüssigkeit gelösten Nährstoffen. Niederenergetische Impulse und Messenger-Substanzen stimulierten die Formationsmatrix, ließen die Zellen nach den Vorgaben eines Programms wachsen. Genetische Daten flüsterten durch den Mikrokosmos des Werdens, wiesen Stammzellen an, sich zu sammeln und zu spezialisieren.
Das Etwas gedieh und trug in jeder einzelnen Zelle den Keim der Vielfalt. Während es wuchs, war es sich seiner Umgebung bewusst, ohne ein Bewusstsein zu haben. Es spürte, dass es mehr gab als nur die eigene Existenz. Dinge bewegten sich in einer externen Welt, und manche dieser Dinge standen mit ihm in Zusammenhang, denn sie beeinflussten die Art seines Wachstums, und deshalb waren sie wichtig. Diese Erkenntnis brachte eine neue Art der Differenzierung. Das Etwas begriff, dass es Wichtiges und Unwichtiges gab – damit war der erste Schritt zur Einteilung der Welt getan.
Mehr Zeit verstrich, und allmählich gewann sie Bedeutung für das Etwas, das damit begonnen hatte, nach weiteren Erkenntnissen zu streben – sie erlaubten es ihm, weiter zu wachsen und mehr zu werden. Erste Strukturen zeichneten sich in ihm ab, kontrolliert von der Formationsmatrix, und an bestimmten Stellen in der noch weitgehend undifferenzierten Körpermasse sammelten sich spezielle Zellen, Exekutoren, die besondere Anweisungen der Matrix empfingen und daraufhin strukturelle Veränderungen bewirkten. In der Formationsmatrix wiederum bildeten sich Memoranten, Speicherzellen für die Daten, die nach wie vor aus der externen Welt kamen, steuerten, korrigierten, stimulierten und auf ein Später vorbereiteten, dessen Einzelheiten dem Etwas verborgen blieben, in dem es aber Bestimmung fühlte. Seine wachsende Existenz war kein Zufall; etwas wartete auf ihn, eine Aufgabe, ein Zweck.
Und dann kam es plötzlich zu einer drastischen Veränderung.
Der Datenstrom riss abrupt ab, und das ruhige Wachstum hörte auf, als die Formationsmatrix keine Messenger-Substanzen mehr empfing. Die bisher statische Umgebung erfuhr einen jähen Wandel. Aus Wärme wurde Hitze, eine Hitze, die Nährflüssigkeit verdampfen ließ und zu verbrennen drohte. Risse bildeten sich in dem Behälter, und das Etwas glitt durch eine dieser Öffnungen, tropfte auf den Boden, während über ihm Flammen züngelten. Mehrere Explosionen donnerten, und alles erzitterte. Heiße Druckwellen zerschmetterten Glas und weitere Behälter, zerrissen Gespinste aus Basismasse, zerfetzten Programmierungsmodule und energetische Stimulatoren. Stimmen erklangen, Geschöpfe quiekten, Leben wich dem Tod. Das Etwas nahm all diese Eindrücke in sich auf, ohne eine Möglichkeit, sie zu verarbeiten und zueinander in Beziehung zu setzen, weitere Erkenntnisse aus ihnen zu gewinnen – dafür fehlten ihm Erfahrungen und ein ausgeprägtes bewusstes Selbst. In einem Rest von Nährflüssigkeit glitt es über den Boden, hinter mehreren Konsolen und Brutschränken vor dem Feuer geschützt, das sich immer mehr im Laboratorium ausbreitete, bis es schließlich ein Programmierungsmodul erreichte. Der Kontakt führte zu einer neuerlichen Veränderung, nicht weniger drastisch als die erste. Es kam zu einem weiteren Datenstrom, viel breiter, schneller und üppiger als zuvor. Die Formationsmatrix des Etwas empfing Myriaden Informationen, legte sie in ihren Memoranten ab und entwickelte weitere Speicherzellen, als der Datenstrom über die Kapazität der bereits existierenden hinausging. Eine Selektion fand nicht statt; dazu war die Matrix in ihrem derzeitigen Entwicklungszustand nicht fähig. Sie nahm die Daten auf und hielt sie bereit.
Gefahr. Dem Etwas wurde klar, dass die Veränderungen in der externen Welt seine Existenz infrage stellten, und daraufhin aktivierte die Formationsmatrix mithilfe der Exekutoren das Grundprogramm der Selbsterhaltung – das Leben hatte begonnen und musste unbedingt, unter allen Umständen, erhalten bleiben, denn sonst konnte es seiner Aufgabe nicht gerecht werden.
Die Sensoren des brennenden Laboratoriums stellten defekte Siegel und eine biologische Kontamination fest, was die Überwachungsservi zum Anlass nahmen, Neutralisierungsmaßnahmen einzuleiten. Giftgas zischte aus Düsen; harte Strahlung kam aus Projektoren.
Die letzten Stimmen – ihre Schreie – verstummten, ebenso das Quieken. Löschschnee rieselte aus Ventilen und erstickte die Flammen. Allmählich breitete sich im Laboratorium Stille aus.
Die peripheren Zellen des Etwas, die mit dem Giftgas in Kontakt gerieten, starben ab, und im Moment ihres Todes übermittelten sie der Formationsmatrix Informationen über das Toxin. Die Matrix reagierte unverzüglich, indem sie die Exekutoren veranlasste, die Struktur der nächsten Zellschicht so zu verändern, dass das Giftgas wirkungslos blieb. Gleichzeitig aktivierte sie Korrektoren und Reparateure, die von der harten Strahlung verursachte Zellschäden reparierten.
Das Etwas löste sich vom Programmierungsmodul und glitt weiter, angetrieben vom Gebot der Selbsterhaltung. Es hatte einen Teil von sich verloren – die abgestorbenen Zellen –, aber die aufgenommenen Informationen versetzten es in die Lage, weiter zu wachsen. Dazu brauchte es keine speziellen Nährstoffe mehr; organische Materie genügte.
Es kroch durch klebrigen Löschschnee in Richtung Schleuse, und auf dem Weg dorthin kam es zum Kontakt mit mehreren toten Geschöpfen. Das Etwas zögerte nicht, nahm ihre Substanz in die eigene Masse auf, fügte die Informationen über deren Struktur den Memoranten hinzu, sonderte Giftstoffe ab und nutzte das Zellmaterial fürs eigene Wachstum. An der Schleuse angelangt verringerte das Grundprogramm der Selbsterhaltung die molekularen Bindungskräfte und sorgte gleichzeitig dafür, dass die externen Zellen Säure sekretierten. Siegel, die Hitze und Strahlung standgehalten hatten, lösten sich auf, und das Etwas – nun eine Flüssigkeit mit geringer Dichte –, glitt durch Poren, die jeweils nur wenige Molekülbreiten durchmaßen.
Auf der anderen Seite der Schleuse herrschte Dunkelheit, aber die Finsternis behinderte das Etwas nicht. Auf der Grundlage des Selbsterhaltungsprogramms initialisierte die Matrix eine vorübergehende Zellspezialisierung, um dem Etwas die Orientierung zu ermöglichen. Es behielt seine geringe Dichte bei und entfernte sich immer mehr von dem Laboratorium, in dem es entstanden war. Die Selbsterhaltung gab ihm ein Ziel, die Verarbeitung der aufgenommenen organischen Materie Kraft. Es passierte zwei weitere Türen, indem es Poren in die Siegel ätzte, und anschließend erreichte es eine Filterstation, die mit dem Draußen verbunden war – das ging aus den Informationen hervor, die in den Memoranten gespeichert waren.
Das Etwas erhöhte die molekularen Bindungskräfte, wurde wieder kompakter und glitt durch die schmalen Zwischenräume eines Rohrbündels. Ohne Ohren „hörte“ es Stimmen und andere Geräusche, die meisten von ihnen nicht identifizierbar. Das langsam lauter werdende Rauschen hingegen wusste es zu deuten. Es stammte von einem Fluss, und der Fluss bedeutete eine wesentliche Verringerung der Gefahr, die seiner Existenz drohte.
Das Etwas vergrößerte seine Dichte, verringerte die Haftung der externen Zellen und überließ sich der Schwerkraft. Es löste sich von rauem Metall, und mit einem dumpfen Platschen, das sich im viel lauteren Rauschen verlor, verschwand es im Fluss.

„Wie konnte es dazu kommen?“ fragte Rubens Lorgard, Direktor der NHD-Niederlassung auf Kerberos. Zusammen mit seinem Sicherheitschef stand er in einer Beobachtungsnische, die den besten Blick auf das Laboratorium bot.
„Die Untersuchungen dauern an“, erwiderte Edwald Emmerson. Der kleine, schmächtige Mann mit dem schütteren Haar wirkte wachsam und konzentriert. „Es kam zu einem Feuer, das sich rasch ausbreitete. Die hohen Temperaturen lösten chemische Reaktionen aus, und mehrere Explosionen waren die Folge. Die Sensoren stellten eine biologische Kontamination fest, und daraufhin wurden die Sicherheitssysteme aktiv.“
Lorgard betrachtete ein Bild der Verwüstung. Löschschnee hatte sich wie eine weiße Decke über das ganze Labor gebreitet, konnte jedoch nicht über die Verheerung hinwegtäuschen. Geräteblöcke waren geborsten, Bottiche und Retorten geplatzt, Displays gesplittert. Nicht einer der Brutschränke hatte die Katastrophe unversehrt überstanden. Lorgard dachte an die vielen Zellkulturen, an die Geschöpfe, die in dem großen Laboratorium gewachsen waren – viele von ihnen nach seinen eigenen genetischen Entwürfen –, und Kummer stieg in ihm auf. Er fühlte sich um ungeborene Kinder betrogen, um Vaterschaften beraubt. Der angerichtete Schaden … Das war eine andere Angelegenheit, der er sich später widmen wollte.
„Fünf Personen starben“, fuhr Emmerson fort und deutete durchs Fenster der Nische – einen transparenten Teil der Labordecke – auf mehrere kleine Hügel unter dem Löschschnee.
„Wie konnte es dazu kommen?“, wiederholte Lorgard.
„Normalerweise hätte ich Sie erst morgen früh verständigt, nach den ersten Untersuchungen“, sagte Emmerson, dessen Ruhe unerschütterlich zu sein schien. Lorgard fragte sich manchmal, ob es irgendetwas gab, das diesen Mann aus der Fassung bringen konnte. Es gab keinen besseren Sicherheitschef. „Aber in diesem Laboratorium wurde am Projekt Doppel-M gearbeitet.“
Meine beste Kreation, dachte Lorgard. Voller Ästhetik, unübertroffen. Er sah Emmerson an und wartete.
„Bei einem Prototyp hatte das Wachstum begonnen“, fügte der Sicherheitschef hinzu, und zum ersten Mal ließ sich so etwas wie Sorge in seiner Stimme vernehmen.
„Was ist aus ihm geworden? Die Sicherheitssysteme …“ Lorgard stellte sich vor, wie Giftgas und harte Strahlung sein größtes Werk vernichteten. Etwas in ihm sträubte sich dagegen, das für möglich zu halten.
„Auch das überprüfen wir gerade. Ich …“ Emmerson unterbrach sich, als ein junger Mann in der stahlgrauen Uniform des NHD-Sicherheitsdienstes die Nische betrat. In der einen Hand hielt er ein Datenmodul.
„Ja?“, fragte Emmerson.
„Wir konnten einen Teil der Aufzeichnungen sicherstellen“, sagte der junge Mann. „Die anderen Module wurden stark beschädigt. Die Restauration der in ihnen gespeicherten Daten dürfte Tage, wenn nicht gar Wochen dauern.“
Der Sicherheitschef nahm das Modul entgegen, nickte Lorgard zu und verließ die Nische zusammen mit dem NHD-Direktor. Sie durchquerten einen Kontrollraum mit Dutzenden von Bildschirmen, gingen an mehreren subalternen Technikern vorbei und betraten das Büro des Aufsichtsleiters. Der Mann, ebenfalls ein Subalterner, schien auf sie gewartet zu haben, kam sofort hinter dem kleinen Schreibtisch hervor und wirkte überaus nervös. Vielleicht befürchtete er, für das Unglück verantwortlich gemacht zu werden.
„Ich versichere Ihnen, dass wir …“
„Bitte lassen Sie uns allein“, unterbrach ihn Emmerson. „Ich erwarte später einen detaillierten Bericht von Ihnen.“
„Selbstverständlich.“ Der Aufsichtsleiter verließ das Büro, und als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, herrschte für einige Sekunden sonderbare Stille. In Lorgard herrschte noch immer Aufruhr, und hier, in diesem stillen Raum, konnte er fast glauben, dass die Szene im Laboratorium Teil eines schlechten Traums gewesen war.
Dann erklang ein leises Summen, und Bilder erschienen im pseudorealen Schreibtischdisplay – Emmerson hatte das Datenmodul in ein Lesegerät geschoben.
Der Info-Streifen am unteren Bildrand gab Auskunft über die Zeit: 15. April 421 SN, 01:21 Uhr. Fünf in graue Laborkittel gekleidete Personen – zwei Männer und drei Frauen, niemand von ihnen unter fünfzig – gingen in dem großen Laboratorium umher, überprüften die Anzeigen von Instrumenten, bedienten hier und dort Kontrollen. Alles schien in bester Ordnung zu sein.
„Vor zwei Stunden“, sagte Emmerson. „Knapp anderthalb Stunden nach Mitternacht.“ Ein Tastendruck beschleunigte den Bildlauf der Aufzeichnung, und aus den ruhigen Schritten der Männer und Frauen wurde ein hektisches Gezappel. Als es in einer Ecke aufblitzte, schaltete der Sicherheitschef wieder auf normale Geschwindigkeit. „Vielleicht ein Kurzschluss“, murmelte er wie im Selbstgespräch, ohne die Bilder aus den Augen zu lassen. „Oder eine unvorhergesehene chemische Reaktion. So was passiert.“
Aus dem Blitzen wurde ein Feuer, das sich verblüffend schnell ausbreitete. Der Warnservo löste natürlich sofort einen Alarm aus, und die fünf Personen im Laboratorium holten Feuerlöschgeräte. Aber bevor sie davon Gebrauch machen konnten, erreichten die Flammen einen bestimmten Behälter, und es kam zu einer heftigen Explosion, die die beiden Männer und eine der drei Frauen auf der Stelle tötete. Die zwei anderen Labortechnikerinnen kamen nur deshalb mit dem Leben davon, weil sie sich zum Zeitpunkt dieser ersten Explosion hinter einem hohen Brutschrank befunden hatten. Kurze Zeit später folgten weitere Explosionen, nicht so stark wie die erste, aber sie erlaubten es dem Feuer, noch schneller auf andere Bereiche des Laboratoriums überzugreifen.
„Sehen Sie sich das hier an“, sagte Emmerson und deutete auf eine bestimmte Stelle der Darstellung. Lorgard beugte sich vor und sah einen Tank, verbunden mit dem Instrumentenkomplex eines Stimulators, der zur Beschleunigung der Zellteilung und des Wachstums diente. „Dort wächst der Prototyp.“
Das Feuer erreichte den Tank, in dem sich Risse bildeten, und aus einer dieser Öffnungen rann eine Flüssigkeit. Lorgard wagte kaum mehr zu atmen.
Die allgemeinen Sicherheitsservi reagierten, und Löschschnee rieselte aus Ventilen.
Wenige Sekunden später erfolgte der Kontaminationsalarm.
Edwald Emmerson nickte, und erneut blieb sein Blick auf den Schirm gerichtet, als er sagte: „Wir sollten unsere Sicherheitsprozeduren überprüfen. Meiner Ansicht nach haben die Kontrollservi zu spät reagiert.“
Die beiden überlebenden Frauen versuchten, eine der Türen zu öffnen, natürlich vergeblich – nach einem biologischen Kontaminationsalarm konnten die Verriegelungen nur von außen gelöst werden. Kurz darauf begannen sie zu husten und starrten entsetzt nach oben. Das Giftgas brachte sie innerhalb weniger Sekunden um, ebenso wie alle anderen lebenden Organismen im Laboratorium.
„Sie sind tot“, sagte Lorgard leise. „Sie sind alle tot.“ Damit meinte er nicht nur die fünf Labortechniker, sondern auch – und vor allem – die aus programmierter Basismasse heranwachsenden und herangewachsenen Geschöpfe. Wieder spürte er den Schmerz eines Vaters. Seine Kreationen und Pläne, seine Visionen … verbrannt, vergiftet und verstrahlt.
„Nein“, erwiderte Emmerson und zeigte keine emotionale Reaktion auf das, was er beobachtet hatte. „Bei der Tür dort …“ Er zeigte auf die andere Seite des Laboratoriums. „… registrierten die Sensoren einen Siegelbruch. Etwas ist aus dem Labor entkommen, trotz Giftgas und Strahlung, und es hat zwei weitere Türen passiert. Ich habe sie sofort untersuchen lassen, als ich vom Siegelbruch der Tür erfuhr. Ihre Sensoren reagierten nicht, weil die Löcher in den Siegeln zu klein sind – ihr Durchmesser beträgt nur wenige Molekülbreiten.“ Er zögerte kurz, bevor er hinzufügte: „Nach der dritten Tür ist der Weg frei – bis zum Fluss.“
Ruckartig streckte er die Hand nach den Kontrollen aus und hielt die Darstellung an. „Dort, im Löschschaum. Etwas hat sich bewegt.“
Lorgard sah genauer hin. Tatsächlich: Irgendetwas, das in der weißen Masse verborgen blieb, glitt langsam über den Boden und verharrte bei einem Programmierungsmodul – Indikatoren deuteten darauf hin, dass es noch aktiv war.
„Kann er in jenem Zustand Daten aufnehmen?“, fragte Emmerson. Als Sicherheitschef wusste er natürlich über die laufenden Projekte Bescheid, aber er war kein Wissenschaftler und verstand nicht alles bis ins letzte Detail.
„Da bin ich ziemlich sicher“, sagte Lorgard, und seine Gedanken glitten in eine Richtung, die ihm immer mehr Unbehagen bereitete. Bisher war er davon ausgegangen, dass sich die Katastrophe auf das Laboratorium beschränkte. Aber wenn sie darüber hinausging, wenn geschehen war, was sich jetzt anzudeuten begann … Er dachte an Folgen und Konsequenzen, an Möglichkeiten.
Emmerson richtete einen kurzen, ernsten Blick auf ihn. „Wir müssen herausfinden, welche Informationen er eventuell aufgenommen hat.“
Mit neuem Interesse beobachtete Lorgard, wie das Etwas unter dem Löschschnee weiterglitt und erneut verharrte, als es einen der kleinen Hügel erreichte, die von verendeten Testobjekten stammten. Er veränderte sich, wurde flacher und verschwand fast.
Der NHD-Direktor wusste genau, was er gerade gesehen hatte. „Er hat organische Materie als Nahrung aufgenommen.“
„Das Giftgas und die Strahlung scheinen ihn nicht weiter zu stören.“
„Er passt sich an alles an“, sagte Lorgard, und es klang fast stolz. Sorge und Freude schufen in ihm ein Wechselbad der Gefühle. Einige Sekunden lang musterte Emmerson ihn aufmerksam, und vielleicht ahnte er, was in ihm vorging. „Er ist entkommen, nicht wahr?“
Der Sicherheitschef deutete auf den Bildschirm: Die Bewegung unter dem Löschschnee setzte sich fort und erreichte die Tür. Der Info-Streifen zeigte neue Daten, die auf einen Siegelbruch hinwiesen. „Ich schätze, davon müssen wir ausgehen.“ Er zog das Datenmodul aus dem Lesegerät und stand auf. „Vielleicht ergeben sich bei den weiteren Untersuchungen neue Hinweise. Ich halte Sie auf dem Laufenden.“ Emmerson ging zur Tür des Büros, und dort zögerte er noch einmal. „Alles deutet darauf hin, dass der Prototyp des Metamorphs lebt und sich irgendwo dort draußen befindet, Direktor. Ich halte höchsten Kontaminationsalarm für angemessen.“
Rubens Lorgard nickte und starrte auf den leeren Bildschirm. „Ja, ja“, sagte er leise. „Einverstanden. Kümmern Sie sich darum.“
„Und noch etwas, Direktor …“
Lorgard drehte den Kopf und sah den Sicherheitschef an.
„Wenn Sie gestatten: Sie sollten in Erwägung ziehen, den NHD-Globaldirektor zu informieren. Wenn das Projekt Doppel-M außer Kontrolle geraten ist – und darauf deutet alles hin –, möchte er bestimmt darüber Bescheid wissen.“
Lorgard nickte erneut, noch nachdenklicher als vorher.
Ohne ein weiteres Wort öffnete Emmerson die Tür, schloss sie hinter sich und ließ Lorgard allein im Aufsichtsbüro zurück.

Der Direktor nahm am Schreibtisch Platz. Seit mehr als dreißig Jahren arbeitete er für die Niederlassungen von New Human Design auf Kerberos, zuerst als einfacher Kreator, voller Enthusiasmus, dann als Entwickler und Designer, wobei er imstande gewesen war, seine ganze Kreativität zu entfalten. Schon seit einer ganzen Weile bedauerte er, sich auf die Beförderung zum planetaren Direktor eingelassen zu haben. Er hatte sich geschmeichelt gefühlt, erinnerte er sich, belohnt nach langen Jahrzehnten der Mühen und des Engagements. Aber als Leiter der NHD-Niederlassungen auf Kerberos musste er zu viel Zeit in administrative Angelegenheiten investieren und fand immer weniger Gelegenheit, neue biologische Strukturen zu entwerfen, neues Leben zu kreieren, das vorher in dieser Form und in dieser Gestalt nicht existiert hatte. Lorgard war nicht so vermessen, sich für eine Art Gott zu halten. Er sah sich als Künstler, als jemand, der lebendige Ästhetik schuf, dem es gelang, organisches Potenzial zu entfalten und die ganze biologische Kapazität zu nutzen, die in einzelnen Zellen steckte. Jede Kreatur, die sich entsprechend seinen Plänen entwickelte, machte ihn zu einem stolzen Vater, und jeder Erfolg forderte den Künstler in ihm dazu auf, noch mehr zu leisten, Besseres zu schaffen, sich selbst zu übertreffen.
Der Metamorph war nicht zu übertreffen. Zumindest dann nicht, wenn er den Planungen entsprach. Aber, so flüsterte die – leise – Stimme des Skeptikers in ihm, er barg in sich auch den Keim einer Katastrophe.
Lorgard schaltete das große dreidimensionale Display auf dem Schreibtisch des Aufsichtsleiters ein. Bilder wanderten durchs Darstellungsfeld, und Lorgard betrachtete sie geistesabwesend, während er versuchte, seine wirren Gedanken zu ordnen. Nach einigen Sekunden stellte er fest, dass ihm das Display die Aufnahmen von visuellen Überwachungssensoren zeigte. Er sah die dunkle Masse des Kontinentalwaldes, eines Dschungels, der sich über mehr als zehntausend Kilometer erstreckte, bis hin zu den Küsten der Smaragdsee. Jener tropische und subtropische Urwald enthielt Myriaden von noch nicht katalogisierten und untersuchten Lebensformen – eine Fundgrube nicht nur für Biologen und Evolutionsforscher, sondern auch für Kreatoren. Wie faszinierend es doch war, die unterschiedlichen Baupläne der Natur zu untersuchen, miteinander zu vergleichen und zu verbessern. Als junger Mann hatte Lorgard große Freude daran gefunden, doch später, nach Entdeckung der Basismasse, war er dazu übergegangen, sich immer mehr von den Vorgaben der Natur zu lösen und Neues zu schaffen.
Ein im Licht der Sterne und der beiden Monde glitzerndes Band durchschnitt die dunkle Mauer des Kontinentalwaldes: der Acheron, ein breiter Strom, der direkt am Laboratorium vorbeiführte und in einem ausgedehnten Delta ins nahe Riffmeer mündete. Auf den zahllosen Inseln und Landzungen dieses Deltas erstreckte sich die wie ein Tumor wuchernde Millionenstadt Chiron, deren Lichter kurz darauf in der dreidimensionalen Darstellung erschienen. Wie sauber sie aussahen, bunte Edelsteine, im weiten Delta verstreut. Aber von Sauberkeit, so wusste Lorgard, konnte dort gewiss nicht die Rede sein. Die Dunkelheit der Nacht war wie ein gnädiger Vorhang, hinter dem sich jede Menge Schmutz, enttäuschte Hoffnung und Elend verbarg. Natürlich gab es auch Sauberkeit und Eleganz, in den zentralen Geschäftsvierteln und geschützten Wohnbereichen der Magnaten, Souveränen und Autarken – diese Schönheit blieb ebenfalls vom Schleier der Nacht verhüllt. Lorgard wusste aus unmittelbarer Erfahrung, wie nahe sich Schönes und Hässliches sein konnten; manchmal hatte er sogar den Eindruck gewonnen, dass das eine nicht ohne das andere existierte. Der Autokrat, nominelles Oberhaupt von Kerberos, bot ein gutes Beispiel dafür.
Der narzisstische Narr war dumm genug, sich für ein künstlerisches Genie zu halten, und er liebte es, sich mit schönen Dingen zu umgeben, ohne zu ahnen, dass er sie schon beschmutzte, wenn er nur den Blick auf sie richtete.
Wieder wechselte das Bild und zeigte die aktuellen Aufnahmen eines anderen Überwachungssensors. Hell leuchtende Lampen drängten die Nacht auf der künstlichen Insel des Raumhafens am westlichen Rand des Deltas zurück. Hinter den Gebäuden des Terminals sah Lorgard nicht nur mehrere interplanetare Raumschiffe, unter ihnen einige NHD-Shuttles, sondern auch zwei Kantaki-Schiffe – schwarze, asymmetrische Kolosse, die den Eindruck erweckten, aus hunderten von kaum zueinander passenden Einzelteilen zusammengesetzt zu sein – und einen zwiebelförmigen Springer der Horgh.
Ein neuerlicher Bildwechsel. Die Berge des Pelion-Massivs im Osten und Süden der Stadt erschienen, fast ebenso dunkel wie der Kontinentalwald oder die riesigen Raumschiffe der Kantaki. Bis auf eine Stelle. In halber Höhe glühte es hier und dort, und Lorgard wusste, dass jene Lichter von chemischen Lampen stammten, die an den Zugängen der so genannten Zitadelle glühten. Dort lebten die Angehörigen der Aufgeklärten Gemeinschaft: Menschen aller Glaubensrichtungen, die auf eine besondere Kraft zugreifen konnten, die offenbar nur auf Kerberos existierte, eine Kraft, die sie befähigte, andere Personen zu heilen. Lorgard fragte sich kurz, wie es sein mochte, ein solches Leben zu führen, kein neues Leben zu entwerfen wie er, sondern das Leid bestehenden Lebens zu lindern.
Er streckte die Hand aus, und ein Tastendruck beendete die Bildfolge auf dem Display. Doch er deaktivierte die Darstellung nicht, blickte ins wartende Grau und versuchte, sich einen inneren Ruck zu geben, Kraft für all die Maßnahmen zu finden, die jetzt nötig waren. Lorgard ahnte, dass sich eine neuerliche Veränderung in seinem Leben anbahnte, vielleicht mit ähnlich weit reichenden Folgen wie seine Beförderung zum planetaren NHD-Direktor. Der Metamorph war sein bestes Werk, ein in jeder Hinsicht perfektes Geschöpf, perfekt geplant, perfekt konstruiert, das Meisterwerk des Künstlers in ihm. Und gerade seine Perfektion machte ihn jetzt zu einer Gefahr.
Rubens Lorgard stand auf und begann mit einer unruhigen Wanderung durch das Büro. Dem Fenster, das direkten Ausblick in die Nacht gewährte, schenkte er keine Beachtung. Nachdenklich ging er immer wieder um den Schreibtisch herum, sah dabei ins Leere. In dieser Nacht hatte er viele seiner „Kinder“ verloren, und ihr Verlust schmerzte. Der Prototyp des Metamorphs war nicht zugrunde gegangen, und diese Erkenntnis brachte dem paternal empfindenden Teil seines Selbst Erleichterung. Aber er war auch eine Waffe, erinnerte sich Lorgard – das durfte er nicht vergessen, nicht für eine einzige Sekunde. Ein strategisches Konzept lag seinem Design zugrunde, auch wenn Lorgard immer nur den anderen Nutzen in ihm gesehen hatte: die Entwicklung von organischen Servi, die sich jederzeit neuen Aufgaben und Einsatzgebieten anpassen konnten, noch dazu mit einer ausgesprochen hohen autoregenerativen Kapazität. Man musste nur eine Möglichkeit finden, die verwendete Basismasse durch stabile Zellen zu ersetzen – darin lag das einzige Problem. Und zweifellos würde sich früher oder später eine Lösung dafür finden lassen; davon war Lorgard überzeugt.
Eine Waffe, erinnerte sich Lorgard erneut. Und diese lebende Waffe war in den Fluss geraten – davon mussten sie nach dem Stand der Dinge ausgehen. Im Acheron wimmelte es von einheimischem Leben, und damit standen dem Metamorph genug Nährstoffe zur Verfügung.
„Er wird wachsen“, sagte Lorgard leise. „Und er wird sich so entwickeln, wie es die Programmierung der Formationsmatrix vorsieht.“ Er dachte an die Einzelheiten des strategischen Konzepts, die zum Grundprogramm gehörten. Ein Geschöpf wie der Metamorph war nicht wie ein Datenservo, in dem man ganz nach Belieben neue Programme installieren und starten konnte. Das ließ sich zwar bewerkstelligen, in einem gewissen Rahmen. Aber das Grundprogramm musste bereits in der ersten Zelle enthalten sein, als ein integraler Bestandteil der Formationsmatrix und somit der Struktur des Wesens.
Rubens Lorgard seufzte, atmete tief durch, trat zum Display und setzte sich mit dem Raumhafen in Verbindung. Das Bild einer jungen Frau erschien vor ihm. Sie erkannte ihn sofort. „Sie wünschen, Direktor?“
„Eine Transverbindung mit Lukert Turannen, Globaldirektor von New Human Design und Koordinator des Konsortiums. Er müsste sich auf Rodriguez im Panthon-System befinden. Wenn Sie ihn dort nicht erreichen, versuchen Sie es auf Tintiran im Mirlur-System.“ Vielleicht hat er sich schon in Valdorians Villa einquartiert, dachte er. „Es könnte ein wenig dauern, Direktor.“
Lorgard nickte. „Oberste Priorität. Ich warte.“

Andreas Brandhorst

Über Andreas Brandhorst

Biografie

Andreas Brandhorst, geboren 1956 im norddeutschen Sielhorst, schrieb mit seinen futuristischen Thrillern und Science-Fiction-Romanen wie „Das Schiff“ und „Omni“ zahlreiche Bestseller. Spektakuläre Zukunftsvisionen sind sein Markenzeichen. Zuletzt erschien im Piper Verlag der Roman „Infinitia“.

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