Der Milchhof – Das Rauschen der Brandung (Milchhof-Saga 1) Der Milchhof – Das Rauschen der Brandung (Milchhof-Saga 1) - eBook-Ausgabe
Roman
— Gefühlvolle Nordsee-Familiensaga„Linas Schicksal und das Leben auf dem Milchhof fesseln den Leser schnell, man fiebert mit.“ - Nordwest-Zeitung online
Der Milchhof – Das Rauschen der Brandung (Milchhof-Saga 1) — Inhalt
„Unsere Milch ist weißes Gold – machen wir das Beste daraus!“
Salzige Luft, Meeresrauschen und die Stürme des Lebens ... Der große Auftakt der neuen gefühlvollen Nordsee-Familiensaga der SPIEGEL-Bestsellerautorin Regine Kölpin.
Friesische Wehde 1890: Die Bauerntochter Lina hat ihren Mann Thees nicht aus Liebe geheiratet, aber er ist der Richtige, um den Milchhof der Familie zu übernehmen und zusammen mit Linas Vater eine Privatmolkerei zu gründen. Als Obermeier stellen sie Derk Voigt ein, der zuvor in Dresden in der berühmten Pfunds-Molkerei tätig war. Er verliebt sich auf Anhieb in Lina – und sie sich in ihn. Als verheiratete Frau ist Lina für ihn jedoch unerreichbar, und Lina würde es nie wagen, die Ehe zu brechen. Dafür kommen sich die beiden auf andere Weise näher, denn Lina entwickelt ein großes Interesse an der Molkerei und am technischen Fortschritt, worüber sie sich oft mit Derk austauscht. Sie arbeiten hart, und die Molkerei floriert. Doch dann erkrankt Thees schwer, und Lina steht als Frau allein vor der Aufgabe, den Betrieb zu führen. Mit Derk an ihrer Seite schafft sie es dennoch, sich gegen alle Widerstände durchzusetzen. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, müssen die Männer an die Front. Lina und ihre Tochter Alea bleiben allein zurück. Beide wissen, dass ihnen schwere Zeiten bevorstehen. Doch ob sie es gemeinsam schaffen können, die Molkerei zu erhalten, ist ungewiss.
Vor der atmosphärischen Kulisse einer privaten Molkerei an der Nordseeküste entfalten sich in der „Milchhof“-Saga die Schicksale von drei starken Frauen aus drei Generationen im Wandel der Zeit.
Leseprobe zu „Der Milchhof – Das Rauschen der Brandung (Milchhof-Saga 1)“
Teil 1
1890 – 1897
Kapitel 1
Oktober 1890
Lina mochte es, die erhitzte Milch im Bottich zu rühren. Die Dickette hatte sich nach der Zugabe von Lab und Milchsäurebakterien wunderbar ausgebildet und nun galt es, die Masse in Bewegung zu halten und dabei mit der Käseharfe zu schneiden, bis genug Bruch vorhanden war und sie einen Teil der Molke ablassen konnte.
Sie fuhr zusammen, als sie Türenschlagen hörte. Kurz darauf ertönte ein verhaltenes Wimmern, das schwacher wurde, während sich Schritte auf dem Hof entfernten.
Das war Suntje, schoss es Lina durch den [...]
Teil 1
1890 – 1897
Kapitel 1
Oktober 1890
Lina mochte es, die erhitzte Milch im Bottich zu rühren. Die Dickette hatte sich nach der Zugabe von Lab und Milchsäurebakterien wunderbar ausgebildet und nun galt es, die Masse in Bewegung zu halten und dabei mit der Käseharfe zu schneiden, bis genug Bruch vorhanden war und sie einen Teil der Molke ablassen konnte.
Sie fuhr zusammen, als sie Türenschlagen hörte. Kurz darauf ertönte ein verhaltenes Wimmern, das schwacher wurde, während sich Schritte auf dem Hof entfernten.
Das war Suntje, schoss es Lina durch den Kopf. Das junge Ding zählte erst sechzehn Lenze und war als Kleine Magd noch neu auf dem Gehöft. Suntje Doden plagte das Heimweh. Sie war oft weinerlich und wurde von den Arbeiterinnen, die aus Ellenserdammersiel, Bockhorn oder Steinhausen als Aushilfe auf den Hof kamen, gehänselt. Aber darum konnte Lina sich nicht auch noch kümmern, sie hatte wahrlich genug mit der Käserei zu tun. Da sie für ihren wunderbaren Käse und die gute Butter bekannt waren, wurde ihre Landwirtschaft häufig auch als Milchhof tituliert.
Lina liebte die Arbeit in der Käserei. Weil sie nichts mehr hörte, nahm sie ihre Arbeit wieder auf und rührte weiter. Sie prüfte die Konsistenz. Es wurde Zeit, die Molke abzulassen, die dann als Futter für die Schweine und Kälber diente. Auf dem Hof wurde nichts weggeschmissen, Lebensmittel waren ein kostbares Gut.
Nachdem Lina die Flüssigkeit reduziert hatte, kontrollierte sie den Bruch. Er war schon sehr gut. Nun kam noch einmal sechzig Grad warmes Wasser dazu, und sie betätigte die Käseharfe weiter. Bis der Bruch zur weiteren Verarbeitung fertig war, dauerte es. Später würde Mathilde, ihre Große Magd, wunderbare Laibe daraus formen und sie in die Formen legen, bevor sie in einer Salzlake ruhen durften, um danach bei kühlen Temperaturen im Keller zu reifen.
Die Käsesorten vom Milchhof waren inzwischen in der ganzen Friesischen Wehde beliebt, denn jede Sorte hatte ihren eigenen und unverwechselbaren Geschmack. Je nach Reifegrad oder der Zugabe von unterschiedlichen Beigaben wie Kräutern oder Bockshornklee schmeckten sie speziell. Die Butter galt als besonders sämig, weil sie nur erstklassige Milch verwendeten.
Die Tür klackte, und Mathilde trat ein. „Der gnädige Herr ist noch nicht aus Oldenburg zurück“, sagte sie. „Ich frage mich, warum er nicht die Eisenbahn nimmt, sondern stets mit der Kutsche fährt. Er wäre doch viel schneller zurück.“
Lina zuckte mit den Schultern, so gut sie es mit der Käseharfe in der Hand vermochte. „Er ist eben stur, das weißt du. Wenn er jetzt noch nicht wieder da ist, wird es in Oldenburg wohl hoch hergehen. Vader sollte wirklich darüber nachdenken, ob eine Molkereigenossenschaft auch etwas für uns hier wäre. Man sieht ja, dass es anderswo funktioniert.“
Lina ignorierte Mathildes skeptischen Blick. Den Vater durfte kein Mädchen auf diese Weise kritisieren.
„Es wird eine Lösung geben, da bin ich sicher“, erwiderte Mathilde diplomatisch und betrachtete die Dickette mit fachmännischem Blick. „Ich kann das jetzt übernehmen und forme dann später auch die Laibe.“ Sie musterte Lina. „Ziehst du dich schon mal um? Du weißt, dass dein Vater es nicht schätzt, wenn du in der Käserei mitmischst.“
„Das ist mir egal, wie du weißt. Die Milch und der Käse sind mein Leben! Wenn Vader zur Milchweiterverarbeitung einen Zusammenschluss mit den anderen Bauern ablehnt, sollte er den Fortschritt nutzen und eine eigene Molkerei gründen. Wir haben das Wissen und die Fähigkeiten, ganz vorn zu sein!“, entfuhr es Lina. „Ich habe in der Zeitung für Milchwirtschaft gelesen, dass es neben den Genossenschaftsmolkereien auch viele private gibt. Wie die Pfunds Molkerei in Dresden. Die arbeiten sogar sehr zukunftsorientiert, stand in dem Bericht. Unser Milchhof könnte bis nach Wilhelmshaven und Mitteldeutschland liefern, und es wäre möglich, das auch über das Schienennetz noch auszuweiten.“
„Mädchen sollten nicht lesen“, tadelte Mathilde. „Das setzt dir nur Flausen in den Kopf, min Deern. Du solltest dich besser mit ein paar Stickarbeiten auf deine anstehende Hochzeit vorbereiten.“
Lina lachte auf und rührte die Käseharfe etwas schneller. „Ich stelle lieber Butter und Käse her. Das kann ich richtig gut. Ich bin Bäuerin. Sticken ist nichts für meine groben Finger. Womöglich möchtest du mich auch noch in ein Korsett stecken. Diese schrecklichen Kleider, die die Reichen und Städterinnen tragen, sind mir ein Graus. Wie sehen die Frauen darin überhaupt aus? Wie Bohnenstangen – und unnatürlich!“
Mathilde musste sich ein Schmunzeln sichtlich verkneifen. „Du hast auch ohne diese Quetscher eine wunderbare Wespentaille, andere müssen sie mühsam zaubern.“
„Das sagt Thees auch immer“, antwortete Lina mit einem Seufzen. Ihr Verlobter betonte stets sehr, dass er stolz auf seine hübsche Verlobte wäre und dass er sich freute, sie bald in feinen Kleidern anzuschauen. Er hatte eben Sinn für das Schöne. Und – er konnte unglaublich gut küssen. Auch wenn Lina keine Vergleiche ziehen konnte, wusste sie, dass es so war, denn wenn sich ihre Lippen berührten, wurden ihre Knie weicher als Pudding, und sie war stets einen Moment lang versucht, ihm mehr zu geben, als sich schickte. Sonst aber war es schwierig mit ihnen, denn sie waren eigentlich nie einer Meinung.
„Du solltest nach unserer Eheschließung nicht mehr im Stall oder in der Käserei schuften“, sagte Thees, genau wie Linas Vater, ein ums andere Mal. „Ich werde dafür sorgen, dass du mehr Müßiggang hast und dich für mich schön machst.“
Lina hatte bislang dazu geschwiegen, weil sie keinen Ärger wollte, überlegte aber, wie sie ihrem Verlobten deutlich machen konnte, dass sie keineswegs vorhatte, die Hände in den Schoß zu legen, weil es sie abstieß, den ganzen Tag nur herumzusitzen. Sie wollte etwas Sinnvolles tun, ihre Fähigkeiten nutzen und Käse herstellen. Neue und schmackhafte Sorten austüfteln und sie nicht nur in der Friesischen Wehde verkaufen. Oder die Butter verfeinern. Es gab so viele Möglichkeiten.
Lina war davon überzeugt, dass eine Molkerei in dieser Region eine große Zukunft hatte. Wenn sie doch nur ihren Vater von dieser Idee überzeugen könnte! Sie hoffte, dass die Landwirte bei der Besprechung in Oldenburg einen guten Einfluss auf ihren Vater ausüben würden.
Sie seufzte, denn ihr stand an Thees’ Seite mit seinem gesellschaftlich gehobenen Stand vermutlich keine Zukunft als Geschäftsfrau bevor. Sie würde ihm viele Kinder gebären und sich um andere Dinge als die Käseherstellung oder das Buttern kümmern müssen.
Aber Lina ehrte es, dass ausgerechnet Thees, einer der Söhne der renommierten Klinkerei Bleeker in Bockhorn, sie ausgewählt und umworben hatte, denn es gab nicht wenige Frauen, die sich ein Leben an seiner Seite ausmalten. Lina machte sich allerdings nichts vor: Sein Werben hatte auch mit der Aussicht zu tun, dass er später den Milchhof, oder wie er beharrte, den Harms-Hof, übernehmen konnte. Denn wegen der beiden älteren Brüder gab es im elterlichen Betrieb keine Zukunft für ihn, und sie war als einzige Tochter des größten Gehöfts in der Umgebung, das sie als Frau unmöglich allein leiten konnte, durchaus eine gute Partie.
Eine Alternative zu Thees Bleeker gab es für Lina nicht. Ihr Vater hatte ihn für sie gewählt; sie hätte es schlechter treffen können. Thees sah gut aus und war überaus charmant, warum hätte sie seinen Antrag also ablehnen sollen, auch wenn keine Liebe im Spiel war? Wo gab es das schon? Ehen wurden ringsum von den Eltern arrangiert, und sie hatte gelernt, dass es oft besser war, dem kleineren Übel zuzustimmen, als sich dem Vater zu widersetzen. Nachher hätte er noch einen alten Widerling angeschleppt, um sie unter die Haube zu bringen. Da war es so besser. Also wurde sie nun Thees Bleekers Ehefrau. Im März war die Hochzeit, halb Bockhorn und halb Ellenserdammersiel würden kommen. Auf dieses große Fest freuten sich alle.
„Nun sieh zu, dass du ins Haus kommst, damit du dich bis zum Abendessen frisch machen kannst!“, riss Mathilde Lina aus ihren Gedanken. „Und vergiss diese Molkerei. Da müsste man doch erst Fertigungshallen bauen und Leute einstellen … Es ist absurd, das auch nur in Erwägung zu ziehen.“
Lina lächelte verzückt und ignorierte die letzte Bemerkung, denn sie fand es nicht absurd, sondern fesselnd. „Ja, wir würden Arbeitsplätze schaffen“, ereiferte sie sich. „Zu anständigen Bedingungen. Vernünftige Arbeitszeiten, Krankheitsschutz. All so was.“
Mathilde schüttelte schon wieder den Kopf. „Das funktioniert doch nicht, wenn viele Arbeiter für den Gewinn schuften müssen. Dann zählt nur der Ertrag, das glaub mir! Schau, selbst bei uns auf dem Hof arbeiten wir bis zu vierzehn Stunden am Tag. Sonst wäre das gar nicht zu schaffen.“ Sie machte eine kurze Pause. „Am 1. Mai sind 100 000 Menschen in ganz Deutschland wegen besserer Arbeitsbedingungen auf der Straße gewesen. Geholfen hat es nichts. Es gab Entlassungen und Aussperrungen. Ausgerechnet in unserem kleinen Ellenserdammersiel möchtest du also die Welt verändern?“
Lina legte den Kopf schief. „Oh, du scheinst ja auch zu lesen, Mathilde.“
Die Magd räusperte sich. „Na ja … Und wie kommst du an die Zeitschrift, aus der du dein Wissen nimmst?“
Lina spürte, wie sie rot anlief. „Ich leihe mir die Molkerei-Zeitung ab und zu aus dem Kontor, schau sie am Abend heimlich durch und lege sie dann zurück.“
Mathilde rollte mit den Augen, aber ihre Mundwinkel zuckten amüsiert. „So, und nun gib mir die Käseharfe, und endgültig ab ins Haus. Wenn dein Vater gestern wie geplant losgefahren ist und auf halber Strecke übernachtet hat, dürfte er bald zurück sein.“
Mathilde nahm Lina die Harfe aus der Hand und begann mit dem Rühren. „Das Essen ist schon fertig, es steht auf dem Herd. Suntje kann alles erwärmen und auftun, wenn der Herr da ist.“
Lina blieb in der Tür stehen und zögerte. Sie überlegte, ob sie erzählen sollte, dass sie die Kleine Magd hatte weinen hören. Zu gern hätte sie den Grund dafür gewusst.
„Ist was?“ Mathilde spürte immer, wenn Lina etwas bedrückte. Auch wenn sie noch recht jung war, hatte sie sich doch um sie gekümmert, nachdem Berta Harms schon früh verstorben war. Lina konnte Mathilde nichts vormachen.
„Ja, ich bin etwas in Sorge“, begann die junge Frau. „Da hat eben jemand geweint und ist fortgerannt. Ich bin sicher, es war Suntje. Haben die anderen sie wieder geärgert?“
Mathilde biss sich so fest auf die Lippen, dass ein Abdruck zu sehen war, als sie lockerließ. „Ich weiß es nicht“, antwortete sie dann schnell.
Lina glaubte der Magd kein Wort. Sie sagte nicht die Wahrheit. Natürlich hatte sie eine Ahnung.
„Sag doch, wenn du was weißt!“, forderte sie die Magd deshalb auf, aber Mathilde ging auf die Frage nicht ein. „Nix weiß ich. Ziehe dich jetzt bitte um!“
Lina verließ nachdenklich die Käserei.
Warum nur wollte Mathilde ihr denn nicht sagen, was Suntje bedrückte?
Ich geh noch nicht rein, dachte Lina. Ich gucke, ob ich sie finde, und bestimmt kommt mir auch Vader bald entgegen. Dann kann er mir gleich erzählen, was er in Oldenburg erfahren hat. Sie wusste selbst, dass sie mit dem Wunsch einer frommen Hoffnung nachhing, denn ihr Vater würde seiner Tochter ganz sicher keine geschäftlichen Details verraten.
*
Lina huschte kurz ins Haus, schnappte sich von der Garderobe ihr dick gestricktes Schultertuch und trat auf den Hof. Die Sonne stand schon tief, und der Mond thronte bereits am Firmament, als wartete er nur darauf, den Tag endlich ablösen zu können.
Lina verspürte den Drang, Suntje zu suchen, um zu schauen, ob sie ihr helfen konnte. Sie mochte die junge Magd, aber die ging ihr regelrecht aus dem Weg und mied jeden Kontakt zu ihr. Warum nur?, fragte sie sich, denn sie hatte Suntje nie etwas getan.
Lina verließ den Hof und stand auf dem Weg, der durch die Marsch zum Jadebusen am Siel entlangführte. Ihr war plötzlich kühl, sie hatte die Temperatur unterschätzt, da es gestern noch recht warm gewesen war. Der Wind wehte an diesem Oktobertag besonders scharf.
Sie legte sich die Stola auch um den Kopf, doch das nützte nichts, nun war der Rücken kalt. Ich sollte umkehren, dachte sie, wenn Suntje sich versteckte, würde sie sich ohnehin nicht ausgerechnet von mir helfen lassen.
Ein kurzes Stück gehe ich aber noch, beschloss sie. Denn sie wollte nicht ins stickige Haus, dort Tee trinken und auf diese dumme Tischdecke Blümchen sticken, so wie Mathilde es vorgeschlagen hatte. Lina brauchte dringend frische Luft, draußen konnte sie ihren Gedanken und Plänen besser nachhängen.
Die Idee mit der eigenen Molkerei fand sie nämlich nach wie vor großartig. Nur hatte Mathilde recht. Ihren Vater von einem solchen Vorhaben zu überzeugen, war wohl unmöglich. Wahrscheinlich würde er ihr nicht einmal zuhören. Aber es war eine Chance auf eine gute Zukunft, denn in der Milchwirtschaft lag Potenzial. Lina las sämtliche Artikel, die damit zu tun hatten. Weil sie alles interessierte, was auch nur annähernd mit Milch in Verbindung gebracht werden konnte. Der Duft dieses weißen Goldes, wie sie es heimlich nannte, hatte sie ihr ganzes Leben lang geprägt, und es gab für sie nichts Schöneres, als daraus Käse oder Butter herzustellen.
In einigen Städten existierten sogar Milchkuranstalten, weil Molkenkuren als probates Mittel gegen die Tuberkulose galten. Wie faszinierend!
Mal sehen, was ihr Vater nach der Rückkehr berichtete.
Eibo Harms war nach Oldenburg gefahren, wo er mit anderen Landwirten darüber diskutierte, wie sie mit den auch im Norden neu gegründeten Molkereigenossenschaften umgehen wollten. Und sicher würden sie auch über eigene Molkereien oder Kooperationen sprechen. Immerhin waren diese Betriebe auf die Landwirte angewiesen, denn sie brauchten deren Milch und die Zusammenarbeit. Außerdem musste die Ware irgendwie zu den Molkereien gelangen.
Lina wusste, dass ihr Vater die zunehmende Industrialisierung zum Teil mit Argwohn betrachtete. Was ihm besonders zusetzte, waren die Forderungen der Arbeiterschaften nach mehr Rechten. Wenn das auf die Landwirtschaft übergriff, war er der Ansicht, einpacken zu müssen. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, nur die paar Stunden am Tag arbeiten, das passte ihm nicht in den Kram.
„Auf dem Land richtet man sich nach Arbeitsanfall und nicht nach Stunden. Im Einklang mit Ernte, Vieh und Wetter!“, wiederholte er in einem stetigen Mantra.
Genossenschaftsmolkereien aber würden Arbeiter einstellen müssen – was dann kam, dazu brauchte es keine Glaskugel. Sie würden sich vermutlich an den Gewerkschaften orientieren und für genau diese Forderungen kämpfen. Darunter würde der Betrieb hier leiden, denn sie selbst hätten womöglich Probleme, an Arbeitskräfte zu kommen, wenn sie woanders bessere Bedingungen hätten.
Lina war das Gerede ihres Vaters allerdings ziemlich leid. Er könnte sich ihrer Meinung nach anpassen und mit der Zeit gehen. Nur war sie eine Frau und hatte bei all diesen Themen ihren Mund zu halten.
Das Leben war für Frauen vorgezeichnet. Sie konnte nichts weiter tun, als es zu akzeptieren. Aber es machte sie unzufrieden. Allein, dass sie die Molkerei-Zeitung heimlich lesen musste!
Lina bohrte ihren Blick in die Weite der Marsch, die sich jetzt in prächtigem Rot zeigte, weil die Sonne gerade den Horizont küsste und sich gleich dort schlafen legte, wo sie niemand sah. Es war schön hier in Ellenserdammersiel. Sie hatte ausreichend zu essen, frieren musste sie auch nicht. Und doch war da diese Leere, die Lina von Tag zu Tag mehr aushöhlte. Ihre Ehe mit Thees würde daran nichts ändern. Ihr fehlte der Sinn im Leben, das Gefühl, selbst etwas entscheiden zu können. Ideen umzusetzen. Den Fortschritt zu leben.
Ich hätte dieser Ehe nicht zustimmen sollen, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. Gleichgültig, wie gut Thees aussieht. Gleichgültig, wie wunderbar er küssen kann und wie sehr ich ihn in diesem Augenblick begehre. Ich liebe ihn nicht, weil auch er nicht die wahre Lina liebt, sondern die hübsche Tochter des reichen Bauern Harms, auf dessen Besitz er zählt.
Sie erschrak bei diesem Gedanken und wollte ihn fortjagen, doch einmal gedacht, setzte er sich in ihrem Kopf fest. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass ihre ausgemalte Zukunft als Frau Bleeker ein Fehler war, denn sie würde sich selbst verlieren. War sie erst Thees’ Gemahlin, würde er ihr sämtliche Entscheidungen abnehmen. Sie fragte sich, ob es besser wäre, ledig zu bleiben. Aber das war ausgeschlossen.
„Ich müsste doch ohnehin heiraten“, verteidigte Lina sich selbst. „Eine Frau darf nicht ohne Mann sein.“
„Nichts müsstest du. Nichts!“, widersprach ihre innere Stimme. Und die war verdammt laut. Noch konnte sie zurückrudern, noch war es möglich, die Verlobung zu lösen. Es würde einen Skandal geben, die Ellenserdammersieler und Bockhorner hätten ein paar Wochen ausreichend Gesprächsstoff, bis etwas anderes interessanter werden würde. Das könnte sie aushalten. Aber was war mit ihrem Vater? Er wäre wahrscheinlich am Boden zerstört. Das konnte sie ihm unmöglich antun.
Lina blieb stehen und presste die Hände auf beide Ohren. Sie fühlte sich dem Leben so ausgeliefert.
Dieses Gefühl kannte sie schon von Kindesbeinen an. Eigentlich seit dem Augenblick, als ihr deutlich geworden war, dass ihre Mutter nicht wiederkommen würde. Weil diese schreckliche Krankheit sie regelrecht aufgefressen hatte. Doch in der letzten Zeit gesellte sich zu dieser Ohnmacht eine weitere Empfindung, und die ging mit einer unglaublichen Wut einher. Denn sie wollte kein Schaf sein, das von anderen gelenkt und getrieben wurde. Sie wollte eigene Entscheidungen treffen, sich einbringen und nicht mehr unterkriegen lassen. Weder von Krankheiten noch von Grundsätzen oder ihrem zukünftigen Gemahl.
Lina beschleunigte ihren Schritt. Das Einzige, was nun half, war, ihrer Wut förmlich davonzurennen. Dabei konnte sie Suntje immer noch suchen. Lina sog die Luft tief ein und atmete die Weite der Marsch. Das half immer. Sie rannte am Ende nahezu, und es gelang ihr, etwas gelassener zu werden.
Schließlich erreichte sie den Jadebusen und schaute über die große Bucht. Hier kam sie zur Ruhe, hier war sie frei. Die klare Luft sog sich in ihre Lungen. Es dämmerte bereits und der Himmel färbte sich immer mehr zu einem düsteren Grau. Ein paar Silbermöwen dümpelten auf den kleinen Wellen. Wie Lina diese Vögel um ihre Freiheit beneidete. Es musste doch auch für Frauen wie sie einen anderen Weg geben. Einen Kompromiss, mit dem alle leben konnten. Lina reckte das Kinn.
„Ich schaff das! Auch mit Thees an meiner Seite werde ich weiterhin eine selbstständige Frau sein!“
So stand sie eine Weile, lauschte dem leisen Klatschen der Wellen ans Ufer. Dann wurde es Zeit, wieder zum Milchhof zu gehen.
Lina eilte zurück und war schon bald auf dem Weg zum Gehöft. Sie schrak zusammen, weil Hufgetrappel zu hören war. Doch es war nicht ihr Vater, sondern ihr Verlobter Thees. Er kam ihr mit seinem Rappen vom Hof her entgegen, und seine finstere Miene sprach für sich. Er hielt neben Lina an und schaute auf sie herunter.
„Wohin möchtest du?“, fragte sie schnell, um ihm zuvorzukommen. „Bleibst du nicht zum Essen?“
„Ich muss noch zum Hafen und für meinen Bruder etwas kontrollieren. Ob ich es schaffe, mit dir zu speisen, kann ich noch nicht sagen. Wahrscheinlich reite ich anschließend sofort in die Klinkerei und erstatte Oliver Bericht.“ Er musterte Lina. „Aber was machst du hier draußen?“
„Ich warte auf Vater“, gab Lina zurück. „Er müsste bald wieder da sein, denke ich. Und außerdem wollte ich nach …“
„Er wird schon kommen“, unterbrach Thees sie. „Wenn du in der Stube bist, verpasst du ihn auf keinen Fall. Bitte geh nach Hause! Um diese Zeit ist es nicht gut, als Frau hier allein herumzustreifen.“ Thees warf Lina einen besorgten Blick zu. „Ich möchte nicht, dass dir womöglich etwas zustößt, das verstehst du doch sicher.“
Lina nickte. Obwohl Thees es bestimmt gut meinte, war ihr diese fürsorgliche Art zu viel. Sie wollte selbst bestimmen, wann sie draußen herumlief und wann nicht. Aber es war nicht gut, sich deshalb mit ihrem Verlobten zu streiten. Weil Lina noch immer unschlüssig dastand, verlieh Thees seiner Bitte Nachdruck. „Lina, du wirst dich erkälten. Dein Kinn zittert ja schon.“ Er stieß seine Hacken in die Flanken des Pferdes und stob mit ihm davon.
Am Horizont türmten sich inzwischen dunkle Wolken. Lina fror tatsächlich. Es wurde Zeit, nach Hause zu gehen und zu sehen, was Mathilde für sie gekocht hatte. Sie könnte alles schon einmal aufwärmen.
Ein ungutes Gefühl sagte ihr, dass Suntje vielleicht nicht rechtzeitig zurück sein würde, und sie wollte vermeiden, dass sich Vaters Zorn über dem jungen Mädchen entlud. Sie hatte es schließlich schwer genug. Heimweh musste ganz furchtbar sein. Wahrscheinlich quälte es Suntje schlimmer, als sie alle ahnten.
Nachdenklich, wie sie der Kleinen Magd helfen könnte, ging Lina weiter. Der Wind frischte immer mehr auf, und schon prasselten die ersten Regentropfen auf sie nieder. Auf dem Hof angekommen, erklomm sie die breite Steintreppe, die zum Hauseingang führte, und beeilte sich, ins Haus zu kommen.
In der Diele schlug ihr schon der würzige Duft der Suppe entgegen, die Mathilde für sie gekocht hatte, damit der Vater am Abend nicht darben musste. Dazu würde es frisch gebackenes Brot aus Weißmehl geben. Es duftete schon danach und darunter mischte sich der Geruch von Sellerie und Wurzeln, von Bohnen und geräuchertem Speck.
Das Hausmädchen Gertje war gerade dabei, die dunklen Bilderrahmen der Harms-Ahnen mit einem Staubwedel zu bearbeiten.
„Wo steckt Suntje?“, fragte sie. „Sie soll die Suppe anwärmen, bevor der gnädige Herr kommt. Mathilde ist ja in der Käserei.“
„Vielleicht hat sie wieder Heimweh und sich deshalb zurückgezogen?“, meinte Lina.
Gertje räusperte sich. „Man muss auf sie achtgeben“, sagte sie eine Spur zu hart.
Lina wusste nicht, was das Hausmädchen ihr damit sagen wollte, und sie wagte nicht, nachzufragen, denn es hatte merkwürdig geklungen. Sie dachte an Mathildes verschlossenes Gesicht, als sie ihr von Suntje erzählt hatte. Die Deern war die Nichte der Großen Magd, und die beiden standen sich sehr nah.
Ich sollte selbst mal mit Vader sprechen. Es wäre sicher besser, wenn sie auf einem Hof in der Nähe ihrer Eltern arbeiten könnte. Wir finden schon jemand anders, dachte Lina. Das war das Mindeste, was sie für Suntje tun konnte.
„Sie kommt sicher gleich, wenn sie ihrem Kummer Luft gemacht hat“, sagte sie und lauschte dem beruhigend wirkenden Geräusch des Staubwedels, wenn er die Wand streifte.
Aber Suntje kam nicht.
Kapitel 2
Thees hatte es eilig, mit dem letzten Licht des Tages zum Hafen zu kommen, denn er hatte Oliver versprochen, die Ziegellieferung der Klinkerei seiner Familie zu kontrollieren. Die Wege waren trotz der Dämmerung mit Steinwagen belebt. Es rumpelte und polterte den ganzen Tag, wohnen hätte Thees an der Strecke nicht mögen. Alle Ellenserdammersieler hofften, dass bald vom Hauptschienennetz Wilhelmshaven-Oldenburg, wo sich seit zwanzig Jahren auch der Bahnhof von Ellenserdammersiel befand, die kurze Strecke zum Hafen gebaut wurde, damit sie die Waren nicht mehr mit Steinwagen dorthin bringen mussten. Denn das war trotz der kurzen Entfernung sehr beschwerlich. Es würde den Aufschwung noch mehr fördern und die Kapazitäten erhöhen.
Der Schiffsverkehr hatte in der Vergangenheit mächtig zugenommen, sodass sie vor zehn Jahren am Hafen eine Längskaje angelegt hatten, denn die kleine Querkaje zwischen den Sielen reichte bei Weitem nicht mehr aus. Doch auch jetzt war der Hafen oft viel zu voll. Es gab inzwischen mehr als 1300 jährliche Ankünfte und Abfahrten in Ellenserdammersiel. Dabei wurden bis zu dreißig Millionen Klinker verfrachtet. Ein lukratives Geschäft, von dem Thees nur leider nichts hatte, weil er als zweiter Sohn die Ziegelei nicht erben würde und keinen Anteil in Anspruch nehmen konnte.
Aber er sprang dennoch ein, wenn es nötig war, denn er hoffte nach wie vor, dass Oliver ein Einsehen hatte und ihn doch noch bedachte, schließlich bat er Thees oft genug um Hilfe.
Da sein Bruder auch heute wieder arg beschäftigt war, hatte er Thees gebeten, das Löschen der späten Ladung zu überwachen. Thees schnackte kurz mit dem Kapitän, kontrollierte die Steinlieferung und nickte dann bestätigend. Es war alles in Ordnung. Auf den alten Seefahrer war Verlass, er brauchte keine Überwachung, aber da war Oliver eigen.
„Gut, dann will ich mal, bevor es ganz dunkel ist.“ Thees tippte sich mit der Kante von Zeige- und Ringfinger an die Stirn. „Bis zum nächsten Mal.“
Er war versucht, die fünf Kilometer direkt zurück nach Bockhorn zu reiten, doch dann fiel ihm Mathildes schmackhaftes Essen ein, und er entschied sich anders, denn sein Magen knurrte ohnehin wie verrückt. „Erst mal was essen, wer weiß, was mich zu Hause für ein Fraß erwartet“, murmelte er. Die Köchin der Bleekers konnte Mathildes Kochkünsten nicht das Wasser reichen, obwohl der Hausstand um einiges größer und feudaler war. Oliver konnte er auch später Bericht erstatten, schließlich war alles in Ordnung und es gab keinen Grund zur Eile.
Thees bestieg seinen Rappen, den er einfach Schwarzer nannte, und machte sich auf den Weg zum Harms-Hof. Er weigerte sich, vom Milchhof zu sprechen, weil Lina ständig von dieser hanebüchenen Molkereidee faselte und er ihr nichts abgewinnen konnte. Vor allem, weil es die Idee seiner zukünftigen Frau war. Sie sollte sich ihren hübschen Kopf nicht über solche Dinge zerbrechen.
Die anderen Hausbewohner, einschließlich Lina, hatten gerade gegessen, als Thees eintrat. Mathilde war in der Käserei fertig und beschäftigte sich nun in der Küche.
Lina war schon wieder draußen auf dem Hof und hielt Ausschau nach ihrem Vater, der noch immer nicht aus Oldenburg zurückgekehrt war. Also musste er allein essen. Auch gut, dann brauchte er nicht zu plaudern und konnte seinen Gedanken nachhängen und den Tag mit all seinen Ereignissen noch einmal überdenken.
„Ich kann Ihnen noch einen Teller auftun“, sagte Mathilde. Wie immer höflich genug, als dass er ihr nichts anhaben konnte, aber zugleich so kühl, dass Thees Gänsehaut bekam. Mit unerschütterlichem Blick servierte sie ihm eine Portion der noch heißen und schmackhaften Suppe. Thees schlürfte sie genüsslich, ließ sich einen weiteren Teller geben und fragte die Magd dann nach dem Dessert. Mathilde nickte und knallte ihm eine Quarkspeise auf den Tisch. „Mehr haben wir nicht.“
Thees schloss die Augen, als er die cremige Süßspeise aß. Der Harms-Hof war mit seinen Köstlichkeiten aus Milch wirklich unschlagbar. Da hatte Lina recht. Mit Mathilde, die die Hofbewohner auch mit Essen versorgte, hatten sie einen echten Glücksgriff gemacht, auch wenn Thees sie ansonsten nicht leiden konnte. Sie war für seine Begriffe viel zu resolut und mischte sich ständig in Dinge ein, die sie als Magd nichts angingen. Gleichgültig, wie lange sie schon auf dem Hof lebte.
Nach dem reichhaltigen Mahl verspürte Thees noch immer keine Lust, nach Bockhorn zu reiten, weshalb er sich in den Salon zurückzog. Das tat er besonders gern, wenn Eibo nicht da war, denn so konnte er schon einmal das Gefühl genießen, wie es sein würde, wenn er erst Herr auf dem Harms-Hof sein würde.
Zunächst wollte er sich ganz in Ruhe einen Branntwein gönnen und dabei einen Blick in die Gazette werfen, dazu hatte ihm heute die Zeit gefehlt.
Ja, ein Branntwein würde ihm schmecken. Es war immer vorteilhaft, sich nach einem anstrengenden Tag etwas Gutes zu tun. Nicht alles war glücklich verlaufen, aber er verspürte keine Lust, sich jetzt darüber Gedanken zu machen. Alles regelte sich meist von selbst. Den Weg nach Bockhorn kannte er schließlich im Schlaf. Es war ohnehin schon dunkel, da kam es auf eine Stunde nicht an.
Thees schenkte den Branntwein ein und setzte sich mit dem Glas vor den prasselnden Kamin. Das Feuer beruhigte ihn. Er schloss die Augen, und endlich war etwas Entspannung möglich.
Thees schwenkte das Glas hin und her, verfolgte die herabgleitenden Tränen und starrte hernach ins Feuer. Er schrak zusammen, als die Tür klackte und seine Verlobte eintrat.
„Hier bist du“, begrüßte sie ihn. „Mathilde sagte, du wärst noch im Haus.“
„Ja, ich wollte noch ein wenig Ruhe, bevor ich nach Bockhorn reite. Der Tag war anstrengend und lang.“
„Das tut mir leid“, antwortete Lina. „Möchtest du es erzählen?“
Thees schüttelte den Kopf.
Lina druckste herum. „Ich wollte dich um etwas bitten.“
Thees seufzte. „Um was geht es?“
„Wir müssen Suntje suchen.“
Er runzelte die Stirn. „Was ist mit der Magd?“
„Das weiß ich nicht. Sie ist verschwunden.“
Thees trank einen Schluck. „Die taucht schon wieder auf. Dieses junge Gemüse ist manchmal unberechenbar, wenn ihnen etwas gegen den Strich geht. Das weißt du selbst.“
Lina trat kopfschüttelnd einen Schritt näher. „Thees! Ich mache mir große Sorgen! Sie ist schon so lange fort.“
Ihr Verlobter stellte das Glas auf den kleinen Nebentisch und griff nach Linas Hand. Er strich ihr mit dem Daumen leicht über den Handballen, weil er wusste, wie sehr sie das mochte. „Wahrscheinlich hat sie sich vom Acker gemacht und ist auf und davon zu ihrer Familie“, sagte er mit väterlicher Stimme. „Wenn Eibo zurück ist, wird er sich kümmern.“ Er warf einen Blick zur Standuhr. „Ich muss jetzt leider los.“
Thees stand auf, hielt Lina aber weiter an den Händen. Sie waren rau, weil sie ständig mitarbeitete. Das würde sich ja nun bald ändern. Trotzdem war sie eine wunderschöne Frau, an der er alles mochte. Vor allem die blauen Augen. Die blitzten ihn jetzt allerdings herausfordernd an.
„Du kannst jetzt nicht gehen! Solange Vader unterwegs ist, haben wir die Verantwortung. Ich bin schon alle Wege entlanggelaufen“, erklärte sie. „Aber es fehlt jede Spur. Was ist, wenn ihr etwas zugestoßen ist, sie sich verletzt hat? Bitte schicke die Knechte los! Auf mich hört hier keiner“, setzte sie aufgebracht nach. „Aber du bist der zukünftige Hausherr. Wir müssen was tun!“
„Wir müssen gar nichts“, murrte Thees. Er war müde und wollte nach Hause. „Wenn sich eine widerspenstige Magd durch ihr heimliches Verschwinden vor der Arbeit drücken möchte, dann verdient sie allenfalls eine gehörige Tracht Prügel, aber nicht, dass wir sämtliche Suchtrupps losschicken, um sie von wer weiß wo einzusammeln.“
„Bitte!“, flehte Lina.
Die Magd schien ihr wirklich etwas zu bedeuten.
Thees setzte sich wieder, nahm eine Zigarre vom Brett, zündete sie an und paffte ein paar Kringel in die Luft. Dafür wollte er sich noch Zeit nehmen, nicht aber für eine davongelaufene Magd.
Lina verzog das Gesicht. Er wusste, dass sie die Qualmerei nicht schätzte, aber wenn er eine Zigarre rauchen wollte, dann tat er es, ohne Rücksicht auf sie zu nehmen. Er war bald der Herr im Haus, und es war gut, wenn sie das beizeiten zur Kenntnis nahm.
„Und wenn ihr tatsächlich etwas zugestoßen ist?“ Seine Verlobte ließ einfach nicht locker. „Sie ist schon seit dem späten Nachmittag verschwunden. Ich habe sie zufällig weinen gehört.“
„Seit dem späten Nachmittag, sagst du?“ Thees hustete, weil er sich verschluckt hatte. Kurzerhand legte er die Zigarre beiseite, stand auf und lief mit auf dem Rücken verschränkten Händen vor dem großen Fenster hin und her. „Kann sich nicht Mathilde darum kümmern? Im Prinzip ist das ihre Aufgabe, weil sie für ihre minderjährige Nichte verantwortlich ist.“ Er hörte auf herumzulaufen, nahm die Karaffe mit dem Alkohol erneut in die Hand und schenkte sich ein. Etwas mehr, als ihm guttun würde. Als Zeichen, dass er das Gespräch für beendet hielt, drehte er Lina den Rücken zu.
Er mochte es ja hin und wieder, wenn sie ein wenig aufmüpfig war, denn das verlieh ihr einen besonderen Charme, mit dem sie ihn von Beginn an gefesselt hatte. Ihre Augen glitzerten dann in einem tiefen Blau, und es schien ihm immer, als ob Sterne darin tanzten. Aber das hatte Grenzen. Es durfte auf keinen Fall so enden wie jetzt, dass Lina sich herausnahm, an ihn, den Mann, Forderungen zu stellen. So weit durfte er es beim nächsten Mal gar nicht erst kommen lassen. Nun wollte er seine Ruhe, schließlich hatte er gleich noch den Ritt nach Bockhorn vor sich und musste seinem Bauch erst etwas Erholung gönnen, weil er üppig getafelt hatte.
Obwohl Thees Lina immer noch den Rücken zudrehte, spürte er, dass sie sich keinen Zentimeter von der Stelle bewegt hatte.
„Thees, wenn von unserem Hof jemand verschwindet, dann müssen wir denjenigen suchen. Gleichgültig, ob Magd oder Knecht. Ob Hilfsarbeiter oder einer von uns. Verstehst du das denn nicht? Das kann Mathilde nicht leisten, sie hat als Magd keinerlei Befugnisse.“
Thees drehte sich betont langsam um, stellte das Glas auf den Tisch und näherte sich ihr.
So aufgebracht wirkte sie besonders reizvoll, und das erweckte in ihm jedes Mal den Wunsch, ihre vollen Lippen zu küssen. Ihre Zungen miteinander spielen zu lassen und nach Möglichkeit noch mehr. Lina mochte es, von ihm begehrt zu werden, da war er ganz sicher. Wenn er sie nun ein bisschen verwöhnte, würde sie das Suntje ganz schnell vergessen lassen. Er hätte seinen Frieden und vielleicht etwas Entspannung. Thees griff nach Linas Hand. Er wollte sie. Jetzt und ganz!
Das wäre ein würdiger Abschluss dieses Tages. Sie zierte sich schon viel zu lange. Er war doch ein junger Mann mit Bedürfnissen, der Vermählungstermin stand. Warum also bis zur Hochzeit warten? Er hatte jetzt richtig Lust, Lina zu fühlen – und dadurch still zu bekommen. Kurzerhand zog er sie an sich heran.
Aber Lina machte sich steif. „Wir müssen Suntje suchen!“
Thees überlegte nicht lange. Wenn er sein Ziel heute erreichen wollte, musste er seiner Verlobten erst einmal dieses Zugeständnis machen. Ob er es dann wirklich einlöste, konnte er danach immer noch entscheiden.
„Wir suchen diese Magd“, sagte er mit rauer Stimme. „Aber erst muss ich dich küssen. Ich liebe dieses Feuer in deinen Augen!“ Thees stöhnte leise auf, als seine Lippen die ihren fanden und seine Hände den schlanken Körper umschlangen.
Lina erlag seinem Charme so schnell, wie er es sich erhofft hatte. Es gefiel ihm, wie er sie lenken und mit seiner Erfahrenheit einfangen konnte.
„Du riechst gut“, flüsterte sie, als er kurz von ihr abließ.
Thees legte Wert auf so etwas und nutzte den englischen Duft Marlborough. Es war eine fast unwiderstehliche Note aus einer Mischung von Lavendel und Rosmarin sowie von Zeder und Sandelholz. Er küsste sie erneut, jetzt wurde er fordernder.
Lina seufzte wohlig. „Aber danach suchen wir Suntje.“
„Danach mache ich alles, was du willst“, raunte er.
„Versprochen?“
„Versprochen.“
Lina wehrte sich nicht, als er begann, sein forderndes Spiel mit ihr auszuweiten, aber sie schien dennoch nicht recht bei der Sache zu sein, was Thees’ Ehrgeiz weiter anspornte. Er nahm ihre Hände und legte sie an sein Haar, das er etwas länger trug und sich im Nacken kräuselte.
„Lass uns in dein Zimmer gehen“, flüsterte er. „Ich will dich, Lina Harms. So sehr will ich dich!“
Hatte sie sich bislang stets gesträubt, den letzten Schritt zu gehen und ihm allenfalls gestattet, ihre festen runden Brüste zu umfassen, nickte sie nun unmerklich. „Aber dann suchen wir Suntje“, wiederholte sie.
Thees zog sie aus dem Salon. Er würde Lina gleich besitzen und damit ihre Zweifel an dieser Ehe in Grund und Boden treten, denn dass seine Verlobte von ihrer Verbindung nicht restlos überzeugt war, wusste er längst. Danach wäre jegliche Diskussion im Keim erstickt.
Er war froh, in der langen Diele keinem der Hofangestellten zu begegnen. Vor allem Mathilde war ihm ein Dorn im Auge. Sie sah und hörte etwas zu viel von dem, was auf dem Gehöft vor sich ging, und das gefiel ihm nicht. Wenn er erst Herr auf dem Harms-Hof war, würde er sie stärker reglementieren. Eibo würde ihm schnell freie Hand geben, denn es stand mit ihm gesundheitlich nicht zum Besten. Um das zu erkennen, musste er kein Mediziner sein.
Thees zog Lina hinauf in ihre Stube, die sich im ersten Stock des Hauses unter dem Dach befand. Es war ein recht großes Zimmer mit Schrägen und der typischen Einrichtung eines Bauernhauses. Ein mächtiger Schrank dominierte den Raum, gegenüber stand ein Toilettentisch mit einer Waschschüssel und einem Krug, der mit frischem Wasser gefüllt war. Über der Stuhllehne hingen saubere Handtücher. Das war gut, dann konnte er sich anschließend frisch machen, bevor er nach Bockhorn ritt.
Er stieß Lina sacht aufs Bett. Plötzlich schienen ihr neue Zweifel zu kommen, und sie schob ihn sacht von sich fort. „Bitte Thees, tu das nicht. Wir dürfen es nicht machen. Nicht vor der Hochzeit.“
Thees grinste nur und legte sich neben sie. Unbeirrt der Tatsache, dass sie sich steif machte, knöpfte er ihre Bluse auf. Ihr Widerstand schmolz mit jeder Sekunde, denn er wusste genau, wie er eine Frau gefügig machen konnte. „Komm schon, meine Gute. Wir sind fast ein Ehepaar, und in ein paar Wochen bekomme ich ohnehin, was ich will. Es gibt keinen Grund, dich nicht jetzt schon zu lieben.“
Thees zog Lina weiter aus, streichelte ihren Körper, und sie ließ es mit geschlossenen Augen und bebenden Lippen zu. Lina zuckte einmal kurz zusammen, als er ihre Jungfräulichkeit nahm, und wirkte auch sonst sehr unsicher, während er durchaus auf seine Kosten kam. Thees war recht zufrieden, als er sich von ihr löste. Es war nicht das Beste, was er je von einer Frau bekommen hatte, aber es war ausbaufähig, und für seinen Ausgleich reichte es, zumal er ja als Mann auch noch andere Möglichkeiten hatte.
Lina sah ihn derweil mit großen Augen an. Sie zitterte, als wäre sie erschrocken darüber, dass sie das zugelassen hatte. „Das darf keiner wissen“, wisperte sie. „Ich bin keine ehrbare Frau mehr!“ Und dann begann sie zu weinen, was ihn ein bisschen rührte.
Thees stupste ihre Nase an und lächelte. Der Harms-Hof war ihm mit diesem Akt sicher. Zufrieden küsste er Linas tränennasse Wange. „Das wird niemand erfahren“, sagte er. „In ein paar Monaten bist du sowieso meine Gemahlin. So schnell wirst du nicht empfangen haben. Aber das hier, meine kleine Frau, verbindet uns für immer.“ Er stand auf, goss Wasser in die Schüssel und wusch sich den Oberkörper. „Wir haben schließlich als Liebende lange genug gewartet.“ Thees warf Lina eines der Handtücher zu.
Sie griff mit fahrigen Händen danach. Thees glaubte dennoch, dass sie trotz der Tränen ein Strahlen im Gesicht hatte, und das gefiel ihm. Er würde es von jetzt an öfter zum Leuchten bringen. Der Bann war gebrochen.
„Wir sind mit unserer vorgezogenen Hochzeitsnacht auf ewig miteinander verbunden“, bekräftigte er noch einmal. „Nur der Tod kann uns noch trennen.“
Lina atmete schwer durch, wischte dann die Wangen trocken und sprang mit einem kräftigen Satz aus dem Bett. „Nun müssen wir nach Suntje suchen. Du hast es versprochen.“ Ihre Stimme schwankte noch leicht, aber sie schien sich mit der Situation abgefunden zu haben.
„Herrgott, wir sind jetzt Mann und Frau, und du denkst nur an eine kleine Magd!“, entfuhr es Thees. Ihn überfiel plötzlich die Ahnung, dass Lina nur deswegen nachgegeben hatte, weil sie dieses dumme Ding retten wollte, und hoffte, ihn so gnädig zu stimmen. Doch bevor er seiner Verlobten antworten konnte, dröhnte eine kräftige Stimme durchs Haus. „Lina? Thees?“
„Das ist Vader!“ Lina fuhr zusammen, schlüpfte schnell in ihren Unterrock, warf sich das graue Leinenkleid darüber und band die blau-weiß gestreifte Schürze fest. Das blonde Haar wand sie mit zwei geschickten Handbewegungen zu einem Dutt. „Wie gut, dass ich kein Korsett trage“, sagte sie. „Dann wäre ich jetzt nicht so schnell fertig.“
„Lina!“, rief der Vater erneut.
„Ich komme!“, antwortete sie und schaute Thees hilflos an. „Was machen wir denn jetzt mit dir? Vader darf dich auf keinen Fall in meiner Stube finden. Er wäre außer sich!“
Dasselbe war Thees eben auch durch den Kopf geschossen, und da er sich nicht schon vor der Hochzeit mit seinem Schwiegervater anlegen wollte, überlegte er kurz. Zum Glück war der Harms-Hof sehr verwinkelt und bot mehrere Möglichkeiten, hinauszukommen.
„Lauf runter zu ihm“, schlug er vor. „Ich schleiche mich aus dem Haus und reite zurück nach Bockhorn. Morgen bin ich wieder da.“ Er nickte Lina aufmunternd zu. „Er kann sich ja jetzt um die Suche nach Suntje kümmern.“
Lina nickte. „Ist gut. Vader wird wissen, was zu tun ist.“
„So ist es“, antwortete Thees zufrieden. „Ich schlag mich dann mal durch.“
Liebe Regine Kölpin, mit der „Milchhof-Saga“ erscheint nun Ihre dritte Nordsee-Trilogie. Weshalb schreiben Sie so gerne in diesem Format?
Ich liebe es, diese sehr umfangreichen Themen, intensiv zu erzählen und so allen Figuren ausreichend Raum geben zu können. Das geht in dem Dreier-Format natürlich viel besser als in einem Stand-Alone. Vor allem, wenn es, wie im Milchhof, über längere Zeiträume geht.
Können Sie kurz beschreiben, um was es in der Reihe geht?
In der Milchhof-Saga erzähle ich auf der einen Seite die Entwicklung einer privaten norddeutschen Molkerei und Käserei, aber auch die Geschichte der Familie Bleeker. Mit Lina, ihrer Tochter Alea und der Enkelin Enna habe ich starke Frauenfiguren entwickelt, die im Laufe der Jahre eine Menge zu bewältigen haben. Das ergibt sich schon aus den unterschiedlichen geschichtlichen Epochen.
Die Saga beginnt 1890 mit dem Kaiserreich, der zweite Teil spielt in der Weimarer Republik, der dritte Teil in der Nachkriegszeit.
Wie kamen Sie auf einen Milchhof als Schauplatz?
Ich lebe in einem norddeutschen Dorf und allein deshalb faszinieren mich ländliche Themen, wie ich sie ja auch schon im „Nordseehof“ und im „Haus am Deich“ bearbeitet haben. Im beginnenden 20.Jahrhundert gab es viele Molkereigründungen, einige haben funktioniert, andere nicht. In der Zeit sind auch die ersten Genossenschaftsmolkereien entstanden. Der Milchhof Bleeker bleibt aber eine private Molkerei.
Für Ihre Romane recherchieren Sie auch immer sehr intensiv. Wie sind Sie denn dieses Mal vorgegangen?
Da muss ich mich kurzfassen, weil es wirklich sehr umfangreich war, mich auf diese Saga vorzubereiten. Ich habe mich zuerst mit den drei zu bearbeitenden Epochen beschäftigt und natürlich mit der Entwicklung der Molkereien in dieser Zeit. Dazu war viel antiquarische Literatur nötig, um die Gerätschaften kennenzulernen und zu erfahren, in welchen Entwicklungsschritten alles vorangegangen ist.
Dann habe ich Kontakt zu verschiedenen Molkereien in der Gegend aufgenommen, bin dort mit Material versorgt worden und konnte den Kontakt zu einer Käserei knüpfen. Dort war ich dann einen Tag zugegen, um mir die Arbeitsschritte genau anzusehen und erklären zu lassen.
Weil auch die Pfund Molkerei eine Rolle spielt, bin ich dort gewesen und habe vor Ort in Dresden recherchiert, denn auch dort habe ich ein paar Szenen angesiedelt.
Da der Hauptschauplatz des Romans Ellenserdammersiel ist, habe ich mich natürlich auch mit der Geschichte des Ortes beschäftigt. Dafür habe ich vom Schlossmuseum Jever wunderbare Hilfe bekommen, die mir Zugriff auf sämtliche Exponate aus dem Minimuseum Ellenserdammersiel gewährt haben.
Die Handlung spannt sich über 65 Jahre und drei Generationen hinweg. Wie verlieren Sie dabei nicht den roten Faden?
Wichtig ist ein ausgeklügelter Plan, sonst funktioniert ein solches Projekt nicht. Ich plotte hierfür sehr sorgfältig, lege verschiedene Tabellen an, in denen ich alles festlege. In einer Spalte habe ich die wichtigsten politischen Ereignisse, die für den Roman relevant sind, chronologisch festgehalten.
In einer weiteren die technischen Fortschritte der Molkerei, dann die Handlungsabläufe, die Weiterentwicklung der jeweiligen Figuren, das Wetter, die Jahreszeit, die lokalen Ereignisse und so weiter. Der kreative Prozess besteht dann darin, das alles in einer spannenden Handlung miteinander zu verweben und zu überlegen, wie ich die Szenen erzähle.
Gibt es eine Figur im Roman, mit der Sie sich besonders gut identifizieren können?
Die engste Verbindung habe ich immer zu meiner Hauptfigur. In diesem Fall zu Lina, denn sie begleitet mich am längsten. Obwohl es da eigentlich nicht um Identifikation, sondern eher um eine sehr große Nähe zur Figur geht. Ich würde oft sicher anders handeln als sie, habe mich aber sehr lange mit ihr beschäftigt, sodass ich sie und ihre Motivation sehr gut kenne – wie eine gute Freundin.
Ihre Hauptfiguren treffen natürlich auch auf einige Widerstände und Figuren, die ihnen Böses wollen, – fällt es Ihnen leicht, diese Antagonisten zu erfinden und zu beschreiben?
Antagonisten sind immer sehr spannende Figuren, denn sie orientieren sich an den Hauptfiguren. Ich muss genau wissen, wie meine Gegenspieler die „Guten“ unter Druck setzen können. Manchmal leide ich dann mit den Betroffenen richtig mit. Aber genau das macht es ja so spannend. Deshalb schreibe ich beide Figuren in Kombination sehr gerne.
Sie sind bekannt für Ihre Nordsee-Sagas - könnten Sie sich aber auch vorstellen, einen Roman, der in den Bergen spielt, zu schreiben?
Ich lebe zwar an der Nordsee und kenne mich hier sehr gut aus, weshalb es von mir auch viele Romane aus der Region gibt. Aber mein Mann und ich sind einen großen Teil des Jahres mit unserem Wohnmobil überall in Europa unterwegs. Das ist sehr inspirierend und auch da begegnen mir immer interessante Themen und Orte. Deshalb gibt es auch bereits einen Roman, der in Franken spielt und einen, der zur Hälfte Polen als Schauplatz hat.
„Linas Schicksal und das Leben auf dem Milchhof fesseln den Leser schnell, man fiebert mit.“
„Mit einem geschickten Spannungsbogen und viel Empathie erzählt, ist der erste Band ›Der Milchhof – Das Rauschen der Brandung‹ (…) genau das Richtige für ein verregnetes Herbstwochenende.“
Der Auftaktband der Milchhof Trilogie spielt zwischen 1890-1914 in der Friesischen Wehde an der Nordsee. Aufgrund eines dummen Fehlers kann sich die Bauerntochter Lina der Ehe mit dem cholerischen und egoistischen Thees nicht entziehen. Während die Privatmolkerei wächst und mit Derk Voigt ein talentierter, umsichtiger Obermaier eingestellt wurde, laufen hinter den Kulissen Intrigen, Sabotageakte und eheliche Krisen. Denn erst nach der Hochzeit kommt Lina hinter die Geheimnisse Thees, was sie erpressbar macht. Doch Linas Liebe zur Molkerei, ein unbändiger Wille, das Erbe ihres Vaters weiterzuführen und sich nicht unterkriegen zu lassen, verhelfen ihr zu manch ungeahnten Ideen und Kräften und sie lernt mit der Zeit, sich ihrem Schicksal zu stellen, auch wenn ihre Gefühle für jemand ganz anderen schlagen. Die Autorin versteht es, Sympathien und Antipathien zu schüren, eine unterhaltsame und dramatische Story zu kreieren. Aber auch Einblicke in die Milchwirtschaft, die Produktion und dem technischen Fortschritt machen es interessant. Missverständnisse und langgehegter Groll und Eifersucht sorgen immer wieder dafür, dass Lina zwischen die Fronten gerät und ausbaden muss, was hinter den Kulissen angerichtet wurde. Obwohl Lina für mich eine wirklich starke, ehrgeizige Frau ist, die trotz aller Umstände treu ihren Pflichten nachkommt und immer wieder aufsteht, empfand ich manche Reaktion dennoch unpassend und nicht immer nachvollziehbar. Auch Derk kam mir manchmal wie ein trotziger Junge vor, der sich aufgrund der Tatsache, dass er nicht bekommen kann, was er haben will in Situationen bringt, die rücksichtslos und unüberlegt sind. Andererseits gibt es aber auch gerade zum Ende Momente, wo er dann wieder wie ein gescholtener Junge in der Ecke steht und alles mit sich machen lässt. Das war zeitweise etwas ermüdend und hat ein paar Sympathiepunkte geraubt. Alles in allem ist es eine kurzweilige, interessante Geschichte, mit dem so typischen friesischem Dialekt, der in die Zeit des Kaiserreichs abtaucht, in der es für Frauen sehr schwer war, unternehmerisch tätig zu sein. Doch mit Lina lernt man eine mutige, tapfere Frau kennen, die trotz vieler Schwierigkeiten und drohendem 1.Weltkrieg dem Schicksal eine Kampfansage macht. 3,5 Sterne Nun freue ich mich schon auf Teil 2, der die Familiengeschichte zwischen dem 1. und 2.Weltkrieg weitererzählt.
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