Der Mitternachtspakt Der Mitternachtspakt - eBook-Ausgabe
Roman
— Regency meets Magie - ein zauberhafter Spaß!„Rundum gelungen“ - schreiblust-leselust.de
Der Mitternachtspakt — Inhalt
Beatrice Clayborn wünscht sich nichts mehr, als eine große Magierin zu werden. Doch eigentlich soll sie einen reichen Mann heiraten, um ihre Familie vor dem Ruin zu retten. Das hieße, ihre Magie aufzugeben. Um diesem Schicksal zu entgehen, geht Beatrice einen Pakt mit Nadi, dem Geist des Zufalls, ein, der ihr helfen soll, ein mächtiges Zauberbuch zu erlangen. Dafür darf Nadi einen Abend lang in ihrem Körper auf einem Ball tanzen, Kuchen essen und Beatrices ersten Kuss miterleben. Als der Geist sich den gut aussehenden Ianthe Lavan aussucht, wirbelt das Beatrices Pläne gehörig durcheinander.
Leseprobe zu „Der Mitternachtspakt“
Kapitel I
Die Kutsche näherte sich der Booksellers’ Row, und Beatrice Clayborn atmete voller Hoffnung ein, bevor sie ihren Zauber wob. Während die Equipage über die moosbewachsenen Pflastersteine rumpelte, hielt sie den Kopf erhoben, den Rücken gerade und die Hände in den Taschen, wo sie ihre Finger zu den geheimnisvollen Gesten formte. Sie wohnte nun seit drei Tagen in Bendleton, und obwohl es mit seinen eleganten Bauwerken und den sauberen Straßen sicherlich der hübscheste Käfig war, in den man gesperrt werden konnte, hätte Beatrice alles gegeben, um [...]
Kapitel I
Die Kutsche näherte sich der Booksellers’ Row, und Beatrice Clayborn atmete voller Hoffnung ein, bevor sie ihren Zauber wob. Während die Equipage über die moosbewachsenen Pflastersteine rumpelte, hielt sie den Kopf erhoben, den Rücken gerade und die Hände in den Taschen, wo sie ihre Finger zu den geheimnisvollen Gesten formte. Sie wohnte nun seit drei Tagen in Bendleton, und obwohl es mit seinen eleganten Bauwerken und den sauberen Straßen sicherlich der hübscheste Käfig war, in den man gesperrt werden konnte, hätte Beatrice alles gegeben, um woanders zu sein – egal wo, Hauptsache nicht hier, in dieser Stadt zu Beginn der Ballsaison, diesem elenden Heiratsmarkt.
Sie atmete die Suchranken ihres Zaubers aus, tastete damit über die vorbeiziehenden Ladenfronten. Wenn ihr doch bloß ein Wunder über die Haut striche und in den Ohren kitzelte …
Aber nein. Kein Flimmern, kein Jucken – und das, obwohl sie bei der Rook-Tower-Buchhandlung vorbeifuhren, bei P. T. Williams und Söhne und am gefeierten Haus von Verdeu, das mit all seinen Bänden ein ganzes Drittel des Häuserblocks einnahm.
Beatrice seufzte. Kein Wunder, keine Freiheit, keine Hoffnung. Doch als sie von der Booksellers’ Row in eine graue namenlose Gasse einbogen, erblühte Beatrice’ Zauber mit einem Mal: da! Ein Grimoire! Noch wusste sie nicht, was dieses Zauberbuch enthielt, doch allein das Gefühl genügte, um ein Lächeln zum Himmel zu senden und die Glocke neben ihrem Sitz zu betätigen.
„Kutscher, anhalten!“ Sie glitt aus dem Polstersitz der Equipage und wollte schon auf die Straße springen. „Clara, kannst du die Anprobe für mich erledigen?“
„Miss Beatrice, bitte nicht!“ Clara hielt Beatrice’ Handgelenk fest. „Es muss doch Ihnen passen!“
„Du hast genau meine Größe, deshalb wird es überhaupt keinen Unterschied machen“, sagte Beatrice. „Außerdem liegt dir das mit den Farben und Rüschen und all dem sowieso besser als mir. Ich brauche auch nur ein paar Minuten, versprochen.“
Clara schüttelte den Kopf. „Vergessen Sie die Verabredung im Kapitularhaus nicht. In der Schneiderei mag ich noch Ihren Platz einnehmen können, aber nicht dort! Schließlich sollen Sie dort Danton Maisonette treffen!“
Beatrice würde sich dieses Buch auf gar keinen Fall entgehen lassen. Deshalb tätschelte sie bloß Claras Hand und versuchte, sich aus ihrem Griff zu winden. „Ich bin pünktlich da und verspreche, nicht zu trödeln. Aber erst muss ich ein Buch kaufen.“
Clara legte den Kopf schief. „Ausgerechnet hier?“
„Dieser Buchhandlung habe ich schon vor einiger Zeit geschrieben“, log Beatrice. „Was für ein Glück, dass sie auf unserem Weg liegt. Es wird keine zehn Minuten dauern.“
Mit einem Seufzer löste Clara ihren Griff um Beatrice’ Handgelenk. „Na gut.“
Der Kutscher eilte heran, um Beatrice aus dem Wagen zu helfen, doch sie sprang trotz des recht engen Schnürmieders auf die Straße und bedeutete ihm, weiterzufahren. „Danke vielmals! Fahren Sie ruhig weiter!“
Sie wirbelte auf den hohen, grazilen Absätzen herum und betrachtete die Ladenfront. Harriman’s war genau die Buchhandlung, nach der Beatrice in einer neuen Stadt suchte: Sie wurde von Leuten betrieben, die es nicht ertragen konnten, irgendein Buch wegzuwerfen, solange es noch intakt genug war, um es zu stapeln oder in ein Regal zu stellen. Beatrice spähte durch das Schaufenster und genoss den leichten Schmerz und das Kribbeln in ihren Ohren, all diese Begleiterscheinungen ihres Zaubers, die ihr signalisierten, dass in den Büchertürmen ein neues Grimoire auf sie wartete. Monate waren vergangen, ohne dass sie ein neues gefunden hatte.
Die Türklingel schellte, als Beatrice in den Herrschaftsbereich derer trat, die kein Buch wegwarfen. Harriman’s! O Staub und Tinte und Lederbindung, o Landkarten, Sternenbilder und Balladenbüchlein! Und irgendwo mittendrin das Grimoire! Dem Angestellten in Hemd und Weste, der an der Kasse stand, schenkte sie ein entwaffnendes Lächeln.
„Ich sehe mich nur mal um!“ Sie stapfte schnurstracks an dem Mann vorbei. Mit kribbelndem Daumen strich sie über Bücherstapel und vollgestopfte Regale. Sie atmete den Geruch von altem Papier und jenen zarten Regen-auf-moosbewachsenen-Steinen-Duft ein, den ihre Magie mit sich brachte. Sie suchte weder nach seriösen Romanen noch nach sittsamer Lyrik, sondern nach jenen Werken, von denen junge Frauen in ihren Boudoirs oder Salons kaum zu flüstern wagten: nach Grimoires.
Das begehrte Buch befand sich hier irgendwo! Doch sie durfte die Suche nicht überstürzen, durfte sich von ihren Sinnen nicht zu jenem Stapel ziehen lassen, in dem sich der Band eines John Estlin Churchman, J. C. Everworth oder vielleicht auch eines E. James Curtfield befand. Diese Initialen, J. E. C., zierten alle Titel ihrer bescheidenen und gut versteckten Sammlung. Hielte sie geradenwegs auf ihr Ziel zu, würde sich der Angestellte womöglich wundern, dass sie in dem Chaos so rasch fündig geworden war. Deshalb stöberte sie in der Abteilung für schöngeistige Literatur, für Geschichte und sogar für Okkultismus. Letzteres hatte ihr schon oft missbilligende Blicke eingetragen, da es sich für eine junge Damen nicht schickte, sich ins Reich der Magie vorzuwagen.
Wenn sie nur daran dachte, wie unverschämt man sie ausschloss, platzte ihr der Kragen. Frauen durften der Magie nur als einsame Witwen und Greisinnen nachgehen, nicht aber, wenn sie ihren nobelsten Daseinszweck noch zu erfüllen imstande waren. Das Kapitularhaus war ihr letzten Endes versperrt, wohingegen sich ein Mann mit den richtigen Verbindungen und der nötigen Bildung mühelos Zutritt zum Kreis Gleichgesinnter verschaffen konnte. Alle Menschen mit der entsprechenden Gabe sahen die magische Aura, die um Beatrice’ Haupt strahlte – und die sie zu einer ganz hervorragenden Kandidatin machte, die Magier der nächsten Generation auszutragen.
Oh, wie sie das hasste! An eine derart profane Aufgabe geknebelt zu sein und ihre Magie verkümmern zu lassen, bis sie dann endlich an ihrem Lebensabend den Weg verfolgen durfte, den sie schon jetzt beschreiten wollte! O nein, nicht mit ihr! Beharrlich suchte sie nach einem Werk mit den Initialen J. E. C., im Übrigen keinesfalls ein Mann, sondern wie sie eine Zauberin, noch dazu eine, die eine ganze Reihe von einschlägigen Bänden verfasst hatte, welche von der Kritik aber allesamt als unverständlich abgetan worden waren.
Und das waren sie auch für all jene, die den Code nicht kannten. Beatrice hingegen konnte ihn auswendig. Sie zog eine verstaubte Ausgabe von Erinnerungen an die Jyische Küste von Llanandras aus dem Regal, klappte sie auf und raunte den Spruch, der alles außer der Wahrheit, die sich in den Druckbuchstaben versteckte, verblassen ließ. Sie las:
Wie man einen größeren Geist ruft und den großen Pakt unterbreitet
Mit einem Knall schloss sie das Buch und bezwang den freudigen Gickser, der ihrer Kehle entfahren wollte. Ganz still stand sie da und ließ ihr Herz weit werden, während sie das Buch an die Brust drückte und das Odeur von Druckerschwärze und Magie einatmete. Dies war das Grimoire, das sie nach Jahren des Suchens und geheimer Studien brauchte. Wenn sie nun den Geist anrufen und ein Bündnis eingehen würde, dann würde sie vollbracht haben, was auch die männlichen Adepten des Kapitularhauses anstrebten! Dann wäre sie eine voll initiierte Magierin.
Mehr wollte sie nicht. Kein Mann würde sich auf eine Frau wie sie einlassen. Ihr Vater würde den Vorteil erkennen, ihren größeren Geist für seine Geschäftsinteressen zu nutzen. Sie würde frei sein. Eine Magierin. Ein Wunder, das Wirklichkeit geworden wäre.
Den Sitz ihrer Familie würde sie zwar nie mehr verlassen können, aber das kümmerte sie nicht. Sie könnte der Sohn sein, den ihr Vater niemals hatte, während ihre jüngere Schwester Harriet an ihrer Stelle die Ballsaison bestreiten konnte. Harriet würde den Mann ihrer Träume heiraten, sie aber ihre Studien fortführen. Ohne das Joch der Ehe.
Mit einem Rückwärtsschritt trat sie vom Regal weg, wandte sich dann um und prallte beinahe in eine weitere Kundin. Beide wichen mit einem überraschten Aufschrei auseinander und starrten einander konsterniert an.
Beatrice musterte die Frau, eine große, schlanke Llanandari in einem Manteau aus safrangelben Baumwollsatin und einem Kleid mit leuchtenden tropischen Blumen. Die Halbärmel ihrer Robe explodierten schier in feiner, handgeklöppelter Spitze. Wie musste diese Frau erst in einem Abendkleid aussehen? Sie war noch schöner, als es der Ruf verhieß, der den Frauen aus Llanandras vorauseilte, gesegnet mit großen braunen Augen und tiefbrauner Haut, die Wolke eng gelockter schwarzer Haare von goldenen Perlen geziert, und dazu Goldschmuck von beachtlichem Wert, der ihre Ohren und sogar einen Flügel ihrer Nase zierte. Was tat sie hier? Denn ganz sicher suchte sie ja wohl in einem reichen Küstenort fernab der Hauptstadt nicht nach einem Ehemann, so wie es Beatrice eigentlich tun sollte. Oder etwa doch?
Die Frau starrte Beatrice mit wachsender Verwirrung an. Beatrice wusste genau, was die junge Dame so in Erstaunen versetzte: Die Aura der Zaubermacht um ihren, Beatrice’, Kopf schimmerte sogar noch ein wenig heller als ihr eigenes Licht. War also eine weitere Zauberin dem Ruf des Grimoires gefolgt, das Beatrice inzwischen an sich gedrückt hielt?
„Ysbeta? Was stehst du da wie vom Donner gerührt?“
Der Mann in ihrem Rücken sprach Llanandari, und Beatrice’ Zunge klebte ihr mit einem Mal am Gaumen fest. Sie beherrschte Llanandari, hatte ihre Kenntnisse jedoch noch nie an einem Menschen aus Llanandras erprobt. Sicherlich hatte sie einen ganz grauenhaften Akzent und würde ihre Sätze furchtbar schwerfällig bauen! Trotzdem setzte sie ein Lächeln auf und drehte sich dem Mann zu.
Beatrice erkannte die Gesichtszüge der Frau in dem Gesicht des Mannes wieder und … Seine Augen und seine makellose Haut waren sogar noch dunkler als ihre. Als Ysbetas, wie sie ja hieß. Auch über der Krone seines Haars aus kleinen Locken strahlte die Aura des Magiekundigen. Er war ebenfalls in safrangelbes Baumwollsatin gekleidet, die Stickerei auf seiner Weste zollte dem Frühling Respekt, und er trug die gleiche verspielte Spitze am Kragen. Nun starrten diese beiden wohlhabenden, glanzvollen Llanandari sie mit dem gleichen Ausdruck der Verwirrung an, bis sich die Stirn des jungen Mannes glättete und er der Frau mit einem Lachen, das an einen plätschernden Bach denken ließ, den Rücken tätschelte.
„Entspann dich, Ysy“, sagte er. „Ihr Porträt hängt in der Debütantinnengalerie im Kapitularhaus. Miss …“
„Beatrice Clayborn. Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen“, sagte Beatrice und verhaspelte sich kaum. Dieser atemberaubend schöne junge Mann hatte ihr Porträt in der Galerie des Bendleton-Kapitularhauses gesehen und es lange genug betrachtet, um sie wiederzuerkennen. Er hatte lange genug den Schwung ihrer Nase gemustert, die Form und Farbe ihrer Augen, den eigenartigen, ganzjährig herbstlichen Rotschimmer in ihrem widerspenstigen Haar, das sich in keiner Frisur bändigen ließ.
Ysbeta beäugte das Buch in Beatrice’ Händen – und dieser Blick kam einem Aufschrei gleich. „Ich bin Ysbeta Lavan. Das ist mein Bruder, Ianthe. Wie ich sehe, sind auch Sie eine Bewunderin der Reiseberichte von J. E. Churchman.“ Sie sprach artikuliert und langsam, was Beatrice mit ihrem daheim erlangten Llanandari-Kenntnissen sehr entgegenkam.
„Wie er von weit entfernten Orten erzählt, schlägt mich einfach in den Bann“, sagte Beatrice. „Entschuldigen Sie bitte mein schlechtes Llanandari.“
„Sie halten sich tapfer. Ich habe Heimweh nach Llanandras“, erwiderte Ysbeta. „Das ist ein seltener Churchman, in dem er von der magischen Küste erzählt, wo Ianthe und ich eine glückliche Kindheit verlebt haben. Es täte meinem Verständnis Ihrer Sprache gut, wenn ich ein paar gute Bücher darin lesen würde!“
„Sie sprechen Chasandisch?“
Ysbeta legte den Kopf auf die Seite. „Ein wenig. Sie sind sehr viel geübter in meiner Sprache als ich in Ihrer.“
Die Schmeichelei einer Frau, die genau wusste, worum es sich bei diesem Churchman handelte. Beatrice’ Magen zog sich zusammen. Ysbeta und ihr Bruder verkehrten in den höchsten Kreisen des Geldes und der Macht. Wenn Ysbeta gegenüber einer Frau, die sie als ebenbürtig wahrnahm, in schlichten Worten ihre Einsamkeit und ihr Heimweh eingestand, dann war das der Eröffnungsschritt in einem behutsamen Tanz. Der nächste Schritt bestand laut Etikette darin, dass Beatrice ihr das Buch anbot, um jenen Schmerz zu lindern.
Ysbeta erwartete von Beatrice mithin nichts Geringeres, als dass diese auf ihre eigene Rettung verzichtete. Dieses Buch barg den Schlüssel zur Freiheit, zeigte ihr einen Weg, dem Geschacher der Väter zu entgehen, die sie zu Mutterschaft und häuslichem Dasein verdammen wollten. Gäbe sie das Buch weg, brächte sie sich um ihre einzige Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. Behielte sie es aber …
Es zu behalten hieße, eine der mächtigsten Familien zu brüskieren, die die Welt der Handelsimperien vorzuweisen hatte. Sollte Beatrice’ Vater das Wohlwollen der Lavans noch nicht besitzen, wäre ihm sicherlich daran gelegen, es zu gewinnen. Machte sie sich eine mächtige Tochter Llanandras zur Feindin, so würde sich das auf alle Geschäftsbeziehungen und Partnerschaften auswirken, die den Wohlstand der Clayborns sicherten. Nachhaltig. Verheerend. Hatten die Familien, auf die es ankam, erst einmal ein schiefes Bild von ihnen, würden sie sich rasch von den Clayborns abwenden.
Das konnte Beatrice ihrer Familie nicht antun. Aber das Buch! Ihre Finger pressten sich in den Umschlag. Sie atmete den Duft nach gutem Papier und altem Leim und moosbewachsenen Steinen ein. Konnte sie diesen Schatz fortgeben?
„Ihr Heimweh rührt mich. Ich habe die Küste von Jy noch nie gesehen, doch ich hörte, dass sie ein ganz wundervolles Fleckchen ist. Es muss ein großes Glück gewesen sein, dort aufzuwachsen. Ich wünschte, ich könnte mehr darüber erfahren.“
Die eigenen Begehrlichkeiten als bloße Sentimentalität zu präsentieren, stellte einen angemessenen und höflichen, dabei aber rein passiven Schritt des Widerstands in diesem Tanz dar. Sie hatte das Buch aus dem Regal genommen. Sollte Ysbeta doch versuchen, sich mit ihrem Charme darüber hinwegzusetzen. Frust blitzte in den nachtdunklen Augen ihrer Rivalin auf, doch was immer sie erwidern wollte, wurde von dem aufdringlichen Angestellten im Keim erstickt.
Er verbeugte sich vor Ysbeta und Ianthe und berührte seine Stirn, als er den Blick senkte. „Willkommen im Harriman’s. Kann ich Ihnen helfen?“
Sein Llanandari war wirklich gut, vermutlich pflegte er es, indem er Romane im Original las. Ein breites Lächeln kündete von seiner Freude darüber, dass ein so bedeutsames Geschwisterpaar seinen Laden betreten hatte. Als er jedoch Beatrice einen Blick zuwarf, wurden seine Lippen dünn, während sich seine Nasenflügel blähten.
„Ja“, sagte Ysbeta. „Ich hätte gern …“
„Danke für Ihr Angebot“, unterbrach Ianthe seine Schwester und lächelte den Angestellten an. „Alle hier sind so hilfsbereit. Im Moment sehen wir uns nur um.“
Der Angestellte faltete die Hände vor dem Bauch. „Harriman’s ist zu erstklassiger Dienstleistung verpflichtet, Sir. Falls Ihnen diese … Person Ungemach bereitet, werden wir die Belästigung sofort unterbinden.“
„Vielen Dank für das Angebot“, sagte Ianthe etwas bestimmter. „Es geht uns gut, und diese Dame belästigt uns nicht.“
Ysbeta warf ihm einen mürrischen Blick zu, verkniff sich aber jeden Kommentar. Der Angestellte sah Beatrice noch einmal tadelnd an, bevor er sich entfernte.
„Das tut mir leid“, sagte Ianthe, und sein Lächeln brachte ihr Herz zum Stolpern. „Offensichtlich wollt ihr beide dasselbe Buch. Ich schlage eine Lösung vor.“
„Es gibt nur ein Exemplar.“ Ysbeta hob ihr zierliches Kinn. „Welche Lösung schwebt dir da vor?“
„Ganz einfach, Ihr könntet es zusammen lesen“, sagte Ianthe und schlug dabei die Hände zusammen. „Ysbeta kann Ihnen alles über die Berge und die Perlenbucht erzählen.“
Beatrice fiel ein Stein vom Herzen. Es würde sich rasch herumsprechen, dass sie mit einer mächtigen Familie auf gutem Fuße stand. Wie es wohl sein würde, mit einer anderen Zauberin befreundet zu sein, einer Frau ihresgleichen? Beatrice lächelte, dankbar für Ianthes Vorschlag. „Das wäre ganz wunderbar. Ist es wahr, dass in Jy einige der schönsten Tiere dieser Welt leben?“
„O ja. Haben Sie Chasland jemals verlassen, Miss Clayborn?“, fragte Ysbeta. „Oder träumen Sie nur vom Reisen?“
„Ich träume davon zu … ich träume vom Reisen, aber ich habe das Land noch nie verlassen“, sagte Beatrice. „Da draußen gibt es so viel Wunderbares! Wer würde sich nicht danach sehnen, sich durch die Wasserstadt Orbos treiben zu lassen oder durchs elfenbeinerne Masillia zu schlendern oder in den Gärten von An zu entspannen?“
„An ist sehr schön“, sagte Ianthe. „Wenn Sanchi auch weit von hier entfernt ist. Sie müssen sich mit meiner Schwester verabreden! Sie wurde in der Mitte des Meeres geboren, ihre Seele gehört dem Horizont. Sie beide sollten Freundinnen sein. Mit weniger gebe ich mich nicht zufrieden.“
Auf einem Schiff, meinte er sicherlich, doch die Formulierung entlockte Beatrice ein verwirrtes Blinzeln, bis sie schließlich verstand, dass er sich poetisch ausgedrückt hatte. Sie sah Ysbeta an, die nicht gerade erpicht darauf zu sein schien, Beatrice’ Freundin zu werden. „Das wäre mir sehr recht.“
Ysbeta presste die Lippen zusammen, doch ihr Nicken ließ ihre Locken wippen. „Mir auch.“
„Morgen!“, rief Ianthe aus. „Wir essen gemeinsam zu Mittag, und dann ist der Nachmittag die ideale Zeit für eine fruchtbare gemeinsame Lektüre. Bringen Sie Ihr Notizbuch mit, Miss Clayborn, und wir werden uns an Ihrer Gesellschaft erfreuen.“
Zugang zum Buch! Freundschaft mit den Lavans! Alles, was sie noch tun musste, war, Ysbeta das Buch entgegenzustrecken, damit diese es an sich nahm. Danach würde sie freilich zusehen müssen, wie sich ihr Grimoire, von ihr in einem unordentlichen Haufen irrelevanter Romane, zuckersüßer Verse und überholter Schriften entdeckt, immer weiter entfernte, davongetragen in der Armbeuge einer Fremden.
Ihr Blick wanderte von Ysbetas finsterer Miene zu Ianthes fröhlichen Augen: Er meinte den Vorschlag ernst. Beatrice ging im Geiste ihre Kleider durch. Konnte sie sich damit bei diesen beiden sehen lassen?
Doch noch durfte sie sich keine Gedanken über ihre Kleidung machen! Noch musste sie Vorsicht walten lassen! Zögernd überreichte sie Ysbeta den Band. Erst, als er sich in ihren Händen befand, schenkte diese ihr ein Lächeln, das einen leicht schiefen vorderen Schneidezahn offenbarte.
„Danke“, sagte sie. „Entschuldigen Sie mich kurz.“
Die beiden ließen sie zwischen den Stapeln stehen. Ianthe trat draußen an die Kutsche heran, während Ysbeta mit ihrer Unterschrift für die Zahlung per Rechnung garantierte und dann ebenfalls den Laden verließ. Hinter ihr klingelte die Türglocke.
Ysbeta hatte nie beabsichtigt, Beatrice zu sich einzuladen.
Sie hatte Beatrice bestohlen.
In einiger Entfernung bog der türkis emaillierte Landauer um die Ecke, und als er aus Beatrice’ Sichtfeld verschwand, verhallte auch das kitzelnde Locken des Zauberbuchs.
Verloren. Gestohlen! Ach, sie würde niemals wieder dem Wort eines Gentlemans vertrauen! Da hatte sie endlich die Chance gehabt, frei zu sein! Verdammte Etikette! Sie hätte sich weigern müssen, hätte Nein sagen sollen!
Zwei Frauen schnalzten missbilligend mit der Zunge, weil sie ihnen im Weg stand. Beatrice trat eilig an den Rand des Gehsteigs. Sie hatte dieses Nein nicht über die Lippen gebracht. Damit hätte sie ihre Familie womöglich ins Aus manövriert. Sie plante ja eh, den respektablen Namen der Clayborns zu beflecken, indem sie nicht heiratete. Das war schlimm genug. Mehr durfte sie ihr nicht antun, schließlich musste sie auch an Harriet denken.
Beatrice’ jüngere Schwester malte Bilder von sich im grünen Gewand der Ehezeremonie. Sie las all die Romanzen über Frauen in der Ballsaison, über eine Welt, in der Minister und Earls förmlich danach lechzten, sich in eine Kaufmannstochter zu verlieben. Und Harriet war bereit für diese Bestimmung. Beatrice durfte ihr diese Zukunft nicht vermasseln.
Aber das Buch! Wie sollte sie denn ein zweites finden?
Sie wartete an einer Straßenecke darauf, dass ein Posten den Kutschenverkehr anhielt, damit sie die Silk Row in einer Menschentraube überqueren konnte. In großen Schaufenstern trugen Puppen opulente Gewänder, auf den bemalten Holzköpfen saßen Perücken. Spektakuläre Schuhe mit schwindelerregenden Absätzen waren mit Drähten in Tanzschritten fixiert. Beatrice ging an den Auslagen vorbei und hielt bei den Modistinnen Tarden und Wallace inne.
Tarden und Wallace war das erste Atelier in ganz Bendleton, die eine der beiden Eigentümerinnen eine Llanandari. Die Entwürfe wurden gedruckt, gebunden und an junge Frauen verkauft, die über den Skizzen von Kleidern seufzten, welche die Schönheit der Trägerinnen mit Schnürmiedern, tiefen Dekolletés und luxuriösen importierten Stoffen zum Strahlen brachten. Dieser Salon war der teuerste am Ort, und doch hatte ihr Vater ohne Murren für ihre Garderobe bezahlt.
Beatrice stellte fest, dass sie gedankenverloren auf ihrer Lippe kaute. Ihr Vater hätte eine andere Modistin gewählt, wenn er sich diese beiden nicht leisten konnte. Mit Sicherheit.
Sie öffnete die Tür und trat ein.
Alle Blicke richteten sich auf sie. Auf ihr windzerzaustes Haar, den staubigen Saum des Kleids und ihre unbehandschuhten Hände. Zwei Frauen – die identischen, mit Blumen bedruckten Baumwollkleider wiesen sie als Schwestern aus – sahen einander an und bedeckten dann kichernd ihre Münder.
Beatrice wurde rot. Nun rächte sich, dass sie nicht in der Kutsche sitzen geblieben, sondern wie eine gewöhnliche Frau zu Fuß gegangen war. Als würde sie ein unsichtbares Handbuch für Manieren und Auftreten junger Damen auf dem Kopf balancieren, korrigierte sie prompt ihre Haltung und kämpfte gegen den Drang an, ihre schlichten, mit Tee gefärbten Röcke abzuklopfen.
Clara trat lächelnd aus dem Hinterzimmer, das der Anprobe diente. „Sie werden es lieben, Miss Beatrice! Das Kleid für heute Abend ist fertig, und ich habe noch vier weitere in Auftrag gegeben …“
Eine Assistentin folgte Clara auf dem Fuße. Über dem Arm trug sie ein halb fertiges grünes Kleid. Beatrice schluckte. Das war ihr Hochzeitskleid. Sie würde es im Tempel tragen, wo sie durch das Band der Ehe an einen wohlhabenden jungen Magier gefesselt würde und ihrer Magie für Jahrzehnte Lebewohl sagen müsste. Sie wandte den Blick ab und beobachtete, wie Miss Tarden höchstselbst mit einem säuerlichen Ausdruck auf den vollen Lippen auf dieses Kleid starrte.
„Miss Beatrice? Wollen Sie Ihr Kleid denn nicht anprobieren?“, fragte sie mit warmem, gut gepflegtem Llanandari-Akzent.
Beatrice musterte das Hochzeitskleid, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. „Ich habe noch einen anderen Termin, fürchte ich.“
Clara deutete auf das Hinterzimmer. „Es wird knapp, aber die paar Minuten können wir uns noch …“
„Nein, das ist schon in Ordnung“, sagte Beatrice. „Du kannst mir auf dem Weg zum Kapitularhaus alles über die neuen Kleider erzählen.“
Die beiden Schwestern sahen einander überrascht an. Beatrice ignorierte sie.
Clara nahm die Schachtel mit einem Knicks entgegen. „Ja, wir wollen nicht zu spät kommen.“
Beatrice verließ das Geschäft als Erste. Clara stieg mit der Schachtel in die Kutsche, die ihr Vater für sie gemietet hatte. „Sie haben ja doch kein Buch gekauft!“
Beatrice betrachtete eine Gruppe Gentlemen, die auf langbeinigen, langmähnigen Pferden vorbeiritten und einander lachend etwas zuriefen. Sie trugen Reitstiefel aus feinem, mit Ornamenten geschmücktem Leder, doch ihre Köpfe umgab keine Aura. Das waren nur junge Männer, keine Magier. „Dieses Buch, das ich erwerben wollte, wurde schon von jemand anderem gekauft.“
„Ach, Miss Beatrice, das tut mir leid. Ich weiß ja, wie sehr Sie Ihre alten Bücher lieben.“ Clara berührte Beatrice’ Arm, eine sanfte Geste des Trosts. „Es findet sich sicher ein anderes Exemplar. Wir können alle Buchhandlungen anschreiben, wenn Sie möchten.“
Clara konnte die eigentliche Katastrophe natürlich nicht ermessen. Beatrice durfte ihr jedoch nicht die Wahrheit sagen, selbst wenn sie die ältere Frau noch so mochte. Sie durfte sich niemandem anvertrauen. Vermaledeite Ysbeta Lavan! Hätte sie nicht fünf Minuten später auftauchen können?
Sie musste dieses Buch in die Hände bekommen, sie musste einfach!
„Aber jetzt können Sie sich ja auf den Tee mit Ihrem Vater freuen“, sagte Clara versöhnlich. „Und dem ersten jungen Mann. Ich vermute, Danton Maisonette sieht sehr gut aus.“
Beatrice zuckte mit den Schultern. „Mit einem Titel und einer maßgeblichen Beteiligung an Valserres größter Firma für Kapitalanlagen braucht er nicht gut auszusehen.“
„Aber Miss Beatrice! Ich weiß ja, dass Ihnen egal ist, wie dick seine Taschen sind. Überlassen Sie die Wahl daher Ihrem Herrn Vater. Er wird wissen, was zu tun ist. Worauf hoffen Sie denn? Vielleicht doch auf gutes Aussehen? Oder Klugheit?“
„Auf Ehrlichkeit.“
Mit nachdenklich gerunzelter Stirn dachte Clara darüber nach. „Ehrlichkeit kann ein zweischneidiges Schwert sein, Miss Beatrice. Aber da wären wir ja schon!“
Beatrice hatte versucht, zu ignorieren, dass sie sich dem Kapitularhaus näherten. Die Kutsche hielt vor dem Gebäudes an, das die gesamte Südseite des Platzes einnahm und seinen Schatten auf die Straße warf.
Das Bendleton-Kapitularhaus war das jüngste in Chasland, mit einem hoch aufragenden Glockenturm und dazu passenden Spitztürmen. In den Fenstern leuchtete Buntglas. Beatrice starrte das Gebäude an, als wäre es ihr Erzfeind.
Was sie vor sich sah, war das Herz im Leben von Magiern der ganzen Welt. Hier wurden sie ausgebildet, hier lag das Zentrum rein männlicher Macht und männlichen Einflusses, das Frauen wie ihr verschlossen blieb. Selbst, wenn sie sich im fortgeschrittenen Alter wieder der Magie würde widmen dürfen, gäbe es im Kapitularhaus keinen Platz für sie. Ihr war es nur erlaubt, die Galerie und den Teesalon zu betreten, dies obendrein ausschließlich in Begleitung eines Mannes, der Mitglied des Hauses war. Danach hieß es: keinen Schritt weiter.
Jungen zwischen zehn und achtzehn Jahren waren hier untergebracht, lernten Mathematik und Geschichte, Ritualabläufe und magische Techniken. Vollwertige Mitglieder tauschten Geschäftsgeheimnisse mit ihren Kapitularbrüdern, entschieden über Gesetze, ehe diese überhaupt ans Ministerium gingen, und brachten sich und ihresgleichen durch Zauberkräfte und bruderschaftliche Beziehungen noch weiter nach oben.
Das Kapitularhaus beherbergte Werkstätten für Handwerk und bildende Kunst, passend ausgestattete Ritualräume und sogar Gästewohnungen, in denen Kapitularbrüder willkommen waren. Im Skriptorium waren Tausende von Büchern gehortet, verfasst in Mizunh, der geheimen Sprache der Geister. Jahrhunderte der Tradition, der Restriktion und männlicher Exklusivität bildeten das steinerne Fundament dieses Gebäudes. Beatrice starrte also tatsächlich ihren Erzfeind an.
„Jetzt schmollen Sie doch nicht, Miss Beatrice! Ruinieren Sie das Treffen nicht, indem Sie zulassen, dass Ihre Gefühle Ihre Mimik beherrschen“, insistierte Clara. „Lächeln Sie!“
Beatrice verzog die Lippen, bis ihre Wangen rund wurden.
„Mit Gefühl! Denken Sie an etwas Schönes! Stellen Sie sich einfach vor, Sie würden etwas Wundervolles tun!“
Beatrice stellte sich vor, sie hätte das Recht, jeden Quadratmeter des Kapitularhauses zu betreten. Sie und ihr größerer Geist wären bekannte Mysteriengelehrte. Die Herrschaften lächelten ihr nicht zu, weil sie hübsch, sondern weil sie respektabel war. Frauen würden von einem Hörsaal zum anderen laufen und offen die hohe Kunst und Wissenschaft der Magie studieren. Beatrice dachte an die Welt, die sie sich wünschte, und straffte die Schultern.
Sie lächelte, als sei das Kapitularhaus ihr Freund.
„Viel besser!“, lobte Clara sie. „Ich bringe diese Kleider nach Hause, denn Sie kommen ja sicher mit Ihrem Vater heim. Viel Glück!“
„Danke“, sagte Beatrice und schritt auf die hohe Doppeltür zu.
Kühl und gedämpft warf die gewölbte Decke das Echo ihrer Schritte zurück. Die weitläufige Eingangshalle diente auch als Debütantinnengalerie. Vasen mit teuren Blumen standen zwischen vierzehn Gemälden, ihr Duft mischte sich mit dem sauberen, kalten Steingeruch der Halle. Beatrice ging auf das Porträt von Ysbeta Lavan zu. Eine strahlende Erscheinung, atemberaubend geradezu, in einem Kleid von sattem Türkis, die Hand nach einem topazblauen Schmetterling ausgestreckt, der auf den üppigen schweren Blüten eines Ylang-Ylang-Baums im Hintergrund saß. Ein juwelenbesetztes Diadem schnürte ihre schwerelose Wolke aus Locken. Der Glanz und die Schönheit beherrschten dieser Frau den Raum, sie hing im Zentrum, in der besten Position. Leer gähnten Rahmen links und rechts, als könne sich nichts und niemand mit ihr vergleichen.
Beatrice’ eigenes Bildnis stand in einer düsteren Ecke neben einigen jungen Frauen, die nichts Außergewöhnliches an sich hatten, aber offenbar wohlhabend waren. Der Maler hatte sowohl den warmen Glanz ihres Samtkleides als auch die unmodischen Puffärmel eingefangen. Sie hielt ihre Geige im Schoß.
Sie erinnerte sich kaum noch an den Geruch des Leinöls oder an den verfluchten Staub, der sie in der Nase gekitzelt hatte. Von der unglaublichen Langeweile ganz zu schweigen. Stundenlang hatte sie still sitzen müssen, gequält von dem unbezwingbaren Wunsch, sich zu kratzen. Am stärksten war ihr das merkwürdige Gefühl in Erinnerung, gründlich vom Künstler aus Gravesford studiert zu werden, obgleich ihre wahre Natur doch verborgen blieb.
Dabei hätte es interessant werden können. Der Mann war Feuer und Flamme für die Idee gewesen, Beatrice mit einem Gewehr zu malen, nachdem er sie eines Morgens mit einer Schusswaffe angetroffen hatte, als sie von ihrem Ritt in den Wäldern zurückgekehrt war. Beatrice versuchte, ihm zu erklären, dass sie die Waffe nur mit sich führte, um sich gegen wilde Keiler oder gelegentlich einen Bären zur Wehr setzen zu können, doch der Maler war nun einmal ganz und gar verliebt in seine Vision. Ihr Vater hatte der Auseinandersetzung ein Ende bereitet, indem er angedroht hatte, ihn ohne Bezahlung heimzuschicken.
Hätte der Maler doch nur seinen Willen bekommen! Nun war die Beatrice in Öl genau das, was man erwartete. Ach, trüge sie doch nur ein Gewehr unterm Arm! Oder hätte sie eine Pistole in ihrer Hand baumeln, während sie sich leger wie ein Gentleman in den Mußestunden in einem Sessel lümmelte. Gäbe es da nur irgendetwas, das allen klarmachen würde, dass sie ein Charakter war, irgendetwas, das den Leuten beweisen würde, dass mehr in ihr steckte als das, was sie von Frauen erwarteten: Zierde und geübtes Schweigen.
„Bei den Sterngeborenen, was für eine Aura! Sie müssen Beatrice sein!“, rief eine Stimme in akzentuiertem Llanandari.
Sie wandte sich um und starrte einen jungen Mann an, bei dem es sich nur um einen handeln konnte: „Danton Maisonette. Guten Tag. Haben Sie sich das neue Kapitularhaus angesehen?“
„Hier in Chasland sind sie doch alle neu“, sagte Danton mit einem abwertenden leisen Schnauben. „Valserre ist bereits seit siebenhundert Jahren Teil der Bruderschaft. Chasland wird sich noch ruinieren, wenn es weiter versucht, mit den besseren Nationen Schritt zu halten.“
Beatrice presste die Lippen zusammen, als könnte sie dadurch seinen abfälligen Beleidigungen trotzen. „Dann entspricht es nicht Ihrem Standard?“
Er sah an der Steinwand empor, die mit aller Kunstfertigkeit der chasandischen Steinmetze gestaltet worden war, und hatte nur ein Schulterzucken dafür übrig. „Im neusten Stil. Chasländern ist Gold eben wichtiger als Geschmack.“
Beatrice suchte nach den richtigen Worten und einem Zügel für ihr Temperament. „Wie hätten Sie die Wand denn gehalten? Valserraner sind ja schließlich bekannt für ihre … Kenntnisse in allen Fragen der Schönheit.“
„Ästhetik“, korrigierte Danton sie. „Einen älteren Stil zu imitieren bedeutet, sich auf ein Vermächtnis zu beziehen, das hier, wenn ich recht darüber nachdenke, nicht existiert. Kapitularhäuser sollten jedoch Gravität verströmen. Sie sollten zeitlos sein, nicht modisch.“
Beatrice suchte nach einer Antwort, aber Danton kam ihr zuvor. „Obwohl die Akustik in den Arbeitsräumen erstaunlich gut ist.“
„Das ist sicherlich den Baumeistern zu verdanken“, sagte Beatrice. „Der Entwurf stammt von einem Hadfield, das ist eine Familie, die schon seit Jahrhunderten heilige Stätten gebaut.“
„Baut“, korrigierte Danton erneut ihr Llanandari. „Ihr singt zu Ehren eurer Gottheiten? Das muss sich in der Langen Nacht eindrucksvoll anhören. Können Sie denn singen?“
„Ich wurde darin unterwiesen“, antwortete Beatrice, „wie alle chasandischen Ladys.“
Dantons Mund verzog sich ungeduldig. „Aber sind Sie gut darin?“
Dieser unhöfliche … Laffe! Diese Arroganz! Beatrice hob das Kinn. „Ja.“
„Sie sind ganz schön selbstsicher.“ Er beäugte sie einen Moment lang. „Aber ich glaube Ihnen.“
Er neigte den Kopf, verschlang Ysbeta Lavans Porträt geradezu mit Blicken und wandte sich dann wieder Beatrice zu.
Danton Maisonette war nur wenig größer als sie. Sein brauner Mantel und die sandfarbene Weste waren meisterlich geschneidert, aus dem legendären Baumwollsatin Llanandras, der mit geschmackvollen geometrischen Mustern verziert war. Er war halbwegs attraktiv, aber sein dünner kleiner Mund war so verkrampft, dass Beatrice sich nicht vorstellen konnte, daraus je ein freundliches Wort zu vernehmen. Maisonette hielt sich sehr aufrecht, die Brust vorgestreckt. Seine ganze Erscheinung erinnerte Beatrice an einen Soldaten, was durchaus Sinn ergab. Als valserranischer Erbe eines Marquessats stand ihm ein hoher Posten in der nationalen Armee zu. Unter seinen Lidern blickten wasserblaue Augen mit unverwandten, direktem Starren hervor.
Oder starrte er nur sie auf diese Weise an? Denn er nahm sie derart kritisch unter die Lupe, dass sich ihr Magen verkrampfte. Als er schließlich auch noch zu ihrem Bild hinüberblickte, um dieses mit dem Original zu vergleichen, kochte Beatrice hinter dem sittsamen Lächeln, das genau der Abbildung auf der Leinwand entsprach.
„Sie sind wirklich hübsch“, sagte er. „Zu viele Rotschöpfe sehen aus, als bestünden sie aus fleckigem Kalk.“
„Danke sehr.“ Das waren absolut nicht die Worte, die sie hatte aussprechen wollen, aber sie hatte Ihrem Vater versprochen, nett zu sein. Hätte doch nur jemand Danton dasselbe Versprechen abgenommen! Ihr Wunsch nach Ehrlichkeit war ihr gewährt worden. Als sie ihn geäußert hatte, war sie jedoch nicht davon ausgegangen, wie die hübsche Figur auf einer Spieluhr behandelt zu werden, die sich weiterdrehte, auch wenn Danton Maisonette die unglaublichsten Beleidigungen gegen sie schleuderte.
„Diese Unterredung wird für Sie sehr langweilig werden. Wir werden nur über Handel und Investitionen reden. Sie haben sich doch sicher etwas Handarbeit mitgebracht, um sich die Zeit zu vertreiben?“
Hätte sie ihn doch nur mit fassungslos geweiteten Augen anstarren dürfen! Hätte sie doch nur die Kinnlade aufklappen dürfen! Stattdessen musste sie lächeln, nur immer weiter lächeln im Angesicht dieses impertinenten Rüpels. „Ich fürchte, ich habe nichts dabei.“
Er zog einen Mundwinkel herab. „Ich bin im Übrigen schon sehr gespannt auf das Gespräch unserer Väter.“
Das sicher interessanter wird, als mich zu unterhalten, weil ich keine Häkelarbeit mitgebracht habe, dachte Beatrice, behielt ihr Lächeln aber bei und fragte: „Haben Sie die ganze Kapitularhausgalerie gesehen?“
„Das Einzige, was neu ist, sind die Debütantinnen“, sagte er und schlug damit das subtile Angebot aus, gemeinsam durch die Galerie zu schlendern. „Nur vierzehn dieses Jahr. Privatverhandlungen sind zu populär geworden.“
Beatrice blinzelte und legte den Kopf schief. Das wiederum fasste Danton als willkommene Einladung auf, ihr das Leben zu erklären. „Die Leute arrangieren Ehen außerhalb der Ballsaison. Ha! Chaslands Exportprodukt Nummer eins: Kinder, im Dutzend billiger. Die Ladys von bestem Blut sind bereits vergeben. Wo kommen Sie denn her, dass Sie das nicht wissen?“
Ladys boxen nicht. Nicht einmal einen unhöflichen, unerträglichen Flegel. „Mayhurst.“
Er hob die Brauen. „Aus den Nordlanden“, sagte er mit belustigtem Schaudern. „Das ist ja praktisch Provinz. Sind Sie überhaupt schon einmal in Gravesford gewesen?“
O nein, alles – nur nicht diesen Mann! Es war ihr egal, dass er einen Marquis beerben würde. Sie würde ihn nicht heiraten, um als seine Ehefrau ins entfernte Valserre verschifft zu werden, weitab von ihrer Familie. Ja, sie würde nicht einmal eine weitere unnötige Minute in seiner Gegenwart verbringen. „Wir haben einen Zwischenstopp auf dem Weg hierher eingelegt.“
„Um Kleider zu kaufen, vermute ich.“ Er musterte ihre Tagesgarderobe und zuckte mit den Schultern. „Ich vermute, wenn ihr vor Wildschweinen davonlauft, habt ihr keine Verwendung für fein gewobene Llanandras-Baumwolle.“
„Oh, wir haben dafür immerhin Gewehre.“ Beatrice wurde erst zu spät klar, was sie gesagt hatte.
Er starrte sie erschüttert an. „Sie schießen?“
„Ziemlich gut sogar“, sagte Beatrice – und ihr Lächeln fühlte sich mit einem Mal höchst aufrichtig an.
„Verstehe“, sagte Danton. „Wie passend für Sie. Wir sollten jetzt Tee trinken. Gibt es auf dem Land auch Tee?“
Beatrice mischte ihr Lächeln mit Zucker und Arsen. „Wenn er sich zu uns verirrt, dann schon, angeliefert mit dem Hundeschlitten, hundert Meilen durch den Schnee.“
„Wirklich?“
Beatrice’ Lächeln wurde immer breiter. „Nein. Wir haben da oben mindestens sechs Hafenstädte.“
Na, wunderbar. Jetzt mochte er sie garantiert nicht mehr.
Beatrice glitt neben ihm dahin, während er sie zum Teesalon führte. Sie lächelte dem Marquis nett zu, nahm Platz und ignorierte den eigens verpflichteten Pianisten, der sich mit einer Klaviersonate abmühte, um ihre ungeteilte Aufmerksamkeit dem Gespräch über Handel und Investitionen zu widmen, von dem Danton angenommen hatte, dass es sie schrecklich langweilen würde. Sie stellte Fragen und zerstörte ihre Fassade harmloser Neugier mit etlichen Bemerkungen. Ihr Vater trug es mit Fassung, doch seine Stirn legte sich in Falten, sobald sie den Marquis und seinen Sohn verabschiedet hatten und in den Landauer gestiegen waren, der sie zurück zur Triumph Street bringen würde.
Ihr Vater nahm auf der Bank ihr gegenüber Platz und seufzte. Beatrice sank das Herz, als er ihr einen Blick zuwarf, bei dem sich die Sorgenfalten auf seiner Stirn weiter vertieften. Er sah gut aus in brauner Baumwolle, selbst wenn Jacke und Weste nur bescheidene Stickereien aufwiesen. Der Mund stand ihm offen, als wolle er etwas sagen, doch dann wandte er den Blick ab und schüttelte den Kopf.
„Vater, es tut mir leid.“
Beatrice ahnte mehr oder weniger, was genau ihr leidtun sollte, doch ihr Vater würde sie ohnehin noch mit allen Einzelheiten darüber ins Bild setzen. Sie wartete auf die unvermeidliche Antwort, und er lieferte sie mit schmerzlichem Gesichtsausdruck. „Beatrice, ist dir klar, wie wichtig es ist, auf die jungen Männer, die du bei unserem Aufenthalt hier treffen wirst, einen guten Eindruck zu machen?“
„Vater, er war unerträglich. Versnobt und arrogant. Wenn ich diesen Mann heiraten müsste, würden wir uns von morgens bis abends nur anschreien.“
Ihr Vater fuhr sich mit der Hand durch die blonden, silberdurchwirkten Locken, und sie fielen wieder an dieselbe Stelle wie zuvor, rahmten seine feinen Züge, in die Erfahrungen, allzu viele Bürden und ihre Launen Furchen gegraben hatten. „Dieser schreckliche Mann wird dann aber ein Marquis sein.“
„Marquis de Schrecklich, von mir aus. Ich wäre keine Minute mit ihm glücklich.“
„Ich hatte wirklich gehofft, du wärst weniger kapriziös“, sagte Vater. „Dieses Treffen war ein spezielles Arrangement. Und du erzählst ihm, du könntest schießen? Was hat dich da nur geritten?“
„Es ist mir einfach herausgerutscht. Und ich habe mich entschuldigt. Aber er hat mich ausgelacht, weil wir vom Land kommen, er hielt mich für dumm, als würde uns Chasländerinnen keine Bildung zuteil.“
„Ich hätte dich vielleicht auf eine Damenschule schicken sollen“, seufzte ihr Vater. „Jetzt ist es zu spät, auch wenn Harriet natürlich noch ein Mädchenpensionat besuchen könnte.“
Ermöglicht durch eine Finanzspritze von Beatrice’ zukünftigem Gatten. „Harriet würde es lieben.“
„Wenn wir hier Erfolg haben, wäre ihr das möglich. Immerhin seid ihr nur vierzehn Bewerberinnen.“ Seine Miene hellte sich auf, als er über den Brautmarkt nachdachte und die Tatsache, dass sich junge Männer in Scharen zu Beatrice hingezogen fühlen würden, einfach, weil sie eine dieser wenigen Debütantinnen war. „Aber wenn du ihn dir warmgehalten hättest …“
„Wo er herkam, gibt es noch andere junge Männer“, sagte Beatrice. Und mit etwas Glück würden alle sie ausnehmend befremdlich finden. Dann bräuchte sie nur noch eine weitere winzige Portion Glück, um das Grimoire wieder in die Finger zu bekommen …
Der Gedanke hallte wie Glockengeläut in ihrem Geist nach. Sie konnte das Buch doch zurückbekommen! Sie wusste ganz genau, wie! Helle Aufregung schoss durch ihre Adern, erfüllte sie mit dem Drang, aus dem Landauer zu springen und schneller zu laufen, als die schwerfälligen schwarzen Pferde trotteten. Sie verknotete die Finger und kämpfte darum, aufmerksam zu wirken, während ihr Vater auf sie einredete.
„Es ist nicht so, dass ich mir wünsche, dass du einen Mann heiratest, den du nicht ausstehen kannst, Beatrice. Aber … versuch es wenigstens, ja? Versuch, sie nicht zu früh abzustempeln.“
Beatrice nickte, alle Gedanken bereits auf ihren Plan gerichtet. „Ja, Vater. Ich gebe mir beim nächsten Mal wirklich Mühe.“
Dann betrachtete sie die baumgesäumten Straßen von Bendleton, die bereits vom Frühlingsgrün der Knospen überzogen und von schweren, süß duftenden Blüten übersät waren, und konnte es gar nicht erwarten, nach Hause zu kommen.
„Rundum gelungen“
„Die Geschichte kam schillernd, zeitgenössisch, magisch, romantisch und auch spannend daher. Wort für Wort hat sie mich mehr in ihren Bann gezogen, wenn auch Tränchen verdrückt wurden.“
„Der Schreibstil von Polk passt sehr gut in die Welt und lässt genau die richtigen Regency-Vibes aufkommen.“
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