Der Ruf des Sommers Der Ruf des Sommers - eBook-Ausgabe
Das erstaunliche Leben der Mauersegler
— Eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit einer höchst spannenden Vogelart„Dieses Buch eines Liebhabers begeistert.“ - Neue Zürcher Zeitung online
Der Ruf des Sommers — Inhalt
Ein poetisches Buch über die Akrobaten der Lüfte
Mauersegler legen bis zu 50.000 Kilometer pro Jahr fliegend zurück, können im Flug schlafen, und wo sie sind, ist Sommer: Sie sind weitgereiste Weltenbummler; ihr Verhalten ist so faszinierend wie universell.
Zwölf Monate lang folgt Charles Foster seinen Lieblingstieren. Er beobachtet, wie sie sich in Mosambik für den Flug gen Norden bereitmachen, verfolgt ihren Ritt auf dem Scirocco, der von der Sahara Richtung Mittelmeer fegt, und ihre Ankunft in Südeuropa. In England sieht er zu, wie die faszinierenden Vögel sesshaft werden und ihren Nachwuchs großziehen, um anschließend nach Afrika zurückzukehren.
Eine herausragende Liebeserklärung, einfühlsam illustriert von Jonathan Pomroy.
„Fosters Gabe, die Natur scharf zu beobachten und zu lesen, begeistert.“ Badische Zeitung
Leseprobe zu „Der Ruf des Sommers“
Vorbemerkung des Autors
Dies ist die Geschichte einer Obsession.
Wahrscheinlich gibt es Schlimmeres, als von Mauerseglern besessen zu sein, aber zweifellos auch Besseres.
Da es um die Geschichte einer Obsession geht, die von dem Betroffenen selbst geschrieben wurde, ist zwangsläufig auch einiges von mir eingeflossen und nimmt Raum ein, den man für mehr Informationen über Mauersegler hätte nutzen können.
Man schätzt, dass es etwa 18 000 Vogelarten auf unserem Planeten gibt. Wie lässt sich da ein ganzes Buch nur über eine einzige rechtfertigen?
Was sicherlich [...]
Vorbemerkung des Autors
Dies ist die Geschichte einer Obsession.
Wahrscheinlich gibt es Schlimmeres, als von Mauerseglern besessen zu sein, aber zweifellos auch Besseres.
Da es um die Geschichte einer Obsession geht, die von dem Betroffenen selbst geschrieben wurde, ist zwangsläufig auch einiges von mir eingeflossen und nimmt Raum ein, den man für mehr Informationen über Mauersegler hätte nutzen können.
Man schätzt, dass es etwa 18 000 Vogelarten auf unserem Planeten gibt. Wie lässt sich da ein ganzes Buch nur über eine einzige rechtfertigen?
Was sicherlich einer Rechtfertigung bedarf, ist die Tatsache, dass es über die meisten anderen Vogelarten keine Bücher gibt. Jede Spezies auf Erden hat unendlich viele Bücher verdient. Denn jede ist unendlich komplex und wunderbar, und das Leben jeder einzelnen ist eng verwoben mit dem aller anderen.
Daher glaube ich nicht, mich dafür entschuldigen zu müssen, dass ich dieses Buch geschrieben habe. Aber vielleicht sollte ich erwähnen, dass einer der Gründe für meine Obsession darin liegt, dass ich über die Mauersegler Zugang zu Orten gefunden habe, die offensichtlich mehr mit menschlichem Streben und Erfolg zu tun haben als ein unter den Dachvorsprung genagelter Nistkasten. Vieles von dem wenigen, was ich darüber weiß, wie man ein guter Vater, Freund und Mensch ist, haben mich die Mauersegler gelehrt. Das erscheint auf den ersten Blick sonderbar. Diesem Sonderbaren werde ich in diesem Buch nachgehen. Und ich nutze die Sonne, die zwischen den Flügeln eines herabschießenden Mauerseglers hindurchscheint, um Licht auf einige allgemeine Fragen zu unserem Dasein in der Welt zu werfen.
Es erscheint mir notwendig zu erwähnen, dass wir meiner Auffassung nach nur über das Besondere zum Allgemeinen gelangen können. Dass wir als kleine, eigenständige, orts- und körpergebundene Tiere unsere Suche nach übergeordneten Prinzipien auf kleine, eigenständige, orts- und körpergebundene Weise beginnen müssen. Ich bin davon überzeugt, dass die beste Reiseliteratur von Menschen geschrieben wird, die einen bestimmten Ort wirklich gut kennen; dass die besten Bücher über Liebesbeziehungen nicht von Leuten stammen, die jeden Morgen in einem anderen Bett aufwachen, sondern die lang und hart an einer einzigen Beziehung gearbeitet haben; dass wirklich beeindruckende polyglotte Menschen eine Sprache ganz besonders gut beherrschen.
Das ist kein wissenschaftliches Buch, doch habe ich mich bemüht, die wissenschaftlichen Sachverhalte richtig darzustellen. Will man die in Schaubildern, Tabellen und Gleichungen enthaltene Poesie vermitteln, kommt man nicht weit, wenn man die zugehörigen Artikel nicht richtig versteht. In der Biologie der Mauersegler gibt es immer noch eine Vielzahl faszinierender Ungewissheiten. Mögen sie lange fortbestehen – wovon ich ausgehe.
Gelegentlich kommen Zahlen und Berechnungen vor. Wenn Sie mit solchen Dingen nichts anfangen können, überspringen Sie die Passagen einfach.
Bei Monografien über Tiere ist es üblich, sie in Kapitel über Fortpflanzung, Nahrungserwerb, Wanderungen, Feinde und so weiter zu unterteilen. Der Sinn dahinter leuchtet mir durchaus ein, aber ich habe kein gutes Gefühl dabei. Denn das sind menschliche Kategorien. Ein Tier in solche Schubladen zu pressen ist eine Form von Kolonialismus. Jedes Tier hat sein Leben, das konstant durch Raum und Zeit fließt und das in jedem Augenblick von all den Kräften, die diese Kategorien repräsentieren, beeinflusst wird. Die am wenigsten unbefriedigende Methode, diese Kontinuität widerzuspiegeln, schien es mir, die Mauersegler im Jahresverlauf zu betrachten. Denn der Mauersegler verbringt den Januar auf eine Weise, in der es nicht um schlichtes Fortpflanzen, Wandern oder Sterben geht.
Außerdem war es mir wichtig, das Buch nicht im europäischen Sommer beginnen zu lassen, also der Zeit, in der die meisten von uns Begegnungen mit Mauerseglern haben. Die Brutsaison macht gerade einmal drei Monate des Jahres aus, und damit anzufangen würde den Eindruck erwecken, als wären sie europäische Vögel – unsere Vögel. Auch das wäre Kolonialismus.
Da ich den Text nicht mit ellenlangen Verweisen auf die von mir herangezogene wissenschaftliche Literatur verunstalten wollte, finden sie sich als Endnoten am Ende des Buchs. Diese Endnoten nennen die maßgeblichen Quellen für einige der wichtigsten Thesen und Argumente – diejenigen, die mir als besonders kontrovers erschienen, und die, von denen ich annehme, dass die Leserinnen und Leser möglicherweise mehr darüber erfahren möchten.
In der Vogelfamilie der Segler (Apodidae) gibt es 112 Arten innerhalb von 18 Gattungen. Dazu kommen noch vier Spezies von Baumseglern mit eigener Familie und Gattung. Dieses Buch befasst sich allerdings nur mit dem Mauersegler (Apus apus), der fast überall in Europa und in weiten Teilen Asiens allen vertraut ist, die im Sommer in den Himmel schauen, und allen in Schwarzafrika, die zwischen September und April ihren Blick nach oben richten.
Das Wort „Himmel“ taucht hier viel zu oft auf, aber da die Mauersegler dort nun einmal zu Hause sind, ließ sich das nicht vermeiden.
Zeiten, Orte und Personen habe ich manchmal abgeändert. Den ehemaligen Freund werden Sie in Oxford vergeblich suchen.
C. F.
Oxford, 2021
Januar
Für sie ist immer Sommer.
Sie schwirren jetzt über meinem Kopf. Einer dreht an meinem rechten Ohr ab, indem er einen schwarzen Flügel schräg stellt, und schnappt nach einer Fliege, die heute Nachmittag aus Löwenkot geschlüpft ist. Immer nach einer Fliege – nicht nach mehreren. Sie fliegen nicht mit offenem Schnabel, um einzusammeln, was sie kriegen können, sie suchen sich ihre Beute gezielt aus. Sie töten Individuen. Die Vögel machen Millionen intensiver Erfahrungen mit dem Besonderen. Jede neue Erfahrung jagt der vorigen hinterher, so wie Mauersegler im brausenden Himmelsstrom des Lebens Fliegen nachjagen.
Wenn das Insekt über den hinteren Teil der harten dreieckigen Zunge gleitet, wo die Geschmacksknospen durch die Speichelkanäle feucht gehalten werden, hat der Vogel den Geschmack von Löwenmoschus im Rachen. Fliegen verwandeln sich erst dann von Individuen in Brei, wenn sie im Kehlsack zusammengequetscht werden, und da diese Mauersegler in Afrika keine Jungen zu füttern haben, sind ihre Kehlsäcke zurzeit leer, und jede Fliege wandert direkt nach unten.
Mein Wanst hingegen ist selten leer. Hier in Afrika wölbt er sich unter dem klebrigen Kakihemd, er ist gerade prall gefüllt mit Süßkartoffeln und Schlangenfleisch, hinuntergespült mit spritzigem Laurentina-Bier, das dem Heimweh seine Schärfe nimmt.
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt etwas Besonderes und Konkretes erlebt habe. Für mich ist alles allgemein und abstrakt. Meine Welt besteht aus Wörtern und meinen eigenen armseligen Gedanken. Diese Vögel fliegen durch den Himmel, nicht durch ihre Vorstellung davon. Sie fressen Fliegen, keine Adjektivansammlung, die Fliegen beschreibt. Sie haben keine Wörter, die sie trennen von der Sonne, die heute Morgen bei Madagaskar aufgegangen ist, von den Affen, die sich gegenseitig am Strand lausen, von den Krebsen, die unter den Mangroven Schutz vor den Reihern suchen, von den Trampeltieren in Cargohosen, die hinter mir durchs Mahagonigehölz poltern.
Seit drei Stunden sitze ich nun hier und blicke aufs Meer hinaus, durch den dichten, stickigen Dunst voller zappelnder metallischer Insektenbeine. Ich habe Hand und Arm bewegt, um das Bier an die Lippen zu heben und mir den Hut über die Augen zu ziehen, meine Stiefel haben Furchen in die rote Erde unter dem Tisch gegraben, und meine Blutzellen haben bestimmt etliche Kilometer zurückgelegt, als sie sich durch die Adern zwängten, um Sauerstoff zu meinen Zellen zu befördern und die Malariaparasiten zu umfließen.
In dieser Zeit könnte der Mauersegler neben meinem Ohr ohne Weiteres 100 oder 200 Kilometer übers Buschland geflogen sein. Er hat vielleicht 1000 Insekten erbeutet, ist über ein Frachtschiff aus Panama geschwirrt, das vor somalischen Piraten geflohen ist, hat Hyänen gesehen, die einer kranken Giraffe nachstellten, und wegen der nördlich von Maputo in die Luft geblasenen Abgase gehustet, hat sich mit seinem Partner oder seiner Partnerin, den oder die er zuletzt unter der Dachtraufe eines Reihenhauses in Oxford gesehen hat, glücklich wiedervereint, ist dem Schuss eines gelangweilten Dorfbewohners ausgewichen, hat einen Falken zum Narren gehalten, der einen absurden Moment lang glaubte, er könnte sich den Mauersegler schnappen und seine Leber fressen, und er hat gespielt – denn nicht immer geht es um die Algorithmen des Überlebens.
Das ist eine Menge Leben für drei Stunden. Der Mauersegler könnte 21 Jahre alt sein. Angesichts eines 21 Jahre langen Lebens wie diesem schäme ich mich meiner selbst. Es kommt mir vor, als vergliche man eine Symphonie mit einem Rülpser weißen Rauschens.
Eine weitere Flasche Laurentina planscht mit der Schlange herum, und die pulsierende Hitze ist so drückend, dass es mir vorkommt, als läge ich mit dem Gesicht auf meinen feuchten Oberschenkeln. Ich atme mit tiefen Lungenzügen Mücken ein, ein paar davon bleiben an meinen Zähnen hängen, und ich spüle sie mit Bier hinunter. Da ruft die Frau, die wie eine Galeone in gefleckter gelber Baumwolle auf mich zusegelt und dabei das Bier auf ihrem Vordeck transportiert: „Er kommt bald, Schätzchen.“
Sie hatte recht. Er kam aus Nordwest. Hoch aufgestiegen über den dunklen Wäldern der Demokratischen Republik Kongo, hatte er Käfer und Spinnen mit sich gerissen, war finster grollend über Malawi hinweggezogen und hatte seine Schleusen geöffnet, als er die Grenze zu Mosambik überquerte.
Dass der Zyklon kommen würde, wussten die Mauersegler schon seit Stunden, denn sie waren an diesem Morgen dank früher Thermik hoch gekreist und hatten gesehen, wie er sich zusammenbraute. Und sie hatten das Pochen seines Herzens als Beben in ihrer eigenen kleinen Brust gespürt. Infraschall können sie über einen halben Kontinent hinweg wahrnehmen. Sie wissen, wie aneinanderreibende tektonische Platten, trauernde Elefanten und grummelnde Berge klingen.
Am Rand des Wirbelsturms sausen sie herum und tun sich an haltlosen Spinnen gütlich, die versucht haben, ihre seidenen Fäden um Regentropfen zu schlingen, die mit der Geschwindigkeit eines Expresszugs an ihnen vorbeirauschen. Dabei achten die Mauersegler darauf, nicht selbst in das brodelnde Zentrum hineingesaugt zu werden: Es würde ihnen die Flügel abreißen, die Federn ausrupfen und sie irgendwo in der Nähe von Mauritius ins Meer speien.
An einen Türpfosten gelehnt, betrachte ich die vom Strohdach prasselnden Regenschnüre, schwer und dicht wie die Perlenvorhänge in chinesischen Restaurants. Der Sturm richtet seine Gewalt wieder gegen das Meer. Dort wird er mit den von Südosten heranziehenden Passatwinden zusammenstoßen, man wird miteinander verhandeln, und eine Zeit lang wird warmer Regen aufs Meer fallen, und die Lemuren in Madagaskar werden in den Pfützen tanzen.
Mauersegler sind keine ausgesprochenen Frühaufsteher. Ihren Tag vor den Insekten zu beginnen wäre für sie sinnlos. Aber am nächsten Morgen sind sie lange vor mir munter, und bis ich augenreibend auf die Veranda stolpere, haben sie sich schon vollgefressen. Dennoch töten sie immer weiter, ein Beutetier nach dem anderen verschwindet in ihrem Schlund. Denn Afrika ist trotz seiner Freigebigkeit launisch, und man kann sich nicht darauf verlassen, immer Nachschub zu bekommen.
Jetzt jagen sie tief, nie mehr als 100 Meter über dem Boden, und wildern im Revier der Schwalben, die normalerweise unter ihnen auf Nahrungssuche sind. Wegen des Regens wimmelt es von Insekten in der Luft, und die Sonne brennt noch nicht heiß genug, um sie über die Baumwipfel und darüber hinauszutragen, wo ihnen die Schwalben nicht in die Quere kommen.
Mauersegler sind zu überdreht, um auf diese Art zu jagen. Will man enge Kurven fliegen und abrupt abtauchen und zuschnappen, braucht man kürzere Flügel und einen kunstflugtauglichen Schwanz. Schwalben verstehen sich darauf, sie lavieren zwischen Unterhosen auf der Wäscheleine, fädeln sich durch die Fenster eines pleitegegangenen Bordells, berühren im Tiefflug beinahe mit den Flügelspitzen das Gras, hocken auf Telefondrähten, um sich miteinander auszutauschen, zu verdauen und zu verschnaufen. Sie sind Landlebewesen, die fliegen können. Anders die Mauersegler: Sie sind in der Luft so sehr zu Hause wie Fische im Meer. Sie hocken sich nicht hin, um zu verschnaufen. Mich erinnern sie an Haie, die ertrinken, wenn man sie daran hindert, immerzu weiterzuschwimmen, weil ihre Kiemenatmung eine ständige Wasserströmung benötigt. In gleicher Weise haben sich die Mauersegler voll und ganz der Luft und der Bewegung verschrieben.
Die Mauersegler, die ein paar Meter über meinem Kopf unter dem Dachvorsprung in Oxford brüten, könnten gut und gern vier Mal ins nördliche Mosambik und zurück nach Oxford geflogen sein, ohne irgendetwas Festeres als den Panzer eines fliegenden Käfers berührt zu haben. Erst wenn sie brüten, begeben sie sich vorübergehend, für drei Monate, in die derbe, ordinäre Welt des Festkörperlichen – die einzige, die wir kennen, abgesehen von unseren kurzen Schwelgereien im Wasser. Wenn sie niemanden finden, mit dem sie zusammen nisten können, lernen sie diese Welt womöglich überhaupt nicht kennen.
Ich darf den Fall nicht übertrieben darstellen. Zwar ist es romantisch und sehr in Mode zu behaupten, außerhalb der Brutzeit hätten Mauersegler niemals Bodenkontakt, aber manchmal haben sie ihn eben doch – wenngleich nur etwa ein Prozent ihrer Zeit und dann eventuell auch nur bei sehr gefährlichen Wetterlagen. Bei migrierenden Jungvögeln kommt es vermutlich häufiger vor, dass sie irgendwo landen. Wer kann es ihnen verdenken?
Gestern nahm ich ein Boot zu einer Insel, die vor rostigen Kanonen starrte. Wir schlängelten uns zwischen Seekühen hindurch, wateten auf kristallenem Sand an Land, kletterten über die Reste einer Mauer, die ein umgefallener Baum zum Einsturz gebracht hatte, und wanderten in die alte Sklavenhändler-Zitadelle. Auf einer Rokoko-Veranda schaute ein Hund mit kahlem Schädel auf und ließ den Kopf wieder sinken. Ameisen hatten die Holzdübel zerfressen, mit denen das Kreuz an der Kirche befestigt gewesen war, sodass es blasphemisch kopfüber hing. In dem Baum vor der Kirche, als Schattenspender gepflanzt für die portugiesischen Damen, die sich gerade von ihren ehebrecherischen Sünden hatten lossprechen lassen, zwitscherten Webervögel.
Ein von Beulen übersäter sechsjähriger Junge bedeutete mir nachdrücklich, ihm in die Kirche zu folgen. Er nahm mich bei der Hand und führte mich in eine bröckelnde Gruft hinunter. Etliche der Gräber waren zerstört, und die Termiten hatten sich über die Särge hergemacht. Der Junge griff in ein Grab, zog einen menschlichen Oberschenkelknochen hervor und bot ihn mir an. Ich schüttelte den Kopf. Da fasste er noch einmal hinein und brachte einen Schädel zum Vorschein. Diesmal nahm ich ihn, denn es schien mir unhöflich, es nicht zu tun. Nicht einmal ein schwarz gewordenes Fitzelchen Hirn oder Muskel hing noch daran. Alle weicheren Bestandteile dieses Sklavenhändlers aus der Mitte des 19. Jahrhunderts hatten sich in Insekten und Ratten verwandelt und diese wiederum in Vögel. Manche dieser Vögel hatten es vielleicht sogar zurück nach Portugal geschafft, der Mann hier allerdings nicht.
Ich hielt den Schädel hoch. In den leeren Höhlen befanden sich einst Augen, die hin und her zuckend die Mauersegler beobachteten, wie sie kreischend um Lissabons Portiken und Schornsteinköpfe schwirrten. Auf einem Teil seiner Reise nach Afrika hatte der Mann wohl mehr oder weniger die gleiche Route genommen wie jene Mauersegler. Sein Schiff kroch an der Küste von Marokko, der Westsahara, Mauretanien und Senegal entlang. Vor Senegal umwehte ihn erstmals der Geruch des gedünsteten Grüns des tropischen Afrikas, dann machte das Schiff einen gemächlichen Schlenker nach Osten, in den Golf von Guinea hinein. Dort musste der Sklavenhändler an Land gehen, um Wasser zu besorgen. Nervös paddelte er in einem Auslegerkanu durch die Brandung und versuchte, nicht an die Schauergeschichten über Kreuzigungen und Kannibalismus zu denken.
Die Mauersegler flogen zwar über Land, um Nahrung zu finden, entfernten sich aber nie weit von der Küste, bis sie sich landeinwärts wandten, durch den Wald des Kongo, während der Sklavenhändler nach Süden weitersegelte, das Kap der Guten Hoffnung umrundete und den Mauerseglern in Mosambik wieder begegnete.
Wäre der Sklavenhändler nach Mosambik gefahren, um den Geistern Lissabons zu entfliehen, hätten ihn die Mauersegler daran erinnert, dass es kein Entrinnen gibt: dass die Welt eine Einheit ist. Falls er jemals im Sommer nach Lissabon zurückgekehrt war in der Hoffnung, all die Abscheulichkeiten zu vergessen, die er im Namen seiner Herren begangen hatte, dann waren da auch wieder die Mauersegler, die ihn nicht davonkommen ließen. Wenn wir Mauersegler genau betrachten, konfrontieren sie uns immer mit uns selbst, und das ist keine schöne Erfahrung.
Als ich gestern Abend schwitzend unter meinem Moskitonetz lag, stellte ich auf der Rückseite einer Speisekarte einige deprimierende Berechnungen an. Von Mosambik nach Oxford sind es – so schätzte ich mit zusehends schlechterer Laune – etwa 9000 Kilometer. Diese Strecke legen die Mauersegler zweimal pro Jahr zurück. Im Herbst brauchen sie dafür ungefähr 66 Tage: 30 Flugtage und 36 Tage für Zwischenstopps, bei denen sie eher beiläufig nach Nahrung suchen, so wie unsereiner an der Tankstelle eine Tüte Chips mitnimmt. Im Frühling haben sie es wesentlich eiliger. Dann benötigen sie nur 26 Tage: 21 Tage anstrengendes Kilometerfressen und fünf Tage Ruhe. Ich billigte ihnen (vorsichtig geschätzt) 110 Flugkilometer pro Ruhetag zu und ging von 130 Kilometern pro Tag im Winter aus, sodass die Speisekartenrückseite wie folgt aussah:
Herbstzug:
9000 Kilometer + 36 Rasttage à 110 Kilometer = 12 960 Kilometer
Frühlingszug:
9000 Kilometer + 5 Rasttage à 110 Kilometer = 9550 Kilometer
Rest des Jahres:
273 Tage à 130 Kilometer = 35 490 Kilometer
Gesamtflugleistung pro Jahr:
58 000 Kilometer
Man weiß, dass Mauersegler bis zu 21 Jahre alt werden können:
21 Jahre à 58 000 Kilometer = 1 218 000 Kilometer
Das sind fast 3,2 Reisen zum Mond oder 1/123 der Entfernung zur Sonne.
Die Mauersegler sind im wahrsten Sinn des Wortes astronomische Vögel (was ich allerdings nicht auf die Speisekarte schrieb).
Und dann verglich ich mich damit.
Wenn ich an jedem Tag des Jahres respektable 30 Kilometer zu Fuß zurücklegen würde, bräuchte ich mehr als fünf Jahre für die Strecke, die die Mauersegler in einem Jahr schaffen. Um an die Gesamtkilometerleistung heranzukommen, auf die jener 21 Jahre alte Mauersegler am Ende seines Lebens zurückblicken kann, müsste ich vom Tag meiner Geburt an jeden Tag 30 Kilometer laufen, und dies 111 Jahre lang. (Mauerseglerjunge beginnen schon kurz nachdem sie geschlüpft sind, enorme Flugstrecken zurückzulegen.)
Ich schneide hier nicht gut ab.
Nun zähle ich die Spezies zusammen, deren Körper, Stängel, Blüten, Wurzeln oder Samen ich diese Woche gegessen habe. Es war eine Woche mit vielfältiger Kost, dennoch komme ich auf nicht mehr als zwei Arten Säugetiere, eine Reptilienart und zwei Vogelarten, drei Sorten Knollenfrüchte, zwei Nussarten, eine modifizierte Blütenart und zwei modifizierte Grasarten. Das macht insgesamt 13 Spezies. Im Lauf eines Jahres gibt es vielleicht noch den einen oder anderen Gastauftritt auf meinem Teller, sodass sich die Gesamtzahl auf 20 erhöhen könnte. Aber nur drei Arten – Reis, Mais und Weizen – sind das Grundnahrungsmittel für drei Viertel der heutigen Menschheit.
Die Mauersegler jagen etwa 500 verschiedene Spezies. Und sie suchen sich ihre Beute sehr gezielt aus: Nicht selektive Ansaugfallen enthalten einen weitaus höheren Anteil an Fliegen, als er für die Kost der Mauersegler in dem jeweiligen Gebiet typisch zu sein scheint. Dass sie bei ihrer Ernährung so mäkelig sind, könnte bedeuten, dass sie 500 verschiedene Spezies unterscheiden können. Sie identifizieren nicht nur die schmackhaften Arten und meiden diejenigen mit Warnfärbung. Wenn sie Bienen jagen, wählen sie die stachellosen Drohnen aus, obwohl sie gelb-schwarz gestreift sind, und verschmähen die stachelbewehrten Weibchen. Zudem unterscheiden sie die Spezies nicht so, wie wir es tun, wenn wir sie, auf einer Korkwand aufgespießt, durch eine Lupe betrachten oder von einem beheizten Ansitz aus in aller Ruhe mit dem Fernglas beobachten. Vielmehr stürzen sie auf sie zu, vielleicht 80 Stundenkilometer schnell und mit Wind, der ihnen entgegenschlägt. Wie viele Vogelarten kann ein ausgewiesener ornithologischer Experte bei einem flüchtigen Blick zuverlässig bestimmen, allein durch diesen kurzen Eindruck, durch Intuition, die den Verstand umgeht und auf Erfahrung gründet? Vielleicht 100?
Nur wenig von dem, was ich esse, habe ich selbst getötet oder selbst angebaut. Das delegiere ich an andere. Ich lasse töten, und im Gegensatz zu den Mauerseglern töte ich, obwohl es nicht notwendig ist. Ich fühle mich gut und halte mich für engagiert, wenn ich selbst gemachtes Brot backe und dafür Weizen aus Kanada verwende, Hefe aus einer schottischen Fabrik, Wasser, das aufbereitet und durch Rohre aus papuanischem Kupfer zu mir gepumpt worden ist, und Energie, die aus einem mesozoischen Sumpf irgendwo unterhalb von Arabien stammt. Üblicherweise sitze ich bei der Nahrungsaufnahme an einem Tisch und schaue auf dieselbe Wand wie vor zehn Jahren. Ein Fünftel aller Mahlzeiten in den USA werden im Auto verzehrt. Die Mauersegler hingegen nehmen, sobald sie flügge sind, alle ihre Mahlzeiten im Himmel zu sich – in einem Himmel, den sie für sich erkoren haben, in dem sie noch nie waren und in dem sie nie wieder sein werden (denn der Himmel ist, wie Flüsse, etwas beständig Fließendes).
Sie baden, indem sie durch eine Wolke tauchen oder die Flügel im Regen schütteln, der gerade aus der Wolke gefallen ist. Ich bade, indem ich einen Wasserhahn aufdrehe und mich in eine Wanne mit verdünntem Chlor und weiblichen Fortpflanzungshormonen lege. Sie kühlen sich ab, indem sie beim Fliegen den Schnabel öffnen, um die Verdunstung zu erhöhen, und die nackten, schuppigen Beine unter dem Körper baumeln lassen. Ich kühle mich ab, indem ich einen Schalter anknipse und den Kühlschrank plündere. Sich selbst zu achten fällt schwer, wenn man den Blick auf Mauersegler richtet.
In der spärlichen nicht wissenschaftlichen Literatur über Mauersegler werden vielerlei Themen angesprochen. Eines davon ist das Streben. Wir wollen wie sie sein, sagen die Strebenden; wir sollen wie sie sein. Wenn wir unsere theologischen Karten richtig ausspielen, werden wir eines Tages auch wie sie sein. Folgen wir ihnen, können wir den Dreck abwaschen, der uns besudelt. Diese Vögel sind buchstäblich ätherisch, und unsere Seelen, die ebenfalls ätherisch sind, möchten lieber mit den Mauerseglern spielen als mit X-Boxes, mittleren Führungskräften und soziopathischen Herrschern.
… [W]enn der Abend sachte scheint,
Und das Licht sich dünnt,
Wenn der Mond sich stille schiebt
In der Ferne Wind …
Das schrieb Wilfred Owen, einer dieser Strebenden.
Ach, wär’ ich von allen Vögeln dann ein Mauersegler!
Mit Elfen fliegend durch den Äther huschen …
Unermüdlich wie dein Geist ersehnte ich zu sein
Und ausdauernd, so froh und ungestüm.
Janet Andrews erkrankte als junge Frau an multipler Sklerose. Als sie 60 war, konnte sie nur noch einen Arm und eine Hand etwas bewegen. Um aufzustehen, brauchte sie Pfleger und eine mechanische Hebevorrichtung. Doch ihre geliebten Mauersegler bewegten sich für sie. „Die Mauersegler sind zurück“, schrieb sie. „Mit ausgestreckten Sichelflügeln mähen sie durch die Luft, durchqueren den Himmel, blind gegenüber uns, den Erdgebundenen so tief unten. Sie bringen den Sommer mit. Ich spüre ihre Energie. Ich staune über die ihnen innewohnenden Fähigkeiten, über ihre Schönheit. Ach, könnte ich dort oben bei ihnen sein und auf unser gewöhnliches Leben herabblicken.“
Ja, schon. Aber ich ärgere mich über den uninteressierten Blick aus diesen schwarzen Knopfaugen, die unverwandt auf mich herabstarren – immer von oben herab, aus blauen Höhen und mit moralischer Überlegenheit.
Wir können nicht mit Mauerseglern umgehen. Sie spielen nicht nach unseren Regeln. Dadurch werden sie für uns schrecklich wichtig. „Die Dinge, die sich nicht um uns kümmern, retten uns am Ende“, schrieb Andrew Harvey. Dazu würde ich gern einiges anmerken, aber als Urprinzip ist es nicht schlecht. Wenn wir auf Geringschätzung, Grausamkeit, Unachtsamkeit und Ähnliches mit Staunen, Güte und Aufmerksamkeit reagieren, sind wir auf dem Weg zur Erlösung.
Normalerweise verhalten wir uns aber nicht so. Diejenigen Menschen, die die Vögel überhaupt beachten, fühlen sich meist von ihnen bedroht (zu Recht) und kompensieren ihre Angst damit, dass sie versuchen, sie zu domestizieren oder schlechtzumachen.
Die Domestizierer sind immer nette Leute. „Grüßen Sie meine Mauersegler von mir, ja?“, bat mich jemand, als er hörte, dass ich im Winter nach Afrika reisen würde. „Ich vermisse sie.“ Daran hege ich keinerlei Zweifel. Der Mann hat Mauersegler-Nistkästen an sein Haus montiert und eine CD mit Mauersegler-Kreischen gekauft, um die Vögel zu seinen Nistkästen zu locken. Er besitzt ein ganzes Regalfach voller Bücher über Mauersegler und einen ausgestopften Mauersegler unter einer Glasglocke, und in seinem Flur hängen einige dieser steif wirkenden Lithografien aus dem 19. Jahrhundert, die Mauersegler in anatomisch unmöglichen Hockpositionen zeigen. Doch das sind keine Artefakte der Ehrerbietung, sondern der Kontrolle. Aslan war kein zahmer Löwe. Mauersegler sind keine zahmen Vögel. Wenn man sie zähmt, sind sie keine Mauersegler mehr, und wenn sie keine Mauersegler sind, können sie uns nicht helfen.
„Das sind nicht Ihre Mauersegler“, hätte ich ihn am liebsten angeschrien. „Nicht Ihre, nicht meine, niemandes. Sie gehören sich selbst, was nur sehr wenige Menschen von sich behaupten können.“
Das hätte ihn gekränkt und empört. Er freut sich, wenn die Mauersegler zu seinen Nistkästen kommen. Dadurch schrumpft der Himmel, in den wir eines Tages alle zurückkehren werden und in dem die Mauersegler zu Hause sind, auf eine handliche Größe zusammen (genau genommen auf 35 x 20 x 180 Zentimeter, denn der Mauersegler-Liebhaber hat einen langen Dachüberstand). Wenn das die Ausmaße des Himmels sind, hat man im Leben und im Tod nichts zu befürchten und kann sich wahrlich einbilden, das Universum zu beherrschen. Mauersegler sind ungefährlich, wenn sie unter einer Glasglocke oder in einem Bilderrahmen eingesperrt sind, und noch ungefährlicher, wenn sie so steif und starr sind, wie sie es in den Händen jener viktorianischen Lithografen waren.
Bin ich zu ungnädig? Mag sein. Aber wild lebende Wesen einzusperren, und sei es auch nur in der Vorstellung, ist ein schweres Vergehen. Sie einzusperren und die wogenden Weiten des Himmels in Kästen zu portionieren, ist noch schlimmer. Und noch mal schlimmer ist es, die Wildnis für die eigene Selbstüberhöhung und Selbsttherapie zu missbrauchen. Es kommt einer Art Gatterjagd gleich.
Es gibt differenziertere und noch gefährlichere Zähmungsstrategien. Manche versuchen, Mauersegler mittels Sprache einzufangen. Das funktioniert nie: Mauersegler sind viel zu schnell, um sie mit Wörterfallen zu erwischen. Die Gefahr liegt in der Hybris, es überhaupt zu versuchen. „Und der Mauersegler schnellte durch den Atem eines Veilchens“, behauptete Ted Hughes. Ich bin mir sehr sicher, dass das noch nie ein Mauersegler getan hat. Mauersegler spinnen „Lebensfäden/Wie ihr es seit Generationen tut“, schreibt Randle Manwaring. „Bevorzugt alte Häuser und Türme/In Sant’ Antonio und San Quirico.“ Nein: Mauersegler spinnen keine Lebensfäden, wie wir es tun. Sie sind von vollkommen anderer Wesensart. Und sie bevorzugen nicht alte Häuser und Türme, sondern sie beglücken sie, indem sie sich dazu herablassen, dort zu wohnen. Seien wir doch nicht so gönnerhaft!
Laut Hugh David Loxdale führen die Mauersegler …
… [einen] immerwährenden Kampf,
Um sich zu ernähren und fortzupflanzen
Und wieder frei zu fliegen.
Einen, der vielleicht niemals enden wird –
Den Frühling vorausahnend kehren sie wieder
Jahr für Jahr
Bis weit in die undenkbare Zukunft hinein.
Jenseits von menschlichem Streben und Bomben,
Auf dass dieses frohe Schauspiel erhalten bleibe.
Die Mauersegler, ganz bei der Jagd oder beim Spiel,
Eine Gewissheit, ein Muss.
Jeden Mai
Und bis in den August …
„In diesem literarischen Sachbuch erzählt er Wissenswertes über das Leben der Luftakrobaten.“
„›Der Ruf des Sommers‹ ist eine Liebeserklärung an Mauersegler und ihr freies, wildes Leben – und zugleich ein sehr persönliches Buch.“
„Eine lesenswerte Chronologie.“
„Das Buch ist nicht nur ein Sachbuch über eine Vogelspezies, sondern auch eine Liebeserklärung an die faszinierenden Mauersegler. Es lädt den Leser:in dazu ein, den Kopf zu heben und in den Himmel zu schauen, um die wundervollen Lebewesen zu bewundern.“
„›Der Ruf des Sommers‹ ist eine gelungene Mischung aus Fakten und Reflexionen über das Leben der Mauersegler. In literarischer Form teilt Charles Foster seine Leidenschaft für die Vögel und offenbart dabei viel Persönliches. Selbstironisch erzählt er von seinen Bemühungen, den Vögeln nahe zu sein. (…) Ein wunderbares Buch für Menschen, die sich für die Natur begeistern!“
„Der Brite schreibt mit spitzer Feder und stellt oft witzige Vergleiche zwischen den Flugkünstlern und Menschen her, wobei Letztere regelmäßig ihr Fett abbekommen.“
„Dieses Buch eines Liebhabers begeistert.“
„Ein Meisterwerk der tragischen Liebe.“
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