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Der Schneeflockenbaum

Der Schneeflockenbaum - eBook-Ausgabe

Maarten 't Hart
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Roman

„Im neuen Roman erzählt Bestsellerautor Maarten t`Hart von einem Spiel unter Freunden – niederträchtig zwar, aber auch höchst amüsant.“ - Focus

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Der Schneeflockenbaum — Inhalt

Vom ersten Tag an war seine Mutter misstrauisch gewesen gegenüber der „dürren Missgeburt“, wie sie seinen Freund Jouri immer nannte. Als Sohn eines Kollaborateurs hatte Jouri in den Niederlanden der Fünfziger Jahre wahrhaftig nicht viel zu lachen, genauso wenig wie der Erzähler selbst, der mit seinem eigensinnigen Humor und seinen Darmwinden Mitschüler und Lehrer quälte. Als sich dann einmal die kleine Ria Dons tapfer an seine Seite stellt und ihm, gegen Bezahlung von fünf Cent, sogar erlaubt sie zu küssen, ist das der Beginn einer schmerzlichen Erfahrung – denn Jouri zerreißt das zarte Band und spannt ihm ungerührt die Freundin aus. Voller funkelnder Lust am Erzählen ist „Der Schneeflockenbaum“ ein Roman um verlorene Liebe, ein lebenslanges Missverständnis und eine unerklärliche Freundschaft.

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 22.02.2010
Übersetzt von: Gregor Seferens
416 Seiten
EAN 978-3-492-95017-6
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Leseprobe zu „Der Schneeflockenbaum“

Begräbnis


An einem sonnigen, windstillen Septembertag rasten wir zu einer Grube in Groningen. Jahrelang hatte meine Mutter mit meinem Stiefvater in dieser Provinz, genauer gesagt in dem Ort Baflo, gewohnt. Sie war dort, „gleich unter dem Polarkreis“, wie sie sagte, allmählich verschmachtet. Schließlich hatte sie meinen Stiefvater, kurz bevor er anfing, dement zu werden, so weit gekriegt, dass er einem Umzug in die Auen bei Schipluiden zustimmte, wo meine Mutter und er geboren und aufgewachsen waren. Er stellte aber die Bedingung, in Baflo begraben zu [...]

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Begräbnis


An einem sonnigen, windstillen Septembertag rasten wir zu einer Grube in Groningen. Jahrelang hatte meine Mutter mit meinem Stiefvater in dieser Provinz, genauer gesagt in dem Ort Baflo, gewohnt. Sie war dort, „gleich unter dem Polarkreis“, wie sie sagte, allmählich verschmachtet. Schließlich hatte sie meinen Stiefvater, kurz bevor er anfing, dement zu werden, so weit gekriegt, dass er einem Umzug in die Auen bei Schipluiden zustimmte, wo meine Mutter und er geboren und aufgewachsen waren. Er stellte aber die Bedingung, in Baflo begraben zu werden. Aus diesem Grund machten wir uns also drei Tage nach seinem Tod von Südholland aus auf die Reise nach Nordgroningen.
Dass wir die Fahrt in einem Reisebus absolvieren würden, war sozusagen bereits bei der Erschaffung der Welt von Gott vorherbestimmt worden. In unserem Clan wird bei Wochenbettbesuchen, Taufen, Konfirmationen, Eheschließungen und Begräbnissen jedes Mal ein Reisebus gechartert. Anders geht es auch kaum, da sowohl mein Vater als auch meine Mutter, schön übersichtlich, mit neun Brüdern und drei Schwestern gesegnet sind. Mit deren besseren Hälften samt Kinderschar füllt man leicht einen Doppeldeckerbus.
Auch anlässlich der Heirat meiner Mutter und meines Stiefvaters waren wir mit einem Reisebus quer durch die Niederlande gefahren. Am Tag nach dem Begräbnis meines Vaters hatte meine Mutter mir geschworen, sich nie wieder trauen zu lassen. Trotzdem hatte sie mich zwölf Jahre später, am Telefon wohlgemerkt, vollkommen überrumpelt mit der Mitteilung: „Ich werde wieder heiraten.“
„Wen denn?“, hatte ich sie gefragt.
„Siem.“
„Wie kommst du auf Siem?“
„In der Zeitung sah ich die Todesanzeige für seine Frau. Ich habe ihn angerufen, um ihm mein Beileid auszudrücken. So hat es angefangen.“
Sie hatte mir nicht erklärt, wie aus einer Beileidsbekundung so wundersam schnell Liebe erblüht war, aber natürlich wurden wir gebeten, zur Hochzeit nach Baflo zu kommen. Nachdem mein Bruder erfahren hatte, dass dank der Beileidshochzeit unsere dezimierte Familie um sechs Stiefschwestern vergrößert werden würde, hatte er eine Woche lang kaum schlafen können.
„Unglaublich, da kriegt man einfach so sechs Schwestern dazu! Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn es darunter nicht einen heißen Feger gibt.“
Nach unserer Doppeldeckerfahrt saßen wir bereits im beengten Standesamt von Baflo, als die Schwestern hereinmarschiert kamen: sechs grobknochige, korpulente, o-beinige Gemeindeschwestern, eine herzlicher als die andere, weshalb es mich auch nicht störte, dass sie wie Dänische Doggen aussahen. Mein Bruder jedoch war tief enttäuscht, und während der häuslichen Eheschließung weigerte er sich mitzusingen. Als der Pfarrer zu Beginn der Feier einen Kassettenrekorder als Kirchenorgelersatz auf der Fensterbank platzierte und es ihm nicht gelang, daraus andere Geräusche als lautes Rauschen hervorzuzaubern, da sagte mein Bruder: „Hör nur, Lied 33.“
Schade nur, dass keiner der Anwesenden wusste, welches Lied die Nummer 33 in der nicht genug zu rühmenden Liedersammlung von Johannes de Heer hat. Selbst wenn ich es nicht gewusst hätte, wäre mir dennoch sofort klar gewesen, dass mein Bruder auf den berühmten Sonntagsschulschlager „Es rauscht durch die Wolken ein liebliches Wort“ anspielte.
Dieses Lied sangen wir nicht. Wir sangen Psalmen. Der Pfarrer verband meine Mutter mit einem Mann in der Ehe, der aus derselben Schablone des Schöpfers zu stammen schien wie der Lehrer Splunter. Tja, werter Leser, du weißt nicht, wer Lehrer Splunter ist, aber mein Bruder und ich waren bei ihm in der Klasse. Beide stammen wir noch aus der Zeit vor der Sturmflut, doch mein Bruder ist sieben Jahre jünger als ich, und als er zu Splunter in die Klasse kam, da war der Pädagoge zwar auch sieben Jahre älter, aber sein Vokabular hatte sich kein bisschen verändert. Sein Lieblingssatz lautete: „Ich werde dir die Rippen blau färben.“ War er etwas freundlicher gestimmt, rief er: „Ich werde das Wilhelmus auf deinen Rippen klimpern.“ Weniger angenehm war es, wenn er ankündigte, statt der niederländischen Nationalhymne Psalm 119 mit allen achtundachtzig Strophen auf deinen Rippen zu intonieren.
Dass wir ihn nun in der Gestalt von Siem Schlump wiedersahen, war an und für sich schon ein schlechtes Vorzeichen. Trotzdem übertraf das Auftreten des Lehrer-Splunter-Doppelgängers, den wir seit der Besiegelung des Ehebundes mit leisem Spott Onkel Siem nannten, unsere schlimmsten Erwartungen. Nachdem meine Mutter zu ihm nach Baflo gezogen war, verbot er ihr, uns anzurufen. Das sei zu teuer. Sie durfte am Sonntagmorgen auch nicht mehr ihre Lieblingssendung Hour of Power sehen. Obwohl es sich dabei um die Übertragung von Gottesdiensten eines reformierten amerikanischen Pfarrers handelt, fand Onkel Siem die Sendung zu frivol, zu weltlich, zu wenig wiedergeboren. Fuhren wir quer durch die Niederlande, um unsere Mutter zu besuchen, dann sah Siem Schlump uns so unfreundlich an, dass wir lieber gingen als kamen. Also verabredeten wir uns mit unserer Mutter in schmuddeligen Gaststätten in Bethlehem oder Winsum, wohin sie dann von Baflo aus mit dem Rad fuhr.
Meinem Bruder gegenüber beklagte sie sich in Bethlehem manchmal. Aber weil sie, wenn sie den Mund überhaupt aufmacht, alles und jeden mit feststehenden Ausdrücken abhandelt, wiederholte mein Bruder amüsiert das, was sie den Klagen anderer immer entgegenhielt: „Wer klagt, hat keine Not“, „Wir schleppen uns hier in Baflo gemächlich von einem Tag zum anderen“, „Golgotha liegt um die Ecke“, „Wir essen tapfer unser Tränenbrot“, „Mehr Herzenspein als Mondenschein“.
Als die Alzheimerkrankheit Siem Schlump schüchtern ihre Aufwartung machte, lebte meine Mutter auf. Es fing damit an, dass er die Namen seiner Enkelkinder kaum noch zusammenbekam. Als er dann auch seine Töchter verwechselte, war er schon so dement, dass er nicht mehr protestierte, wenn meine Mutter zu Hour of Power hinüberzappte. Er sagte dann höchstens zu ihr: „Fräulein, könnten Sie das bitte ausschalten.“ Zu ihrem großen Schrecken hatte er nämlich plötzlich angefangen, sie zu siezen und mit „Fräulein“ anzusprechen. Sie konnte uns jetzt auch wieder anrufen. Und schließlich verstand sie es, ihn, der kaum noch etwas verstand, dazu zu überreden, nach Maasland zu ziehen.
Nach dem Umzug hat sie sich jahrelang vorbildlich zu Hause um ihn gekümmert. Sogar als er, wenn er von der Toilette kam und seine Exkremente mitbrachte und diese, unter Hinweis auf die wundersame Speisung im Evangelium, freudig an die Anwesenden verteilte, durften wir den Ausdruck „unhaltbare Zustände“ nicht in den Mund nehmen. Mein Bruder, dem Onkel Siem immer freigiebig die größten Stücke schenkte, nahm für sich in Anspruch, einen Platz in einem Pflegeheim für ihn organisiert zu haben. Zweimal am Tag besuchte meine Mutter ihn dort. Sie selbst litt inzwischen an der Parkinsonkrankheit und hatte, vor allem im Winter, Probleme, den Weg ohne Pause mit dem Fahrrad zu bewältigen. Unterwegs hielt sie beim Restaurant einer Versteigerungshalle an und ruhte sich dort im Wintergarten kurz aus. Man sagte ihr aber, dass sie dort nicht sitzen dürfe, ohne etwas zu konsumieren. Sie bestellte eine Tasse Kaffee, doch mit ihren zitternden Parkinsonhänden konnte sie die nicht trinken, ohne zu kleckern. Also bat sie um einen Strohhalm. „Strohhalme reichen wir nur zu Limonade“, sagte der Kellner barsch. Darum ließ meine Mutter den Kaffee immer unangerührt stehen.
Als Siem Schlump schließlich nach all diesen bizarren Prüfungen ruhig verstorben war und ich vorne im Bus neben ihr saß, gelang es mir nicht herauszufinden, wie es meiner Mutter nun ging. Der Platz meines Bruders war schräg hinter uns, auf der anderen Seite des Ganges, und wir waren auf dem Weg zu einem irgendwo in der Gegend von Harderwijk am Wolderwijd gelegenen Rasthof, wo wir eine Pinkelpause einlegen wollten. Es war erstaunlich, wie furchtbar schnell wir mit dem Doppeldeckerbus dahinrasten. Als wir von der A 20 auf die A 12 abbogen, tippte mein Bruder mir auf die Schulter.
„Setz dich mal kurz zu mir“, sagte er.
„Was ist?“, fragte ich, nachdem ich mich neben ihm niedergelassen hatte.
„Die machen ein Wettrennen“, flüsterte er.
Ich schaute zum Leichenwagen, der vor uns herfuhr. Immer wieder wich er auf die linke Spur aus, um zu überholen. Unser Bus folgte ihm augenblicklich. Schnell war mir klar, dass der Leichenwagen versuchte, uns abzuschütteln. Waghalsig schlingernd, wich er nach einem solchen Überholmanöver, bei dem er, ohne zu blinken, auf die rechte Fahrbahn zurückgekehrt war, plötzlich wieder nach links aus, gab dann Gas und raste davon. Unser Chauffeur zog dann auch jedes Mal nach links rüber und trat aufs Gaspedal.
„Müssen wir da nicht einschreiten?“, fragte mein Bruder. „Das ist Wahnsinn. Und hinzu kommt, dass der Sarg jedes Mal hochhüpft, wenn der Leichenwagen blitzschnell auf die linke Fahrbahn wechselt. Schau nur, da hüpft er schon wieder.“
Er hatte recht. Bei jedem Spurwechsel machte der Sarg einen kleinen Luftsprung. Infolge dieses „danse macabre“ war das Bahrtuch bereits halb heruntergerutscht, sodass wir schon den Lack des Sarges im Heckfenster des Leichenwagens glänzen sahen.
„Bist du damit einverstanden, dass ich kurz mit dem Fahrer rede?“, fragte mein Bruder.
„Ich stehe voll hinter dir.“
„Nein, bleib du mal lieber sitzen, du musst Mutter ablenken, damit sie nichts merkt.“
Ich nahm wieder neben meiner Mutter Platz. Mein Bruder stieg zum Chauffeur hinunter, flüsterte etwas in dessen rechtes Ohr, erhielt eine geflüsterte Antwort, flüsterte wieder etwas, worauf der Fahrer mit einem mürrischen Nicken reagierte. Anschließend begab mein Bruder sich wieder zu seinem Platz. Der vor uns dahinjagende Leichenwagen wechselte erneut wagemutig auf die linke Fahrbahn. Unser Fahrer hupte, folgte ihm aber nicht. Im Leichenwagen hüpfte der Sarg kurz in die Höhe, und das Bahrkleid glitt vollständig herunter. Weil wir so hoch saßen, konnte ich die bizarre Fahrt des Leichenwagens von der rechten auf die linke Spur und wieder zurück noch lange beobachten, doch schließlich verschwand er aus meinem Blickfeld.
Wir erreichten die Raststätte am Wolderwijd. Meine Mutter wollte wissen, wo Onkel Siem sei, und mein Bruder erwiderte: „Der ist nach Baflo weitergefahren.“
Alle Passagiere aus einem solchen Doppeldeckerbus schaffen, sie auf die verschiedenen Tische verteilen, dafür sorgen, dass sich, in Anbetracht der noch bevorstehenden langen Fahrt, Jung und Alt zur Toilette begibt, und die ganze Meute anschließend wieder einsteigen lassen, das ist eine logistische Operation, die Takt, Verstand und äußerste Wachsamkeit erfordert. Regelmäßig kommt dabei einer der zur Toilette schlendernden älteren Brüder, Schwestern, Schwägerinnen, Schwager, Neffen und Nichten abhanden, vor allem jene, die nur angeheiratet sind. Wenn man glaubt, alle seien wieder im Bus, fehlt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein angeheirateter Onkel, eine angeheiratete Tante, ein Neffe oder eine Nichte. Dann muss man erst einmal herausfinden, wen man vermisst, und muss die entsprechende Person anschließend auf dem Rastplatz suchen. Dabei ist scharf darauf zu achten, dass keiner der bereits im Bus befindlichen Senioren aussteigt, um bei der Suche zu helfen, denn den verliert man sonst garantiert auch.
Nachdem mein Bruder und ich alle wieder in den Bus getrieben hatten, fehlte tatsächlich der älteste Bruder meiner Mutter. Mein Bruder sagte: „Onkel Joost sammeln wir nachher auf der Rückfahrt wieder ein“, doch davon wollte meine Mutter nichts wissen. Also musste ich mich auf die Suche machen, während mein Bruder dafür sorgte, dass niemand den Bus verließ. Ich fand den alten Mann bei einem Zigarettenautomaten. Er schlug auf das Ding ein und schimpfte, weil er Geld hineingeworfen hatte, aber keine Zigaretten herausgekommen waren. Ich schleppte den sich heftig wehrenden Greis zum Reisebus.
Und weiter ging die Fahrt, unter einem blauen Himmel mit frischen, schneeweißen Waschpulverwolken entlang, über Autobahnen, die tatsächlich immer weniger befahren waren, je mehr wir uns Baflo näherten. Dort angekommen, parkten wir bei der reformierten Kirche. Waren Siems Töchter samt Ehemännern und Kindern schon da? Dies schien nicht der Fall zu sein, aber wir hatten ja noch Zeit. Ebenso unverständlich wie besorgniserregend war jedoch, dass der Leichenwagen offensichtlich noch nicht angekommen war.
„Haben Sie eine Ahnung, wo der Leichenwagen sein könnte?“, fragte mein Bruder den Busfahrer.
„Kann überall sein“, erwiderte der Mann äußerst griesgrämig. „Sie wollten ja nicht, dass wir im Konvoi fahren.“
„Der Fahrer wusste aber doch, wo er hinmuss?“, fragte mein Bruder sehr höflich.
„Reformierte Kirche in Baflo“, sagte der Chauffeur.
„Der Wagen ist vorgefahren. Er müsste doch schon längst hier sein?“
„Sie hätten uns eben nicht getrennt fahren lassen sollen.“
„Sie haben mit dem Leichenwagen ein Wettrennen veranstaltet.“
„Warum gönnen Sie uns nicht diesen kleinen Spaß?“
Auch nachdem die sechs Töchter der Reihe nach mit sämtlichen Ehemännern und Nachkommen in diversen Kombis angekommen waren, konnte die kirchliche Trauerfeier nicht beginnen. Die Orgel spielte schon, der diensthabende Presbyter hatte uns bereits eingeladen, im Konsistorialzimmer dem rauschenden Kassettenrekorderpfarrer mit seinem makellosen apostolischen Spitzbärtchen schon mal die Hand zu drücken. Aber der Leichenwagen war noch immer nicht da. Weil die vornehmste Sorge meiner Mutter war, dass während der Trauerfeier nur Psalmen in der alten Bereimung gesungen wurden, bemerkte sie erst einmal nicht, dass Onkel Siem noch auf seinem Begräbnis fehlte.
„Können wir nicht schon mal anfangen?“, fragte ich den Pfarrer.
„Äußerst unüblich“, sagte der. „Ein Sarg vorne in der Kirche ist doch wohl das Mindeste.“
„Wo bleibt der Wagen nur?“, sagte mein Bruder.
„Gibt es hier in der Gegend einen Ort, dessen Name so ähnlich klingt wie Baflo?“, fragte ich den Pfarrer. „Könnte er nicht dort hingefahren sein?“
„Balloo vielleicht“, erwiderte der Pfarrer.
„Möglicherweise steht der Wagen dort vor der reformierten Kirche?“, mutmaßte mein Bruder.
„Balloo hat keine reformierte Kirche“, sagte der Pfarrer.
„Wissen Sie das genau? Ein Ort in den Niederlanden ohne reformierte Kirche? Da will ich hinziehen“, sagte mein Bruder.
Heutzutage ist es nicht unbedingt ein Problem, wenn etwa ein Leichenwagen nicht auftaucht. Schließlich hat jeder ein Handy. Der Busfahrer rief seinen Kollegen an, doch der ging nicht ran.
„Der vertritt sich die Beine, und sein Handy liegt in der Mittelkonsole. Und im Wagen ist natürlich niemand, der rangehen könnte. Aber gut, ich werde es weiter probieren.“
Als alle bereits in der Kirche Platz genommen hatten, wusste immer noch keiner, wo sich die sterblichen Überreste von Onkel Siem herumtrieben. Der Organist improvisierte ausführlich über Psalm 103, „Wie das Gras ist unser kurzes Leben“, und ich dachte: Auch hier, wie fast überall, so ein Tastendrücker, der nicht hört, wie elendig sein Geklimper klingt.
Dann mengte sich eine dröhnende Hupe unter die dunklen Basstöne des Sechzehn-Fuß-Pedalregisters der Orgel.
„Das werden sie sein“, sagte ich. „Gott sei Dank, Mutter hat noch nichts gemerkt.“
Wir sangen einen Psalm nach dem anderen in der alten gereimten Form, sodass nicht nur ich, sondern vor allem auch meine Mutter alle auswendig mitsingen konnte. Sie lebte dabei gewaltig auf. Als sie von der Kirche direkt hinter dem Sarg zwischen meinem Bruder und mir zum Grab schritt, sagte sie strahlend: „Wie herrlich, alle Psalmen mit den alten Reimen.“
Mit einem Lächeln auf den Lippen beobachtete sie, wie ihr zweiter Gatte in die Grube sank, und als mein Bruder und ich, nach Kaffee und Kuchen in einem Nebenraum der Kirche, unsere unglaublich schwierige logistische Aufgabe befriedigend gelöst hatten und alle wieder im Bus saßen, da murmelte sie bei der Abfahrt aus Baflo noch einmal: „Alte Bereimung.“
Dann sagte sie: „Und glaub nicht, ich hätte nicht gesehen, dass du alle Lieder auswendig mitgesungen hast. Der Herrgott hat dich noch längst nicht losgelassen. Deinen Bruder schon. Der Herrgott weiß inzwischen, dass der ein hoffnungsloser Fall ist, aber dich hält er noch immer am kleinen Finger.“
„In der Bibel sind aber immer die älteren Söhne die Bösen“, erwiderte ich, „Kain und Abel, Esau und Jakob. Und der verlorene Sohn ist auch der Jüngere der beiden. Mit Pleun wird es also bestimmt noch gut enden.“
„Der Herr hat sie mir in umgekehrter Reihenfolge geschenkt, erst Abel, dann Kain, erst Jakob, dann Esau.“
„Ach, mach dir nichts vor“, entgegnete ich, „du weißt doch, dass ich, auch wenn mein Kopf kahl ist, am ganzen Körper ebenso behaart bin wie Esau, während sämtliche Haare, die Pleun besitzt, ausschließlich auf seinem Schädel wachsen.“
„Ja, er hat einen hübschen Kopf mit seinen schwarzen Locken“, sagte sie stolz, „genau wie meine Brüder und mein Vater.“

Maarten 't Hart

Über Maarten 't Hart

Biografie

Maarten ’t Hart, geboren 1944 in Maassluis bei Rotterdam als Sohn eines Totengräbers, studierte Verhaltensbiologie, bevor er sich 1987 als freier Schriftsteller in Warmond bei Leiden niederließ. Nach seinen Jugenderinnerungen „Ein Schwarm Regenbrachvögel“ erschien 1997 auf Deutsch sein Roman »Das...

Medien zu „Der Schneeflockenbaum“
Pressestimmen
Frankfurter Allgemeine Zeitung

„Eine gewisse dramaturgische Rekursivität in diesem Rückblicksroman ist nicht zu leugnen, aber doch ist das alles mit solch satirisch-charmanter Bravour erzählt, dass man noch reihenweise weitere freche Hollandgören hinnähme und hergäbe.“

Deutschlandradio Kultur

„Es ist vor allem Maarten t’Harts freundlichem Humor, seinem augenzwinkernden Verständnis für menschliche Schwächen, seinen skurrilen Einfällen zu verdanken, dass nie auch nur eine Sekunde Langeweile aufkommt. Das ist erstaunlich und große Kunst.“

Focus

„Im neuen Roman erzählt Bestsellerautor Maarten t`Hart von einem Spiel unter Freunden – niederträchtig zwar, aber auch höchst amüsant.“

Neue Osnabrücker Zeitung

„Zu Maarten t’Harts Können gehört immer wieder das großartige Erzählen, leicht, aber niemals oberflächlich, gefühlvoll, manchmal augenzwinkernd, psychologisch äußerst fein beobachtet.“

Rheinischer Merkur

Er gehört zu den ganz Großen der europäischen Gegenwartsliteratur.

dpa

„Moral, Doppelmoral und tiefe Verbundenheit, das sind die Themen des niederländischen Erfolgsautors Maarten `t Hart, die er auch in diesem von Gregor Seferens übersetzten Roman mit klarer Sprache behandelt. Mit wenigen Worten versteht er es, den Leser in die lebendigeen Szenen hineinzuziehen.“

Nürnberger Nachrichten

„Der 65-jährige Autor erzählt seine dicht gewebte, autobiografisch grundierte Geschichte mit viel Witz und schwungvoll leichter Sprache. Wunderbare, auch verschrobene Figuren und plastische Landschaften werden da gezeichnet.“

Sonntag aktuell

„Dieses Werk ist genau das Richtige für alle, die Humor mögen und die sich auch gern an jugendliche Lust und Pein erinnern.“

Die Rheinpfalz

„Von einer lebenslangen Freundschaft und der Brüchigkeit der Liebe zwischen Mann und Frau erzählt Maarten t`Hart in seinem neuen Roman Der Schneeflockenbaum. Das neueste Werk des niederländischen Erfolgsschriftstellers liest sich unglaublich flott und ist in der Tat ein Lesevergnügen.“

Aachener Zeitung

„Maarten t`Hart beweist auch mit diesem großartigen unterhaltsamen Roman brillantes Gespür für die Zwischentöne im Leben.“

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