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Der Schwindel Der Schwindel - eBook-Ausgabe
Roman
— Ein abenteuerlicher Road-Trip von Düsseldorf bis in die BretagneDer Schwindel — Inhalt
Das Drama eines Lebens auf der Flucht vor der großen Liebe
Bin ich gut, oder bin ich böse? Natürlich gut. Das denkt wohl jeder von sich. Rasmus B. Freeden, ein Arbeiterkind aus Düsseldorf, ist da keine Ausnahme. Von seinem Bruder verraten, von seinen Eltern unverstanden, bricht er auf in die Bretagne. Dort begegnet er Natalie, die rebellische Tochter eines französischen Aristokraten. Was als fiebrige Romanze beginnt, endet im größtmöglichen Unglück, bei dem keiner frei von Schuld bleibt. Seither wird er von Natalies Familie gejagt. Ein halbes Leben später bekommt die Frage nach Gut und Böse eine neue Relevanz. Rasmus muss klären, was damals wirklich geschehen ist. Viel Zeit bleibt ihm dazu nicht, denn bisher ist noch jedes seiner Verstecke aufgeflogen. Ein psychologischer Spannungsroman, raffiniert konstruiert und rasant erzählt.
Leseprobe zu „Der Schwindel“
Prolog
Die beste Tarnung ist, sich gar nicht erst zu verstecken. So zu leben wie die anderen auch. Routiniert und gut sichtbar für jeden, den es interessieren könnte. Als gäbe es keine Geschichte, die verschwiegen wird, sondern nur die gut sichtbare Oberfläche der Alltäglichkeit, die vorgibt, alles zu sein, und die in Wahrheit alles verbirgt.
Von zu Hause aufgebrochen bin ich als junger Kerl. Ich wollte in die Bretagne, und ich wollte das Meer sehen. Wirklich angekommen bin ich dort nicht. Das hole ich jetzt nach. Im kommenden Jahr werde ich [...]
Prolog
Die beste Tarnung ist, sich gar nicht erst zu verstecken. So zu leben wie die anderen auch. Routiniert und gut sichtbar für jeden, den es interessieren könnte. Als gäbe es keine Geschichte, die verschwiegen wird, sondern nur die gut sichtbare Oberfläche der Alltäglichkeit, die vorgibt, alles zu sein, und die in Wahrheit alles verbirgt.
Von zu Hause aufgebrochen bin ich als junger Kerl. Ich wollte in die Bretagne, und ich wollte das Meer sehen. Wirklich angekommen bin ich dort nicht. Das hole ich jetzt nach. Im kommenden Jahr werde ich dreiundfünfzig Jahre alt. Es ist wahrscheinlich die letzte Gelegenheit. In einem kleinen Ort, über den ich nichts weiß, außer dass ich dort ein Haus auf einer Klippe besitze. Vor zwei Jahren habe ich es gekauft, ohne zu glauben, dass ich es eines Tages wirklich bewohnen würde. Vielleicht ist die Bretagne nicht besonders originell. Ob sie trotzdem ein gutes Versteck ist, wird sich zeigen.
Wenn es einen kleinen Gemischtwarenladen gibt, werde ich dort einkaufen und über das Wetter plaudern. Gibt es einen Fleischer, werde ich Fleisch essen und Rezepte an der Theke tauschen. Beim Bauern werde ich Milch kaufen und seine Sorgen ernst nehmen. In der kleinen Buchhandlung werde ich lesen, was mir empfohlen wird, und auf der Post werde ich regelmäßig Briefe aufgeben und dafür sorgen, dass hin und wieder einer für mich ankommt. Täglich werde ich die Zeitung lesen, wenn möglich in einem Café frühstücken und von Zeit zu Zeit in einem Restaurant zu Abend essen. An den Nachmittagen werde ich spazieren gehen, durch den Ort, über die Hügel oder am Strand entlang. Wer es hören will, dem sage ich, wer ich bin. Oder um es genau zu machen: wer ich ab morgen sein werde. Ich habe viel zu erzählen.
Außerdem werde ich einen Holzvorrat für den Winter anlegen. Holzklötze aufrichten, ausholen, zuschlagen. Auf den Haufen werfen. Später schichten. Das wird mir guttun. Auch ich benötige eine Art Zukunft. Bis zum nächsten Winter zu denken ist mir genug. Und während die Dorfbewohner in ihren Gesprächen darüber beraten werden, was von dem Deutschen im Haus auf der Klippe zu halten ist, werde ich versuchen, ihnen zuvorzukommen.
Die Vergangenheit zu verurteilen ist keine Kunst. Am Ende ist jeder klüger. Auch ich weiß es heute besser. Ich hätte Natalie zur Rede stellen müssen. Ich hätte sie anklagen müssen. Streit suchen. Ich hätte ihr sagen müssen, was ich wusste, und ich hätte eine Erklärung verlangen müssen. Aber ich war jung. Von der Welt hatte ich keine Ahnung, und eine Frau wie Natalie musste sich mir gegenüber nicht rechtfertigen. Außerdem hatte ich gesehen, was ich gesehen hatte. Ich hatte sie gehört, klar und deutlich. Ich wollte die Worte nicht ein zweites Mal hören müssen. In meinem Leben hatte ich oft die Grenze des Erträglichen nach hinten verschoben. Deswegen habe ich geschwiegen, und das Schicksal hat die Einladung dankend angenommen. Mir steht keine Psychologin zur Seite und rät mir, das Geschehene aufzuschreiben. Ich habe keine Anwältin, die das Schreiben für eine gute Idee hält, solange die Erinnerungen noch frisch sind. Und keinen Freund, der mich darin unterstützt. Ich bin allein. Wirklich sehr allein. Das ist in Ordnung. Denn ich muss eine Frage beantworten: Was für ein Mensch ist Rasmus B. Freeden? Wie immer geht es dabei um Gut und Böse. Ich hoffe, dass genug Zeit für eine Antwort bleibt. Sehr wahrscheinlich ist das nicht.
Frankreich ~ Bretagne ~ Juni 2023
Das Grün der Gräser wird tiefgründiger, der Himmel gewinnt an Weite. Die Häuser werden kleiner und ziehen sich Schieferdächer und blaue Fensterläden an. Ginsterhecken, Wiesen und Felder beanspruchen ihren Platz zwischen den Dörfern, und die ersten Felsen drängen an die Oberfläche. Im Schatten wuchern Farne, in der Sonne blühen Hortensien. Die Landschaft ist vorzeitlich und gleichzeitig verträumt, als wollte sie uns von etwas erzählen, das wir schon lange nicht mehr verstehen können. Ein Plakat verspricht, dass es keinen schöneren Ort gibt als die Bretagne.
Ich sitze auf der Rückbank eines Taxis, welches mich aus der Stadt G. in ein kleines Dorf an der Küste bringt. Obwohl es noch ein Stück bis zum Meer ist, kann man seine Anwesenheit bereits spüren. Es sind die letzten Kilometer. Meine Reise endet heute. Wenn die Sonne untergeht, werde ich am Ziel sein. Mein Haus, bis jetzt kenne ich es nur von den Bildern des Maklers, wird mein letztes Versteck sein. Vielleicht ein Ort, um alt zu werden. Wahrscheinlicher ist, dass ein kleines Loch in der Fensterscheibe des Wohnzimmers den Ballistikern darüber Auskunft geben wird, aus welcher Richtung geschossen wurde. So oder so, ich muss erst mal schlafen. Die letzte Etappe war die schlimmste von allen.
Vor fünf Monaten habe ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Pistole in der Hand gehalten. Sie war erstaunlich leicht und roch nach Marzipan. Fünf Monate – seitdem scheint eine Ewigkeit vergangen zu sein. Wenn man in der Falle sitzt, dehnt sich die Zeit, dann finden die Tage kein Ende und die Wochen keinen Anfang. In Monaten zu denken wird unmöglich. Ich war auf der Flucht und wäre beinahe gestorben. Dass ich noch lebe, kommt mir wie ein Wunder vor. Wie es dazu kam, darüber kann ich nur spekulieren.
Meine Erinnerung setzt erst wieder ein, als ich im Lagerraum einer spanischen Hotelanlage zu mir kam, ohne Geld und Papiere und von einer Lungenentzündung gezeichnet. Dolores, eine kleine Frau mit strammem Schritt, brachte mir Essen aus der Küche. Als ich wieder stehen konnte, besorgte sie mir einen Job auf der Plantage ihres Onkels. Zum Abschied sagte sie, ich sei ein guter Mann. Ich habe das auch lange geglaubt. Inzwischen habe ich meine Zweifel.
Der Taxifahrer fragt mich, was ich in dem gottverlassenen Nest, das ich ihm als Ziel genannt habe, zu suchen habe. Mit einem Seitenblick überprüfe ich, ob sich draußen etwas Entscheidendes verändert hat, und lasse mich von einem hochgeschossenen Wald überraschen, mit dem ich, am Ende der Welt, wie sich die Bretagne gerne nennt, nicht gerechnet habe. Dann sage ich: „Ruhe. Ich hoffe auf Ruhe“, denn in meiner Situation kann alles, was nicht Ruhe ist, nur mein Ende bedeuten. Im Innenspiegel treffen sich unsere Blicke. Er hat nette Augen und sieht aus, als würde er Rosen züchten und zu viel und zu laut mit seiner Dackelhündin sprechen.
„Ruhe“, wiederholt der Taxifahrer und kichert kurz. „Langweilen werden Sie sich.“
Auf einer Lichtung wird ein Bauernhof mit Scheunen und Futtersilo aufgebaut, sogleich aus der Kulisse entfernt und wieder durch Bäume ersetzt.
„Wenn Männer sich langweilen, begehen sie eine Dummheit. Glauben Sie mir. Ich fahre seit dreißig Jahren Taxi.“
Wir lachen einvernehmlich, und bevor ich hinzufügen kann, dass ich mein Kontingent an verfügbaren Dummheiten bereits ausgeschöpft habe, erzählt der Fahrer von seinem Großvater aus Dorsetshire und warum der in einer stürmischen Nacht hinaus aufs Meer gefahren ist, abgetrieben wurde und in der Bretagne landete. Er sagt, dass die „Annektierung“ der Bretagne durch Frankreich eine unsägliche Ungerechtigkeit gewesen sei und noch immer ist und dass das Steuersystem nicht an die Taxifahrer denke und er außerdem nicht verstehe, warum seine Frau noch immer so viel mit ihm schimpfe, obwohl er inzwischen die meiste Zeit in seinem Gartenhäuschen wohne. Er sagt, dass der weiße Mann mittleren Alters vielleicht nicht die Krönung der Schöpfung sei, aber auch nicht ihre Ausschussware. Und viel Zuspruch benötige.
Natürlich ist es in Ordnung, dass er sich über die Ungerechtigkeit der Welt beklagt. Ungerechtigkeit ist wahrscheinlich eine unbegrenzte Ressource. Aber eigentlich hatte ich reden wollen. Mein Plan hatte vorgesehen, meine neue Identität mit ihm einzustudieren, Name, Herkunft, Beruf, Daten, die eine oder andere Anekdote, ein paar Redewendungen probieren, damit sie mir später flüssig über die Lippen kommen. Es gibt keinen besseren Ort, um die Rolle zu tauschen, als ein Taxi. Denn wenn der Fahrer die Handbremse anzieht, weil wir unser Ziel erreicht haben, und sich in seinem Sitz auf die Seite wuchtet, um das Fahrgeld zu verlangen, muss der alte Rasmus B. Freeden, guter Mann hin oder her, Geschichte sein. Das Dorf ist klein. Fehler darf ich mir keine erlauben.
Aber gegen seine Redseligkeit habe ich keine Chance. Mein Plan ist gescheitert. Auf der Landkarte hangeln wir uns von einem Punkt zum nächsten. Der Wald wurde längst gegen eine Heide mit lilafarbenen Tupfern ausgetauscht. Der Fahrer erzählt von seiner Zeit an der Universität, acht Semester Elektrotechnik. Mir wird klar, dass unser Ich eine Geschichte ist. Und die will erzählt werden. Sie muss erzählt werden. Immer und immer wieder, ohne Unterbrechung, morgens beim Blick in den Spiegel, auf dem Weg ins Büro, auf Schulhöfen, in Kneipen, auf benachbarten Sitzen im Flugzeug. Denn wenn sie nicht erzählt wird, existiert „Ich“ nicht, weil das Ich kein Gegenstand ist, den man in die Vitrine stellen kann. Es taugt nicht, um bewundert zu werden. Man kann es nicht anfassen. Ich ist flüchtig. Ich ist ein Gas, das verfliegt. Deswegen reden wir lieber, als dass wir zuhören. Deswegen lieben wir alles, was unser Ich auszumachen scheint. Das Auto, die Schuhe, die Zeitung, den Rasen, den Lieblingskaffee. Rückenschmerzen, geschiedene Eltern, erste Liebe, Einsamkeit. Jedes Gespräch eine Selbstversicherung, dass ich „Ich“ bin. Dass „Ich“ da ist und sich weder davonstehlen konnte noch verloren gegangen ist. „Ich“ lebt in ständiger Angst.
Das Taxi hält zwischen einer Fischerstatue aus Bronze und einem Café ohne Namen. Das muss mein Treffpunkt sein. Der Motor stirbt mit einem traurigen Gurgeln. Der Fahrer wuchtet sich wie erwartet auf die Seite, um mich direkt anzuschauen. Er sieht glücklich aus. Das Reden hat ihm gutgetan.
„Da sind wir“, sagt er.
Spanien ~ Pyrenäen ~ Januar 2023
Eigentlich beginnt das letzte Kapitel meiner Geschichte nicht in einem Taxi und nicht in einem Dorf an der bretonischen Küste, sondern im Winter fünf Monate zuvor und siebenhundert Kilometer weiter südlich, in Santa Elena, einem kleinen Ort in den Pyrenäen. Ich war geschäftlich unterwegs und nur auf der Durchreise. Das Frühstück war kläglich gewesen, ich musste dringend etwas essen und benötigte noch dringender einen anständigen Kaffee. In meinem Metier ist es nicht unüblich, dass Kunden an entlegenen Plätzen wohnen. Vor allem die Frauen. Doch dazu später mehr. Mir war es recht. Je entlegener der Treffpunkt, desto höher das Vorabhonorar. Außerdem bin ich kein Freund der Metropolen.
Ich parkte den Wagen direkt vor einer spröde gewordenen Gedenktafel aus Plexiglas. Im Jahre 1988 aufgestellt, inzwischen selbst ein Stück Historie, erinnerte sie an zweihundert Jahre Ortsgeschichte. Mehr war nicht mehr zu erkennen. Die Ränder zerbröselten, die Schrift war verblasst. Luise und Machiello hatten ihre Liebe mit einem Edding darauf verewigt. Niemanden schien das zu stören, weil sich in einer sterbenden Siedlung niemand für die Vergangenheit interessiert. Touristen suchte man vergebens. Der Supermarkt war verrammelt, die Kneipe aufgegeben. Auch für die Gegenwart interessierte sich niemand. Vielleicht starb der Ort schon seit Generationen. Oder die spanische Immobilienkrise hatte Santa Elena den Todesstoß versetzt.
Natürlich wäre es gefälliger, meine Geschichte nicht an zwei Orten gleichzeitig beginnen zu lassen, weder in der Bretagne noch in den Pyrenäen, sondern erst einmal von Deutschland zu erzählen, vom Rhein und von Düsseldorf, wo man gerne Heinrich Heine zitiert und stolz ist auf seine Bierbraukunst. Dort bin ich geboren. Und genau genommen hat natürlich dort alles seinen Anfang. Die meisten Geschichten werden vom Anfang her erzählt. Das schafft Übersichtlichkeit und bringt Ruhe in den Erzählfluss. Aber meine Geschichte ist klein und überschaubar. Ich kann es mir leisten, gegen die eine oder andere Konvention zu verstoßen.
Deswegen beginne ich nicht mit meiner Geburt in Düsseldorf, sondern mit jenem Tag in den Pyrenäen, der ganz gewöhnlich begann und mir dennoch alles genommen hat. Beginne ich mit der spröde gewordenen Gedenktafel aus Plexiglas, mit Luise und Machiello, die inzwischen vielleicht eine Familie gegründet haben, und einem alten Mann, der trotz der eisigen Temperatur vor seiner Tür saß und rauchte. Weil er keine Zähne mehr hatte, schaute sein Gesicht lustig aus. Irgendwann war seine Frau gestorben. Dann der Nachbar. Nicht mal ein Hund oder eine Katze gesellten sich bei dieser Kälte zu ihm. Nur die Zeit, die verging und dennoch kein Ende fand.
Sein Name war Pedro. Das war keine Überraschung. Letzte Woche war er dreiundsechzig Jahre alt geworden. Das schon eher. Santa Elena, sagte er, sei kein glückliches Dorf, das habe jeder gewusst. Spätestens seit der großen Explosion. Außerdem wusste er, dass der Steinofen von Beatriz über hundert Jahre alt ist. Ich folgte seiner Empfehlung. Auf dem Weg dorthin wurde ich von einer Gruppe Schüler erschossen. Sie waren zwischen acht und zwölf Jahre alt. Wer kann schon das Alter bei Kindern bestimmen. Sie hatten ihre Hände zu Pistolen geformt und kamen aus einer schmalen Gasse. Ihr Geschrei kündigte sie an. Die Gefahr erkannte ich dennoch zu spät. Ich war ein Reisender. Das war nicht zu übersehen. Sie zögerten keinen Augenblick. Und weil ich so gut sterben konnte und die Kinder präzise Schützen waren, starb ich an diesem Tag fünf Mal. Dann wurde es den Rotzlöffeln langweilig. Ich wäre auch ein sechstes Mal für sie gestorben.
Auf den Straßen von Santa Elena gab es wenig zu sehen. Die Hunde an ihren Ketten konnten mich nicht leiden und waren dennoch froh über meinen Besuch. Ziegen konnte man hören, aber nicht sehen. Das Schild über dem Eingang war schlicht gehalten: Beatriz. Ansonsten verriet nur der verrußte Schornstein, dass hier irgendetwas mit Feuer passierte. Direkt neben der Bäckerei war ein Krater, erstaunlich groß und erstaunlich rund. Ein maroder Zaun aus Holzlatten versuchte, ihn mehr schlecht als recht zu verstecken. Die Explosion, dachte ich und hielt inne, weil mir mein Spiegelbild in der Glastür der Bäckerei den Weg versperrte.
Ich hielt meinem eigenen Blick stand, um einmal tief einzuatmen. Länger ertrug ich es nicht. Fest steht, zum Dressman tauge ich nicht mehr. Ich habe vielleicht weniger gearbeitet und moderater getrunken und geraucht als Pedro, aber eigentlich habe ich immer auf der Flucht gelebt, und jeder Kontinent hat Spuren hinterlassen. Wer denkt, es sei leicht, die Heimat zu verlassen, der hat es noch nicht probiert. Verstecken ist nur für Kinder ein Spaß. Es waren schwierige Jahrzehnte. Gebrochene Finger. Gequetschte Knöchel. Eitrige Schnittwunden. Es gibt Krankheiten, deren Namen möchte man nicht kennen, und Insekten und Würmer und Bakterien, auf deren Bekanntschaft man verzichten kann. Immerhin, mein Unterkiefer sieht aus, als wäre er nie gebrochen worden. Ich bin Afrika auf der einen Seite herunter- und auf der anderen Seite wieder hinaufgelaufen. In Südamerika habe ich es andersherum gemacht. Zwischendrin war ich in Australien. Am liebsten war ich zu Fuß unterwegs. Manchmal hatte ich ein Auto. Ich bin viel per Anhalter gefahren und habe auf Güterzügen halbe Länder durchquert. Ich kenne mehr Strände als die meisten Menschen. Gleiches gilt für Wüsten, für Berge und Wälder. Mit den Städten habe ich es nicht so. Oft war ich allein unterwegs. Manchmal blieb ich eine Zeit lang in einem Dorf. Mietete mir ein Zimmer, eine Hütte oder baute mir selbst ein kleines Zuhause. Gab es Arbeit, habe ich gearbeitet. Meistens nur für Kost und Logis. Mit dem Pflug in der Hand oder dem Erntekorb unter dem Arm. Ich habe Tiere gehütet und auf Kinder aufgepasst und geholfen beim Wasserholen. Ich habe T-Shirts verkauft und Uhren und Sonnenbrillen. Ich hatte einen Marktstand mit Tamagotchis und einmal einen mit illegalen Musik-CDs. Zweimal habe ich mich als Barbetreiber probiert. Oft war ich Tagelöhner, auf Baustellen und in Fabriken. Oder ich habe als Vorarbeiter weit draußen auf den Bohrinseln geschuftet und viel Geld verdient. Mehr Geld, als ich ausgeben konnte. Ich war allein, hatte keine Familie, dafür ein gewisses Talent am Kartentisch. Die Tage auf See waren lang und gefährlich. Zuletzt hatte ich einen Kiosk. Ich habe viele Menschen kennengelernt und musste mich am Ende immer von ihnen verabschieden. Und als ich in der Südsee landete, war ich kein junger Mann mehr. Die Kerle in der Bar schlugen nicht mehr mit voller Kraft zu. Als würde es gegen die guten Sitten verstoßen. Selbst die letzten Großmäuler haben ihre Benimmregeln. Auch mit Frauen wurde es anders. Sie fingen an zu kichern oder fanden mich zu interessant, je nach Vaterkomplex. Davon lässt man lieber die Finger.
Ich wendete den Blick ab, drückte die Klinke und trat ein. Ein guter Freund in Uruguay sagte einmal zu mir, das Spanische Reich sei an der Redelust der Spanier zugrunde gegangen. Mit Beatriz wäre das nicht passiert. Mein „Buenos días“ quittierte sie mit einem stummen Nicken und drehte sich wieder zum Kuchenblech. Sie war zierlich. Einen Knochenjob traute man ihr nicht zu. Ein unscheinbares Mädchen und in die Jahre gekommen. Und doch war ihre Bäckerei eine echte Entdeckung. Dicke Holzbalken hielten die schiefen, weiß gekalkten Wände zusammen, das Feuer loderte, und wenn man nicht aufpasste, wurde man vom Stiel des Backschiebers erschlagen. Außerdem verstand Beatriz ihr Handwerk. Alles war selbst gemacht, fast rührend unvollkommen und mit Mehl bestäubt. Am Fenster standen zwei Tische, klein, rund und wackelig. Darauf jeweils ein Zuckerstreuer und ein Tischmülleimer. Im Hintergrund lief das Radio. Die Kasse begleitete mich mit einem durchdringenden Piepsen. Die digitale Anzeige erlaubte uns, auf dem Gipfel unserer geschäftlichen Beziehung zu schweigen. Ich suchte Geld, Beatriz Backwaren. Mit einer Aufforderung, Platz zu nehmen, rechnete ich nicht mehr. Das ging in Ordnung. Ich fühlte mich wohl und hatte Appetit. Beatriz behandelte Gegenstände mit großer Intensität. Der Espresso war wirklich trinkbar. Die Marmelade selbst gemacht. Und erst, als es Zeit wurde aufzubrechen, sagte Beatriz, ich solle bleiben. So viel Fürsorge überraschte mich. Schließlich war ich ein Fremder.
„Es wird Schnee geben“, sagte sie.
Hätte ich auf all die Warnungen gehört, die mir gegenüber ausgesprochen wurden, würde ich heute noch in meinem Elternhaus in Düsseldorf festsitzen. Es wird gerne und viel gewarnt. Das ist überall auf der Welt gleich. Die Angst ist ein Kosmopolit. Hinter dem Horizont lauert der Abgrund. Das hat sich seit dem Mittelalter nicht geändert. Wer heute das Haus verlässt, ist morgen so gut wie tot. Verschleppt, verschüttet, verdaut. Es wird vor dem Verkehr gewarnt, der überall der schlimmste ist, vor Mord und Betrug, vor der Polizei, Flora und Fauna, aber am allerliebsten vor dem Wetter. Der Jahrhundertwinter konkurriert im Kampf der Superlative mit dem Jahrtausendsommer. Jeder Sturm eine Apokalypse. Die sehnlich erwartete Bestrafung. Die wohlverdiente Quittung für alles, was wir getan haben.
Ich erinnerte Beatriz daran, dass schon die Römer Angst davor hatten, der Himmel könne ihnen auf den Kopf fallen, und verabschiedete mich freundlich. Ich kann es nicht leiden, wenn man mir sagt, was ich zu tun und zu lassen habe. Beatriz wünschte mir Glück.
In der Tat war der Wind unangenehm böig und schneidend, aber der Himmel war von einem harmlosen Blau und sah wenig bedrohlich aus. Die Hunde hatten ihre Lust an mir verloren, die Kinder waren fort. Pedro hatte fertig geraucht. Die Häuser waren kleine Würfel. Putz bröckelte von den Fassaden, darunter graue Hohlbetonsteine. Verbeulte Briefkästen buhlten um meine Aufmerksamkeit. Die Stille war gespenstisch. Nur die Ziegen erinnerten in der Ferne an ihre Anwesenheit. Die Felder an den Hängen rund um den Ort lagen brach und warteten darauf, dass sich die Natur ihrer wieder annehme. Mein Wagen stand noch immer allein neben der Gedenktafel. Es fühlte sich an, als wäre ich auf ein verlassenes Filmset geraten.
Ich zog meinen Mantel aus, faltete ihn zusammen und legte ihn über den Arm. Das war nicht notwendig, aber es entsprach meiner Gewohnheit. Ich habe viele Jahre im Dreck gearbeitet und erinnere mich gut an das Knirschen des Sandes zwischen den Zähnen und das Brennen in den Augen. An das Gefühl, niemals sauber zu sein, weil der Dreck zu tief in den Poren sitzt und die Mühe sich nicht lohnt und das Wasser zu kostbar ist. Das Jucken der Kopfhaut, der Ausschlag von den Pestiziden und dem ätzenden Staub des Zements. Und dann war da noch der Gestank. Wer mal eine Woche auf Kouri-Rinder aufgepasst hat, wird bestätigen, danach riecht man wie eins. Am schlimmsten aber war das Rohöl. An der Tankstelle bekommen wir eine Ahnung davon. Auf einer Bohrinsel ist der Gestank allgegenwärtig. Jedes Glas, jedes Kopfkissen, selbst die Zahnpasta – ich weiß sehr genau, warum ich gerne Anzüge trage und meinen Mantel ordentlich zusammenlege.
Doch als ich mich nach vorn beugte, um ihn auf den Koffer zu legen, hielt ich irritiert inne. Ich hatte meinen Namen gehört. Zuerst leise: Rasmus B. Freeden? Dann lauter: Rasmus B. Freeden?! Plötzlich stand ein Junge neben mir. Ich schaute mich um, als müsste auf dem Pflaster des Platzes noch seine Spur zu erkennen sein und mir verraten, woher er gekommen war. Sein Brustkorb hob und senkte sich. Er war gerannt und vielleicht dreizehn Jahre alt. Seine Haare waren schwarz und lieblos gestutzt. Ein Bad hätte ihm sicherlich gutgetan. Der Junge hielt mir ein Päckchen hin. Format etwa 30 mal 20 Zentimeter, verpackt in braunes Recyclingpapier, mit einer Kordel zusammengebunden. Ich weiß noch, dass mir als Erstes auffiel, wie akkurat die Kordel um das Paket geschnürt war. An der Art, wie der Junge es hielt, konnte man erkennen, dass es nicht sehr schwer war.
»¿Tú eres Rasmus B. Freeden?«
Ich nickte.
„Para tí“, sagte der Junge.
Vergeblich suchte ich nach einer Versandmarke. Das Klebeband, welches das Paket zusätzlich verschloss, war von FedEx.
„Du arbeitest für FedEx?“, fragte ich und stellte wieder einmal fest, dass mir Spanisch von allen Sprachen, die ich unterwegs gelernt habe, die liebste ist.
„Ich arbeite für alle“, sagte der Junge und machte deutlich, dass ich endlich das Paket an mich nehmen sollte. Also beugte ich mich in den Kofferraum, legte den Mantel auf den Koffer, achtete darauf, dass der Koffer die linke Seite berührte, dort, wo sich ein kleines Fach mit dem Notwerkzeug befand, und strich noch einmal über den Stoff, um sicherzugehen, dass der Mantel nicht in der ersten Kurve herunterrutschte. Natürlich war der Kofferraum sauber, und ich hätte den Mantel ohne Probleme neben den Koffer legen können, aber so gefiel mir das besser. Als ich mich wieder aufrichtete, war der Junge verschwunden. Zu meinen Füßen das Paket. Er hatte es zurückgelassen.
Mein erster Gedanke war: ein dummer Jungenstreich, nicht ärgern lassen, Paket stehen lassen, einsteigen, vergessen. Was hat man nicht selbst alles für Unsinn angestellt. Ich musste wieder auf die Straße, außerdem freute ich mich auf die Playlist, die ich extra für die Fahrt zusammengestellt hatte. Dann aber fragte ich mich, woher der Junge meinen Namen kannte, und merkte, dass ich bereits in eine Gasse gelaufen war, in der Hoffnung, ihn zu finden. Ein kopfloses Manöver. Der Junge war nirgends zu sehen. Ich bog ab und blieb in einem kleinen Patio stecken, in dem ein kahler Baum stand. Ich kehrte um und versuchte eine andere Abzweigung. Ich scheuchte eine Katze auf und zwei Tauben. Bei der nächsten Kreuzung wieder nichts. Ich musste einsehen, dass ich den Jungen verloren hatte. Sein Vorsprung musste inzwischen beachtlich sein, und seine flinken Füße waren meinen Ledersohlen auf diesem Untergrund deutlich überlegen. Zweimal wäre ich beinahe gestürzt. Atemlos machte ich kehrt. Das Paket war noch da, wartete auf mich und wollte ganz offensichtlich in den Kofferraum geladen werden.
Und dann fiel es mir ein. Es gab eine gute Erklärung für diese Sendung. Ich hätte gleich darauf kommen können. Morgen war angeblich mein Geburtstag. Schon auf meinen echten Geburtstag habe ich nie viel gegeben. Als Kind war es stets ein enttäuschender Tag und als Erwachsener ein einsamer. Natürlich verfuhr ich mit den Geburtstagen meiner Tarnungen nicht anders und hatte deswegen nicht daran gedacht. Und so musste es sich bei dem Paket tatsächlich um einen Streich handeln, nur dass der Junge nicht viel damit zu tun hatte. Ich verdächtigte meine Mitarbeiterin, Dina Babić. Eine kleine graue Frau, blitzgescheit und abgeklärt, die in ihrem Arbeitszimmer Kunstwerke aus Post-it-Zetteln kreierte. Sie liebte es, andere in die Falle zu locken. Wegen dieser Eigenschaft arbeitete sie für mich. Offenbar hatte sie dieses Mal mich zu ihrem Opfer auserkoren. Sie kannte mein damals aktuelles Geburtsdatum und meine Reiseroute. Santa Elena war der letzte größere Ort an der Strecke.
Das Paket lag gut in der Hand. Neigte man es zur Seite, kam im Inneren etwas ins Rutschen. Es waren zwei Gegenstände. Das konnte man spüren. Nicht groß, aber kompakt. Die Anschrift war mit einem grünen Marker geschrieben worden: Rasmus B. Freeden, Santa Elena. Mehr nicht. Es waren Druckbuchstaben. Sie wirkten konzentriert, als habe sich der Schreiber angestrengt. Beinahe wie von einem Kind notiert. Vielleicht hatte der Junge sie diktiert bekommen. Ich war neugierig geworden, wäre aber niemals auf die Idee gekommen, das Geschenk direkt vor Ort zu öffnen. Es gab viele Lektionen, die ich hätte lernen sollen und geflissentlich ignoriert habe. Aber eine habe ich verinnerlicht: Geschenke zu früh zu öffnen bringt Unglück. Großes Unglück für mich und andere.
Also platzierte ich das Paket neben dem Koffer. Dann setzte ich mich hinter das Steuer und warf einen Blick in den Rückspiegel. Auch das mache ich immer so. Dabei ging es mir nicht um Verkehrssicherheit. Sondern um ein kleines Foto, das ich immer bei mir trug und, war ich mit einem Auto unterwegs, am Rückspiegel befestigte. Das Foto war alt. Sehr alt. Darauf zu sehen war eine junge Frau. Meine erste Liebe. Unglücklich, natürlich. Aber schönere Erinnerungen besitze ich nicht. Mit ausgestrecktem Arm justierte ich den Spiegel, obwohl das nicht nötig gewesen wäre. Auch dieser Handgriff gehörte zum Ritual. Ein kurzes Innehalten. Vielleicht nahm er zwei Sekunden in Anspruch. Vielleicht nicht mal das. Als ich damit fertig war, konnte die Reise beginnen.
Sie bezeichnen sich als bekennenden Rheinländer. Was macht einen solchen aus?
Dass er mit dem eigenwilligen rheinländischen Humor zurechtkommt. Ich liebe die bissige Ironie des Rheinländers, die auf einen Außenstehenden nicht selten respektlos und verletzend klingen mag, aber nett gemeint ist. In Rheinland ist es so: Je gröber dich eine Person beleidigt, desto größer die Zuneigung.
Was hat Sie dann in die brandenburgische Ebene verschlagen und wie lebt es sich dort?
Ein altes, liebebedürftiges Haus. Außerdem hatte ein anderer Lebensabschnitt begonnen. Auf einmal wusste ich mit den Angeboten der Stadt nicht mehr viel anzufangen. Seitdem liebe ich die Arbeit im Garten und den weiten Horizont. Außerdem wird im Havelland ein recht rheinländischer Humor gepflegt, wahrscheinlich fühle ich mich deshalb dort zu Hause. Gleichzeitig hat man die Hauptstadt vor der Haustür, das ist natürlich ein Luxus.
Ihr Protagonist ist in Düsseldorf aufgewachsen, wollte aber so schnell wie möglich weg von dort. Woran liegt das und ging es Ihnen ähnlich?
Rasmus hat eine unglückliche Kindheit. Er ist ein Fremdkörper in seiner Familie und wird obendrein von seinem Bruder geqäult. Seine Abenteuerlust ist also von Anfang an durch das Motiv der Flucht bestimmt. Bei mir waren es vor allem der Zeitgeist und Neugierde. Wer in den 90er Jahren etwas auf sich hielt, wollte so schnell wie möglich weg von zu Hause. Als ich am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig angenommen wurde, war sofort klar, wo die Reise hingeht.
Wann haben Sie sich entschieden, das Schreiben auf professionellem Niveau zu betreiben, und was hat das Studium am DLL dazu beigetragen?
Bei meinen ersten literarischen Gehversuchen war ich zwölf Jahr alt.
Zuerst waren es recht abenteuerliche Piratengeschichten. Bald probierte ich mich mit romantischen Gedichten aus, schrieb moralische Theaterstücke und existentielle Kurzprosa. Natürlich hatte das alles keinen Mehrwert, dennoch stand für mich auf eine sehr naive Art und Weise fest, dass es das ist, was ich einmal machen will und auch werde.
Allerdings stritt sich dieser Wunsch noch lange mit dem Verlangen Tierarzt zu werden.
Seit dem Erscheinen Ihres Debütromans „Das Versteck“ sind zehn Jahre vergangen. Was ist in der Zeit geschehen und wann haben Sie den Entschluss gefasst, einen zweiten Roman zu schreiben?
Wir haben zwei Kinder bekommen. Die haben einen neuen Fokus in mein Leben gebracht. Das Schreiben habe ich dabei aber nie aufgegeben. Die ältesten Notizen sind von 2015 und der eine oder andere Satz hat es sogar bis ins fertige Buch geschafft. Dann kamen Corona, der Lockdown und das Homeschooling. Vielleicht kein guter Zeitpunkt, um einen Roman fertig zu schreiben. Doch auf einmal wollte die Geschichte zu Ende gebracht werden.
Es gibt viele unzutreffende Vorstellungen über das Schreiben. Aber wenn etwas erzählt werden will, findet es seinen Weg.
Die Titel Ihrer Romane, „Das Versteck“ und „Der Schwindel“, ähneln sich strukturell und auch inhaltlich, denn in „Der Schwindel“ spielt das Verstecken eine zentrale Rolle. War das von vornherein so gedacht oder hat es sich ergeben?
Leider nein. Ursprünglich sollte Der Schwindel ein ganz anderes Buch werden, ein diskursiver Roman, in dem zwei sehr unterschiedliche Persönlichkeiten auf engem Raum mit der Anwesenheit des Anderen konfrontiert werden. Es sollte ein Ringen der Weltanschauungen entbrennen.
Doch da stimmte etwas nicht. Mir gefiel der Erzählton nicht. Die Figuren fühlten sich fremd an. Vielleicht war ich nicht der richtige Mann für diesen Job. Es folgte ein schmerzhafter Prozess, in dem ich das Geschriebene immer wieder aufbrach, Fassung für Fassung mit der Brechstange arbeitete, bis sich die heutige Form herausgeschält hatte.
Der Roman ist sehr filmisch erzählt, indem er viele intensive Szenen an ganz unterschiedlichen aufmacht, hat aber auch eine philosophische Ebene. Er lebt also auch von der Reflexion. Gibt es dafür Vorbilder und Inspirationen?
Der Begriff Vorbild klingt immer so nach Nachahmung. Ich glaube, das kann in der Kunst nicht funktionieren. Aber ich liebe Nabokov. Und auch Nabokov stellt gerne die Kamera auf und tut dann so, als wäre er überrascht davon, was seine Figuren da treiben. Außerdem habe ich über ihn den unzuverlässigen Erzähler kennen und lieben gelernt. Er war vielleicht kein Vorbild für mich, aber ohne ihn wäre „Der Schwindel“ in dieser Form vielleicht nie entstanden.
Der Roman handelt von jemandem, der als junger Mann aus dem Rheinland in die Bretagne aufbricht, dann dazu gezwungen wird, um die ganze Welt zu fliehen und in vielen Ländern zu leben. Am Ende zieht er sich in ein Haus auf einer Klippe in der Bretagne zurück, wo er vorher noch nie war. Welche Rolle spielt Frankreich für ihn und für Sie?
Frankreich ist für Rasmus ein Sehnsuchtsort. Sein Leben in Düsseldorf ist trist und grau und voller Gefahren. In Frankreich hofft er dem zu entkommen. Er träumt davon, zum ersten Mal das Meer zu sehen und ein neuer Mensch zu werden. Bei meinem Vater war es genauso. Alles, was mit Frankreich zu tun hatte, liebte er. Als Kind war ich fast jeden Sommer in Frankreich, verbinde damit aber vor allem 14 Stunden auf der Rückbank eines unklimatisierten Fiat Uno, eingeklemmt zwischen zwei größeren Brüdern. Um ehrlich zu sein, seit diesen Familienreisen bin ich nie wieder nach Frankreich gereist.
Eine zentrale Frage im Roman ist die nach Gut und Böse. Glauben Sie, dass das absolute Kategorien sind, die möglicherweise von vornherein im Menschen angelegt sind, oder sind sie relativ und situativ zu betrachten?
Ein kurzer Blick in die Geschichte genügt, um zu erkennen, dass Gut und Böse keine absoluten Kategorien sind, sondern von der Gesellschaft definiert werden und von der Perspektive abhängig sind. Deswegen denkt im Krieg keine Seite, dass sie die Bösen sind, sondern beide Parteien sind davon überzeugt, dass sie die Guten sind. Bei Scheidungen verhält es sich genauso und auch in allen kleinen Konflikten. Der Schwindel kreist also vielmehr um die faszinierende Fähigkeit des Menschen, sich selbst stets von Schuld freizusprechen.
Rasmus gerät auf seiner Flucht in diverse Länder und dramatische Situationen, in denen er oft nur bestehen kann, weil er sich als ein anderer ausgibt. Am Ende scheint er nicht mehr genau zu wissen, wer er eigentlich ist.
Unser Ich ist nicht in Stein gemeißelt, sondern in Bewegung. Im Grunde ist es nicht mehr als eine Erzählung und wir sind der Erzähler. Aber wir unterliegen äußerlichen Einflüssen, zum Beispiel was unsere Partner oder Kollegen über uns sagen. Und auch extreme Erlebnisse können eine Rolle spielen. Und so ist es Rasmus ergangen. Was er erlebt hat und wie er sich verhalten hat und was daraus geworden ist, passt nicht zu dem, wie er sich selbst sieht. Deswegen hadert er mit sich.
Wann und wo schreiben Sie am liebsten/besten?
Früher habe ich vor allem abends geschrieben. Gerne wirklich bis spät in die Nacht. Inzwischen schätze ich aber die frühen Morgenstunden, gerade wenn der Kopf noch ganz benebelt ist. Ich sitze dabei klassisch am Schreibtisch oder mit Tablet und Stift auf dem Sofa. Das letzte Drittel vom Schwindel wurde handschriftlich auf dem Tablet geschrieben.
Gibt es schon Pläne für den nächsten Roman und wird der schneller fertig werden?
Ja, die gibt es. Die Hauptfigur wird ein Kommissar sein, der kein Kommissar mehr ist, so viel kann ich schon verraten. Und es wird um die humanitäre Katastrophe gehen, die sich an der europäischen Außengrenze abspielt. Ich hoffe natürlich, dass es nicht wieder 10 Jahre dauert.
Aber das habe ich nach dem ersten Roman auch gesagt. Im Moment arbeite ich noch an der Handlung und hoffe, die richtige Erzählstimme zu finden.
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