Der Tempel der magischen Tiere - eBook-Ausgabe
Drei Reisen
„Siemens ergründet, wie es funktioniert, das Eintreten in Träume anderer Menschen.“ - Süddeutsche Zeitung
Der Tempel der magischen Tiere — Inhalt
Seit jeher begeben sich Schriftsteller auf Reisen, um das Natürliche, das Unverfälschte und das Ursprüngliche zu erfahren. Und um Antworten auf die Fragen des eigenen Lebens zu erhalten. Carl von Siemens folgt dieser Tradition. Bei indigenen Völkern im pazifischen Raum möchte er lernen, die Welt mit anderen Augen zu sehen. In Australien begegnet er dem magischen Denken der Aborigines und teilt ihren Alltag im Outback. Auf Mangaia, der ältesten der Cookinseln, erlebt er die Vormoderne nur mehr als Spuk. Und in Peru wird er von Mestizen und Amazonasindianern in den Gebrauch halluzinogener Pflanzenmedizin eingewiesen. Bei seinen sinnlich und elegant erzählten Reisen stößt Carl von Siemens nicht nur an die Enden der Welt vor. Sie werden auch zu Ausflügen in die Tiefen seiner Seele, die er mit pointierter Selbstironie erforscht.
Leseprobe zu „Der Tempel der magischen Tiere“
Erster Teil
in dem der Autor vom Ursprünglichen erfährt und zu den Aborigines nach Australien aufbricht
We live in a single constricted space resonant with tribal drums.
Marshall McLuhan
1
Auf einem Festival in Ungarn begegnete ich einem Anthropologen, der Techno-Hippies mit der Akribie eines Schmetterlingssammlers verfolgte. Sein Name war Graham St. John, er hatte sich das Feiern sozusagen zum Beruf gemacht, und jeder beneidete ihn um seinen Job.
Das Festival hieß O.Z.O.R.A. und dauerte eine geschlagene Woche. Ich hatte mich einer Gruppe angeschlossen, die [...]
Erster Teil
in dem der Autor vom Ursprünglichen erfährt und zu den Aborigines nach Australien aufbricht
We live in a single constricted space resonant with tribal drums.
Marshall McLuhan
1
Auf einem Festival in Ungarn begegnete ich einem Anthropologen, der Techno-Hippies mit der Akribie eines Schmetterlingssammlers verfolgte. Sein Name war Graham St. John, er hatte sich das Feiern sozusagen zum Beruf gemacht, und jeder beneidete ihn um seinen Job.
Das Festival hieß O.Z.O.R.A. und dauerte eine geschlagene Woche. Ich hatte mich einer Gruppe angeschlossen, die sich einmal im Jahr zusammentat, um in den Büschen über die Stränge zu schlagen. Seitdem wir unter einem Schild mit der Aufschrift „Welcome to Paradise“ das Gelände betreten hatten, liefen die Dinge schrecklich schief.
Sechsunddreißig Stunden später war das Camp noch immer nicht aufgebaut worden, der erste Kreislaufkollaps schien nur eine Frage der Zeit, und ein Schreihals hatte mich die ganze Nacht lang durch ein Megafon angebrüllt. Bei Sonnenaufgang stand ein Unternehmensberater in Lederhosen zwischen davondriftenden Plastiktüten und spielte ein Lied auf einem Akkordeon, während ihm die Tränen unter den geweiteten Pupillen über die Wangen strömten.
Ich packte meine Siebensachen und ging stiften.
Zwischen Obststand und Bar stach ein Hohlweg durch einen bewaldeten Hügel. Jenseits des Hügels gab es weitere Wälder und Wiesen und bemalte Kleinbusse und noch mehr Zelte, doch keine Musik wummerte herüber, und das Grün der Pflanzen war rein und frisch.
Es begann zu regnen. Am nächsten Morgen zogen Wolken über die Zeltstadt. Vor den Fressbuden und Kleiderständen des Hippiemarkts flappten Plastikplanen im Wind. Dahinter stand der Main Floor unter Wasser. Ein Traktor kippte Strohballen auf die Erde, die wie ein Dunghaufen stank.
Mit Blaulicht schaukelte ein Krankenwagen heran.
Einige Versprengte kurvten um die Müllsäcke auf der Tanzfläche. Sie hatten ihre Dreadlocks zu fantastischen Aufbauten gesteckt, und die Trugbilder der Nacht hatten sich wie Holzschnitte in ihre Gesichter eingegraben.
Ich breitete meine tibetische Wolldecke aus und wärmte mich an einem Becher Tee. Seit Jahren hatte ich jede Gelegenheit genutzt, um unter Sonne und Mond bis zur Erschöpfung zu tanzen; nun fragte ich mich, was ich in dieser Welt verloren hatte. Ich beneidete die Vagabunden, die von Festival zu Festival zogen wie früher die Fans der Grateful Dead. Sie hatten sich von der Zivilisation verabschiedet, für einen Sommer oder auf länger; ich selbst hatte niemals meine Leinen gekappt. An Nachmittagen wurde die Haut der Mädchen golden, und ihre pastellfarbigen Lumpen leuchteten in einem besonderen Licht. Sie waren wild und schön wie ein Nomadenstamm, der sich in den heulenden Böen der Steppe verlor. Doch sie waren naiv, und ihre Sprachlosigkeit machte mich hilflos.
Seit drei Tagen hatte ich keine zusammenhängende Unterhaltung geführt.
Ich sehnte mich nach einem Gespräch.
Einen Wimpernschlag später setzte sich ein blonder Mann in einem grünen T-Shirt an meine Seite. Er frühstückte mit einer Dose Bier und kam aus Australien.
Ich setzte zu einem längeren Vortrag über einen Holzschnitt von Hans Baldung Grien an, auf dem vier nackte Frauen unter einem Baum in ihrem Kessel rührten, aus dem eine Dampfwolke unmissverständlich in den Himmel zischte.
Der Holzschnitt war in einem Buch aufgetaucht, das mir vor Jahren zwischen die Finger geraten war, „Traumzeit“ des Ethnologen Hans Peter Duerr. Im Mittelalter, schrieb er, hätten die Hexen am Dorfrand gelebt, wo nur eine Hecke oder ein Zaun noch Zivilisation von Wildnis getrennt habe. Wildnis sei das, was unter den Regeln der Ordnung nicht erfahrbar sei. Man müsse Wildnis erlebt haben, denn nur, wer mit den Wölfen geheult habe, werde lernen, woher er komme. Nachtfahrende Weiber seien die Mittler zwischen den Welten gewesen; dabei hätten sie mit einer Salbe nachgeholfen, die aus Fliegenpilz und Stechapfel bestanden habe.
„Die Paste muss so stark gewesen sein, dass selbst eine Wildsau davongeflogen wäre …“
Der Australier nippte an seiner Dose. „Ganz wie wir.“
Hand in Hand patschten zwei Mädchen in zerlöcherten Tanktops vorbei. Sie hatten ihre Gesichter bemalt, trugen Federn im Haar, schwere Nasenringe aus Gujarat und selbst gebastelten Körperschmuck aus Leder und Hanf. „With the help of two concepts, which are traditionally opposed, science and spirituality“, bellte es aus den Lautsprechern herüber, „we humbly reintroduce: psychedelics!“
„Wir betreiben einen Riesenaufwand, um uns als Indianer und Steinzeitmenschen zu verkleiden“, grollte ich, während es wieder zu nieseln begann. „Was für ein Schwindel! Und wozu überhaupt? Warum?“
Ich hatte wirklich einen sehr schlechten Tag erwischt.
„Du musst Graham kennenlernen.“
„Wer ist Graham?“
„Ein Landsmann von mir. Er schreibt über solche Sachen“, sagte der Australier, zerquetschte seine Bierdose und verschwand in der Menge.
Es dauerte vier Tage, bis ich Graham fand. Das Festival war gelaufen, die Musik am Main Floor verstummt, und ein Bienenschwarm gebräunter Körper drängelte sich um die Essenstände beim Chill-out-Zelt. Neben dem Australier wiegte sich ein untersetzter Mann in Weihrauchschwaden hin und her, der sich am Ende seiner Feldforschungen mit einem tropfenden Stück Pizza belohnte. Er trug olivgrüne Shorts mit Seitentaschen, Trekkingsandalen und hatte sich ein violettes Tuch zum Schutz vor der Sonne um den Kopf gewickelt.
„Du musst Graham sein.“
„Das bin ich in der Tat“, sagte er langsam und sah mich über den Rand seiner Lesebrille hinweg an, als wäre ich das letzte Hindernis, das zwischen ihm und dem Schlafsack stand.
Ich war voller Fragen. Er seufzte auf; dann setzten wir uns auf einen Strohballen und begannen zu reden.
Er erzählte von England am Ende der Achtzigerjahre, als sich Kleinkollektive um Soundsysteme gebildet hatten, die auf Lastwagen über die ländlichen Idyllen hereingebrochen waren. Er erzählte von Netzwerken kostenloser Partys, deren „temporäre autonome Zonen“ die Freiheit von Leben und Kunst zelebrierten. Alle teilten ein dystopisches Verständnis der Gegenwart, nach jedermanns Ansicht kontrolliert, kommerzialisiert, militarisiert und ruiniert durch Kapitalismus, Industrie, das System und die Regierung Margaret Thatchers.
Das einflussreichste Musikkollektiv nannte sich „Spiral Tribe“; ähnlich wie Le Corbusier betrachtete es das Schneckenhaus als Sinnbild für die fraktale Geometrie des Universums. Seine kahl geschorenen Mitglieder ließen Zuckerwürfel mit kalifornischem LSD in ihren Mündern zergehen und starrten auf das Gewinde eines versteinerten Ammoniten, bis es vor ihren Augen zu rotieren begann. Wie in einer Zeitmaschine sogen sie seine konzentrischen Kreise zurück zu Sommern, in denen das Land noch nicht von der Krone beschlagnahmt worden war, zu mittelalterlichen Jahrmärkten und fahrendem Volk; zurück und zurück, zu Druiden, Kreidezeichnungen auf den Flanken weicher Hügel und den Tempeln von Stonehenge, wo sich eine ganze Zivilisation an Sonne und Mond ausgerichtet hatte. Im Zentrum der Spirale, vor ihrer Nasenspitze und gleichzeitig unendlich weit entfernt, stand das Natürliche, das Unverfälschte und das Ursprüngliche, der Garten Eden und in ihm die besondere Wahrnehmung der lebendigen Welt.
Von dem Natürlichen, dem Unverfälschten und dem Ursprünglichen war auf der O.Z.O.R.A. nur eine Simulation geblieben. Es erstaunte mich, dass ausgerechnet durch Chemie und elektronische Musik zum Angriff auf die Moderne geblasen werden sollte. Doch ich wurde belehrt, dass es sich dabei nur um Methoden handele, mit deren Hilfe von einer Realität in eine andere gewechselt werde. Wie sibirische Schamanen oder die Zaunhexen des Mittelalters verstanden sich auch die Discjockeys als Reiseführer zu einer Erfahrung an besonderen Orten in der Natur; eine Erfahrung, die aus Licht, Schmuck und trommelnden Rhythmen bestand. Dieses Versprechen reichte aus, um Leute aus der ganzen Welt für eine Woche nach Ungarn zu locken. Dabei produzierten sie mehr Abfall und CO2, als wenn sie daheim in Melbourne oder Tokio geblieben wären.
„Habt ihr solche Festivals nicht auch in Australien?“, wollte ich wissen.
„Es gibt eins im Januar: Rainbow Serpent.“
„Rainbow Serpent?“
„Die Regenbogenschlange. Eine Gestalt aus der Mythologie unserer Ureinwohner.“
Ich war elektrisiert. „Werden da Aborigines sein?“
„Vielleicht“, sagte er müde. „Ich würde es als einen Ort bezeichnen, an dem das Alte und das Neue einander überlappen.“
Lange nach Mitternacht machte ich mich auf den Rückweg zu meinem Zelt. Der Lichtkegel meiner Taschenlampe leitete mich in den Hohlweg, wo ein Künstler die Gesichter irgendwelcher Mayagötter aus der Flanke des Hügels geschabt hatte. Ich war glücklich wie ein Erdferkel, und unter der Wolldecke war mir angenehm warm. Um mich herum schlief ein Paralleluniversum seinen Rausch aus. Kein Geräusch war zu hören außer dem Tapsen meiner Füße auf dem glatten Lehm und dem Nachklang der Musik in meinen Ohren.
Dann gab meine Lampe ihren Geist auf. In der einsetzenden Nachtsicht gewann der Wald an Tiefe und füllte sich, wie eine aufatmende Lunge, mit dem Gesang unzähliger Grillen und Insekten. Vor mir, auf dem Kamm des Hügels, rahmten schwarze Zweige den Himmel ein, und über meinem Kopf begannen Millionen von Sterne zu leuchten.
So musste sich der erste Mensch auf diesem Planeten gefühlt haben, als er allein die Wälder der Vorzeit durchstreifte. Von den Aborigines wusste ich wenig, doch ich hatte gehört, dass ihre Kultur die älteste überlebende Kultur außerhalb Afrikas sei. Vielleicht würde sich die Möglichkeit ergeben, ihr im Busch zu begegnen. Ich würde erfahren, was an dem Natürlichen, dem Unverfälschten und dem Ursprünglichen das wirklich Besondere war. Das Rainbow Serpent Festival könnte der Spalt in der Tür sein, durch den ich schlüpfen würde, um die Welt mit anderen Augen zu sehen.
„Australien, Peru und die Cook Inseln – „drei Reisen“ ist sein Werk untertitelt, und es ist jede Zeile wert.“
„(…) Er verwandelt seine Reiseerfahrungen in funkelnde Sprache. Seine Berichte lesen sich wie Georg Forster auf Speed.“
„Siemens ergründet, wie es funktioniert, das Eintreten in Träume anderer Menschen.“
„(…) enthält drei Reisegeschichten, die nach Australien, Ozeanien und Lateinamerika führen. Dennoch gehört es eigentlich zu den schönsten Romanen dieses Frühlings – denn es beschreibt den inneren Trip eines Zeitgenossen, der über eine außergewöhnlich feine, schöne, manchmal auch unwahrscheinlich witzige Sprache verfügt und mit dieser die Grenzen seiner Welt erkundet.“
„Dies ist das Buch eines Autors, der Menschen und ihre unterschiedlichen Kulturen schätzt; der deren fundamentale Bedrohung durch unsere westliche klar benennt und in ihnen Beispiele für das gute Leben findet. Sehr lesenswert.“
„Die Suche nach dem Ursprünglichen auf seinen Reisen hat den Schriftsteller geprägt, daraus wuchs nach und nach sein umweltpolitisches Engagement. Ob es um das massive Artensterben geht, das Ausrotten von indigenen Völkern oder die Globalisierung, diese Dinge bewegen ihn. Heute sieht er die Welt in der Tat mit anderen Augen.“
„Eine ganz außergewöhnliche Reise.“
„Ohne Ethnokitsch und mit viel Selbstironie.“
„(…) ein erstaunliches, meisterhaftes und auch spirituell wertvolles Werk des literarischen Journalismus (…).“
„›Der Tempel der magischen Tiere‹ von Carl von Siemens überrascht mit einem anderen Ansatz: Er blickt hinter die üblichen Kulissen – und tief ins Seelenleben des Autors.“
„Man muss das einfach gelesen haben (…).“
„Geistreich, originell und klug konstruiert, offenbart Siemens das Geheimnis des Reisens als Überlebensmantra, erzählt von Schönheit und Obsession und zeigt uns auf, wonach wir alle auf der Suche sind: dem Versprechen einer besseren Welt.“
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