Der Tote im Sumida (Ein Fall für Rei Shimura 9) - eBook-Ausgabe
Kriminalroman
Eine aufschlussreiche Lektüre vor der Kulisse Tokios. - Nürnberger Zeitung
Der Tote im Sumida (Ein Fall für Rei Shimura 9) — Inhalt
Agatha-Award-Gewinnerin Sujata Massey ist zurück mit einem neuen spannenden Kriminalfall und schickt Rei Shimura in eine neue gefährliche Ermittlung
Die Glitzerwelt des japanischen Luxuskaufhauses „Mitsutan“ ist der neue Arbeitsplatz von Hobbydetektivin Rei Shimura. Als Verkäuferin getarnt soll die Halbjapanerin den skrupellosen Machenschaften der Chefetage auf die Spur kommen. Bald schon bemerkt Rei, dass die edle Welt der Designer-Kimonos und japanischen Höflichkeitsfloskeln in Wirklichkeit eine äußerst raue und brutale ist …
Leseprobe zu „Der Tote im Sumida (Ein Fall für Rei Shimura 9)“
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Ich habe fast mein ganzes Leben gebraucht, um überzeugend lügen zu lernen.
Manchmal plagt mich dabei immer noch das schlechte Gewissen, obwohl das Flunkern mir eine wunderbare zweite Karriere eröffnet hat. Ich erzähle unangestrengt Geschichten und wechsle mühelos zwischen Englisch und Japanisch. Aber oft frage ich mich, wie ich an diesen Punkt gelangt bin und wo das alles noch hinführen wird.
Es war ein kühler Wintertag wie jeder andere in Monterey, acht Stunden Kurse im Defense Language Institute und anschließend wie üblich Joggen hinaus zum Lover of [...]
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Ich habe fast mein ganzes Leben gebraucht, um überzeugend lügen zu lernen.
Manchmal plagt mich dabei immer noch das schlechte Gewissen, obwohl das Flunkern mir eine wunderbare zweite Karriere eröffnet hat. Ich erzähle unangestrengt Geschichten und wechsle mühelos zwischen Englisch und Japanisch. Aber oft frage ich mich, wie ich an diesen Punkt gelangt bin und wo das alles noch hinführen wird.
Es war ein kühler Wintertag wie jeder andere in Monterey, acht Stunden Kurse im Defense Language Institute und anschließend wie üblich Joggen hinaus zum Lover of Jesus Point in Pacific Grove. Der Pazifik trennte mich von Japan, von meinem alten Leben. Ich würde ihn überqueren müssen, um nach Hause zurückzukehren.
Merkwürdig, diese Sehnsucht. Schließlich war ich in Kalifornien zur Welt gekommen, in San Francisco, etwa zwei Stunden nördlich von Monterey, wo meine Eltern lebten. Aber Japan, wo ich so wenige, jedoch glückliche Jahre Englisch unterrichtet und Antiquitäten verkauft hatte, lockte mich noch immer. Dieses Gefühl war an jenem kalten Wintertag stärker als in den zwei Monaten, die ich mich am DLI nun schon auf meinen neuen Beruf vorbereitete, über den ich niemandem etwas erzählen durfte und der mich vielleicht nach Japan zurückführen würde.
Auf gute Dinge lohnt es sich zu warten, dachte ich, während ich in einem langärmeligen, schwarzen, eigentlich für Radfahrer gedachten Top und Shorts dahinjoggte. Der kühle Wind an den Beinen störte mich nicht; schlimmer war es da schon, dass auf dem Rückweg mein Knie zu schmerzen begann. Ich würde mir bald neue Nike Airs kaufen müssen. In Monterey war die Auswahl leider nicht allzu groß. Natürlich hätte ich ohne Weiteres zum Shoppen nach San Francisco fahren können, aber das wollte ich nicht, weil ich bereits Weihnachten und den Jahreswechsel bei meinen Eltern verbracht und mich mit ungesundem Essen und unangenehmen Fragen hatte abmühen müssen. Meinen Eltern durfte ich nichts von der Organization for Cultural Intelligence, kurz OCI, erzählen, jener Geheimdienstorganisation, für die ich jetzt arbeitete. Ich konnte ihnen auch nicht erklären, warum Hugh Glendinning, der Mann, mit dem ich einmal so gut wie verlobt gewesen war, mich ein für alle Mal aus seinem Leben und seiner Wohnung in Washington, D. C., verbannt hatte.
Mir gefiel die Einsamkeit des zerklüfteten Küstenabschnitts bei Monterey am eiskalten Pazifik, wo Sardinen, Surfer, Seehunde und Wale wohnten. Ich verfolgte den Sonnenuntergang mit, der hier immer spektakulär war, ein richtiges Kunstwerk in Rot, Orange und Purpur.
Wie immer konnte ich das kurze grüne Leuchten nicht entdecken, das Hugh mir in unseren Urlauben in Japan und Thailand mehrmals zu zeigen versucht hatte. Ich sah nie die gleichen Dinge wie er. Vielleicht war das das Problem.
Ich richtete den Blick wieder geradeaus, auf die Hopkins Marine Station, eine der Stanford University angeschlossene Forschungsstation. Auf dem Felsen befand sich ein schöner Aussichtspunkt, den ich noch nie aufgesucht hatte, weil um das Areal ein hoher Maschendrahtzaun mit Schildern aufragte, die den Zutritt untersagten.
Genau dort entdeckte ich eine einsame Gestalt mit Fernglas.
Derselbe Mann war mir schon eine halbe Stunde zuvor aufgefallen, weil er, anders als die meisten Leute in Monterey, einen Anzug trug.
Ich brauchte ein paar Minuten, um die Felsnase mit der eingezäunten Station zu passieren. Als ich das andere Ende erreichte – das Knie schmerzte inzwischen noch mehr –, sah ich den Mann im Anzug über den Parkplatz der Station laufen. Also hatte ich mich doch nicht getäuscht: Sein Feldstecher war auf mich gerichtet gewesen, nicht aufs Meer.
Obwohl ich bereits eine halbe Stunde gejoggt war, setzte ich meinen Weg zu den American Tin Cannery Outlets fort. Der Mann mit dem Fernglas, das jetzt vor seiner Brust hing, kam immer näher. Kein normaler Jogger war im Anzug unterwegs; es musste sich um einen Verrückten handeln. Ich beschleunigte. Aus der Ferne konnte ich sein Gesicht nicht erkennen, sicher war nur, dass er graue Haare hatte.
Hinter den Outlets befand sich ein kleines, in freundlichem Rot, Weiß und Blau gehaltenes Lokal, das offenbar sowohl das in Monterey stationierte Militär als auch ausländische Touristen anlocken sollte. Als ich die Tür öffnete, hoben zwei junge Männer in T-Shirts und Jeans, die sich auf Spanisch unterhielten, die Köpfe.
„Könnten Sie die Polizei rufen?“, fragte ich schwer atmend.
Die beiden zögerten einen Moment und verschwanden dann hastig durch die Küche.
„Nein“, rief ich ihnen nach. „Ich wollte nicht …“ Hätte ich sie doch nur in Spanisch angeredet, der hier üblichen Sprache, und nicht das Reizwort „Polizei“ verwendet.
Ich sah mich nach einem Telefon um. Der Mann hatte mich in das Lokal eilen sehen; es war sinnlos, mich zu verstecken.
Als mein Blick durchs Fenster auf meinen Verfolger fiel, legte ich den Hörer weg, denn es war der Leiter der japanischen Abteilung bei der OCI und seit drei Monaten mein Vorgesetzter: Michael Hendricks.
„Michael! Was für eine Überraschung!“, begrüßte ich ihn, sobald er eintrat. Dass er sich in Kalifornien aufhielt, überraschte mich, denn davon hatte er in seinen zahlreichen E-Mails nichts erwähnt.
„Warum sind Sie denn weggelaufen?“, fragte Michael außer Atem und lockerte seine Krawatte. Man konnte ihn streng genommen nicht als gut aussehend bezeichnen; dazu war er zu schlank und hatte eine zu krumme Nase. Aber seine grau melierten, militärisch kurz geschnittenen Haare fand ich sexy, und seine eisblauen Augen verwirrten mich oft so, dass ich den Blick abwenden musste.
Ich entschied mich für eine ehrliche Antwort. „Ich hatte Angst. Würde es Ihnen nicht so gehen, wenn jemand Sie mit dem Fernglas beobachtet und verfolgt?“
„Ich habe Sie gesucht. Wissen Sie übrigens, dass Sie beim Laufen hauptsächlich die Innenseite des Fußes belasten?“
„Ja, und die Schuhe machen’s noch schlimmer.“
„Sie waren nicht in Ihrer Wohnung, und ich wusste, dass Sie in dieser Gegend joggen. Von der Felsnase aus würde ich Sie auf jeden Fall entdecken, dachte ich mir.“ Michael zog sein Sakko aus. Zu meiner Überraschung war sein Oxford-Hemd nicht verschwitzt.
„Ich versuche schon den ganzen Tag, Sie zu erreichen“, erklärte Michael. „Wir müssen etwas besprechen.“
„Was denn?“, fragte ich.
„Reden wir lieber in Ihrer Wohnung.“ Michael holte den Schlüssel eines Mietwagens aus der Tasche. „Ich nehm Sie mit.“
„Nein, danke. Ich jogge lieber nach Hause; es ist nicht mal mehr einen Kilometer. Und dann möchte ich duschen.“
„Klar. Ich besorg uns was zu essen und komm anschließend zu Ihnen. Dann haben Sie genug Zeit zum Duschen und Umziehen.“
Ich brauchte die paar Minuten, um einen klaren Kopf zu bekommen.
Nachdem ich die hintere Tür des Hauses im spanischen Stil aufgeschlossen hatte, ging ich schnurstracks ins Bad, duschte kurz und schlüpfte in eine Jeans und ein Seidenoberteil aus einer kleinen Boutique im Zentrum. Ich legte weder Make-up auf, noch fönte ich mir die Haare, bemühte mich allerdings, die Wohnung aufzuräumen, bevor Michael kam. Das Apartment befand sich im hinteren Teil eines bescheidenen Bungalows aus den Zwanzigerjahren. Früher war es vermutlich hübsch gewesen, doch jetzt bröckelte der Putz; der Vermieter hatte die alten Terrakottafliesen mit Linoleum bedeckt und lediglich billige Gartenmöbel bereitgestellt. Als ich gerade die Kissen auf dem Sofa und den Stühlen arrangierte, klopfte es. Ich schaute durchs Schlüsselloch, sah Michael und öffnete.
Er hatte eine Tüte der Paris Bakery, meiner Lieblingsbäckerei, und zwei Becher Kaffee dabei. Hinter ihm standen mehrere Umzugskartons. Nachdem er mir Tüte und Becher gereicht hatte, machte er sich daran, die Kartons in meine Wohnung zu tragen.
„Kekse? Was soll denn das für ein Abendessen sein?“, fragte ich.
„Wir haben nicht viel Zeit, und der Zucker gibt uns die nötige Energie für das, was wir heute Abend noch schaffen müssen.“ Michael räusperte sich. „Wahrscheinlich fragen Sie sich, warum ich überhaupt hier bin.“
„Ja. Monterey ist nicht gerade der nächste Weg von Washington.“
„Ich bin mit einem Learjet, einer Militärmaschine, gekommen. Hat Spaß gemacht.“
„Dann ist es also dringend.“ Ich nahm einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht. Michael hatte jede Menge Zucker hineingetan, aber keine Milch.
„Hätten Sie Milch gewollt?“, erkundigte er sich.
„Ja, eine Latte macchiato mit zwei Stück Zucker wäre perfekt gewesen, aber das können Sie sich ja fürs nächste Mal merken. Wird’s überhaupt ein nächstes Mal geben? Ich meine … die Kisten … Irgendwas stimmt nicht, oder?“
„So würde ich das nicht ausdrücken“, antwortete Michael. „Es tut mir leid, dass ich Sie vor Abschluss der Ausbildung wegholen muss. Ihr Kursleiter sagt, Sie schlagen sich gut.“
„Hier kann man kaum was tun außer Lernen.“
„Vielleicht ergibt sich ja später im Jahr die Möglichkeit, noch mal nach Monterey zu kommen.“ Er schwieg einen Augenblick. „Aber jetzt brauche ich Sie in Washington. Das wollte ich Ihnen persönlich mitteilen, damit Sie selbst entscheiden können, ob Sie den Auftrag übernehmen oder nicht.“
Die Kartons ließen darauf schließen, dass er mit einer Zusage rechnete. „Handelt es sich um einen OCI-Job?“
Er nickte. „Wir haben etwa einen Monat Zeit für die Vorbereitungen, bevor Sie nach Tokio reisen.“
„Wow.“ Zum ersten Mal seit Wochen hatte ich gute Laune.
„Alles Weitere erkläre ich Ihnen beim Packen, weil es morgen in aller Herrgottsfrühe losgeht. Wir fliegen um halb sieben nach Langley. Ihre Sachen bleiben hier; die vollen Kartons holt einer von unseren Leuten.“
Ich sah mich in meiner Wohnung um. „Und wie soll ich das mit dem Packen schaffen?“
„Ich helfe Ihnen.“ Michael faltete den ersten Karton auf. „So viel Zeug haben Sie ja nicht, eigentlich nur Klamotten und Bücher, oder?“
„Und CDs. Und Töpfe und …“
„Kein Problem“, sagte Michael und holte eine dicke Rolle Klebeband aus dem Sakko.
2
Es gehe um ein japanisches Warenhaus, das Mitsutan, erklärte er mir. Dort hatte ich immer gern mit meinen japanischen Verwandten eingekauft, hauptsächlich in der Niederlassung in Yokohama, zu besonderen Gelegenheiten auch im riesigen Flaggschiff in der Ginza-dori, Tokios berühmtem Shopping-Viertel. Hier hatte meine japanische Großmutter einen teuren Kimono zur Feier meines dritten und siebten Geburtstags für mich erworben, wichtige Ereignisse im Leben eines jungen Mädchens. Und achtzehn Jahre später, als ich zum Unterrichten ins Land zurückgekehrt war, hatte ich verblüfft festgestellt, dass die Kleidung im Mitsutan – wie in fast allen anderen Läden Japans – mir passte wie angegossen.
Ich war in einen Kaufrausch verfallen, bis mir klar wurde, dass der Verdienst einer Englischlehrerin einfach nicht für agnès-b.-Röcke und Lucky Jeans reichte. Also hielt ich mich fortan vom Mitsutan fern und begnügte mich mit den abgelegten Designerklamottten meiner Mutter, die diese in nach Lavendel duftenden Kartons aus San Francisco schickte.
„Dem Finanzministerium liegen Beschwerden vor“, riss Michael mich aus meinen Erinnerungen. „Die Beamten halten die Umsätze des Mitsutan, besonders der Ginza-Filiale, angesichts der allgemeinen Situation des japanischen Einzelhandels für unrealistisch.“
Ich legte den Stapel Handtücher weg, den ich gerade in einem Karton verstauen wollte. „Die meisten japanischen Unternehmen frisieren ihre Bilanzen. Das ist fast schon eine Kunstform und dient dazu, sich vor Aktionären und Konkurrenz in gutem Licht zu präsentieren. Natürlich bemühen sie sich, auf dem Papier besser dazustehen als in der Realität.“
„Es besteht aber ein Unterschied zwischen Imagepflege auf dem Papier und echten Profiten aus illegalen Aktivitäten.“ Michael verschloss den vierten Karton mit Klebeband.
„Und welche illegalen Aktivitäten legt man Mitsutan zur Last?“ Ich wickelte meine guten alten Panasonic-Lautsprecherboxen, ein Überbleibsel aus meiner Jugend, in Handtücher. „Verkauft man dort etwa Sachen von Anna Sui zu Dumpingpreisen?“
„Keine Ahnung, was das ist“, antwortete Michael, „aber um Ihre erste Frage zu beantworten: Unsere Vorgesetzten haben ein besonderes Interesse an dem Kaufhaus.“
„Geht denn eine Bedrohung davon aus?“
„Wir hoffen, dass der Verdacht sich als unbegründet erweist. Das wäre für alle Beteiligten einfacher. Doch wir müssen ihm nachgehen, und es freut mich, dass unsere Abteilung damit befasst ist.“
„Ich hab nicht den blassesten Schimmer vom modernen Einzelhandel, sondern bin auf Antiquitäten spezialisiert.“ Bei meinem ersten Auftrag von Michael war es darum gegangen, einen alten, aus einem Museum im Irak entwendeten Krug wieder seinen rechtmäßigen Eigentümern zuzuführen.
Michael sah mich an. „Ich weiß, dass Sie sowohl den Mut als auch die Fähigkeit besitzen, diese Sache anzupacken. Einen solchen Auftrag kann nicht jeder übernehmen; der Letzte, der sich daran versucht hat, wurde umgebracht.“
„Wie bitte?“, rief ich aus.
„Ein weißer Undercover-Agent.“
„Und wie?“
„Offiziell ist er ertrunken, in Wahrheit wurde er zu Tode geprügelt. Man hat seine Leiche im Sumida-Fluss gefunden.“
Ich bekam eine Gänsehaut. „Tyler Farraday, der Amerikaner? Ich hab einen Zeitungsartikel über ihn gelesen. Er hat doch in Tokio als Model für Männermode gearbeitet und angeblich zu viel Kokain geschnupft, oder?“
»Ja, Tyler Farraday – natürlich war das nicht sein rich¬ tiger Name«, bestätigte Michael mit nüchterner Miene. „Er kam aus einer anderen Abteilung; ich musste ihn im Rahmen der neuen Kooperationsstrategie einsetzen. Er hat mich von Anfang an nicht überzeugt. Nicht robust genug.“
Aber ich bin es?, dachte ich düster. „Warum erstattet man nicht einfach Anzeige gegen die Inhaber des Kaufhauses?“
„Das muss die japanische Polizei machen; uns sind die Hände gebunden. Wie Sie wissen, existiert unsere Organisation offiziell nicht.“
„Ach ja, stimmt.“
„Außerdem gibt es keinerlei Beweise dafür, dass jemand von Mitsutan in die Sache mit Tyler Farraday verwickelt war. Am Ende entpuppt sich das Ganze vielleicht als yakuza-Aktion. Aber machen Sie sich mal keine Gedanken über ihn. Sie sollen sich bloß einen Eindruck davon verschaffen, was innerhalb des Kaufhauses vor sich geht. Ein paar Belege für Unregelmäßigkeiten, mehr brauche ich nicht.“
„Und wie soll ich das anstellen?“, fragte ich, während ich geistesabwesend ein T-Shirt dreimal faltete, wie Hugh es immer getan hatte. Als mir das bewusst wurde, legte ich es nach japanischer Art zusammen. „Soll ich Einkaufsbummel in die Filialen unternehmen oder was?“
„Ein bisschen anspruchsvoller wird’s schon.“ Michael erklärte mir, dass ich in der Ginza-Filiale Informationen aus Schriftstücken, Computern und Mitarbeitergesprächen sammeln sollte. Für derartige Aufgaben war ich bisher nicht ausgebildet worden; das sollte in Washington nachgeholt werden.
„Es dauert Jahre, sich solche Methoden anzueignen“, wandte ich ein.
„Bei echten CIA-Agenten ist das tatsächlich so, aber Sie haben Informantenstatus, und bei der OCI handelt es sich um eine kleine Abteilung. Wir haben gar nicht das Budget für intensives Training.“ Michael schleppte einen mit Klebeband verschlossenen Karton zur Tür. „Machen Sie sich mal nicht so viele Gedanken, Rei. Ich kümmere mich persönlich um Ihre Ausbildung in Washington. Dort lernen Sie das wichtigste Handwerkszeug, und dann bewerben Sie sich um einen Job im Kaufhaus.“
„Moment! Ich soll für Mitsutan arbeiten? Bringt mich das nicht in einen Interessenkonflikt?“
„Eine bessere Tarnung gibt’s nicht. Sie sind immer am Schauplatz des Geschehens und haben Zugang zu den meisten Abteilungen des Kaufhauses.“
„Michael, da wäre noch ein anderes Problem. Sie wissen vermutlich nicht, wie schwierig es für einen Ausländer ist, von einem japanischen Unternehmen angeheuert zu werden.“
„In diesem Fall sind Sie keine Ausländerin und auch keine Halbjapanerin, sondern eine Einheimische, die aus dem Ausland zurückkehrt, eine junge Frau mit einem Abschluss der Waseda-Universität, die in San Francisco und Tokio japanische Textilien an amerikanische Warenhäuser verkauft, japanische Antiquitäten für Privatkunden erworben und ein japanisches Restaurant eingerichtet hat.“
„Hm.“ Das klang realistisch. „Stimmt. Bis auf den Abschluss an der Waseda-Universität. Dort hab ich nur ein Jahr studiert.“
„Ich weiß. Wir konstruieren einen Lebenslauf für Sie, in dem von einem vierjährigen Studium die Rede ist“, sagte Michael. „Und Sie agieren unter Ihrem eigenen Namen. So laufen Sie nicht Gefahr, enttarnt zu werden, falls zufällig ein Bekannter im Kaufhaus auftaucht.“
„Kennen mich für so was nicht zu viele Leute in Tokio?“, fragte ich, während ich Michael den nächsten Karton reichte.
„Sie haben einen in Japan ziemlich verbreiteten Namen – ich glaube nicht, dass irgendjemand Verdacht schöpft.“
„Aber mein Foto war in der Zeitung.“
„Und?“ Michael riss ein Stück Klebeband von der Rolle und schlang es um den Karton. „Ich finde es eher gut, dass Sie eine japanische Vorgeschichte haben. Das Problem mit Tyler Farraday war, dass seine neue Identität sich zu sehr von seiner wirklichen unterschied und er keine Ahnung von Japan hatte. Wenn tatsächlich jemand über die Zeitungsbilder stolpert, sieht er sie als Beweise für das aktive Nachtleben einer jungen Frau mit Boyfriends aus der besseren Gesellschaft. In einem Glamourladen wie dem Mitsutan werden Ihnen solche Kontakte eher als Plus angerechnet.“
3
In den langen Stunden nach Mitternacht dachte ich über die Worte von Michael nach, der nach dem Packen in die Mili¬ tärunterkunft gefahren war. Ein ausgebildeter Profi hatte sich an der Aufgabe versucht, war enttarnt und ermordet worden. Jetzt wurde eine Anfängerin ins Rennen geschickt, der man Erfolg zutraute, weil sie Japanisch konnte und, wie Michael es ausgedrückt hatte, „Kontakte“ besaß.
Ich wälzte mich unruhig zwischen den Laken aus Baumwoll-Polyester-Gemisch hin und her, die die OCI nicht nur zur Verfügung stellte, sondern auch waschen ließe, sobald ich weg wäre. Meine Mitstreiter im Kurs würden wahrscheinlich glauben, ich hätte das Handtuch geworfen.
Offenbar vertraute Michael nicht darauf, dass ich pünktlich aufwachte, denn er stand um zehn vor fünf vor der Tür. Ich war noch nicht ganz fertig und verbrachte die folgenden zwanzig Minuten damit, meine letzten Habseligkeiten einzusammeln, während er immer wieder nervös auf die Uhr sah. Michael wirkte wie stets frisch und trug einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd und eine Krawatte mit winzigem Muster, das den Augen wehtat.
„Schmeißen sich für den Flieger alle in Schale?“, erkundigte ich mich unsicher. Ich selbst hatte mich für eine heiß geliebte abgetragene Flicken-Levi’s und ein Skiunterhemd sowie eine alte Persianerjacke meiner Mutter entschieden, für den Fall, dass es in Washington kalt wäre.
„Nicht unbedingt. Es werden viele Uniformierte unterwegs sein, weil solche Flüge hauptsächlich von Militärangehörigen genutzt werden.“ Er musterte mich mit nüchternem Blick. „Ziemlich leger. Wenn jemand Sie fragt, wer Sie sind, zeigen Sie ihm einfach Ihren Ausweis. Offiziell sind Sie Sprachwissenschaftlerin mit Auftrag in Washington. Mehr braucht niemanden zu interessieren.“
„Sprachwissenschaftlerin“, wiederholte ich, als wir bei Sonnenaufgang an der Küste entlangfuhren. „Wenn Sie wüssten, wie schlecht ich an der Waseda-Universität in Linguistik war …“
„Sinn für Humor haben Sie nicht gerade“, sagte Michael.
„Das stimmt nicht!“ Ich liebte das Komische in jeder Form – Filme, Bücher, Theater.
„Wie viele Agenten sind nötig, um eine Glühbirne zu wechseln?“
„Glühbirnenwitze sind dämlich.“
„Nun sagen Sie schon, Rei: Wie viele Agenten sind nötig, um eine Glühbirne zu wechseln?“
„Verraten Sie’s mir.“
„Verdammt, war das eine Glühbirne von uns?“
Wider Willen begann ich zu kichern, wandte mich aber schon bald wieder dem eigentlichen Thema zu. „Sie haben als Leiter der Japan-Abteilung der OCI wahrscheinlich eine solide Basis im Japanischen. Nihongo ga joozu desho.“ Ich verwendete sarkastisch die Floskel „Sie müssen ziemlich gewandt sein im Japanischen“, mit der Japaner Ausländer lobten, egal, ob diese zwei oder zweitausend Wörter Japanisch kannten.
„Ich bin überhaupt nicht joozu. Vor zehn Jahren habe ich Hangul gelernt, weil ich damals in Nord- und Südkorea eingesetzt war. Bei Fragen zum Japanischen wenden Sie sich bitte an Mrs. Ikuko Taki, das ist die Japanischdolmetscherin, die Ihren Lebenslauf mit den Waseda-Daten zusammenstellt. Sie wird später auch die Aufnahmen übersetzen, die Sie uns aus Tokio schicken.“
„Prima. Ich kann’s gar nicht erwarten, sie kennenzulernen.“
„Hoffentlich gefällt Ihnen die Dienststelle. Sie ist eher klein, weil ich als Einziger ganztägig im Büro bin, aber Mrs. Taki und ein paar andere, die stundenweise für uns arbeiten, schauen auch hin und wieder vorbei.“
Bei dem Gedanken daran, ein Büro in Washington, dem Ort meines großen Liebeskummers, zu haben, bekam ich ein flaues Gefühl im Magen. Nicht zuletzt dieser missglückten Beziehung wegen hatte ich mich so schnell bereit erklärt, nach Monterey zu gehen. „Wo genau befindet sich die Dienststelle – war da nicht mal die Rede von Foggy Bottom?“
„Das ist der Sitz des Außenministeriums, die Tarnadresse der OCI“, antwortete Michael. „Eigentlich operieren wir von Pentagon City aus. Sie sind in einem möblierten Apartment in einem Gebäude ein paar Häuserblocks davon entfernt untergebracht. Ich dachte mir, wenn Ihre Unterkunft nicht so weit weg ist, können wir intensiver arbeiten, auch an den Abenden und am Wochenende …“
Er gab den Wagen am Mietwagenschalter zurück, und nachdem wir die Sicherheitskontrollen passiert hatten, gingen wir über das Rollfeld zu einem beängstigend kleinen dunkelgrauen Flugzeug, auf dem sich eine Nummer, aber kein Name befand. Sämtliche Passagiere außer Michael und mir trugen Uniform.
„Warum machen die denn alle so ein mürrisches Gesicht?“, fragte ich Michael mit leiser Stimme, als dieser mich zu den einzigen freien Plätzen am hinteren Ende der Militärmaschine dirigierte.
„Das sind Marines von Camp Pendleton; wahrscheinlich nervt es sie, dass sie unseretwegen den Umweg hierher machen mussten.“ Er hielt mir eine Tüte mit Donuts hin.
Ich griff zu, allerdings wenig begeistert, weil ich eigentlich nicht schon wieder Süßes essen wollte und außerdem etwas gegen unnütze Kalorien habe, besonders am Morgen. „Warum Sie sich für ein solches Flugzeug herausgeputzt haben, ist mir ein Rätsel.“
Michael schluckte den Bissen hinunter, den er gerade kaute, bevor er antwortete: „Hätte auch sein können, dass uns der Learjet mitnimmt, mit dem ich gestern gekommen bin. Diese C-140 ist eine sehr sichere Maschine, wenn auch nicht sonderlich bequem.“
Da hatte er zweifellos recht. Und außerdem wurde der Geruch, der nach ungefähr dreißig Minuten Flug aus der Toilette zu dringen begann, allmählich unerträglich. Am meisten machte mir jedoch der Motorenlärm zu schaffen.
„Hier“, brüllte ich Michael zu, „könnten wir uns ohne Weiteres über unser Projekt unterhalten, ohne dass jemand etwas mitkriegt.“
„Aber ich würde auch nichts verstehen“, schrie er zurück, und Puderzucker regnete auf mein Ohr. „Wenn Sie trotzdem schon mal mit der Arbeit anfangen wollen: Ich habe einige Unterlagen dabei. Vielleicht lenkt die Lektüre Sie von den Unannehmlichkeiten des Flugs ab.“
Michael reichte mir eine dicke Aktenmappe, die ich widerwillig nahm, weil ich lieber in meinem John-le-Carré-Roman geschmökert hätte.
Auf dem Umschlag stand der Vermerk „geheim“. Stolz darüber, dass ich solche Dokumente lesen durfte, schlug ich die Mappe auf.
Michaels Gesicht verschwand hinter einer Ausgabe von Foreign Affairs, während ich mich über die Mappe hermachte. In Teil eins befand sich die Beschwerde eines gewissen Warren Kravitz ans Finanzministerium. Darin erläuterte dieser, Senior Partner im asiatischen Hauptquartier der amerikanischen Investmentbank Winston Brothers, anhand unterschiedlicher, in einem fünfzigseitigen Anhang gesammelter Daten die Theorie, warum Mitsutan sich letztlich nicht besser schlagen konnte als seine Konkurrenten.
„Was hat dieser Warren Kravitz denn für ein Problem?“, erkundigte ich mich. „Will er Privatdetektiv spielen oder was?“
„Er hat einfach eine Beschwerde eingereicht. Das kann jeder Bürger.“ Mit gesenkter Stimme fügte Michael hinzu: „Von jetzt an keine richtigen Namen mehr in der Öffentlichkeit, bitte.“
„Das letzte Mal hab ich mich mit neun Jahren beim Finanzministerium beschwert, weil mein Dad das Taschengeld nicht erhöhen wollte.“
Michael rang sich ein kleines Lächeln ab, legte aber den Finger auf die Lippen. Ich wandte mich einem zweiten Satz von Dokumenten zu, einer Historie des Einzelhandels in Japan. Ihnen entnahm ich, dass das erste Mitsutan-Kaufhaus im Jahr 1911 entstanden war, die Geschichte jedoch viel weiter zurückreichte. Die Gründer hatten Ende des achtzehnten Jahrhunderts, also in der prosperierenden Edo-Zeit, mit einem Kimono-Geschäft in Tokio angefangen. Die eleganten Mitsutan-Seidenroben für Männer, Frauen und Kinder waren offenbar so beliebt, dass die Ladeninhaber gut damit verdienten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts das mir bekannte Warenhaus eröffnet werden konnte. Mitsutan war nicht das erste depaato der Ginza; zuvor hatte es schon Mitsukoshi, Matsuya, Isetan und Matsuzakaya gegeben, alle ebenfalls berühmte Kimono-Hersteller, die neue Wege beschritten. Nun begannen Japanerinnen, yofuku – Kleidung im westlichen Stil – zu tragen, und der Einzelhandel reagierte mit achtstöckigen Kaufhäusern.
Während des Kriegs gingen die Geschäfte deutlich schlechter, weshalb Mitsutan und die anderen sich für eine Art Schlafmodus entschieden und erst wieder im Wiederaufbau der Nachkriegszeit ins Geschehen eingriffen, indem sie die Luxusgüter verkauften, nach denen die Leute sich nach entbehrungsreichen Jahren sehnten. Die alteingesessenen Kaufhäuser sahen sich nun Konkurrenten gegenüber, die ursprünglich aus der Eisenbahnbranche stammten. Diese hatten beste Verbindungen zur japanischen Regierung und erhielten die Genehmigung zum Bau riesiger Warenhäuser in der Nähe der großen Bahnhöfe von Tokio, Osaka, Nagoya und anderen Städten. Auch die neuen Geschäfte – unter ihnen Parco, Tokyu und Seiyu – boten Luxusgüter an, manchmal zu niedrigeren Preisen als die alteingesessenen, und hatten damit Erfolg, obwohl sie nach Ansicht meiner Familie nichts über das jahrhundertealte Verkaufsritual wussten.
Beide Arten von Kaufhäusern florierten in den wirtschaftlich erfolgreichen Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. In den Neunzigern jedoch platzte die Blase; die Wirtschaft floppte, und die japanischen Konsumenten übten sich in Zurückhaltung und legten ihre Yen lieber auf Sparkonten bei der japanischen Post an.
Es folgten mehrere Seiten mit Grafiken, die die Gewinn-und-Verlustrechnungen der zwölf größten japanischen Kaufhausketten illustrierten. In der von Mitsutan zeigten sich die gleichen Auf- und Abwärtsbewegungen wie bei den anderen – bis zum Jahr 2003. Von nun an ging es steil bergauf. Im Gegensatz zu den meisten anderen Ketten gab Mitsutan seine Gewinne großzügig an die Aktionäre weiter. Offenbar handelte es sich um eine Situation, von der alle profitierten.
Ich schloss die Mappe. Noch immer fragte ich mich, warum die Beschwerde eines amerikanischen Bankers von seiner Regierung so ernst genommen wurde.
Verheimlichte Michael mir etwas? Ich sah ihn an. Er war jetzt selbst in die Lektüre einer mit dem Vermerk „streng geheim“ versehenen Mappe vertieft.
Natürlich wusste er Dinge, die er mir nicht verriet. Ich konnte nur hoffen, dass er mir nichts vorenthielt, was mich in eine ähnlich tödliche Falle tappen lassen würde wie Tyler Farraday.
Frech und temperamentvoll, witzig und selbstkritisch ist diese Protagonistin, der man überall hin folgen würde.
Eine immer stärker werdende Krimiserie, die Verbrechen mit multikulturellen Beobachtungen mixt.
Eine aufschlussreiche Lektüre vor der Kulisse Tokios.
Ein spannender Einblick in Japans Kultur.
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