Der Zirkel der Sechs Der Zirkel der Sechs - eBook-Ausgabe
Runen und Knochen
— Actiongeladene Urban Fantasy voller Magie und Geheimnisse„Die Geschichte hatte für mich die richtige Mischung aus Magie, Spannung, Intrigen und Geheimnissen.“ - stefanieleben_2.0
Der Zirkel der Sechs — Inhalt
Die Magie der Toten schläft in den Katakomben von Paris ...
Für den Zirkel der Magier von Paris jagt Sirena abtrünnige Magier, denn das ist genau ihr Ding. Als jedoch ein Auftrag nicht ganz nach Plan verläuft, ändert sich alles: In den Katakomben von Paris offenbart sich ihr eine Prophezeiung. Sirena soll als eine von sechs in der Lage sein, die Macht der Toten zu erwecken. Das könnte ihr zum Verhängnis werden, denn es gibt Gruppen, die genau diese Macht zu ihren eigenen Zwecken einsetzen wollen. Nun liegt es an Sirena und fünf weiteren Auserwählten, gemeinsam einen Weg zu finden, eine Katastrophe zu verhindern.
Leseprobe zu „Der Zirkel der Sechs“
1. Kapitel
Sirena
„Aus Schmerz kann Weisheit erwachsen. Heute werde ich dich sehr weise machen.“
Sirena starrte ihn an. „Stammt das aus einem Sprüchekalender für Bösewicht-Karikaturen?“
Der Mann, dessen Namen sie sich nicht gemerkt hatte, blinzelte. Sein maßgeschneiderter Anzug hatte nicht einmal halb so viele Falten wie seine gerunzelte Stirn.
„Du bist gefesselt und besiegt. Ist das der richtige Zeitpunkt für ein loses Mundwerk?“, fragte er.
„Ah!“ Sirena grinste. „Ich wusste, ich habe etwas vergessen.“
Sie presste den linken Fuß gegen den rechten Knöchel, [...]
1. Kapitel
Sirena
„Aus Schmerz kann Weisheit erwachsen. Heute werde ich dich sehr weise machen.“
Sirena starrte ihn an. „Stammt das aus einem Sprüchekalender für Bösewicht-Karikaturen?“
Der Mann, dessen Namen sie sich nicht gemerkt hatte, blinzelte. Sein maßgeschneiderter Anzug hatte nicht einmal halb so viele Falten wie seine gerunzelte Stirn.
„Du bist gefesselt und besiegt. Ist das der richtige Zeitpunkt für ein loses Mundwerk?“, fragte er.
„Ah!“ Sirena grinste. „Ich wusste, ich habe etwas vergessen.“
Sie presste den linken Fuß gegen den rechten Knöchel, und eine Welle aus Energie durchfuhr sie. Genug, um die Ketten an ihren Armen zu sprengen und ihre Hände bläulich glühen zu lassen. Im gleichen Moment waberte die wehmütige Musik aus ihrer vorher platzierten Sirenenbox durch die Halle. Der abtrünnige Runenmagier vor ihr schnippte mit den Fingern und aktivierte einen Runenschild, der sich bläulich vor ihm wölbte. Seine Leibwachen hatten nicht so viel Glück; eine von ihnen kippte in den verborgenen Runenzirkel, der eine Explosion auslöste. Eine Erschütterung ließ den Putz von den Wänden rieseln und sprengte den Boden auf, sodass der Magier stolperte. Mit einer Drehung des Handgelenks entließ Sirena Energie aus ihren prickelnden Fingern. Unkontrolliert raste die Energiewelle auf den Magier zu, der sich gerade erst wieder fing. Sein Schild zerbarst. Bevor er auch nur daran denken konnte, einen weiteren zu errichten, zog Sirena ihre Pistole, zielte und schoss ihm sauber durch den Schädel.
„Das ist zu leicht gewesen“, murmelte sie und rieb sich die Handgelenke an den Stellen, an denen ihr die Ketten ins Fleisch geschnitten hatten.
Wachsam schaute sie sich in der Halle um, damit sie nicht doch noch hinterrücks überrascht wurde. Die Leibwachen des abtrünnigen Magiers lagen, in den Illusionen der Sirenenbox gefangen, am Boden – bis auf die, die in den Runenzirkel gekippt war. Die war der Explosion zum Opfer gefallen. Auch die hohen Fenster waren in Stücke gesprengt und das Fundament der brüchigen Lagerhalle noch mehr geschwächt worden. Spontan entschied Sirena, die Leibwachen den Wächtern zu überlassen. Dafür wurde sie nicht bezahlt.
Apropos Bezahlung … Sie wandte sich dem Magier zu und ging neben ihm in die Hocke, um seine Taschen zu durchsuchen. In der Innentasche seines teuren Mantels wurde sie fündig. Mit einem triumphierenden Lächeln zog sie das Amulett hervor, überprüfte das Symbol des Zirkels darauf und ließ es dann in ihrer eigenen Jacke verschwinden. Wenn die Wächter das Amulett fanden, würden sie es beschlagnahmen wollen, und auf diese Diskussion hatte Sirena wirklich keine Lust. Bei dem Lärm, den sie veranstaltet hatte, würde sie um ein Gespräch mit ihnen nicht herumkommen, aber sie musste sich dieses ja nicht noch schwieriger machen. Ständig meckerte der Zirkel, bei solchen Aufträgen wäre die Gefahr der Aufdeckung zu groß. Sirena war der Meinung, sie sollten sich nicht so anstellen.
Ein Ächzen der Bausubstanz über ihrem Kopf legte ihr nahe, draußen zu warten. Ohne dem Magier oder der Blutlache unter seinem Kopf noch einen Blick zu schenken, erhob sich Sirena und verließ die Halle.
In sicherer Entfernung lehnte sie sich gegen einen hüfthohen Pfeiler und zog die Packung Zigaretten aus ihrer Tasche. Die allerdings leer war, wie sie missmutig feststellte. Sie meinte beinahe, das triumphierende Lachen eines gewissen Runenmagiers zu hören. Er hatte ihr vermutlich die Zigaretten weggenommen. Wahrscheinlich sollte sie ihm dankbar sein, denn sie hatte sich schon Anfang des Jahres vorgenommen, mit dem Rauchen aufzuhören. Also konzentrierte sie sich, die Packung noch in den Händen, auf ihre Umgebung: auf das Gefühl eines erfüllten Auftrags, die warme Sonne auf ihrem Gesicht und den Ausblick auf ein freies Wochenende. Auch ohne Laster hoben diese drei Dinge ihre Laune enorm.
Sie schob es auf die Friedlichkeit des Augenblicks, dass sie die andere Person erst bemerkte, als ihr eine Klinge von hinten an den Hals gedrückt wurde. Sirena erstarrte, und die Zigarettenpackung entglitt ihren Fingern.
„Die sind nicht gut für dich …“, sagte jemand mit rauer Stimme.
Sirena fluchte leise. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Von allen Wächtern, die hätten kommen können, musste es ausgerechnet Alexandre Fabre sein. Genau der ging nun um sie herum, die Klinge seines Langmessers immer noch an ihrer Kehle, bis sich die flache Seite von unten gegen ihr Kinn presste und sie ihm unweigerlich in die kühlen, stahlgrauen Augen sah.
„Nimm das Ding weg, salaud“, knurrte Sirena – französische Beleidigungen zu lernen, war der erste Punkt auf ihrer To-do-Liste gewesen nach dem Umzug –, während sie die Zigarettenpackung unauffällig zwischen seine Füße kickte. Die wiederverwendbare Schachtel war eine Sonderanfertigung für sie gewesen. Sie war mit einem winzigen Runenzirkel ausgestattet, der sogar jemanden mit der Wächtergabe und der damit einhergehenden extremen Magie-Toleranz eine ganze Weile festhalten würde. Die Runen warteten nur darauf, von Sirena aktiviert zu werden.
„Irgendwann wird dich dein loses Mundwerk umbringen.“
„Lustig, so was habe ich heute schon mal gehört“, sagte sie und verdrehte die Augen. „Er hat jetzt ein zusätzliches Loch im Schädel. Dazu kann ich dir auch verhelfen, wenn du mich nicht in Ruhe lässt.“
Alex schnaubte und bedachte sie mit einem finsteren Blick, nahm aber das Langmesser herunter. „Kannst du dir nicht einmal Aufträge suchen, mit denen du dich nicht in unsere Angelegenheiten einmischst?“
„Klar. Wenn der Zirkel aufhört, solche Aufträge an Freelancer zu verteilen“, gab Sirena zurück. „Aber dafür müssten die Wächter ja endlich mal ihre Aufgaben erledigen, nicht wahr?“
Sie machte einen Schritt vom Pfeiler und von Alex weg. In ihren Fingerspitzen war noch ein Rest Energie, und sie war mehr als bereit, ihn direkt auf die Zigarettenpackung zu lenken. Dafür war ein Runenmagier als Mitbewohner doch recht gut. Immerhin hatte er ihr auch schon die kleine Rune in die Schuhe genäht, mit der sie sich vorhin um den Magier gekümmert hatte.
Alex stieß einen unzufriedenen Laut aus und fuhr sich mit einer ruckartigen Bewegung durch die schwarzen, kurzen Haare. Eine vertraute Geste, die seinen Unmut verriet.
Das entlockte Sirena immerhin ein Grinsen. Alex zur Weißglut zu treiben, gehörte zu ihren Lieblingsbeschäftigungen.
„Ist es nicht langsam an der Zeit für dich, nach Neapel zurückzukehren und dort allen auf die Nerven zu gehen?“, gab er zurück.
Sirena warf ihm einen wütenden Blick zu und ballte die Hände zu Fäusten. „Du kannst mich mal, Alex. Nur weil ihr es nicht hinkriegt, eure Angelegenheiten zu regeln …“
„Apropos. Gib mir das Amulett, du hast es doch bei dir“, unterbrach Alex sie.
Das Problem mit Alex war: Sie konnte nicht nur ihn mit wenigen Sätzen zur Weißglut treiben. Andersherum funktionierte das genauso gut. Seit sie sich vor drei Jahren nach einem Auftrag das erste Mal getroffen hatten, liefen ihre Begegnungen immer so ab. Mittlerweile war Sirena beinahe darauf vorbereitet. Und gerade ging er ihr gehörig auf die Nerven.
Statt ihn einer Antwort zu würdigen, schnippte sie mit den Fingern und entließ die letzten Funken blauer Energie.
Alex’ Augen weiteten sich, er schaute zu Boden, wo die Funken mit der Zigarettenpackung in Berührung kamen, und … reagierte zu spät. Der Runenzirkel breitete sich auf dem Asphalt aus und hielt ihn gefangen.
„Du …“ Er starrte sie fassungslos an.
„Mein Auftrag, meine Angelegenheit, mein Amulett“, erklärte Sirena seelenruhig. „Deine Verstärkung kommt bestimmt gleich, sie können dich ja rausholen.“
Er konnte noch froh sein, dass sie ihm dieses Mal keinen Fluch verpasst hatte. Nachdem er sie einmal für mehrere Stunden festgesetzt hatte, hatte sie wochenlang eine Fluchkarte mit sich herumgetragen, bis sie die richtige Gelegenheit erwischt hatte.
„Lass mich sofort hier raus“, verlangte Alex und verschränkte die Arme vor der breiten Brust. Er hatte die typische Statur eines Wächters: groß und durchtrainiert. Dabei war er nicht der Größte in seiner Familie, sie hatte seine älteren Brüder mal aus der Ferne gesehen. Sie alle hatten ausgerechnet die magische Gabe der Wächter. Ihre Eltern mussten wahnsinnig stolz auf das Talent ihrer Söhne sein, allen Menschen auf die Nerven zu gehen.
„Damit du mich festnimmst?“ Sirena tippte sich gegen die Stirn. „Auf gar keinen Fall. Man sieht sich.“
Und damit drehte sie sich um. Die Verstärkung würde tatsächlich bald eintreffen, und darauf konnte sie definitiv verzichten.
„Ich hoffe nicht!“, rief Alex ihr hinterher. Natürlich ließ er es sich nicht nehmen, das letzte Wort zu haben.
Ohne sich noch mal nach ihm umzusehen, zeigte sie ihm den Mittelfinger.
Drei Stunden später ließ sich Sirena mit einem tiefen Seufzer in ihrer Wohnung im 18. Arrondissement von Paris auf das ausgesessene Sofa fallen. Ihre Füße brannten, und ihre Augen waren schwer. Sie war den ganzen Tag auf den Beinen gewesen, hatte zuerst die nötigen Vorbereitungen getroffen und dann den Magier konfrontiert. Schließlich war sie zum Sitz des Zirkels in der Nähe von Versailles gefahren. Dort hatte man sie, wie immer, ewig warten lassen, bis ihr jemand das Amulett abgenommen und ihr einen Scheck ausgestellt hatte. Immerhin bezahlte der Zirkel mittlerweile nicht mehr in bar. Sirena lebte schon seit ein paar Jahren in Paris, aber sie kam aus Neapel – und es war definitiv keine gute Idee, mit einer Tasche voller Bargeld durch die Gegend zu rennen. Das gehörte zum typischen Verhalten des Zirkels, sich nur mit Verspätung auf die Herausforderungen der Moderne einzustellen. Wenn sich mehr Operationen die magische Welt betreffend direkt unter den Augen der Menschen abspielen konnten, blieben mehr Ressourcen für das Verstecken der anderen Bereiche übrig. Kein Wunder, dass die Forschung an Runen der Heimlichkeit so explodiert war.
Den Scheck würde sie morgen einlösen, hatte sie spontan beschlossen. Mittlerweile war Dunkelheit über die Stadt hereingebrochen, und das Einzige, was sie heute noch tun wollte, war etwas essen und vielleicht einen Film gucken. Oder sie würde sich von Ulysse in einem seiner Lieblingsvideospiele vernichtend schlagen lassen.
Wie aufs Stichwort drang ein lang anhaltendes Fluchen aus dem Zimmer ihres Mitbewohners und besten Freundes, gefolgt von einem Scheppern, hastigen Schritten und dem Knallen der Tür.
Sirena setzte sich auf, um die Unterarme auf die Rückenlehne des Sofas zu stützen und Ulysse zu beobachten, der durch den Flur ins Wohnzimmer kam. Seine rotbraunen Haare standen in alle Richtungen ab, und er wirkte, als wollte er gleich einen äußerst brutalen Mord verüben. Ein weiterer, langer Fluch in irgendeiner der Sprachen, die er beherrschte, verließ seinen Mund, ehe er sich mit dem Gesicht voran in einen der Sitzsäcke warf.
Zugegeben, das war sogar für Ulysse merkwürdig.
„Willst du mir sagen, was los ist, oder muss ich raten?“, fragte Sirena.
Die Antwort bestand aus einem Gemurmel ins Kissen.
„Du willst mich nicht raten lassen.“
Mit einem Seufzen rollte sich Ulysse auf den Rücken und kniff die Augen zusammen. „Es funktioniert einfach nicht, und ich verstehe nicht, warum.“
Statt direkt nachzufragen, blieb Sirena stumm. Sobald Ulysse angefangen hatte, über das zu reden, was ihn beschäftigte, würde nach und nach der Rest der Geschichte von allein kommen. Er ließ sich nicht gern hetzen.
„Ich wollte einen Auftrag erledigen, für eine Beschwörerin. Irgendwelches Spielzeug für Kinder oder so, keine Ahnung, was genau sie vorhat“, murmelte er. „Jedenfalls, sie braucht einen Runenzirkel, um ihre Beschwörungen an Ort und Stelle zu halten, bis sie sich sicher ist, alles richtig gemacht zu haben.“
Sirena nickte langsam. Ein ähnlicher Mechanismus wie der, mit dem sie Alex festgesetzt hatte, nur etwas vielschichtiger, da die Beschwörerin Kreaturen ihrer eigenen Fantasie einsperren wollte. Schwieriger, aber für Ulysse eigentlich kein Problem.
Er schien ihr die Gedanken vom Gesicht ablesen zu können, denn er lachte bitter. „Ja, ich weiß. Das hätte mich nicht mehr als ein paar Stunden kosten dürfen. Ich sitze seit heute Morgen dran.“
„Was geht denn schief?“, fragte Sirena verdutzt.
„Was geht nicht schief?“, korrigierte Ulysse und verschränkte die Arme vor der Brust. „Mal zerbricht das Gefäß, mal kann ich die Runen nicht aktivieren … Das ist das, was du gerade gehört hast. Mir ist die ganze Dose um die Ohren geflogen.“
Sirena runzelte die Stirn, versuchte, sich an alles zu erinnern, was sie über die Runentheorie wusste. Was nicht viel war. Da sie keine Anzeichen einer magischen Begabung gezeigt hatte, hatte sich niemand mehr die Mühe gemacht, sie zum Unterricht zu schicken. Die Erinnerung schmerzte nicht mehr so sehr, wie noch vor einigen Jahren, doch sie verzog trotzdem das Gesicht dabei. Für ihre Auftragsarbeiten war sie vor allem darauf angewiesen, dass ihre magischen Utensilien funktionierten. Nicht wie.
„Wie kann so was passieren?“, fragte sie schließlich.
Ulysse brummte leise vor sich hin. „Beschädigtes Werkzeug. Irgendeine neue Wechselwirkung, spontane Mutationen in der Magie, aber davon hätte ich gehört. Ein Überschuss an Energie in der Luft ist das Naheliegendste, aber … nicht hier. Nicht in Paris.“
Sirena schnaubte leise. Irgendwann mal war Paris eine der magischsten Städte der Welt gewesen. Doch die Zeiten waren lange vorbei. Generell war Europa zu einem schweren Pflaster für Magiebegabte geworden; Neapel und Athen waren die einzigen großen Machtzentren, die noch übrig geblieben waren. Irgendwann würde sich das wieder ändern, davon waren fast alle Zirkel der Welt überzeugt. Magie war ständig im Fluss, Energielinien verschwanden, bildeten sich neu, verzweigten sich. Der Lauf der Natur. Die magische Bevölkerung von Paris war dennoch nicht begeistert von den Entwicklungen der letzten Jahrhunderte. Die Alteingesessenen klammerten sich an die Illusion vergangener Epochen, als könnte allein ihr Wunschdenken den Glanz wieder zurückbringen.
Sirena hatte Erfahrung mit Wunschdenken und konnte deswegen zweifelsfrei sagen, dass dadurch noch keine Realität besser geworden war.
„Und was hast du nun vor?“, fragte sie.
„Es morgen noch mal probieren. Wenn es dann nicht klappt, höre ich mich mal um. Irgendjemand wird schon etwas wissen“, fügte Ulysse mäßig optimistisch hinzu. „Wie lief dein Auftrag?“
„Problemlos. Na ja, bis ich von Alexandre Fabre überrascht wurde“, gab sie zu.
Ulysse stieß einen Laut aus, der irgendwo zwischen Frustration und Belustigung lag. „Sirena.“
„Ulysse.“
„Was hast du getan?“
Das entlockte ihr ein empörtes Schnauben. „Warum denn ich? Warum kann nicht er etwas getan haben? Ich bin hier das arme Opfer. Ich versuche nur, meine Arbeit zu erledigen!“
„Tut er das nicht auch?“, gab Ulysse trocken zurück.
„Das … ist etwas anderes. Er wollte mir das Amulett abnehmen“, erklärte sie trotzig. „Außerdem hast du meine Zigarettenpackung mit einem Runenzirkel ausgestattet. Du kannst nicht von mir verlangen, dass ich ihn nicht nutze. Vor allem nicht, nachdem du den Inhalt gestohlen hast.“
„Zu deinem eigenen Besten“, erinnerte Ulysse sie, und dass er nicht einmal mit der Wimper zuckte, weil sie einen offiziellen und einflussreichen Wächter in einen Runenzirkel gesperrt hatte … Das war einer der Gründe für ihre gute Freundschaft.
„Ja, ja“, murmelte sie und ließ sich aufs Sofa zurücksinken. „Das ist schon die fünfte abtrünnige Person in diesem Monat gewesen.“
Von Ulysse kam nur ein dumpfes Murmeln. Er versuchte wahrscheinlich immer noch, herauszufinden, was heute schiefgegangen war.
Sirena wusste auch nicht genau, warum sie diese Bemerkung gemacht hatte. Mehr Abtrünnige bedeutete mehr Aufträge für sie und dadurch mehr Geld.
Trotzdem.
Es war seltsam. Sie konnte es niemandem verübeln, wenn er sich von den intriganten und chaotischen Zuständen des Zirkels der Magie abwandte. Wie nicht magische Regierungen existierten die Zirkel in jedem Land, manchmal erhoben sich neue und rebellierten, manchmal schlossen sich Zirkel grenzübergreifend zusammen. Sie waren dafür zuständig, die Magie vor den Menschen zu verbergen, die Magiebegabten und magischen Kreaturen unter Kontrolle zu halten (in der Regel Aufgabe der Wächter und Freelancer) und einen losen Kontakt zu besagten, nicht magischen Regierungen zu halten. In Ländern, die magisch gesehen noch etwas zu sagen hatten, waren die Zirkel hinreichend mit diesen Aufgaben beschäftigt. Hier jedoch mussten sie sich die Zeit irgendwie anders vertreiben. Sie hatten Jahrhunderte gehabt, um die magischen Bereiche der Stadt vor den Unwissenden zu schützen, und die regelmäßigen Überprüfungen waren offenbar nicht zeitintensiv genug. Sirena hatte heute nur eine knappe Stunde im Gebäude des Zirkels verbracht und mehr Klatsch und Tratsch gehört, als gut sein konnte.
Und doch gab kaum jemand seinen Platz im Zirkel leichtfertig auf. Soweit Sirena wusste, existierten zahlreiche Aufstiegsmöglichkeiten in verschiedenen Gremien, bis hin zum höchsten Rat. Eine ganze magische Gesellschaft vor den Augen der unwissenden Menschen zu verbergen, blieb eben Arbeit.
Wenn man trotzdem ausstieg, lenkte man keine Aufmerksamkeit auf sich – dann drückte der Zirkel häufig beide Augen zu. Die Wächter waren zu beschäftigt, um sich um alle Ausreißer zu kümmern, und Freelancer gab es zu wenige.
Aber die fünf Abtrünnigen hatten genau das Gegenteil getan. Sie hatten mit Geld um sich geschmissen, Kontakte hergestellt, ihre Gaben eingesetzt … Gerade so, als wollten sie vom Zirkel gefunden und ausgelöscht werden. Oder von ihr, in diesem Fall.
Vielleicht sollte sie morgen noch einmal zum Gebäude des Zirkels gehen, sich ein wenig umhören und …
Sirena setzte sich ruckartig auf und runzelte die Stirn. Warum zur Hölle sollte sie das tun? Die Angelegenheiten des Zirkels waren dessen Sache. Wenn er seine Mitglieder vergraulte und ihr dadurch mehr Aufträge verschaffte, sollte ihr das recht sein.
Mehr Interesse hatte sie an der magischen Welt nicht. Die hatte sich schließlich auch nie um Sirena gekümmert …
Sie war sich ziemlich sicher, wenn sie sich das oft genug sagte, würde sie irgendwann auch daran glauben.
Bestimmt.
2. Kapitel
Éla
Nicht zum ersten Mal stellte Éla fest, dass die Wortkombination „Thema“ und „prüfungsrelevant“ eine explosive Wirkung auf ganze Hörsäle haben konnte. Ob Dozierende wussten, welche Macht sie da in den Händen hielten? Vermutlich.
Jedenfalls war das der Grund, aus dem der Hörsaal zum ersten Mal seit den ersten zwei Sitzungen aus allen Nähten platzte. Éla war extra früher gekommen und hatte sich todesmutig auf zwei freie Plätze geworfen, die sie nun seit etwa fünfzehn Minuten tapfer verteidigte. Was ihr einige finstere Blicke einbrachte. Aber ihr war ihr Lieblingskaffee mit Karamellsirup und ein Croissant als Aufwandsentschädigung versprochen worden, also war ihr das egal.
Vorne am Rednerpult diskutierte der grauhaarige Professor mit einem seiner Assistenten. Der arme Kerl wirkte, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen, während er zum wiederholten Mal die Funktionsweise des Aufnahmegeräts erklärte. Die Université de Paris bemühte sich seit Kurzem eifrig darum, ins 21. Jahrhundert zu gelangen und zumindest Vorlesungen vermehrt online anzubieten. Was mehr oder weniger gut klappte.
„Tut mir leid, hier bin ich“, riss der Klang einer sanften Stimme sie aus ihren Beobachtungen.
Éla drehte den Kopf zu dem Sprecher und lächelte, obwohl sie Ori am liebsten einen bösen Blick zugeworfen hätte. „Ich musste fast ein paar Körperteile opfern, um deinen Platz frei zu halten!“
Statt zu antworten, präsentierte Ori ihr einen verführerisch dampfenden Kaffeebecher und eine Tüte, deren Form auf ein Croissant hindeutete.
„Okay, das ist akzeptabel. Du darfst dich setzen“, erklärte Éla und rutschte auf den zweiten frei gehaltenen Platz. Ori saß lieber am Rand, das hatte sie direkt in ihrer ersten gemeinsamen Vorlesung erfahren.
Ori schenkte ihr sein freundliches, sanftes Lächeln, drückte ihr die Ausbeute in die Hand und setzte sich.
Der Kaffee schmeckte genauso gut wie immer, und Éla lehnte sich mit einem zufriedenen Seufzer zurück.
Schon nach wenigen Sekunden fiel ihr auf, dass Ori keine Anstalten machte, seine Sachen auszupacken, sondern stattdessen mit seinen Fingerspitzen immer wieder über eine tiefe Rille im Holz des Klapptisches fuhr.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie und stupste ihn vorsichtig in die Seite.
Sie hatten sich im vorletzten Semester kennengelernt, in einem Arabisch-Sprachkurs, den Éla für den Sprachteil ihres Studiengangs belegt hatte. Der Kontrast zwischen einem ruhigen Pariser Vorort und der Fakultät mitten in der Stadt hatte sie damals ziemlich überfordert, genau wie all die neuen Informationen, die auf sie eingeprasselt waren. Orion, der lieber „Ori“ genannt werden wollte, schien das gespürt zu haben, denn er hatte sich neben sie gesetzt, freundlich gelächelt und die richtigen Fragen gestellt, damit sie sich nicht lächerlich vorkam. Es war absolut unmöglich, den ruhigen, jungen Mann nicht zu mögen. Umso ungewöhnlicher war es, ihn nun so abgelenkt zu sehen.
„Ja, mir geht es gut“, antwortete er und verschränkte seine Hände miteinander. Sein Akzent war deutlicher als sonst rauszuhören, was ebenfalls dafür sprach, dass ihn etwas beschäftigte. „Ich habe nur eine Nachricht von meiner Familie bekommen. Wir sind eine große Familie, irgendjemand hat immer irgendein Problem.“
Da konnte Éla nur bedingt mitreden, sie hatte nur ihre Mutter. Bei Ori hingegen hatte sie schnell den Überblick verloren. Es sollte verboten sein, so viele Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins zu haben. Wie sollte man sich da alle Namen und Geburtstage merken?
„Okay?“, gab sie halb fragend zurück, denn ihr entging der angespannte Zug um Oris Mund nicht.
Er warf ihr einen amüsierten Blick zu und pustete sich eine seiner sandblonden Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Jetzt siehst du genauso aus wie Em, bevor er mich heute Morgen hat gehen lassen.“
„Nimm das zurück!“, stieß Éla übertrieben entsetzt hervor und presste sich eine Hand an die Brust.
Em war Oris Freund und obwohl er auf den ersten Blick einschüchternd wirkte, mochte sie ihn gerne. Was er nicht unbedingt wissen musste, das würde ihm nur zu Kopf steigen.
„Bin ich zu weit gegangen?“ Ori lächelte und schien einen Teil seiner Anspannung abzulegen. „Oh, schau. Es geht los.“
Wie aufs Stichwort knisterte es in den Lautsprechern, und der Professor begann sofort mit seinem Einstieg in das heutige, prüfungsrelevante Thema. Hektisches Geraschel und frustriertes Gemurmel ertönten, als alle nach etwas zum Schreiben suchten, um keine Information zu verpassen.
Nicht zum ersten Mal fragte sich Éla, warum sie sich dieses Studium antat. Oder überhaupt ein Studium.
Natürlich kannte sie die Antwort darauf, sie gefiel ihr nur nicht: Sie hatte keine Ahnung, was sie ansonsten mit ihrem Leben machen sollte. Hatte immer noch die Hoffnung, irgendwann etwas zu finden, für das sie brennen konnte. Als Kind hatte das in ihrer Vorstellung immer etwas mit plötzlich auftauchenden Feen, einer Prophezeiung oder einem Einhorn im Garten zu tun gehabt. Im Zweifelsfall auch mit allem auf einmal.
Doch mittlerweile wusste sie nicht einmal mehr, worauf sie noch wartete.
„Wenn wir unsere Notizen zusammenwerfen, müssten wir das meiste mitgekriegt haben, oder?“, fragte Éla zweifelnd, als sie sich mit den anderen Studierenden nach draußen schoben. Der Professor hatte mal wieder gnadenlos überzogen, deswegen versuchte schon die nächste Gruppe, den Hörsaal zu stürmen, während ihr Kurs gerade erst dabei war, ihn zu verlassen.
„Ich denke schon“, erwiderte Ori.
Sogar er schien frustriert zu sein. Vielleicht war er in Gedanken aber auch immer noch mit den Familienproblemen beschäftigt, denn er war während der Vorlesung eindeutig nicht bei der Sache gewesen.
Vor dem Gebäude blieb Éla stehen. Doch Ori brauchte drei Schritte, bevor er es merkte. Oh ja, er war definitiv abgelenkt.
„Ich habe doch ein Vorstellungsgespräch in dem Café“, erinnerte sie ihn. „Deswegen kann ich nicht zum Kurs mitkommen.“
Ori blinzelte, dann nickte er langsam. „Oh. Ja. Stimmt, das hast du gestern gesagt. Ich schicke dir nachher meine Aufzeichnungen?“
Auch das hatten sie gestern bereits ausgemacht. Éla trat einen Schritt auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf den Arm.
„Ori, was ist los?“
Wieder blinzelte er, als wäre er in Wirklichkeit nicht ganz bei ihr. Seine Mundwinkel hoben sich eine Winzigkeit. „Tut mir leid, ich bin … etwas abgelenkt. Mach dir keine Sorgen, das wird sich schon klären. Es ist nichts Schlimmes und hat auch eigentlich nicht viel mit mir zu tun.“
„Okay?“ Éla musterte ihn eindringlich, nicht ganz überzeugt. Sie würde Ori natürlich nicht drängen, ihr irgendetwas zu erzählen, aber sie waren Freunde. Oder?
Ori nahm ihre Hand und drückte sie kurz, sein Lächeln wurde stärker, sanfter, und sein Gesichtsausdruck wirkte klarer. „Danke, dass du dir Sorgen machst, Éla. Wir sehen uns morgen wieder, ja?“
Für morgen Abend hatte Em sie beide davon überzeugt, ihn in irgendein neues Restaurant zu begleiten, das „wahnsinnig gut!“ sein sollte – laut ihm und Instagram.
„In Ordnung.“ Éla seufzte, und er ließ ihre Hand los. „Drück mir die Daumen für das Gespräch.“
„Das hast du gar nicht nötig, aber ich tue es natürlich trotzdem“, erwiderte Ori.
Kopfschüttelnd grinste sie über seinen Optimismus. Immerhin klang er wieder wie er selbst.
Sie verabschiedete sich mit einem Winken und machte sich dann auf den Weg zur nächsten Métro-Station. Das Café, in dem sie sich als Kellnerin beworben hatte, war in der Nähe des Eiffelturms und verkaufte dementsprechend überteuerten Kaffee und Kuchen. Immerhin schmeckte beides, das hatte sie getestet, bevor sie ihre Bewerbung abgegeben hatte. Trotzdem. Zehn Euro für ein Stück Kuchen? Das war einfach nur lächerlich.
Unglücklicherweise hatte sie auch noch eine wirklich schlechte Uhrzeit für ihr Bewerbungsgespräch erwischt und fand sich in der Métro schon bald mit dem Gesicht an die Scheibe gepresst – während immer noch mehr Touristen mit viel zu großen Rucksäcken in den Wagen drängelten.
Entnervt verließ sie die Métro eine Station eher und lief den Rest des Weges zu Fuß. Das Wetter war einigermaßen erträglich, obwohl langsam beißende Kälte und scharfe Winde ihren Weg zurück in die Stadt fanden. Sogar die Sonne zeigte sich heute von ihrer besten Seite, und Éla war nun ganz froh, die Gelegenheit für einen Fußweg genutzt zu haben.
Sie war nur noch eine Seitenstraße von dem Café entfernt und ungefähr auf Höhe des Musée Rodin, als eine Gruppe von Menschen ihre Aufmerksamkeit erweckte. Größere Gruppen von Menschen, die sich um einen Guide scharten, waren in Paris nichts Besonderes, aber diese Gruppe sprach Spanisch. Und Éla hatte dieses Semester ihre Kenntnisse in dieser Sprache wieder aufgefrischt, nachdem sie sie mehrere Jahre in der Schule gelernt hatte. Deswegen hatte sie immer das Bedürfnis, die Ohren zu spitzen, wenn sie die halb vertrauten Laute hörte.
Wenn sie alles richtig verstand, würde die Gruppe Touristen einen Ausflug in die Katakomben machen, worüber Éla amüsiert schmunzelte. Em war von dem Gedanken, eine solche Tour zu machen, gleichermaßen fasziniert wie abgestoßen. Was ungefähr hieß: Sie konnte sich jeden Tag glücklich schätzen, dass er sie noch nicht dazu überredet hatte, so eine Tour mit ihm und Ori zu unternehmen.
Éla war nie in den Katakomben gewesen und hatte auch nicht vor, das zu ändern. Die geführten Touren waren ein Touristenspektakel, die wirklich interessanten Teile des Pariser Untergrunds ohnehin abgesperrt.
Der Tourguide begann gerade damit, irgendeine Schauergeschichte zu erzählen. Éla warf einen Blick auf ihr Handy, und als sie feststellte, wie viel Zeit sie noch hatte, entschied sie sich spontan dazu, ein bisschen zu lauschen.
„Der Abschnitt der Katakomben, den wir uns gleich ansehen werden, ist früher von Hexenzirkeln für finstere Rituale benutzt worden“, erzählte der Tourguide, und Éla verdrehte die Augen – Spektakel, wie erwartet. „Sie haben dort Menschenopfer dargebracht, um ihre Magie zu stärken: Das haben sie behauptet, als man sie gefasst hat. Es gibt Aufzeichnungen über ihre Rituale, Zeichnungen ihrer Runen. Sie sind so schrecklich gewesen, dass der ganze Gerichtssaal geräumt werden musste, als man sie dem Richter präsentiert hat.“
Der Tourguide trat einen Schritt zur Seite und offenbarte an der Mauer hinter ihm einige Symbole, die einen losen Kreis bildeten. Mit einer dramatischen Handbewegung zeigte er auf die Runen. „Lange hielt man die Runen für verschwunden, das Wissen über die Rituale für vergraben und vergessen, doch vor einigen Jahren tauchten sie wieder auf. Seitdem sieht man sie überall in Paris. In Holz geritzt, an Wände gemalt … Auch in den Katakomben sind sie aufgetaucht. Niemand weiß mehr, was sie bedeuten, doch alle sind sich einig: Wer in den Katakomben in einen ihrer Zirkel tritt, wird für immer verflucht sein.“
Die ganze Geschichte war so abstrus, kaum einer der Touristen würde ihr Glauben schenken. Aber Éla würde viel Geld darauf wetten, dass sie in den Katakomben zufällig über einen Runenzirkel stolpern würden. Und ganz zufällig würden die Lichter ausgehen oder es würde ein Windstoß kommen, wenn der Tourguide oder ein Helfer hineintrat. Natürlich glaubte niemand an Magie! Aber es war schwerer, davon überzeugt zu sein, wenn man seiner Sinne beraubt war.
Der Guide führte seine Gruppe weiter, und wider besseren Wissens trat Éla näher an die Mauer heran. Wer auch immer für die Zeichnung verantwortlich war, hatte gute Arbeit geleistet. Die Runen sahen wirklich wie etwas aus einer anderen Zeit aus, sie waren perfekt aufeinander abgestimmt, sodass ihr Blick automatisch von Rune zu Rune glitt, von außen nach innen. Verschlungene Linien, Kreise und Punkte, bis sie die zentrale Rune in der Mitte erreichte, eine Art M. Wie von selbst hob sie die Hand und berührte mit den Fingerspitzen die Rune in hellblauer Farbe. Ein Kribbeln schoss durch ihren Körper, sodass sie stolpernd einen Satz nach hinten machte. Ihr Zeigefinger schien zu brennen und zu prickeln. Hatte sie sich irgendwo geschnitten?
Nichts, kein Blut. Die Haut war nicht einmal gerötet. Trotzdem hämmerte ihr das Herz wie wild in der Brust.
Entschlossen schüttelte sie den Kopf und atmete mehrmals tief durch. Sie würde ganz sicher nicht zu einer schreckhaften Touristin werden – ihre Vorfahren, die seit mehreren Generationen in Paris oder den Außenbezirken lebten, rotierten vermutlich gerade in ihren Gräbern.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihr außerdem, dass sie mittlerweile genug Zeit vertrödelt hatte, und sie machte sich schnell auf in Richtung Café.
Als sie, begleitet von einem hohen Klingeln, durch die Tür trat, schob sie jeden Gedanken an Runen und merkwürdig kribbelnde Fingerspitzen von sich. Stattdessen lächelte sie die Besitzerin des Cafés an, lobte die hausgemachte Limonade, beantwortete Fragen und wurde ihre eigenen los.
„Das klingt alles sehr vielversprechend. Sie würden bestimmt gut zu uns passen“, erklärte die Frau am Ende mit einem freundlichen Lächeln. „Ich melde mich bei Ihnen, wenn ich mit allen anderen gesprochen habe, in Ordnung?“
„Ja, sehr gerne. Vielen Dank!“, erwiderte Éla. Am Abend würden ihr vermutlich die Mundwinkel vom vielen Lächeln wehtun.
Eine kleine Gruppe Touristen betrat den Laden, und die Frau entschuldigte sich, um den einzigen Kellner im Café zu unterstützen. Éla verließ das Gebäude rasch und seufzte. Das war gar nicht schlecht gelaufen, fand sie. Jetzt musste sie den Job nur noch bekommen. Dank der finanziellen Unterstützung durch ihre Mutter brauchte sie ihn nicht unbedingt, aber sie wollte ihr eigenes Geld verdienen – auch um zu sparen oder um mal wieder in den Urlaub zu fahren. Und Nebenjobs machten sich immer gut auf Bewerbungen, hatte ihre Mutter ihr früh eingetrichtert. Außerdem war die Limonade wirklich lecker gewesen.
Élas Füße trugen sie von ganz allein durch die Straßen. Unterwegs ging sie in Gedanken noch einmal das Bewerbungsgespräch durch. Deswegen bemerkte sie erst, wo sie war, als sie fast gegen einen Laternenpfahl rannte. Sie sah sich um: die gleiche Straße, in der sie gerade schon gewesen war. Nur ein paar Schritte vor ihr war die Mauer.
Éla schnitt eine Grimasse und biss die Zähne zusammen. Ein Gefühl der Unruhe bemächtigte sich ihrer und ließ sie von einem Fuß auf den anderen treten. Sie benahm sich absolut albern, vollkommen bescheuert.
Entschlossen, sich selbst zu beweisen, dass sie Gespenster sah, überwand sie den Abstand zwischen sich und der Mauer mit großen Schritten. Nur um wie angewurzelt stehenzubleiben, genau an dem Fleck, an dem sie vor einer halben Stunde schon innegehalten hatte.
Die Runen sahen anders aus. Sie konnte sich nicht ganz sicher sein, denn sie hatte kein Foto gemacht, aber … nein. Es waren nicht die gleichen Runen. Vor allem die in der Mitte nicht. Wo vorhin eine Art M gewesen war, betrachtete sie nun einen geraden Strich mit drei Verästelungen am oberen Ende.
Mit klopfendem Herzen suchte sie nach Farbresten, nach einem Hinweis darauf, dass jemand in der letzten Stunde hier gewesen war und die präzise gemalten Runen verändert hatte. Nichts. Sie sahen immer noch so aus, als wären sie schon eine ganze Weile hier.
Ihre Finger zuckten, wollten erneut die Runen nachfahren, aber Éla ballte die Hände zu Fäusten. Sich umzudrehen und in Richtung Métro zu marschieren, kostete sie mehr Willenskraft, als ihr lieb war.
Sie musste sich beim ersten Mal geirrt haben. Oder vielleicht war sie gerade an einem anderen Abschnitt der Mauer gewesen. Oder sie wurde krank, hatte Fieber und ihr Verstand spielte ihr einen Streich.
Irgendetwas davon musste es sein.
Liebe Leni, vielen Dank, dass du dir Zeit nimmst für unser Interview! Zunächst die obligatorische Frage: Könntest du uns deinen neuen Roman „Der Zirkel der Sechs“ kurz in drei Sätzen zusammenfassen?
Sehr gerne, ich freue mich darauf! Mein Roman erzählt die Geschichte von sechs sehr unterschiedlichen Menschen, die mehr oder weniger freiwillig im Zentrum eines großen, magischen Machtkampfes stehen. Sie folgen dabei den Spuren einer alten Prophezeiung, bis in die tiefsten Ecken der Pariser Katakomben. Und während sich die Schlinge um die Stadt zuzieht, müssen sich die Sechs entscheiden, ob sie einander vertrauen können – oder ob dieses Vertrauen sie alle dem Untergang weihen wird.
Ein großer Teil von „Der Zirkel der Sechs“ spielt in den Pariser Katakomben, in denen die Gebeine zahlreicher Pariser:innen begraben sind. Wie bist du auf die Idee gekommen, diesen Ort in einen Roman einzubauen? Gibt es besonders interessante Details, auf die du bei der Recherche gestoßen bist?
Meine erste Notiz für dieses Projekt ist „Fromme Besatzung einer Nekropole“, was so oder so ähnlich in einem Text für die Uni stand, in dem es um Totenverehrung ging. Den Gedanken fand ich sehr faszinierend und dachte mir dann, dass zu so einem Szenario eine Magie, die in der Nähe von Toten besonders stark ist, gut passen würde – von da war der Weg zu einer der europäischen Städte, die tatsächlich noch über existierende Katakomben verfügen, nicht weit. Über die Pariser Katakomben gibt es wahnsinnig viel Faszinierendes zu entdecken, zum Beispiel waren sie ursprünglich ein Bergwerk. Aber am spannendsten – und gruseligsten – fand ich die Geschichte von dem Mann, der mit einer Kamera tief in die Katakomben eingestiegen und spurlos verschwunden ist. Man hat die Kamera gefunden und auf dem Video war ein merkwürdiges Geräusch zu hören, woraufhin er die Kamera fallengelassen hat und weggerannt ist. Das ist definitiv gruselig anzusehen und hat auch Einfluss auf einige Beschreibungen im Buch genommen.
Die Magie, die die Figuren im Roman verwenden, basiert im Wesentlichen auf Runen. Wie bist du auf diese Idee gekommen und gibt es ein bestimmtes Alphabet, das dich dazu inspiriert hat?
Wenn ich mir ein Magiesystem überlege, stelle ich mir immer die Fragen: Was sind die Grenzen dieser Magie und wie wird sie ausgeübt? Ich habe mich dann für Runen als eine Art Verbindung zwischen der Magie und ihren Anwender:innen entschieden. In europäischen, magischen Zirkeln gibt es einige besonders mächtige Runen, die für ganze Wörter stehen und sich aus verschiedensten Runenalphabeten zusammensetzen, da die Zirkel über die Jahrtausende immer wieder ihr Wissen ausgetauscht haben. Sie haben aber auch ein Runenalphabet selber entwickelt und irgendwann festgelegt, das mehr für den täglichen Gebrauch benutzt wird. Das habe ich mir dann tatsächlich selber überlegt und aufgeschrieben.
Mit Sirena, Alex und Ela gibt es in deinem Roman drei Perspektivfiguren, deren Charakter sehr unterschiedlich ist. Hattest du beim Schreiben eine Lieblingsfigur und -perspektive oder hast du alle gleich gerne geschrieben?
Das ist ein bisschen die gemeine Frage nach dem Lieblingskind … Tatsächlich hatte ich immer an der Figur viel Spaß, die ich gerade geschrieben habe – und habe die anderen gleichzeitig vermisst, da sie mir alle drei auf unterschiedliche Art nahegehen. Sirena mit ihrem Sarkasmus, Alex, der zwischen seinem eigenen Moralverständnis und den Traditionen seiner Familie hin- und hergerissen ist, und Ela, die mit großem Mut an diese für sie vollkommen neue, gefährliche Welt herangeht.
Wer sollte deinen Roman unbedingt lesen?
Am besten natürlich alle! Aber vor allem die, die Fantasy-Geschichten mit urbanem Setting und durchaus einem kleinen Gruselanteil mögen. Es wird zum Teil wirklich düster und sehr, sehr magisch, denn der Magie sind in dem Buch kaum Grenzen gesetzt. Gleichzeitig ist es auch eine Geschichte für die, die gerne Fantasy lesen, in der starke Freundschaften im Zentrum stehen.
„Die Geschichte hatte für mich die richtige Mischung aus Magie, Spannung, Intrigen und Geheimnissen.“
„eine absolut gelungene Geschichte, die mit ihrer spannenden Handlung, vielschichtigen Charakteren und einem ansprechenden Schreibstil überzeugt. Leser*innen der Phantastik werden von diesem Buch begeistert sein.“
„Ein solider Fantasyroman mit den klassischen Zutaten.“
„eine sinnvolle Enemy-to-Lover-Beziehung, liebevoll gestaltete Charakterbeziehungen und eine magisch-gefährliche Reise in den Untergrund von Paris“
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