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Desert Nurse – Eine Krankenschwester folgt ihrem Herzen

Desert Nurse – Eine Krankenschwester folgt ihrem Herzen - eBook-Ausgabe

Pamela Hart
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Roman

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Desert Nurse – Eine Krankenschwester folgt ihrem Herzen — Inhalt

Eine atemberaubende Geschichte über Liebe und Krieg

Sydney, 1911: Die einundzwanzigjährige Evelyn träumt davon, Ärztin zu werden, doch ihr Vater verbietet es. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, meldet sie sich hinter seinem Rücken freiwillig bei der Australischen Armee als Krankenschwester und wird nach Ägypten geschickt. Unter der brennenden Wüstensonne entwickelt Evelyn Gefühle für den eigensinnigen Dr. William Brent, mit dem sie täglich Seite an Seite um das Überleben der Kriegsverletzten kämpft. Doch wegen ihres Traums, Medizin zu studieren und eigenständig zu leben, hat ein Mann eigentlich keinen Platz in ihrer Zukunft …

Ein ergreifender historischer Roman über eine junge Krankenschwester, die vor der atmosphärischen Kulisse der Wüste Ägyptens um ihre große Liebe und ihren Traum, Ärztin zu werden, kämpft.

€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 02.03.2020
Übersetzt von: Susanne Keller
512 Seiten
EAN 978-3-492-99546-7
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Leseprobe zu „Desert Nurse – Eine Krankenschwester folgt ihrem Herzen“

Für Vicki, auf die stets Verlass ist

 

1  29. Oktober 1911


Heute ist sie einundzwanzig, einundzwanzig ist sie heut

Hat den Schlüssel zu der Tür, ach, wie sie das freut

„Was um alles in der Welt …?“

Lachend trat Evelyn an die Wohnzimmertür. Harry saß am Klavier und hämmerte darauf ein, durch die Spitzenvorhänge fiel das Morgenlicht auf seinen blonden Haarschopf.

Einundzwanzig war sie noch nie

Und Pa sagt, sie kann tun, wie ihr beliebt

Drum lasst uns jubeln – hipp hipp hurra!

She’s a jolly good fellow

Und endlich einundzwanzig Jahr

Er beendete sein Ständchen mit [...]

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Für Vicki, auf die stets Verlass ist

 

1  29. Oktober 1911


Heute ist sie einundzwanzig, einundzwanzig ist sie heut

Hat den Schlüssel zu der Tür, ach, wie sie das freut

„Was um alles in der Welt …?“

Lachend trat Evelyn an die Wohnzimmertür. Harry saß am Klavier und hämmerte darauf ein, durch die Spitzenvorhänge fiel das Morgenlicht auf seinen blonden Haarschopf.

Einundzwanzig war sie noch nie

Und Pa sagt, sie kann tun, wie ihr beliebt

Drum lasst uns jubeln – hipp hipp hurra!

She’s a jolly good fellow

Und endlich einundzwanzig Jahr

Er beendete sein Ständchen mit einem ebenso kraftvollen wie schiefen Arpeggio und sprang auf, um sie zu umarmen.

„Alles Gute zum Geburtstag, altes Mädchen!“

Sie erwiderte seine Umarmung. Harry war ein Schatz – er war an diesem Wochenende eigens für ihren Geburtstag von der Universität nach Hause gekommen. Dafür hatte er eine lange Reise in einem ratternden Zug auf sich genommen, an deren Ende ihn nichts besonders Unterhaltsames erwartete. Wie viele Neunzehnjährige hätten so etwas schon für ihre Schwester getan? Doch der Tod ihrer Mutter hatte sie beide zusammengeschweißt.

„Danke dir, du Lieber“, sagte sie. Mit einer schwungvollen Handbewegung zauberte er ein kleines Päckchen hervor.

„Nur eine Kleinigkeit“, meinte er achselzuckend, als er es ihr überreichte.

Sie öffnete das Päckchen, das kunstvoll und offensichtlich professionell mit Geschenkpapier umwickelt worden war – Harry hatte in seinem ganzen Leben noch nicht so etwas Akkurates zustande gebracht.

Zum Vorschein kam eine chirurgische Schere, in deren Griff ihre Initialen eingraviert waren.

„O Harry!“ Überschwänglich umarmte sie ihn erneut. Tränen schossen ihr in die Augen, so dankbar war sie für diese Geste, dass sie nicht wusste, was sie sagen sollte.

„Schon gut, schon gut“, meinte er und wich zurück. „Grundgütiger, hätte ich gewusst, dass du gleich die Schleusen öffnest, hätte ich mir was anderes überlegt!“

Doch er erwiderte ihr Lächeln, und für einen Augenblick schien es, als wären sie nie getrennt gewesen.

„Was hat der Radau zu bedeuten, und das an einem Sonntag?“ Ihr Vater stand mit mürrischem Blick in der Tür, doch als sein Blick auf Evelyn fiel, glättete sich seine Miene. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Kind“, sagte er. Auch er zog ein kleines Paket hervor – das Schmucketui eines Juweliers, ohne jedes Geschenkpapier.

„Danke, Vater!“ Sie streckte sich, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben, und öffnete das Etui voller Vorfreude. Ob sie darin den Schlüssel zur Tür finden würde? Oder, genauer gesagt, den Schlüssel zum Bankschließfach?

Eine mit Perlen besetzte Brosche. Wie … konventionell.

„Die hat deiner Mutter gehört“, sagte er und räusperte sich, als ginge ihm der Moment nahe. Sie biss sich auf die Lippe, um ihre Enttäuschung zu verbergen, und lächelte. Heute konnte sie es sich leisten, sich großzügig zu zeigen. Schließlich war es der Tag ihrer Befreiung.

„Sie ist wunderschön“, sagte sie und befestigte sie unterhalb ihres Kragens.

„Sehr gut, dann können wir ja jetzt frühstücken“, antwortete ihr Vater erleichtert, als hätte er gerade eine schwierige Situation unerwartet gut gemeistert.

Nie hatte sie das Esszimmer glücklicher betreten als an diesem Morgen. Volljährig, endlich. Endlich konnte sie ihren eigenen Weg gehen, anstatt sich gehorsam dem Willen ihres Vaters zu fügen. Dies war der Tag, an dem sie ein für alle Mal die Macht, die er über sie hatte, abschütteln würde. Und die Ziele verwirklichen, von denen sie träumte, seit sie vierzehn war.

Nach der langen Krankheit und dem Tod ihrer Mutter hatte sie erwartet, in die Schule zurückkehren zu dürfen – sie hätte dafür sogar in Kauf genommen, notfalls eine Klasse zu wiederholen, obwohl sie zu Hause immer fleißig gelernt hatte.

„Nein“, hatte ihr Vater beim Abendessen stattdessen bestimmt. „Ich brauche dich jetzt hier. Du musst dich um den Haushalt und um Harry kümmern.“

Harry, der damals zwölf gewesen war und in der darauffolgenden Woche ins Internat nach Sydney zurückkehren sollte, hatte ihn überrascht angesehen. Kein Wunder, denn ihre Haushälterin verwöhnte ihn nach Strich und Faden.

„Aber …“

„Die Sache ist entschieden, Evelyn.“ Damit war die Angelegenheit für ihn erledigt.

„Aber das ist so unfair, Vater!“, war sie herausgeplatzt. Sie hatte ihm bis dahin noch nie die Stirn geboten, nicht ein einziges Mal.

Außer sich vor Zorn war er aufgesprungen und hatte zur Tür gezeigt.

„Auf dein Zimmer, mein Fräulein!“, hatte er gezischt. „Ich werde dich lehren, mir in Anwesenheit deines Bruders zu widersprechen.“

Später hatte er ihr dann mit der Rute vierzehn Hiebe auf die Beine verpasst. Einen für jedes Lebensjahr. Er war sehr stark.

Ihre Wut war grenzenlos gewesen, aber sie behielt sie fortan für sich. Was blieb ihr auch anderes übrig? Eltern war es schließlich erlaubt – ja, sie wurden sogar dazu ermutigt –, ihre Kinder zu züchtigen. Und selbstverständlich hatten sie das Recht, darüber zu entscheiden, ob ihr Kind zur Schule ging oder nicht.

Sie hatte trotzdem noch einige Monate lang weiter für die Schule gelernt, weil es sonst nichts für sie zu tun gegeben hatte. Bis ihr Vater erklärt hatte, dass sie nicht ausgelastet sei, solange Harry im Internat war, und sie ihm in der Praxis zur Hand gehen solle.

Erst viel später hatte sie begriffen, dass er damit zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen hatte: Einerseits sparte er auf diese Weise Geld, andererseits konnte er sie so von ihren Büchern fernhalten. Sie fand die Arbeit dennoch interessant. Sie war sogar völlig fasziniert davon und fühlte sich umso mehr in ihrem Ziel bestätigt, Ärztin zu werden. Hinzu kam, dass ihr Vater ein großartiger Arzt war. Kompetent und stets auf dem neuesten Stand der Forschung, aber auch sanft. Wenn er Patienten behandelte, kam eine Seite seiner Persönlichkeit zum Vorschein, die sie nie zuvor bei ihm erlebt hatte. Er war behutsam, einfühlsam, beinahe zärtlich. So wütend sie manchmal auch auf ihn war, wenn sie ihn im Umgang mit seinen Patienten sah, war ihr Ärger augenblicklich verflogen. Zugleich verletzte es sie tief, dass er sich ihr gegenüber niemals so liebevoll verhielt.

Überraschenderweise hatte er nichts dagegen, medizinische Themen mit ihr zu diskutieren – er war sogar ganz erpicht darauf. Wenn sie mit der Kutsche zu Patienten unterwegs waren – oder zu Pferd, wenn sie in das wilde Landesinnere mussten –, berichtete er ihr von Artikeln aus dem aktuellen Arztjournal und erläuterte die neuesten Behandlungsmethoden. Diese Gespräche genossen sie beide, Vater wie Tochter.

Als sie dann achtzehn geworden war und das Thema Universität zur Sprache gebracht hatte, hatte sie erwartet, dass er, ohne zu zögern, zustimmen würde. Allerdings war sie mittlerweile klug genug, diese Unterhaltung nicht im Beisein anderer zu führen, und so hatte sie ihn in seiner Praxis abgepasst. Er hatte sie gerade für die Art gelobt, wie sie mit einem kleinen Kind umgegangen war, dessen gebrochener Arm hatte gerichtet werden müssen.

Er hatte nur gelacht.

„Was willst du denn studieren? Handarbeit?“

„Medizin natürlich.“

Er hatte sie angestarrt, als sähe er sie zum ersten Mal. Dabei musste er es doch gewusst haben. Oft genug hatte sie davon gesprochen, damals, als ihre Mutter noch gelebt hatte.

„Nein.“ Mehr hatte er nicht gesagt.

„Aber ich habe die ganze Zeit über dafür gelernt, Vater. Wahrscheinlich müsste ich einige Wochen lang noch einmal richtig büffeln – schlimmstenfalls kann ich dich dann eine Weile nicht bei deinen Hausbesuchen begleiten –, aber ich bin mir sicher, dass ich die Eingangsprüfung bestehen werde.“

„Nein.“

„Aber, Vater …“

„Eine Frau als Arzt ist ein Unding. Schon vom moralischen Standpunkt her: Es gehört sich nicht, dass Frauen Männern Anordnungen geben. Und außerdem mangelt es Frauen an den nötigen geistigen Fähigkeiten. Sie sind völlig außerstande, vernünftige Entscheidungen über die Behandlung von Patienten zu treffen. Ihre Gefühle geraten ihnen dabei immer in den Weg. Ich bin ganz entschieden dagegen, dass sich Frauen als Medicus versuchen.“

Er hatte mit ihr wie mit einem kleinen Kind gesprochen. Als wäre sie eine Wilde aus dem Urwald, die nicht in der Lage war, auch nur die einfachsten Dinge zu erfassen. Sie hatte gespürt, wie erneut die Wut in ihr aufstieg.

„Aber um dir in der Praxis zu helfen, bin ich gut genug!“

„Aber ja!“ Er hatte wohlwollend gelächelt. „Mit der richtigen Anleitung kann eine Frau der Medizin außerordentlich nützlich sein. Als Krankenschwester.“ Sein Blick war plötzlich nüchtern geworden. „Alles andere ist völlig ausgeschlossen. Ich werde dir kein Studium an der Universität finanzieren, Evelyn. Schlag dir das aus dem Kopf!“

„Ich habe das Geld, das ich von Mutter geerbt habe“, hatte sie wie betäubt gesagt.

„Schon. Und ich bin dein Treuhänder und zahle dir davon dein Taschengeld aus. Wenn du erwachsen und vor allem vernünftig genug bist, wirst du es bekommen. Oder falls du heiraten solltest, wird das Geld deinem Ehemann anvertraut, so sieht es der Letzte Wille deiner Mutter vor. Ich hoffe sehr, dass du heiraten und Kinder haben wirst. Das ist die Art, wie du deinem Land und deiner Familie den größten Dienst erweisen kannst.“

Mit achtzehn schien der Zeitpunkt, an dem sie erwachsen sein würde, unendlich weit entfernt. Bis zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag lagen drei lange, trostlose Jahre vor ihr. Doch sie hatte sich gesagt, dass sie diese Jahre nutzen würde, um weiter von ihrem Vater zu lernen und dann im Medizinstudium den anderen gegenüber einen großen Vorsprung zu haben.

Und nun waren die drei Jahre um. Mitte November könnte sie die Eingangsprüfung ablegen und im darauffolgenden Februar mit dem Studium beginnen. Es kribbelte in ihren Adern, als hätte sie Champagner im Blut, wenn sie daran dachte, wie sie Vorlesungen besuchen, Zeit mit anderen Studenten verbringen und endlich auf intellektuelle Entdeckungsreise gehen würde.

„Ich habe an die Universität in Sydney geschrieben“, sagte sie von der Anrichte aus, wo sie Frühstücksspeck und Toast auf ihren Teller legte. Mit leichten, schnellen Schritten trug sie ihn zum Tisch hinüber und setzte sich auf den Stuhl ihrem Vater gegenüber. Es war der Platz, der der Dame des Hauses gebührte. „Sie sind damit einverstanden, dass ich nächsten Monat zur Aufnahmeprüfung komme. Ich dachte, ich könnte vielleicht bei Tante Johanna wohnen.“

„Wozu willst du die Aufnahmeprüfung machen?“, fragte ihr Vater und köpfte sein gekochtes Ei mit dem Messer.

Sie blinzelte ihn an.

„Das weißt du doch. Ich werde mich für ein Medizinstudium einschreiben.“

„Und wovon willst du die Studiengebühren bezahlen?“ Er klang sanft und beinahe unbeteiligt. Harry warf erst einen raschen Blick zu ihm, dann zu ihr und betrachtete danach eingehend seinen Teller.

So hatte sie sich den Verlauf des Gesprächs nicht vorgestellt. Sie hatte erwartet, dass er verärgert sein würde, sich abfällig äußern, aber mit dieser Reaktion hatte sie nicht gerechnet.

„Mit meiner Erbschaft. Ich bin jetzt volljährig. Du hast gesagt …“

„Ich habe gesagt, ›wenn du erwachsen und vernünftig genug bist‹. Dieses Alter erreichen Frauen mit dreißig. Du kannst doch nicht allen Ernstes glauben, dass ich dir jetzt schon deine Mitgift überlasse.“ Seine Miene war ernst, doch seine Augen verrieten seine insgeheime Belustigung. Er hatte sie absichtlich im falschen Glauben gelassen.

Sie hatte große Lust, ihn anzuschreien, wüst zu beschimpfen und mit Gegenständen nach ihm zu werfen. Sie kochte innerlich, und das wilde Bedürfnis, ihn zu ohrfeigen, war übermächtig. Doch sie kämpfte es nieder. Das hätte ihn nur in seiner Meinung bestärkt, dass sie für die Medizin ungeeignet sei, und diese Genugtuung wollte sie ihm nicht geben.

Stattdessen schob sie ihren Stuhl zurück, stand auf und verließ mit weichen Knien das Zimmer. Sie dachte gar nicht daran, am Tisch sitzen zu bleiben und ihm dabei zuzusehen, wie er sich an ihrer Machtlosigkeit weidete.

Sie flüchtete sich in ihr Zimmer und setzte sich auf die Bettkante. Ihr Herz raste. Ihr war speiübel. Sie hatte eine solche Wut im Bauch, dass es sich anfühlte, als müssten ihre Rippen unter dem Druck zerspringen.

Dreißig. Bis dahin waren es noch einmal neun Jahre. Sie konnte unmöglich weitere neun Jahre in diesem Haus verbringen.

Sie könnte einfach gehen. Sie sollte einfach gehen. Nur – wohin? Kummer und Enttäuschung formten einen Kloß in ihrem Hals.

Es war Sonntag, der protestantische Sabbat, an dem die biblische Ruhe eingehalten werden sollte. In einer halben Stunde begann der Gottesdienst.

Nein. Ohne sie. Sie konnte auf keinen Fall neben ihrem Vater in der Kirchenbank sitzen und so tun, als wäre sie von christlicher Nächstenliebe erfüllt. Sie würde ersticken. Sie brauchte dringend Abstand.

Sie zog ihre Reitkleidung an und stahl sich die Hintertreppe hinunter. Sie verließ das Haus durch die Küche (mit einem Apfel in der Tasche) und ging zum Stall.

Barney zurücklassen zu müssen, war der einzige Wermutstropfen in ihren Zukunftsplänen gewesen. Barney war ein ganz typisches rotbraunes australisches Stockhorse – intelligent, freundlich und ausgesprochen ausdauernd. Er begrüßte sie mit leisem Wiehern und stupste sie mit der Nase an. Sie gab ihm den Apfel und sattelte ihn, während er kaute.

„Komm, mein Schöner, nichts wie weg von hier.“

An einem Sonntag reiten zu gehen, war zwar nicht unbedingt verpönt, trotzdem war es klüger, den konservativen Landfrauen auf ihrer Parade zur Kirche nicht unter die Augen zu kommen. Sie nahm eine kleine Nebenstraße, die an holzverkleideten Häusern und Ställen entlangführte. Nach und nach gingen die Behausungen der kleinen Stadt in Gemüsegärten über, die sich bis zum Fluss hinunterzogen. Der breite, ruhig dahingleitende Manning schlängelte sich um Mangroven, und sein Wasser schimmerte hell unter dem weiten blauen Himmel.

Es fühlte sich nicht richtig an, dass heute ein so strahlend schöner Tag war. Was sie gerade gebraucht hätte, waren Blitz und Donner, so wie in Emily Brontës Sturmhöhe!

Es gab nur einen Ort, der ihr in ihrer jetzigen Verfassung Trost spenden konnte.

 

Als sie die Stadt hinter sich gelassen hatte und auf den Weg entlang des Flusses eingebogen war, ließ sie die Zügel locker, und Barney galoppierte eine Weile vor sich hin, bis seine Hufe auf dem von der Sonne hart gebrannten Boden zu schmerzen begannen und er sich in normales Schritttempo zurückfallen ließ.

Das Farnkraut stand hoch, und die letzten blühenden Akazien hoben sich golden leuchtend vom dornigen Gestrüpp ab. Das Gebiet um Taree war Holzland, doch die Wälder nahe der Stadt waren bereits vor Jahrzehnten gerodet worden, um Platz für Landwirtschaft zu schaffen: ein wenig Schafhaltung, Weizen, der noch grün und lila schimmernd auf den Feldern stand, und zwei Farmen mit Milchvieh, die die umliegenden Gemeinden versorgten. Junge Hereford-Ochsen, die für den Viehmarkt gemästet wurden, glotzten sie über ihren Stacheldrahtzaun hinweg an.

Ihre Mutter war die Tochter eines Viehzüchters gewesen und auf dem Familienfriedhof begraben, der zu dem Land ihrer Vorfahren gehörte und nur einen halbstündigen Ritt entfernt lag. Er befand sich unten beim Fluss, abseits des Hauptgebäudes, sodass sie das Grab ihrer Mutter besuchen konnte, ohne den neuen Eigentümern zu begegnen.

Sie stieg ab und band Barney an einen Ast, ließ ihm aber genug Bewegungsfreiheit, dass er am Gras rund um die Baumstämme knabbern konnte.

Auf diesem Friedhof im Schatten des Eukalyptuswäldchens ruhte nicht nur ihre Mutter. Auch zwei jüngere Schwestern und ein Bruder lagen hier, die alle gestorben waren, noch ehe sie zwei Jahre alt waren, wie so viele Kinder in der Gegend. Es gab noch so viel zu tun auf dem Gebiet der medizinischen Forschung. Es gab so viele Neugeborene zu retten, Babys, die an Fieber starben, und Mütter, die bei der Geburt verbluteten oder dem Kindbettfieber erlagen …

Sie setzte sich neben das Grab ihrer Mutter, und während sie es von Unkraut befreite, schüttete sie ihr ihr Herz aus.

„Ich verstehe nicht, wie du es mit ihm ausgehalten hast!“ Ein Löwenzahn, ein Kleeblatt, etwas wild wucherndes Gras. „Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll …“ Mit einem Mal überwältigte sie der Kummer, Tränen schossen ihr in die Augen, die Kehle zog sich ihr zusammen, und sie spürte einen scharfen Stich unterhalb des Herzens … Es war nicht nur die Trauer um ihre Mutter, obwohl sie die stets als dumpfen Schmerz mit sich herumtrug. Was sie gerade fühlte, war keine normale Empfindung: Sie trauerte um den Vater, den sie hätte haben können – einen Vater, der sie förderte, der stolz auf sie war, der ihr Halt gab und sie beim Erreichen ihrer Ziele unterstützte. Es war so himmelschreiend ungerecht! Weshalb um alles in der Welt konnte sie nicht Ärztin werden? Schließlich war es ihr Geld, es war für sie bestimmt!

„Wie konntest du dich nur von ihm dazu überreden lassen, das Alter auf dreißig festzulegen?“ Wütend schlug sie mit der Faust auf das grasbewachsene Grab ein. Tränen liefen ihr über die Wangen. „Hattest du so wenig Vertrauen zu mir?“

Doch sie kannte die Antwort. Ihre Mutter war immer nachgiebig gewesen, liebevoll, sanft, großzügig, die perfekte Mutter – nur sich ihrem Mann zu widersetzen, war nie ihre Stärke gewesen. Tief in ihrem Innersten wusste Evelyn, dass sie es gar nicht gewollt hatte. Etwas in ihrer Mutter hatte sich zu seiner dominanten Art hingezogen gefühlt. Einmal hatte sie zu ihr gesagt: „Er ist genau, wie ein Mann sein soll“, in einem Ton tiefer, beinahe lasziver Genugtuung. Evelyn war damals dreizehn Jahre alt gewesen und hatte, ohne zu wissen, warum, die Bemerkung mit Unbehagen zur Kenntnis genommen. Inzwischen verstand sie, was möglicherweise der Grund für jene Befriedigung in der Stimme ihrer Mutter gewesen war, und empfand immer noch Beklemmung, gepaart mit Empörung, wenn sie daran dachte.

Ihre Mutter hätte sich für ihre Tochter starkmachen müssen, wenn sie es schon nicht für sich selbst getan hatte.

Doch jetzt waren Evelyn die Hände gebunden. An einem Testament war nicht zu rütteln. Sie fühlte tiefen Groll in sich wachsen, doch es gab keinen Weg, sich Luft zu machen, ohne die Situation noch zu verschlimmern. Es lag nicht in ihrer Macht, die Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen – nicht hier und nicht jetzt. Die Geringschätzung, die ihr Vater Frauen entgegenbrachte, war ganz unabhängig von geltenden Gesetzen, und doch wurde sie von ihnen auch noch gestützt. Die Gesellschaft als Ganzes richtete sich gegen Frauen und unterdrückte sie, wo sie nur konnte. In Australien gab es zwar mittlerweile das Frauenwahlrecht, aber das hatte nichts verändert. Es waren immer noch die Männer, die bestimmten. Väter und Ehemänner und Richter und Parlamentsabgeordnete. Sie ließ sich ins struppige Gras fallen, starrte hinauf in die Baumkronen der roten Eukalyptusbäume und konnte fühlen, wie die Wut förmlich mit den Fäusten auf ihre Brust eintrommelte, als wollte sie sich auf das Nächstbeste – oder den Nächstbesten – stürzen und zuschlagen, wieder und immer wieder. Wenn sie erst über ihre Erbschaft verfügen konnte, würde nie mehr irgendjemand über sie bestimmen.

Sie hatte keine offizielle Ausbildung als Krankenschwester vorzuweisen, obwohl sie diesen Beruf faktisch seit mehreren Jahren ausübte. Wenn sie von zu Hause fortginge, würde ihr das Taschengeld gestrichen – o ja, sie war sich sicher, dass ihr Vater sich so kleinlich zeigen würde. Sie würde selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen müssen und konnte allenfalls auf eine Anstellung als Hilfsschwester mit einem mehr als lausigen Gehalt hoffen und darauf, im Schwesternwohnheim eines Krankenhauses unterzukommen. Ein besseres Sklavendasein.

So sehr hasste sie ihren Vater nun auch wieder nicht, dass sie bereit gewesen wäre, ihr Leben freiwillig so zu fristen. Und sie war keine Närrin.

Eine Ausbildung also. Die offizielle Ausbildung zur Krankenschwester würde ihr den Weg aus ihrem Elternhaus und zu einem respektablen Beruf ebnen – einem Beruf, in dem sie sich ständig auf medizinischem Gebiet weiterbilden konnte, bis sie Zugang zu ihrer Erbschaft erhielt. Ein endlos scheinender, steiniger Weg, aber es war die beste Lösung. Die Universität zu besuchen kostete so viel Geld, dass sie es sich ohne das Erbe ihrer Mutter unmöglich leisten konnte. Die Gebühren für Harrys Studium zahlte ihr Vater natürlich ohne Wenn und Aber.

Das einzige Lehrkrankenhaus in der näheren Umgebung war das Manning District Hospital in Taree. Aus Gründen, die sie nicht verstand, nutzte ihr Vater das Krankenhaus so gut wie nie – er bevorzugte die kleineren, privaten Kliniken. Was bedeutete, dass sie die Ausbildung dort vermutlich ohne sein Wissen absolvieren konnte. Oder zumindest die Prüfungen ablegen.

Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.

 

Als die Sprechstunde am nächsten Vormittag zu Ende war und ihr Vater sich mit der Zeitung in sein Rauchzimmer zurückgezogen hatte, machte sie sich auf den Weg zum Manning District Hospital, um mit Dr. Chapman zu sprechen, dem stellvertretenden Direktor, der auch für das Pflegepersonal zuständig war.

Mit seiner energiegeladenen und charmanten Art war er der Liebling der Damen in der Stadt und pflegte mit ihrem Vater von Berufs wegen eine distanzierte Freundschaft.

„Was kann ich für Sie tun, Miss Northey?“, erkundigte er sich. Seine Augen blitzten anerkennend, als er ihr Äußeres musterte. Um ihr Selbstvertrauen zu stärken, hatte sie sich für ein schick geschnittenes Kostüm und einen modischen Hut entschieden. „Bitte, nehmen Sie doch Platz.“

Sie setzte sich auf seinen Besucherstuhl und hielt ihre Handtasche fest umklammert. Das Zimmer befand sich in einer Ecke des Gebäudes im Erdgeschoss, und die schon kräftige Frühlingssonne schien durchs Fenster. Draußen stand der Blauregen in voller Blüte und erfüllte den Raum mit seinem Duft.

„Ich würde gern meinen offiziellen Abschluss als Krankenschwester machen, Doktor. Ich hatte gehofft, die nötigen Prüfungen hier am Krankenhaus ablegen zu können. Vertraulich.“

Er betrachtete sie stumm.

„Ich werde nicht für Sie lügen, Miss Northey“, sagte er schließlich und pochte mit dem Bleistift auf seine Schreibunterlage.

„Das würde ich auch nie von Ihnen verlangen, Doktor.“ Eine Pause entstand, während der er mit geschürzten Lippen aus dem Fenster sah und offenbar alle denkbaren Konsequenzen abwog, die sich womöglich aus ihrem Ansinnen ergeben konnten. „Alles, was ich will, ist eine offizielle Anerkennung meiner Berufserfahrung“, ergänzte sie.

„Ja. Ja, das verstehe ich natürlich.“ Er legte den Bleistift zur Seite und beugte sich vor. „Allerdings werden Prüfungen allein dafür nicht ausreichen. Wir müssten darauf bestehen, dass Sie einige Dienste im Operationssaal absolvieren, damit wir uns einen Eindruck von Ihren praktischen Fähigkeiten auf Station verschaffen …“

„Dazu bin ich gern bereit“, sagte sie rasch. O ja, und wie gern! Mit anderen zusammenzuarbeiten, von den Ärzten und Schwestern zu lernen! Ihr war, als würde ein Fenster aufgestoßen.

„Zurzeit sind wir etwas unterbesetzt. Vielleicht könnte ich Ihren Vater bitten, Sie uns für einige Wochenend-Dienste auszuleihen.“

Ihr Vater wäre sogar überaus angetan von dem Gedanken, sich als Wohltäter zu gerieren, als Arzt, der stets das Wohl der Gemeinde im Blick hat – solange es ihre freie Zeit war, über die er großzügig verfügte. Es war beschämend, wie gut Dr. Chapman ihn kannte.

Ihre Blicke trafen sich. Seine blauen Augen waren voller Mitgefühl und Verständnis. Sie gab sich einen Ruck und schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter.

„Danke, Doktor! Das wäre ganz wunderbar.“

„Ich denke, Sie können die Prüfungen für das erste und das zweite Lehrjahr gleich zusammen in Angriff nehmen“, fügte er gut gelaunt hinzu. „Haben Sie sich schon mit Anatomie beschäftigt? Hier …“ Er nahm ein Buch aus dem Regal hinter seinem Schreibtisch. „Gray’s Anatomy. Das werden Sie dafür brauchen. Ich bin mir sicher, Ihr Vater besitzt eine Ausgabe davon.“

„Ja“, bestätigte sie nickend. „Aber ich besorge mir wohl besser ein eigenes Exemplar.“

Er grinste sie an. „In der Zwischenzeit können Sie sich dieses hier leihen. Sie werden sich das Buch aus Sydney kommen lassen müssen.“ Er hielt inne und blickte wieder aus dem Fenster. „Lassen Sie es in die Klinik schicken.“

Sie fühlte Tränen der Dankbarkeit in sich aufsteigen. Wie genau er ihre Lage erfasst hatte. Doch er war ein echter Gentleman – mit keinem Wort erwähnte er ihre Schwierigkeiten.

„Ich danke Ihnen, Dr. Chapman“, sagte sie. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie etwas ernster gemeint. Er lächelte.

„Keine Ursache“, antwortete er. „Fähige Krankenschwestern können wir immer brauchen.“


6. August 1914

„Da!“ Ihr Vater riss das Zeugnis in der Mitte auseinander und warf die beiden Teile auf den Boden. „Da hast du deinen Abschluss.“

Er lächelte Evelyn mit einer Mischung aus herausfordernder Genugtuung und unterschwelligem Zorn an. Sie machte einen tiefen Atemzug. Sie musste die Ruhe bewahren. Ganz gleichgültig, wie alt sie auch war, die Verärgerung ihres Vaters jagte ihr immer noch unwillkürlich Angst ein. Was absolut lächerlich war. Schließlich konnte er ihr nichts mehr anhaben.

Und doch kostete es sie Überwindung, ihm entgegenzutreten.

„Dr. Chapman hat mir zwei Ausfertigungen mitgegeben“, sagte sie und hoffte, er würde das leichte Zittern in ihrer Stimme nicht bemerken. „Für den Fall, dass du das erste Exemplar zerreißt.“

Das versetzte ihm sichtlich einen Dämpfer. Ihm gefiel wohl weder die Vorstellung, dass Dr. Chapman ihn so genau einschätzen konnte, noch dass sie auf seine Reaktion vorbereitet war.

„Du kannst nichts dagegen tun, Vater“, sagte sie. Sie ging zum Fenster und öffnete es. Der Metallriegel fühlte sich kalt an, doch sie nahm es kaum wahr. „Hör nur.“

Ihr Haus stand an der Hauptstraße von Taree, einer typischen Kleinstadtstraße, die nachmittags für gewöhnlich still und verschlafen dalag. Doch an diesem Tag herrschte Leben in der Stadt, ein regelrechtes Durcheinander. Männer und Frauen drängten sich auf den Gehwegen und unterhielten sich aufgeregt, schmale Sulkys und klobige Pferdewagen hielten mitten auf der Fahrbahn an, und ihre Fahrer beugten sich hinunter, um sich mit den Passanten auszutauschen. Dem Zeitungsjungen wurde seine Ware nur so aus den Händen gerissen. Er schrie: „Krieg! Großbritannien im Krieg mit Deutschland!“

Evelyn wandte sich zu ihrem Vater um.

„Ich werde mich bei der Armee als Krankenschwester melden, Vater.“

„Das verbiete ich dir!“ Vor Zorn war sein Gesicht ganz fleckig geworden, während die Knöchel seiner Hände, die sich in die Rückenlehne eines Stuhls krallten, allmählich alle Farbe verloren.

„Ich werde bald vierundzwanzig und bin“, sie deutete auf die zerfetzte Urkunde auf dem Teppich, „nicht nur fertig ausgebildete und offiziell anerkannte Krankenschwester, ich bin auch Mitglied der Australasiatischen Vereinigung Ausgebildeter Krankenschwestern. Du kannst nichts dagegen tun.“

Ihr Vater strich sich das schüttere Haar aus der Stirn und starrte sie an, als sähe er sie zum allerersten Mal. Verblüfft registrierte sie, dass sich ihre Augen auf gleicher Höhe befanden – er war nicht besonders hochgewachsen, und inzwischen waren sie gleich groß. „Du wirst hier gebraucht“, beharrte er.

„Du wirst dir jemand anders suchen müssen, der die Patienten für dich verbindet.“ Ihre Stimme hatte sich gefangen und klang jetzt fest und entschlossen. Ihr Vater warf einen flüchtigen Blick aus dem Fenster und wandte sich mit verächtlichem Schnauben ab.

„Eine völlig blödsinnige Idee. Es heißt, das Ganze sei zu Weihnachten schon wieder vorbei, und was machst du dann?“ Sein Tonfall war schneidend.

„Dann arbeite ich eben in Sydney in einem zivilen Krankenhaus“, gab sie ungerührt zurück und konstatierte befriedigt, wie er die Brauen zusammenzog. Die Haustür schlug mit einem Knall ins Schloss, und Harry stürzte herein, mit ihm ein Schwung kalter Winterluft.

„Habt ihr schon gehört? Sind das nicht tolle Neuigkeiten? Wir werden es diesen deutschen Flegeln zeigen. Ich fahre nach Sydney und melde mich als Freiwilliger!“ Er grinste sie beide an, und sie fühlte, wie ihr das Herz schwer wurde. Sie wollte sich als Krankenschwester melden, weil sie wusste, dass die im Kampf verletzten Soldaten jede Hilfe brauchen würden, die sie bekommen konnten. Die Vorstellung, dass Harry einer von ihnen sein könnte, war für sie kaum zu ertragen. Er war frischgebackener Anwalt und würde demnächst seine Stelle in einer örtlichen Kanzlei antreten. Am Schreibtisch wäre er in Sicherheit.

Doch wenn jemand den Krieg unbeschadet überstehen konnte, dann Harry. Er war ein baumlanger Kerl und stark wie ein Ochse. Die üblichen Kinderkrankheiten hatten ihm nichts anhaben können, und Evelyn erinnerte sich nicht, wann er überhaupt das letzte Mal krank gewesen war. Außerdem war er ein großartiger Schütze und ausgezeichneter Reiter.

„Habt ihr gelesen, was im Sydney Morning Herald steht?“, fuhr er fort, als bemerkte er das betretene Schweigen nicht. Er las ihnen aus der zerknitterten Zeitung in seiner Hand vor. „›Zum Guten wie zum Schlechten, wir stehen Schulter an Schulter mit unserem Mutterland, um für Frieden und Freiheit zu kämpfen.‹ Genau die richtige Einstellung, findet ihr nicht?“

„Unfug!“, entgegnete ihr Vater. Während ihre Ankündigung, sich zum Kriegsdienst zu melden, ihn einfach nur wütend gemacht hatte, bekam er es bei Harry mit der Angst zu tun. „Was soll die Armee denn mit einem Anwalt anfangen?“

„Ich bin Reservist der Light Horse-Truppe, Dad, das weißt du doch.“ Er strahlte über das ganze Gesicht. „Das wird ein Mordsspaß! Auf nach Europa und dem alten Fritz eins auf die Nase geben! Ich muss schnell meine Ausrüstung zusammensuchen.“ Immer zwei Stufen auf einmal nehmend rannte er die Treppe hoch. Evelyn und ihr Vater blickten einander an. In ihrer Sorge um Harry waren sie sich völlig einig.

„Wäre es dir nicht lieber, wenn eine Krankenschwester für ihn da wäre, wenn er verwundet wird?“ Das klang vielleicht grausam, aber es war die Wahrheit. Bis zum Ende des Krieges würde das Militär so viele Krankenschwestern brauchen wie nur möglich, selbst wenn dieser Zeitpunkt schon an Weihnachten gekommen sein sollte.

„Das verbiete ich dir“, wiederholte er tonlos.

Sie biss sich auf die Lippe, um Worte zurückzuhalten, die sie später bereuen würde, und antwortete: „Ja, Vater. Ganz wie du meinst, Vater.“ Der Impuls, ihm wie gewohnt zu gehorchen – oder sich vor ihm zu fürchten –, war übermächtig, doch sie war nun erwachsen.

„Ich packe meine Sachen und nehme den Abendzug“, sagte sie, während sie sich umdrehte und zur Tür ging. „Ich kann bei Rebecca Quinn wohnen, bis man mir Bescheid gibt, dass ich mich einschiffen soll.“

„Wenn du dieses Haus jetzt verlässt, brauchst du nicht wiederzukommen.“

Allein in der Welt, mit ihren wenigen Mitteln auf sich selbst gestellt – ein bedrohliches Szenario. Schon Frauen, die auf die Unterstützung ihrer Familie zählen konnten, hatten es schwer genug. Sie würde ganz und gar auf ihr eigenes Einkommen angewiesen sein, ohne Zuflucht, wenn sie krank oder arbeitslos werden oder anderweitig in Schwierigkeiten geraten sollte. Welcher Vater tat der eigenen Tochter so etwas an?

Sie hielt auf der Schwelle inne, mit dem Rücken zu ihm. Wut siegte über ihre Angst. Nur um ihrer Mutter willen und aus Rücksicht auf deren Andenken würde sie, konnte sie ihm nicht sagen, was sie dachte. Für den Bruchteil einer Sekunde herrschte vollkommene Stille, dann ging sie und eilte so rasch wie möglich die Treppe hinauf, um ihr Zimmer zu erreichen, bevor sie zu weinen begann.



2

Rebecca Quinn war es eine große Freude, Evelyn bei sich aufzunehmen und ihr die Einberufungsstelle zu zeigen.

„Was bin ich froh, dass du diese öde Kleinstadt endlich hinter dir gelassen hast, Lynnie“, sagte sie, während sie ihren Sulky zügig durch den Straßenverkehr von Sydney lenkte. „Und dass du deine Ausbildung zur Krankenschwester hinter dem Rücken deines Vaters gemacht hast! Ich bin stolz auf dich.“

Rebecca war Journalistin und Tochter einer bekannten Frauenrechtlerin. Sie hatten sich in Schultagen kennengelernt, als sie Hockey gegeneinander gespielt hatten. Neben der Weltgewandtheit der blonden Rebecca war Evelyn sich immer schon wie eine rothaarige Vogelscheuche vorgekommen, doch sie wusste, dass sie sich immer auf Rebeccas Unterstützung verlassen konnte.

„Er hatte überhaupt kein Recht dazu, dich daran zu hindern, Ärztin zu werden“, fuhr Rebecca fort.

„Nun ja, von Gesetzes wegen hatte er das schon“, hielt Evelyn dagegen, halb belustigt, halb getröstet von so viel Solidarität. „Das Erbe meiner Mutter wird bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr treuhänderisch verwaltet, und er ist der Vermögensverwalter.“

„Bis zu deinem dreißigsten Geburtstag oder bis du heiratest“, betonte Rebecca finster, als hätte sie bereits wieder vergessen, dass sie selbst erst vor sechs Monaten ihren Jack geheiratet hatte.

„Dazu wird es nicht kommen“, antwortete Evelyn entschieden. Auf gar keinen Fall. Würde sie heiraten, erhielte ihr Ehemann automatisch das Sagen über ihr Geld. Nie wieder würde sie zulassen, dass jemand anders über sie bestimmte. Gleichgültig wer.

Sie folgten einer Reihe von Kutschen eine Sandsteinmauer entlang den Hügel hinauf. Schließlich kamen sie an ein von Soldaten bewachtes Tor, vor dem sich bereits eine große Gruppe von Männern eingefunden hatte.

„Da wären wir“, erklärte Rebecca. „Die Victoria-Kaserne. Frag nach der Exerzierhalle des Armeekorps. Die Einschreibung hat um zehn Uhr angefangen – jetzt ist es halb elf, dir sollte also noch jede Menge Zeit bleiben.“

Evelyn musste lachen. „Woher weißt du das alles?“

„Das ist mein Job!“ Rebecca grinste. „Apropos, ich muss um elf bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung für Frauen sein. Von hier aus bist du zu Fuß ohnehin schneller am Ziel.“

„Danke, Bec! Wir sehen uns dann später bei dir zu Hause …“ Evelyn stockte, plötzlich verunsichert. „Na ja, jedenfalls nehme ich das an. Ich werde dich auf jeden Fall wissen lassen, wie es weitergeht.“

Rebecca lächelte sie an. „Was für ein Abenteuer! Ich wünschte beinahe, ich könnte mitkommen.“

Evelyn stieg vom Wagen, dank Rebeccas Zuspruch wieder voller Zuversicht. Wenn sie jetzt noch ein Quäntchen von ihrem Charme besessen hätte, vor allem, da sie gleich fremden Menschen gegenübertreten musste. Obwohl sie sehr hoffte, dass Charme nicht die Eigenschaft war, auf die die Armee den meisten Wert legte.

Mit einigen wenigen Schritten war sie am Eingangstor, wo sie sich den Weg durch die Schar der Männer bahnen musste, die ebenfalls auf Einlass warteten, vermutlich um sich als Freiwillige zu melden.

Es war natürlich nicht das erste Mal, dass sie auf eine größere Ansammlung von Männern traf. Auf dem Bahnhof oder auf dem Jahrmarkt in der Stadt war das nicht ungewöhnlich. Doch als sie sich nun durch die Menge schlängelte, stellte sie fest, dass niemand sie beachtete. Niemand warf ihr anzügliche Blicke zu oder taxierte ihr Äußeres. Niemand pfiff ihr anerkennend hinterher. Alle waren so darauf konzentriert, durch das grüne Tor vor ihnen zu gelangen, dass sie sie wie ihresgleichen behandelten.

Eigenartigerweise empfand sie das als ausgesprochen ermutigend. Sie alle waren aus demselben Grund hier – um für ihren König und ihr Land zu kämpfen. Auch wenn sie der Meinung war, dass dieser Krieg hätte vermieden werden können. Auch wenn Serbien sich töricht verhalten hatte und Russland übermäßig aggressiv agierte. Deutschland war in Belgien einmarschiert, und das bedeutete Krieg für alle Verbündeten Belgiens, Großbritannien eingeschlossen. Und wenn das Mutterland Großbritannien in den Krieg zog, dann galt das auch für Australien.

Sie hatte sich so weit wie möglich durch die Menge gearbeitet. Nun blieb ihr nur, in der Schlange zu warten, die sich langsam vorwärtsschob.

Vierzig Minuten später teilte sie dem langmütigen Sergeant an der Pforte mit: „Ich bin hier, um mich zum Sanitätsdienst zu melden.“

„Sehr gut“, sagte er. „Wir können jede Krankenschwester brauchen, die wir kriegen können. Gehen Sie gleich dort hinüber zum Krankenhaus, da finden die medizinischen Untersuchungen statt. Für Krankenschwestern gibt es ein beschleunigtes Verfahren.“

Das Militärkrankenhaus, eines der schönen alten Sandsteingebäude auf dem riesigen Gelände, befand sich rechter Hand vom Tor. Vor der Eingangstür wartete eine kleine Gruppe junger Frauen, die meisten von ihnen in Schwesterntracht. Sie stellte sich ans Ende der Schlange und war unendlich dankbar für die zweite Ausfertigung ihrer Urkunde von Dr. Chapman und die Aufnahmebestätigung der Krankenschwestern-Vereinigung. Ein Jammer, dass sie nicht daran gedacht hatte, ihre Uniform anzuziehen.

Die anderen Frauen empfingen sie freundlich.

„Wir werden ordentlich Spaß haben!“, sagte eine von ihnen, eine muntere Brünette mit Brille, die Evelyn sehr an Harry erinnerte. Er musste noch einige Tage in Taree arbeiten, bis seine Kündigung wirksam wurde, dann würde er sich auch hier melden.

„Das wird sicher lustig“, pflichtete ihr eine andere bei.

„Ihr habt ja eigenartige Vorstellungen von Spaß“, bemerkte eine ältere Frau. „Ich war im Burenkrieg dabei und kann euch sagen, dass es alles andere als lustig ist, wenn sie die blutenden Jungs hereintragen.“

Das brachte die Frauen zum Schweigen. Eine nach der anderen betrat das Gebäude, wenn eine Stimme von innen „Nächste!“ rief.

Etwa zwanzig Minuten später war Evelyn an der Reihe.

„Nächste!“ In der Eingangshalle saß eine Oberschwester an einem Schreibtisch, flankiert von einem Sergeant und einer Schreibkraft in Zivil.

Evelyn hielt ihre Unterlagen schon bereit und legte sie vor der Oberschwester auf den Tisch. Alle drei warfen rasch einen prüfenden Blick darauf, und die Zivilistin notierte sich ihre persönlichen Angaben.

„Sie haben Ihre Ausbildung gerade erst abgeschlossen?“, erkundigte sich die Oberschwester.

„Meine offiziellen Papiere habe ich erst kürzlich erhalten, aber ich habe meinen Vater in seiner Praxis unterstützt, seit ich sechzehn bin“, antwortete sie. „Er ist Landarzt. Es gibt nicht viel, was ich noch nicht gesehen habe.“

„Erfahrung im OP?“

„Ja. Im Manning District Hospital.“

„Was ist mit Notfallversorgung? Wundbehandlung?“

„Meine Heimatstadt lebt vom Holz“, sagte Evelyn. „Da kommt es zu Unfällen. Mit Sägen, Fräsen und dergleichen.“ Sie versuchte, den Gedanken an das letzte Opfer zu verscheuchen, ein kleines Mädchen, das von einem Stamm zerquetscht worden war, den ein Transportwagen verloren hatte. Sie schluckte und fuhr fort: „Und dann sind da noch die Angler. Gaffhaken, Filetiermesser …“ Sie brach ab, unsicher, was von ihr erwartet wurde. In ihren Ohren klang das alles nicht besonders beeindruckend.

Die Oberschwester musterte sie eingehend und lächelte schließlich. „Gut. Vielseitig einsetzbar also. Genau was wir brauchen.“ Sie nickte der Schreibkraft zu, die Evelyn ein Formular aushändigte. Dann wurde sie zu einem Tisch in einem Nebenraum beordert, wo sie es ausfüllen sollte.

Sie setzte sich und las. Es war das Meldeformular. Oder wie es in der Überschrift hieß: „Offizieller Antrag für außerhalb Großbritanniens lebende Personen zur Aufnahme in den Freiwilligendienst“. Ein Zittern überlief sie. Wusste sie wirklich, was sie da tat? Der Satz der älteren Krankenschwester fiel ihr wieder ein und traf sie mit voller Wucht. Es ist alles andere als lustig, wenn sie die blutenden Jungs hereintragen. Vor ihrem geistigen Auge liefen plötzlich Bilder von Wunden und Blut und Schmerz ab, und sie erschauerte.

Niemand zwang sie dazu, sich zu verpflichten.

Doch was würde mit Harry und den Tausenden anderen geschehen, wenn niemand bereitstünde, um all das Blut zu stillen und die Schmerzen zu lindern, wenn niemand den Ärzten half, die Wunden zu versorgen? Sie würden sterben, das würde geschehen.

Beherzt setzte sie ihren Namen in Blockschrift auf das Formular.

Evelyn Joy Northey.

Sie war entschlossen, sich dieser Sache zu verschreiben, und sie würde sie bis zum Schluss durchstehen. Komme, was da wolle.

Nachdem sie ihren Antrag abgegeben hatte, wurde sie zum Sanitätsoffizier geführt. Sie hatte mit einem Militärarzt gerechnet, doch der Mann, der sie erwartete, trug einen ganz normalen Anzug – das heißt, er trug nur eine Weste und war ansonsten hemdsärmelig. Um seinen Hals hing ein Stethoskop.

Er war groß, doch nicht von der bulligen Sorte, sondern schlank und elegant. Als er auf sie zukam, um ihr die Hand zu schütteln, bemerkte sie ein leichtes Hinken – er zog sein rechtes Bein ein wenig nach. Die Krankenschwester in ihr erkannte in seinen Augen Spuren durchlittener Schmerzen. Er hatte angenehme Gesichtszüge und intelligente haselnussbraune Augen, die sich über ihr Mitgefühl lustig zu machen schienen. Vergnügt lächelte er sie an.

„Heute mussten zusätzlich einige von uns Zivilisten einspringen, Miss Northey“, sagte er. „Ich hoffe, das macht Ihnen nichts aus. Ich bin William Brent.“

Er hatte eine auffallend schöne Stimme, und sie meinte, eine Spur der gedehnten Sprechweise der einfachen australischen Bevölkerung aus seinen Worten herauszuhören – als ob er erst spät „richtiges“ Englisch gelernt hätte. Sie wurde ein wenig rot, beschämt über ihre Gedanken. Er war Arzt und würde daher wohl kaum den niederen Schichten entstammen. Außerdem war sein Anzug beste Schneiderarbeit und seine Schuhe von höchster Qualität.

„Natürlich nicht“, sagte sie. Eine Schwester, die als Schreibkraft fungierte, hatte ihre Unterlagen vor sich und notierte die Ergebnisse, als der Arzt sie jetzt untersuchte: Größe, Gewicht, Zähne.

„Tragen Sie eine Brille? Nein? Gut. Eben mussten wir eine Dame aus diesem Grunde wieder nach Hause schicken. Meine Güte, war die enttäuscht!“

Evelyn überlegte, ob das wohl die Brünette gewesen war, die sich von ihrem Einsatz so viel Spaß versprochen hatte.

„Kein Zahnersatz? Gut.“

Er drückte und tastete an ihr herum, maß ihre Temperatur und prüfte alles, was zu einer medizinischen Grunduntersuchung gehörte. Wie ungewohnt sich das anfühlte. Sie war noch nie von einem Fremden untersucht worden. Der einzige Arzt, der sie je behandelt hatte, war ihr Vater gewesen.

Sein dunkles Haar war ganz nahe an ihrem Gesicht, als er mit dem Stethoskop ihre Lungen abhorchte. Es war leicht gelockt, ohne Pomade und roch ganz natürlich nach Seife. Sie konzentrierte sich auf diesen Anblick, um sich davon abzulenken, dass seine Hand gerade den Bereich unterhalb ihrer Brust abklopfte.

Sie schluckte und bemühte sich, ruhig zu bleiben. Am Manning District Hospital hatte sie oft genug Seite an Seite mit Ärzten gearbeitet. Das hier war nichts anderes. Doch die Männer im Krankenhaus kannte sie praktisch, seit sie ein Kind gewesen war. Jemand vollkommen Fremdem hingegen so nahe zu sein, noch dazu einem, der so attraktiv war … Nun ja, höchste Zeit, sich daran zu gewöhnen. In naher Zukunft würde sie mit allen möglichen Männern zusammenarbeiten.

„Wunderbar!“, sagte er und richtete sich auf. „Alles bestens. Willkommen in der Armee, Schwester Northey!“

Ein Gefühl von Wärme durchströmte sie, und sie strahlte ihn an. „Doktor“ war ihr eigentliches Ziel – das war es seit ihrer Kindheit gewesen –, aber auf dem Weg dorthin war „Schwester“ eine durchaus ehrenvolle Zwischenstation.

„Ich danke Ihnen“, sagte sie. „Ich danke Ihnen wirklich sehr.“

 

„Der Nächste!“ William ließ sich vorsichtig auf seinen Stuhl sinken, um sich eine kurze Erholung zu gönnen. Den ganzen Tag auf den Beinen zu sein, war Gift für seine Hüfte.

Ein etwa Vierzigjähriger kam herein, klein und schmächtig, in dem billigen Anzug eines einfachen Büroangestellten. Was dachten die sich nur dabei, ihn überhaupt vorzulassen? Er musste unbedingt ein Wort mit dem Sergeant an der Pforte wechseln. Es war nur zu offensichtlich, dass dieser Mann vollkommen ungeeignet war.

Er erhob sich und ging mit leicht schleppendem Schritt auf ihn zu, griff aber nicht nach den Formularen, die der Mann ihm entgegenstreckte.

„Wie alt sind Sie?“, fragte er.

Der Mann trat von einem Fuß auf den anderen. „Fünfunddreißig“, erklärte er.

„Sir …“

„Ich will doch nur meinen Teil beitragen, mehr nicht!“ Er klang verzweifelt, was in William Ärger und Mitleid zugleich weckte.

„Ich weiß“, sagte er. „Aber Sie haben weder die erforderliche Körpergröße noch den minimalen Brustumfang, und zu alt sind Sie außerdem!“

„Mir ist schon klar, dass ich mich zum Kämpfen nicht eigne“, gab der Mann zu. „Aber ich bin gut am Schreibtisch. Ich dachte, man könnte mich vielleicht in irgendeinem Hinterzimmer einsetzen.“

„Ich fürchte, das ist gegen die Bestimmungen.“ Und ob es das war! Sonst hätte er sich selbst nämlich schon vor Wochen gemeldet.

Der Mann warf einen schrägen Blick auf Williams Bein. „Sie müssen es ja wissen.“

„Allerdings.“

„Können Sie nicht ein Auge zudrücken, nur dieses eine Mal? Ich würde mich voll ins Zeug legen, ich schwör’s!“

„Das glaube ich Ihnen gern. Ich wünschte, ich könnte es. Ehrlich. Aber Sie würden es nicht einmal durch die Grundausbildung schaffen.“

Resigniert ließ der Mann die Schultern sinken und wandte sich zum Gehen. „Sie können sich wenigstens hier nützlich machen“, sagte er in bitterem Ton.

„Alle, die zu Hause bleiben, werden noch mehr als genug zu tun bekommen, bevor die ganze Sache vorüber ist.“ Das war jedenfalls das Argument, mit dem er sich selbst zu trösten versuchte.

Der Mann schnaubte nur verächtlich, als er hinausging und die Tür hinter sich zuknallte.

William zuckte bei dem Geräusch zusammen, ein heißer Schmerz fuhr ihm wie ein elektrischer Schlag durch Hüfte und Bein. „Verdammt noch mal!“ Er würde für heute Schluss machen – sie waren ohnehin schon eine Stunde über der regulären Anmeldezeit. Der diensthabende Gefreite steckte den Kopf zur Tür herein.

„Alles in Ordnung, Sir?“

„Ja. Wir sind für heute hier fertig. Schicken Sie den Rest nach Hause.“

„Jawoll.“

„Und, Jenkins – geben Sie jedem von ihnen eine Nummer, je nach Platz in der Schlange, damit sie sich morgen nicht von Neuem anstellen müssen.“

„Gute Idee, Doc!“

Er packte seine Tasche und bahnte sich seinen Weg durch die Menge, während Jenkins Zettel an die Wartenden verteilte. Wider Erwarten beschwerten sie sich nur halbherzig, vielleicht beschwichtigte es sie, dass ihr Platz in der Reihe reserviert war, oder die Männer akzeptierten einfach, dass es gar nicht so leicht war, einen Krieg zu organisieren.

Als er die Victoria-Kaserne verließ und auf die Oxford Street trat, konnte er ein Seufzen nicht unterdrücken. Es herrschte dichter Verkehr, und weit und breit war kein Taxi in Sicht. Eine kleine Traube Männer scharte sich noch immer um das Eingangstor, und der Sergeant verkündete laut: „Das war’s für heute, die Herren! Kommen Sie morgen wieder, ab zehnhundert Uhr.“

Nicht einmal die Straßenbahnen kamen voran. Er musste wohl oder übel zu Fuß gehen. Am liebsten hätte er sich auf den Gehweg gelegt und sich hügelabwärts zum Sydney Hospital rollen lassen. Schmunzelnd überlegte er, ob das wohl möglich wäre. Vielleicht sollte er an einem stillen Sonntagmorgen einmal einen Versuch wagen.

Als er die Straße hinabging und sich mit aller Kraft dazu zwang, nicht zu humpeln, weil er wusste, dass das die Schwäche seiner Muskeln nur noch verschlimmern würde, bemerkte ihn eine Gruppe von Frauen – ehrbare Damen, die auf den Bus warteten und ihm verächtliche Blicke zuwarfen.

„Man sollte meinen, ein großer junger Mann wie er würde sich als Freiwilliger melden!“, sagte eine laut.

„Er sollte sich schämen!“

„Abscheulich.“

„Feigling.“

Letzteres zischte ihm eine dunkelhaarige Matrone hinterher, die nur wenige Jahre älter war als er. Es traf ihn, als hätte sie ihn geohrfeigt. Wie gern hätte er sie angeschrien: „Ich würde mich ja sofort melden, aber sie nehmen mich nicht!“ Doch was würde er damit schon erreichen?

Stattdessen tippte er an seinen Hut. „Die Damen!“ Konsterniert wichen sie seinem Blick aus, und er setzte seinen Weg mit einer gewissen Genugtuung fort, die ihn jedoch bald wieder verließ.

Er war sich nicht sicher, wie lange er es noch ertragen würde, von den aktuellen Ereignissen ausgeschlossen zu sein.

 

Im Dienstplan des Mission House war William für den Nachtdienst eingetragen, den er trotz Müdigkeit antrat. Er arbeitete dort als Freiwilliger und hätte absagen können, aber er wollte Dr. O’Reilly nicht im Stich lassen. Sie war die erste Frau gewesen, die das Sydney Hospital je als Ärztin eingestellt hatte, führte mittlerweile ihre eigene Praxis und war unermüdlich in ihrem Bemühen, all jenen zu helfen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens standen.

Sie trat gerade aus dem Behandlungszimmer, das sich an der Vorderseite des Haupthauses befand, als er dort ankam. „Will!“, begrüßte sie ihn erfreut. „Wie schön. Ich hatte gar nicht mehr mit dir gerechnet, nachdem du schon den ganzen Tag auf den Beinen warst.“ Es war Dr. O’Reillys Art, die Dinge unverblümt beim Namen zu nennen. Sie tat niemals so, als bemerkte sie seine Behinderung nicht, was er tröstlich fand – ohne recht zu wissen, warum. Sie war eine hübsche Frau mit eisernem Willen, außerdem eine Lady, und diese Kombination war einfach unschlagbar.

„Ich hoffe, die Nacht wird ruhig“, sagte er mit einem Seufzen.

„Denke schon. Dienstage sind meistens ruhig. Der Mittwoch ist schlimmer, obwohl ich nie verstanden habe, weshalb.“

„Das liegt daran, dass sie am Mittwoch das Geld versaufen, das sie tagsüber beim Pferderennen gewonnen haben“, erklärte er abwesend. „Und dann prügeln sie sich.“

„Oder schlagen ihre Frauen“, fügte sie grimmig hinzu.

Er nickte, mit nicht weniger finsterer Miene.

„Wir müssen uns wohl nach Verstärkung umsehen“, sagte sie. „Ich denke darüber nach, nach Frankreich zu gehen.“

Perplex sah er sie an. „Frankreich? Aber sie nehmen dort keine weiblichen Ärzte.“

Sie antwortete mit einem Grinsen, bei dem sich ihr erschöpftes Gesicht aufhellte. „Kann schon sein, dass sie das offiziell noch nicht tun“, räumte sie ein. „Aber ich gehe jede Wette ein, dass sie eine qualifizierte Ärztin, die mitten im Getümmel auftaucht, nicht wegschicken werden. Die brauchen mit Sicherheit jeden, den sie kriegen können.“ Sie klopfte ihm auf den Rücken. „Wenn also einer deiner Freunde am Sydney Hospital geneigt ist, uns bei unseren guten Werken zu unterstützen … Frag doch mal herum.“

„Mach ich“, versprach er.

Er richtete sich im Behandlungszimmer ein und begann mit der Sprechstunde. Eine Frau nach der anderen betrat den Raum. Zumeist ging es um kleinere Angelegenheiten: eine Eiterbeule, die aufgeschnitten werden musste, ein Gespräch mit einer überlasteten siebenfachen Mutter, die weitere Schwangerschaften vermeiden wollte (aber was konnte er ihr schon raten, wenn die Ärzte sich partout nicht einig waren, zu welchem Zeitpunkt ihres Zyklus eine Frau fruchtbar war, und der Ehemann sich weigerte, ein Kondom zu benutzen?), eine Prostituierte mit Tripper, eine junge Frau mit aufgeplatzter Lippe und blauen Flecken am ganzen Körper.

„Sie müssen ihn verlassen“, sagte er.

„Und wovon soll ich dann leben?“, fragte sie. „Ich habe ein kleines Kind. Wer soll sich darum kümmern, wenn ich arbeiten bin?“

„Nun, dann geben Sie ihm heimlich etwas Laudanum, wenn er aggressiv wird. In seinen Tee. Der Apotheker wird Ihnen sagen, wie viel.“ Ein fragwürdiger Ratschlag. Gegen jedes Ethos. Doch nach einigen Wochen hier hatte er entschieden, dass die Sicherheit von Frauen und Kindern schwerer wog als das Recht eines Mannes, zu wissen, was in seinem Tee war.

„Das ist mal eine gute Idee!“ Laudanum war nicht einmal besonders teuer und in jeder Apotheke zu bekommen. Als ein in Alkohol gelöstes Opium war es ein probates Mittel, um auch den Hartnäckigsten müde zu machen.

„Aber nicht zu viel davon und auch nicht zu oft, sonst wird er abhängig, und Sie sind schlimmer dran als zuvor!“

Deutlich besser gestimmt verließ die Frau das Sprechzimmer, und er dachte wieder einmal, was für ein Privileg es doch war, hier arbeiten zu dürfen – wie viele Männer erfuhren schon, wie das Leben einer Frau in der Realität aussah? Er war mittlerweile zum Verfechter der Frauenrechte geworden, sehr zur Freude seiner Mutter und zur Verstörung seines Vaters.

Dr. O’Reilly hatte ihren Anteil daran. Sie hatte ihm die Augen dafür geöffnet, wozu Frauen in der Lage waren. Und jetzt würde sie sich unerschrocken nach Frankreich aufmachen.

Ob sie mit ihrer Vermutung recht hatte? Würden sie in der Hitze des Gefechts froh sein über jeden ausgebildeten Arzt, gleichgültig wen? Oder irrte sie sich und würde kleinlaut wieder nach Hause zurückkehren?

Letzteres konnte er sich jedoch beim besten Willen nicht vorstellen. Wie er sie kannte, würde sie notfalls einfach ein eigenes Krankenhaus gründen!

War in den Augen der Machthabenden eine gesunde Frau eher zu akzeptieren als ein Mann mit Behinderung? Wäre es für sie die Wahl zwischen Pest und Cholera, oder ging in diesem Fall ein gesunder Körper über alles?

Diese Gedanken ließen ihn bis zum Ende seiner Schicht nicht mehr los.

 

Am Vormittag des darauffolgenden Tages spuckte der nicht enden wollende Zustrom von Männern einen hoch aufgeschossenen Fünfzehnjährigen aus, dem es gelungen war, sich durch die verschiedenen Stufen des Meldeprozesses zu schwindeln. Er hieß Miles Dougherty und schien angesichts seines bisherigen Erfolges sehr mit sich zufrieden.

William blickte ihn nachsichtig an.

„Mein Junge, du konntest vielleicht den Sergeant hinters Licht führen, aber mich täuschst du nicht. Ab nach Hause!“

„Bitte, Doktor! Meine beiden Brüder gehen auch. Warum darf ich nicht auch mal was Tolles erleben?“

„Kommt nicht infrage, Miles. Und deine Eltern werden froh sein, dass wenigstens du hierbleibst.“

„Das stimmt nicht! Sie haben alle nötigen Papiere unterschrieben. Sie sind Patrioten!“ Er war offensichtlich stolz auf seine Eltern, aber William hätte sie am liebsten geohrfeigt. Was dachten sie sich dabei, ihren Jüngsten zu den Waffen zu schicken, obwohl er noch ein Kind war? Diese Kriegseuphorie ging langsam etwas zu weit.

„Nein“, beharrte er. Mit roter Tinte zog er zwei dicke Linien über die Meldeunterlagen des Jungen und schrieb groß und deutlich minderjährig dazwischen. „Komm wieder, wenn du achtzehn bist“, sagte er und gab ihm seine Papiere zurück.

„Sie … Sie Mistkerl“, fluchte Miles, der vor Empörung und Enttäuschung dunkelrot angelaufen war. „Nur weil Sie ein Krüppel sind, wollen Sie allen anderen den Spaß verderben!“

Er rannte beinahe aus dem Zimmer und rempelte dabei die Männer beiseite, die im Türrahmen warteten.

Der Mann, der als Nächster an der Reihe war und etwa dreißig oder älter sein mochte, trat näher und lächelte beschwichtigend.

„Machen Sie sich nichts daraus, Doktor“, sagte er. „Sie leisten Ihren Beitrag.“

Die gut gemeinten Worte trafen William härter als die Verachtung des Jungen. Sie hatten etwas von dem „Wer wird denn gleich weinen!“, mit dem man kleine Kinder tröstete, nicht einen erwachsenen Mann.

Er untersuchte den Rekruten zügig und routiniert, doch der Tonfall des Mannes ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, er nagte an seinen Eingeweiden, als hätte er Gift geschluckt.

So konnte es nicht weitergehen. Er konnte und wollte den Krieg nicht damit verbringen, andere in den Kampf zu schicken. Schon möglich, dass er nicht für die vorderste Front geeignet war, aber – bei Gott! – Dr. O’Reilly hatte recht. Wenn vor Ort Ärzte gebraucht wurden – und das würde zweifellos der Fall sein –, wäre es völlig gleichgültig, woher sie kamen.

Am Ende seiner Schicht suchte er den Lieutenant, der für die Rekrutierung und Entsendung der Freiwilligen zuständig war.

„Wo werden all die Leute hingeschickt, die sich hier zum Einsatz melden?“, erkundigte er sich.

Der Lieutenant schob seine Dienstmütze zurück und kratzte sich das kurz rasierte Haar hinter dem Ohr. Eine weiße Linie verriet den Verlauf seines vorherigen Haarschnitts. Er war also noch nicht lange in der Armee. Tatsächlich wirkte er wie ein Jugendlicher – vermutlich war er bis vor Kurzem auf der Militärakademie gewesen.

„Tja, es heißt, es gehe nach Frankreich, aber wer kann das schon so genau sagen? Es ist genauso gut möglich, dass sie in Ägypten landen. Über kurz oder lang wird dort etwas passieren.“

Ägypten.

Williams Laune besserte sich schlagartig. Er hatte sich insgeheim vor dem französischen Winter gefürchtet, denn Kälte konnte ihn buchstäblich lahmlegen. Ägypten dagegen …! Warm und sonnig und perfekt für ihn geeignet. Und vielleicht nahmen es die britischen Offiziere dort nicht ganz so genau mit den Vorschriften, wenn es um die Auswahl von Ärzten ging …

Er hatte das Gefühl, an der Schwelle zu einem großen Abenteuer zu stehen. Nur ein Schritt trennte ihn von einer ungewissen, aufregenden Zukunft. Bisher war sein Leben stets von Vorsicht bestimmt gewesen – es war endlich an der Zeit, etwas zu wagen.

„Wo finde ich den Kommandeur?“, fragte er. „Ich fürchte, ich muss die medizinischen Eignungstests jemand anderem überlassen.“

Pamela Hart

Über Pamela Hart

Biografie

Pamela Hart ist eine preisgekrönte australische Autorin, ihr Roman „The Desert Nurse“ folgt ihren Bestsellern „The Soldier's Wife“, „The War Bride“ und „A Letter From Italy“. Sie hat an der Technischen Universität Sydney einen Doktortitel der Kreativen Künste erworben und  im Bereich Kreatives...

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