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Deutsche Geschichte - die letzten hundert Jahre Deutsche Geschichte - die letzten hundert Jahre - eBook-Ausgabe

Horst Möller
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Von Krieg und Diktatur zu Frieden und Demokratie

„Der Band besticht mit seiner präzisen und ausführlichen, aber auch kompakten Darstellung und lässt ein ganzes Jahrhundert mit der Kenntnis und Analyse eines objektiven Historikers Revue passieren.“ - Bücherrundschau

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Deutsche Geschichte - die letzten hundert Jahre — Inhalt

Geschichte, die uns bis heute prägt

Zerrissenheit prägt die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts: In schneller Folge werden zwei Weltkriege ausgelöst, scheitert die Weimarer Demokratie, entsteht die weite Teile Europas unterjochende nationalsozialistische Schreckensherrschaft mit dem Holocaust, deren Ergebnis die Besatzungsherrschaft in Deutschland nach 1945 ist. Der Teilung seit 1945 folgt 1949 der Oktroi der kommunistischen Diktatur im sowjetischen Machtbereich im Osten sowie die Demokratiegründung im Westen, wo die Bundesrepublik die längste Friedens­epoche der europäischen Geschichte und die Integration des Kontinents mitgestaltet.

Der renommierte Historiker Horst Möller erzählt in diesem Werk die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts in all ihrer Widersprüchlichkeit und schildert in seinem Ausblick auf das 21. Jahrhundert die neuen Gefahren für Demokratie und Frieden.

€ 32,00 [D], € 32,90 [A]
Erschienen am 29.09.2022
656 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-492-07066-9
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€ 29,99 [D], € 29,99 [A]
Erschienen am 29.09.2022
656 Seiten
EAN 978-3-492-60225-9
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Leseprobe zu „Deutsche Geschichte - die letzten hundert Jahre“

Prolog: Der „Gläserne Mensch“ – Von der Psychoanalyse zur Entschlüsselung des Genoms und zum demoskopisch durchleuchteten Wähler

Das zwanzigste Jahrhundert liegt abgeschlossen hinter uns, das neue Jahrtausend vor uns – so scheint es. Doch wird der inhaltliche Zusammenhang von Zeitaltern und Epochen nicht durch die formale Zeitrechnung erfasst; die Historiker lassen deshalb die Frühe Neuzeit 1517 mit der Reformation beginnen, die Neueste Geschichte mit der Französischen Revolution 1789, die Zeitgeschichte mit dem Jahr 1917 – in keinem Fall fallen diese [...]

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Prolog: Der „Gläserne Mensch“ – Von der Psychoanalyse zur Entschlüsselung des Genoms und zum demoskopisch durchleuchteten Wähler

Das zwanzigste Jahrhundert liegt abgeschlossen hinter uns, das neue Jahrtausend vor uns – so scheint es. Doch wird der inhaltliche Zusammenhang von Zeitaltern und Epochen nicht durch die formale Zeitrechnung erfasst; die Historiker lassen deshalb die Frühe Neuzeit 1517 mit der Reformation beginnen, die Neueste Geschichte mit der Französischen Revolution 1789, die Zeitgeschichte mit dem Jahr 1917 – in keinem Fall fallen diese Epochenscheiden mit einer Jahrhundertgrenze zusammen, wenngleich die Erfahrung der Zeitgenossen oftmals durch Jahrhundertwenden geprägt wird. Und während das „lange“ 19. Jahrhundert normalerweise die Zeit von 1789 bis zum Ersten Weltkrieg umfasst, sprechen viele Geschichtsschreiber vom „kurzen“ 20. Jahrhundert und setzen dafür die jeweils außerordentlich unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Perioden zwischen 1918 und 1989/91 als Eckpunkte an. In der politischen Geschichte bilden das Ende des Ersten Weltkriegs und die Wiedervereinigung Deutschlands und der Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen Europas zweifellos so fundamentale Einschnitte, dass sie das 20. Jahrhundert definieren.

Betrachtet man aber diesen Zeitabschnitt multiperspektivisch, dann behält zwar die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts, die von Krisen und Kriegen, von einander feindlichen totalitären Ideologien, vom Kampf zwischen Demokratie und Diktatur geprägt war, ihre Dominanz, wird aber Gegenstand einer darüber hinausgreifenden Deutung. Und erst in dieser Perspektive werden die politischen Phänomene als Konsequenzen einer ungeheuerlichen Modernisierungskrise erklärbar. Sie wurde bereits im späten 19. Jahrhundert offensichtlich und ist noch keineswegs beendet: In diesem Sinne ist das 20. Jahrhundert also noch immer nicht abgeschlossen, so eilfertig manche Zeitgenossen es auch beendet sehen wollten; im frühen 21. Jahrhundert setzen sich diese Entwicklungen verstärkt fort. Tatsächlich handelt es sich im Hinblick auf die einander rasch folgenden Modernisierungskrisen – mit unterschiedlicher Intensität in den einzelnen Ländern – in Europa um ein besonders „langes“ Jahrhundert: Seine Komplexität rührt nicht zuletzt daher, dass dieses Jahrhundert stärker als alle vorangehenden ein weltgeschichtliches ist. Nicht zufällig spricht man für keine der früheren Epochen von Weltkriegen, und auch das Modewort „Globalisierung“ gewinnt erst in diesem Kontext historische Signifikanz.

Modernisierungen, Renaissancen, Verzögerungen, Beschleunigungen hat es in der Geschichte immer wieder gegeben, der Begriff „Moderne“ ist so nichtssagend wie vieldeutig, so geheimnisvoll wie beliebig. Natürlich bildeten die kopernikanische Wende, überseeische Entdeckungen, Reformation, Aufklärung, Säkularisierung, die politischen und gesellschaftlichen Revolutionen des 18. und die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts – um nur diese Beispiele zu nennen – grundstürzende Modernisierungen oder leiteten sie wenigstens ein. Aber während deren Wirkungen erkennbar sind, gilt dies für die umfassenden Modernisierungsschübe des 19., 20. und frühen 21. Jahrhunderts noch keineswegs.

Was also wissen wir über das 20. Jahrhundert, solange wir das 21. nicht besser kennen?

Unser Wissen ist vorläufig, wenn es Deutung liefert. Das macht die komplexe Rekonstruktion von Fakten und Zusammenhängen und ihren schon heute unübersehbaren Reichtum keineswegs unnütz, sie bleibt die unentbehrliche Basis der Geschichtswissenschaft. Aber trotz aller Fülle – oder gerade deswegen – bilden die Fakten noch nicht die Interpretation.

Und das gilt besonders, wenn wir dieses „lange“ 20. Jahrhundert als Teil und Kette unaufhörlicher, sich immer wieder beschleunigender Modernisierungen begreifen: Diese Veränderungsdynamik, die Unsichtbarkeit des Ziels, erzeugte – und auch das in Schüben – Krisenbewusstsein und Krisenherde. Die dominierenden Ideologien des 20. Jahrhunderts lieferten Deutungsangebote, als totalitäre Bewegungen wurden sie allesamt zu tödlichen Utopien und waren – unter unendlichen Opfern – früher oder später zum Scheitern verurteilt: Erlaubt es die Geschichte, dem Sinnlosen durch derartige Utopien Sinn zu geben, und mit welchem Resultat?

Ist der Sieg des liberalen Rechtsstaats und der parlamentarischen Demokratien in Europa als scheinbar letzte Konsequenz der euro-atlantischen Revolutionen des 18. Jahrhunderts nur ein prekärer Sieg, weil sie nach der Krise der 1920er- und 1930er-Jahre im 21. Jahrhundert erneut vor der Frage stehen, ob ihre Fähigkeit zur Lösung fundamentaler Probleme ausreicht, nicht allein der aktuellen, sondern vor allem der langfristigen Schwierigkeiten? War der revolutionäre Sturz der kommunistischen Diktaturen 1989/90 also vielleicht nur eine Etappe und noch keineswegs der definitive Sieg des liberalen Rechtsstaats, der parlamentarischen Demokratie und der liberalen Wirtschaftsordnung? Müssen wir wieder einmal, wie ­Theodor W. ­Adorno und ­Max ­Horkheimer 1946 nach den Verheerungen von Diktatur und Krieg eine „Dialektik der Aufklärung“ befürchten, die Fortschrittsdenken und weltweiten Sieg des Humanitätsideals illusorisch erscheinen lässt? Welche ethischen Verwerfungen folgen aus den grundstürzenden Fortschritten der Naturwissenschaften und der Technik, ohne die beispielsweise die Kriegführung im Ersten und Zweiten Weltkrieg nicht denkbar gewesen wäre, denkt man nur an Luftkrieg und Atombewaffnung oder heute an den Einsatz von Drohnen?

Tatsächlich sprechen wir nach der Wiederkehr des Populismus in Europa, nach dem Wiedererstarken des Nationalismus in vielen Staaten Europas nicht allein von der Krise der Europäischen Union, sondern immer wieder auch von Krisen der Demokratie, im deutschen Fall wird stets der Vergleich der Bundesrepublik mit der Weimarer Republik bemüht.

Aus all diesen historischen Voraussetzungen folgt: Eine deutsche Geschichte im 20. und frühen 21. Jahrhundert, die die historischen Entwicklungen und Phänomene nicht nur rekonstruiert, sondern erklärt, muss Grundprobleme erörtern, die zeitlich und sachlich scheinbar jenseits des Themas liegen. Dazu zählen einerseits langfristige Ursachen grundlegender kultureller, gesellschaftlicher und mentaler Prägungen, andererseits transnationale Bezüge. Kurz gesagt: Auch eine deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts kann sich nicht auf dieses Jahrhundert und nicht auf die Nationalgeschichte beschränken. Dieser Prolog entwickelt folglich die Perspektiven, die die folgenden partiell deskriptiven Epochenkapitel interpretatorisch in längere Entwicklungstendenzen einordnen. Dabei ist es offensichtlich, dass die Politik, Gesellschaft und Wirtschaft prägenden wissenschaftlichen Fortschritte, die Industrialisierung, die Entstehung der modernen Massendemokratien, der totalitären Ideologien, nicht auf Jahreszahlen oder einzelne Epochen zu reduzieren sind, sondern sich in ihnen lediglich spezifisch entwickeln oder spezifische Konsequenzen haben. Die einleitenden Fragen lauten also: Welche Wirkung haben die frühneuzeitlichen Modernisierungsprozesse auf das 20. Jahrhundert – wie verbinden sich ihre Leistungen mit den Fehlentwicklungen, mit dem Verhängnis? Und ebenso zweifelsfrei sind Weltkriege, Weltwirtschaftskrise 1929, Globalisierung, historische Erinnerungskulturen keine bloß nationalen Phänomene. Der notwendige doppelte methodische Zugang ist in knappem Umfang allerdings nur möglich, wenn er eine essayistische Perspektive mit einer auf die zentralen Fragen konzentrierten, also auswählenden Darstellung verbindet.

Der Ausgangspunkt: Die Anthropologie
der Rationalität

Unabhängig von der Existenz früherer Modernisierungsschübe leitete die europäische Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts fundamentale kulturelle und wissenschaftliche, ökonomische und gesellschaftliche, schließlich politische Entwicklungen ein, die bis heute wirksam sind. Um welche konstitutiven Phänomene handelte es sich?

„The proper study of mankind is man“, so formulierte der englische Essayist ­Alexander ­Pope schon 1732 einen wesentlichen Grundsatz aller Aufklärung, und der Königsberger Philosoph ­Immanuel ­Kant ließ 1784 seiner Antwort auf die Frage „Was ist Aufklärung?“ sogleich das berühmte Postulat folgen: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Und sein Zeitgenosse, der Berliner Popularphilosoph ­Moses ­Mendelssohn, als Kaufmann natürlich ein Realist, erklärte 1784 auf die gleiche Frage: „Ich setze allezeit die Bestimmung des Menschen als Maaß und Ziel aller unserer Bestrebungen und Bemühungen.“ Kein Zweifel, diese Anthropozentrik ist Ausdruck einer umfassenden Säkularisierung, wenngleich die zitierten Autoren durchaus noch religiös dachten: Allein schon die Buchtitel zeigen dies.

Seit Mitte des 18. Jahrhunderts häufen sich nach der Pionierstudie von ­John ­Locke Two treatises on government (1690) soziologische Werke hohen Ranges, denkt man nur an ­Adam Ferguson oder an die soziologische Verfassungslehre Montesquieus De l’esprit des lois (1748). ­Locke und ­Montesquieu begründeten die Gewaltenteilung zwischen exekutiver, legislativer und justizieller Gewalt, die noch heute für rechtsstaatliche Demokratien unverzichtbar ist. Gemeinsam mit den Rechtsreformen in den deutschen Monarchien des aufgeklärten Absolutismus, beispielsweise dem „Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten“ (1794) und den Kreittmayrschen Rechtsreformen in Bayern, sowie den Menschen- und Bürgerrechtserklärungen der amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789 legten sie das Fundament moderner Rechtsstaatlichkeit. Wie aktuell diese aufgeklärten Postulate und Prinzipien sind, zeigen nicht nur heutige Debatten über die Verletzung von Menschenrechten in anderen Teilen der Welt, sondern auch die Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat war. Aufgrund der schon im 18. Jahrhundert entwickelten Kriterien ist die Antwort einfach: Ein Staat, in dem die Justiz nicht unabhängig ist, in dem grundlegende Menschen- und Bürgerrechte nicht garantiert sind, ist kein Rechtsstaat – also war die DDR kein Rechtsstaat.

Anthropologische Essays wie La ­Mettries L’homme machine (1748), Naturgeschichten und zoologische oder botanische Werke wie diejenigen ­Carl von Linnés oder ­George ­Graf von Buffons, naturwissenschaftliche und mathematische Entdeckungen von ­Gottfried ­Wilhelm ­Leibniz und Issac ­Newton seit dem 17. Jahrhundert, bilden Grundsteine der modernen Naturwissenschaften. Die Entwicklung der modernen Geschichtsschreibung im 18. und 19. Jahrhundert prägte nicht allein den Historismus, sondern bewirkte auch für andere Kulturwissenschaften eine „Revolution der Denkungsart“. Die durch ­Immanuel ­Kants Hauptwerk Kritik der reinen Vernunft (1781) herbeigeführte „kopernikanische Wende“ in der Erkenntnistheorie beeinflusst die Philosophie bis heute.

Diese Reihe ließe sich leicht verlängern, beispielsweise um das bevölkerungswissenschaftliche Werk des Pioniers der Statistik ­Johann ­Peter ­Süßmilch (1741), die psychologischen Werke von ­Karl ­Philipp ­Moritz (1783–1794) oder ­Adam Smiths Grundwerk der modernen liberalen Nationalökonomie 1776. Kein wissenschaftliches Fach existiert, in dem unter dem Einfluss der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts die damaligen Erkenntnisse nicht systematisch gesammelt und revolutioniert worden wären. Das enzyklopädische Jahrhundert konnte deshalb keinen adäquateren literarischen Ausdruck finden als in Diderots und d’Alemberts monumentaler 35-bändiger Encyclopédie (1751–1780). „Wissen ist Macht“ – dieses Wort von ­Francis ­Bacon stammt zwar aus dem 16. Jahrhundert, wurde aber zur Devise aller folgenden, zumal im wissenschaftsgläubigen 19. und 20. Jahrhundert. Zutreffend nennt d’­Alembert in seinem berühmten Discours préliminaire de l’Encyclopédie (1751) ­Francis ­Bacon – den Begründer des Empirismus und der induktiven Methode in der Naturwissenschaft – an erster Stelle derjenigen, die sich als Vorbereiter der Aufklärung verdient gemacht hätten: Bacons philosophische Systematik legten die Enzyklopädisten ihrem Werk zugrunde. Und sogleich erwähnte d’­Alembert auch ­René ­Descartes als Vater des modernen Rationalismus.

Doch so fasziniert die Aufklärer vom Wissen waren, strebten sie doch zugleich nach seiner Anwendung, seinem gesellschaftlichen Nutzen, nicht nur nach Theorie, sondern nach Praxis. Wirtschaftshistoriker haben deshalb die „dramatischen Fortschritte der wissenschaftlichen Kenntnisse wie auch der industriellen Verfahren“ des 17. und 18. Jahrhunderts für die industrielle Revolution und das Wirtschaftswachstum verantwortlich gemacht.[i] Und kein Zweifel, der im 17. und 18. Jahrhundert in Wissenschaft und Technik „entfesselte Prometheus“ ist bis heute nicht gefesselt, vielmehr treibt jede neue Erkenntnis der nächsten zu.

Die Aufklärung, die ihrerseits Traditionen besaß, beispielsweise in Renaissance und Humanismus, führte wie keine ideelle und gesellschaftliche Bewegung zuvor die Wissenschaften vom Menschen in neue Höhen. Sie schuf ein enzyklopädisches Zeitalter, das alles wissen und alles sammeln wollte, hierin aber nicht einen positivistischen Selbstzweck sah, sondern den Dienst an der „Verbesserung des Menschengeschlechts“, wie es ­Lessing in der Sprache seiner Zeit ausdrückte. Doch genau hier lag das Problem: Beinhaltete der ständige wissenschaftliche, technologische und industrielle Fortschritt auch im ethischen Sinne eine Verbesserung des Menschengeschlechts oder lediglich eine Verbesserung seiner alltäglichen Lebensbedingungen? Die Botschaft des 20. Jahrhunderts lautet: Das Menschengeschlecht hat sich offenbar nicht „verbessert“. Wird das 21. Jahrhundert daraus die Lehre ziehen? „Diese Welt, die niemals zuvor bereit gewesen war, auch nur ein einziges der universalen Glaubensbekenntnisse, die ihr zu ihrer Erlösung angeboten wurden, allgemein zu akzeptieren, findet offenbar nichts dabei, die Religion der Wissenschaft und der Technologie ohne Vorbehalte anzunehmen … Die Ursache dieses Optimismus ist die Annahme, dass die menschliche Wissens- und Handlungsfähigkeit unbegrenzt sei. Wir haben es hier mit der uralten Ketzerei der Selbstvergötzung des Menschen zu tun. Damit ist der Kreis geschlossen, und wir sind wieder am Ausgangspunkt angelangt. Es ist die Hybris, die in der westlichen Gedankenwelt und Mythologie ein immer wiederkehrendes Motiv darstellt und bis zum Sündenfall und den griechischen Sagen von Prometheus und Dädalus zurückreicht“.[ii] Und nicht zufällig hat ­Goethe in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sein Jugendgedicht „Prometheus“ geschrieben und, mit dem „Urfaust“ des Sturm und Drang beginnend, bis zu „Faust II“ gegen Ende seines Lebens, sich über Jahrzehnte hinweg immer wieder dem Lebensmotiv des faustischen Menschen gewidmet.

Was ­Nietzsche und ­Freud am Ende des 19. Jahrhunderts als kulturkritische Diagnose und drohendes Unheil durch ihre Entzauberung der menschlichen Individualität verkündeten, das hatte eine Generation vorher ­Karl ­Marx für Gesellschaft und Wirtschaft versucht, indem er als linkshegelianischer Philosoph seinen Lehrmeister ­Hegel vom ­Kopf auf die Füße stellte – jenen ­Hegel, der mit ­Kant der Meinung war, die Französische Revolution habe 1789 etwas Unerhörtes geleistet: Mit der Revolution habe der Mensch sich und die Welt auf den ­Kopf gestellt, sie lasse die Morgenröte der Menschheit aufscheinen und ein Vermögen des Menschen zum Besseren erkennen. Dieses Vermögen werde die Zukunft, also das Schicksal der Menschheit, bestimmen. Von nun an wurde die soziale Revolution als Umwertung aller Werte das politische Mittel, das der philosophischen, wissenschaftlichen und industriellen Revolution ihre gesellschaftliche Bedeutung gab. Zwingt die Erforschung der Vergangenheit zu Nüchternheit und Rationalität, zur Überprüfung des Gedankens an der Realität, so erlaubt die Zukunft den Traum. Diese Zukunft gehörte nach dem Ersten Weltkrieg nicht den kühlen Analytikern von Wirtschaft und Gesellschaft, Politik und Ethik, Parlamentarismus und Demokratie wie ­Max ­Weber, der in der Säkularisierung und Modernisierung ebenfalls die „Entzauberung“ der Welt erkannte, sondern den Revolutionären und ihren utopischen Gegenwelten. Ihre Inhalte suchten diese Revolutionäre immer wieder im 19. Jahrhundert, ihre Mittel aber wurden die der modernen technisch-wissenschaftlichen Zivilisation, die von Generation zu Generation das Leben der Menschen immer stärker veränderte.

Die biologische Evolutionstheorie von ­Charles ­Darwin, ebenfalls durch Studien aus dem 18. Jahrhundert, durch ­Thomas ­Robert Malthus’ 1798 anonym veröffentlichtes Buch An essay on the Principle of Population, aber auch Feldstudien in Südamerika und den ozeanischen Inseln angeregt, führte seit 1842 zu einer biologistischen Selektionstheorie. Sie mündete 1859 in sein Hauptwerk „Von der Entstehung der Arten“. Darwins Erkenntnis von der Evolution der Organismen, die existenzerhaltende natürliche Auslese der Arten, revolutionierte nicht allein die Naturwissenschaften, sondern wirkte ebenfalls nachhaltig auf Kultur- und Sozialwissenschaften. In Form des Sozialdarwinismus beeinflussten Darwins Erkenntnisse auch die Gesellschaftslehre. Der Mensch als biologisch zu definierende, sich unter Umweltbedingungen und durch Auslese entwickelnde höhere Gattung, wurde von ­Darwin nicht mehr durch den Schöpfungsgedanken definiert.

Das Grundprinzip der Auslese und Höherentwicklung lässt sich leicht auf die Geschichte übertragen, entspricht es doch dem aufgeklärten Fortschrittspathos ebenso wie der marxistischen Geschichtsphilosophie, die gleichfalls durch eine ausschließlich immanente teleologische Komponente geprägt wird. Die Arterhaltung durch optimale Anpassung an die Umwelt definiert so auch die Zukunft des Menschengeschlechts, sie steht in Analogie zum historisch als notwendig anerkannten Ablauf der Gesellschaftsformationen mit dem Ziel einer permanenten gesellschaftlichen Höherentwicklung bis zur klassenlosen Gesellschaft: Anders als die biologistische Variante steht die marxistische Geschichtstheorie aber insofern in der Tradition der Aufklärung, als diese ebenfalls den Fortschritt als sittliche und geistige „Verbesserung des Menschengeschlechts“ verstanden hatte, während im Sozialdarwinismus der Fortschrittsgedanke formalisiert und biologisiert wurde.

Die modernen, säkularisierten Wissenschaften vom Menschen führten zum Ende aller Sicherheit. Die traditionellen Menschenbilder gerieten also von unterschiedlichen Seiten her in die Defensive. Hatte ­Marx intellektuell hochmütig – auch gegen das Proletariat – die Religion als „Opium des Volkes“ bezeichnet, so ­Freud in seiner Schrift „Die Zukunft einer Illusion“ die Religion als Illusion, wogegen sich sein Freund ­Romain ­Rolland insofern verwahrte, als er ­Freud vorwarf, er habe die eigentliche Quelle der Religiosität nicht gewürdigt.

Doch was sollte in den Augen der Agnostiker und Atheisten an die Stelle der Religion treten? Die Wissenschaft? Die Marxisten sprachen nicht zufällig in Absetzung vom Frühsozialismus vom „Wissenschaftlichen Sozialismus“, und ­Freud erklärte ohne Umschweife: „Nein, unsere Wissenschaft ist keine Illusion. Eine Illusion aber wäre es zu glauben, daß wir anderswoher bekommen könnten, was sie uns nicht geben kann“.[iii] Aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse waren seit der im 18. Jahrhundert beginnenden Industrialisierung ungeheure technische Fortschritte erzielt worden, nicht allein in der Produktion, sondern beispielsweise in der Medizin, in der Kommunikation durch Telegrafie und Telefon oder bei der Mobilität durch Erfindung der Eisenbahn: Heute wissen wir, dass seit dem 19. Jahrhundert eine wissenschaftliche und technische Revolution auf die andere folgte. Seit dem frühen 20. Jahrhundert entwickelten sich beispielsweise die Automobilindustrie und bald auch die Flugzeugindustrie rasant. Andererseits zeigte sich noch im 21. Jahrhundert, dass aller technische Fortschritt es nicht vermochte, Naturkatastrophen und Pandemien zu verhindern. Vor allem aber gewann wissenschaftlicher und technischer Fortschritt immer offensichtlicher eine inhärente, schwer zu bändigende Dialektik.

­Sigmund ­Freud war alles andere als ein naiver Optimist, folglich gelangte er nicht allein zu der Diagnose, es gebe ein „Unbehagen in der Kultur“, vielmehr beschlich ihn die bange Ahnung: »Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. In diesem Bezug verdient vielleicht gerade die gegenwärtige Zeit ein besonderes Interesse. Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten ­Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung«.[iv]


[i] Vgl. etwa ­Peter Mathias, Wer entfesselte Prometheus? Naturwissenschaft und technischer Wandel 1600–1800, in: Wissenschaft, Technik und Wirtschaftswachstum im 18. Jahrhundert. Hrsg. u. eingel. von A. E. Musson, Frankfurt/Main 1977; sowie ­David Landes, Der entfesselte Prometheus. Technologischer Wandel und industrielle Entwicklung in Westeuropa von 1750 bis zur Gegenwart, Köln 1973.

[ii] Ebd., S. 510.

[iii] ­Sigmund ­Freud, Die Zukunft einer Illusion, in: Massenpsychologie und Ich-Analyse, Frankfurt am Mai 1971, S. 83 ff., das Zitat S. 135.

[iv] ­Sigmund ­Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: Abriß der Psychoanalyse/Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt am Main und Hamburg 1960, S. 89–191, das Zit. S. 190 f.

Horst Möller

Über Horst Möller

Biografie

Horst Möller, Professor Dr. phil., geboren 1943 in Breslau, gilt als einer der führenden Historiker in Deutschland. Fast zwei Jahrzehnte leitete er das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen »Fürstenstaat oder Bürgernation. Deutschland 1763 –...

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Kommentare zum Buch
Ein BUch, das Spaß macht
Streifis Buecherkiste am 13.06.2019

Bettina Tietjen, bekannt aus diversen Talk Shows, campt gerne. Da auch wir gerne campen und ich gerne Reiseerlebnisse lese, dachte ich, das Buch könnte etwas für mich sein.   Und ich wurde nicht enttäuscht. Die Autorin erzählt ihre Camper-Biografie mit viel Witz und Charme. Nicht immer läuft alles so, wie sie und ihr Mann sich den Urlaub vorgestellt haben, aber im Großen und Ganzen lieben die beiden, und später auch ihre Kinder das spontane Erkunden einer Gegend, den Urlaub, den man nicht komplett durchplant.   Wir begleiten die Autorin und ihre Familie durch viele Jahre bei Urlauben die komplettes Neuland bedeuten, aber auch auf Trips, bei denen das bereits erprobte wieder genossen wird. Besonders schön fand ich den Ausflug nach Kanada mit der ganzen Familie.   Vieles hat mich an unsre eigenen Campingurlaube erinnert, auch wenn Tietjens deutlich spontaner und auch genügsamer unterwegs sind. Was mir gut gefallen hat war auch, dass Bettina Tietjen niemals herablassend auf andere Camper herabschaut, nur weil diese anders unterwegs sind als sie selber. So wird zwar manches Erlebnis mit den umstehenden Nachbarn kommentiert, aber am Ende kommt sie immer wieder zu einem Punkt: Camping ist individuell und jeder muss für ich herausfinden, was ihm dabei am meisten Spaß macht.   Nett auch die immer wieder eingestreuten Tipps für Neucamper. Auch hier die Devise: gut ist, was den Camper glücklich macht.   Alles in allem war es ein wirklich unterhaltsames Buch, dass mich mehrfach auch herzlich lachen lassen hat. Danke an Bettina Tietjen für den Einblick in ihr Urlaubsleben!

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