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Die Bernsteinschwestern

Die Bernsteinschwestern - eBook-Ausgabe

Anna Gerding
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Roman

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Die Bernsteinschwestern — Inhalt

Ein geheimnisvolles Schmuckstück und ein schicksalhaftes Versprechen

Laboe 1919: Seit ihrer Kindheit sind die Fischerstochter Ella und die Hotelierstochter Annemarie beste Freundinnen. Sie sind die Bernsteinschwestern, tragen die gleichen funkelnden Anhänger. Nichts kann sie trennen. Doch dann verschwindet Annemarie spurlos. Es heißt, sie sei im Meer ertrunken. Nur Ella weiß, was wirklich passiert ist. 
Hamburg 2019: Journalistin Kathrin stößt bei Recherchen auf ein altes Foto. Aufgenommen in den Zwanzigerjahren, zeigt es eine Frau mit einem Bernsteinanhänger, der einem Familienerbstück von Kathrin zum Verwechseln ähnlich sieht. Die Frau jedoch kennt sie nicht. Kathrin begibt sich auf die Spur des Anhängers und macht eine erschütternde Entdeckung, die ihre Familiengeschichte in ein neues Licht rückt ...

Zwei Freundinnen, durch das Leben getrennt, durch ein Geheimnis verbunden – ein wunderbar stimmungsvoller Ostsee-Roman für die Leserinnen von Mia Löw!

€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 01.04.2021
400 Seiten
EAN 978-3-492-99547-4
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Leseprobe zu „Die Bernsteinschwestern“

Prolog

Am Strand von Laboe im Herbst 1910
Mit raschen Schritten lief Ella den schmalen Sandweg zwischen den Sanddornbüschen entlang. Der Wind war noch garstig, und sie musste sich immer wieder gegen die Böen anstemmen. Eigentlich war es kein Tag, an dem sie gern zum Strand ging, doch genau der Wind, der in der letzten Nacht noch als Sturm an den Fensterläden gerüttelt hatte, machte diesen Tag zu einem guten Tag. Daher beeilte sie sich an diesem Morgen noch mehr als sonst. Mit ihren neun Jahren war sie noch recht schmächtig. Sie trug den viel zu großen [...]

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Prolog

Am Strand von Laboe im Herbst 1910
Mit raschen Schritten lief Ella den schmalen Sandweg zwischen den Sanddornbüschen entlang. Der Wind war noch garstig, und sie musste sich immer wieder gegen die Böen anstemmen. Eigentlich war es kein Tag, an dem sie gern zum Strand ging, doch genau der Wind, der in der letzten Nacht noch als Sturm an den Fensterläden gerüttelt hatte, machte diesen Tag zu einem guten Tag. Daher beeilte sie sich an diesem Morgen noch mehr als sonst. Mit ihren neun Jahren war sie noch recht schmächtig. Sie trug den viel zu großen Wollmantel ihrer Mutter, der ihr in der feuchten Luft schwer auf den Schultern lastete. Obwohl der Wind sie wie eine unsichtbare Hand zurückzuhalten schien, eilte sie weiter. Bald hatte sie den Strand erreicht. Der Sturm hatte die Ostsee aufgewühlt, die Wellen brandeten gegen das Land. Im Sommer war dieser Strand friedlich; feiner Sand kitzelte zwischen den Zehen, und Sommergäste flanierten am Wasserrand. Jetzt sah es fast so aus, als hätte der Meeresgott sein Zuhause aufräumen wollen. Treibgut und Schwemmholz lagen zu Haufen aufgetürmt, der Sand war mit Tang, Muscheln und Kies bedeckt. Ella würde nicht lange allein bleiben, das wusste sie. Bald schon würden auch andere Bewohner aus dem Dorf kommen, um nachzusehen, was das Meer während der Nacht an den Strand gespült hatte.
Am Wasser angekommen und den Blick zu Boden gerichtet, folgte Ella den langen Strängen der angespülten Meerespflanzen. Damit der Wind nicht noch ungestümer an ihrem Mantel zerren konnte, hatte sie die Arme vor dem Körper verschränkt. „Pass auf dich auf! Geh nicht zu dicht ans Wasser!“, hatte ihre Mutter sie ermahnt und ihr noch eine Mütze übers Haar gezogen. Wer am Meer lebte, wusste, dass sich das Meer ab und zu einen Menschen holte. Erst im vergangenen Sommer war Karl, der Sohn des Bauern Lehmann, mit seiner Jolle verschwunden. Nur sechzehn Jahre alt war er geworden und am Meer aufgewachsen. Das Unglück war an einem ganz gewöhnlichen Sommertag ohne allzu heftigen Wind geschehen. Doch dann hatte ein Fischer die Jolle entdeckt, mit dem Kiel nach oben. Den Karl hatte man jedoch nicht gefunden. Die Förde sei besonders tückisch, munkelten die Schiffer. Starke Strömungen und plötzliche Winde waren nicht selten. Zudem schoben sich auch die großen Dampfschiffe von der offenen See zum Kieler Hafen hin und brachten mit ihren großen Bugwellen den Seegang durcheinander.
Ella bückte sich, und dabei rutschte ihr die Mütze fast über das Gesicht. Ihr dunkles Haar wehte im Wind. Mit einer Hand versuchte sie, Mütze und Haar zu bändigen, mit der anderen durchwühlte sie den Tang am Boden. Dort lag zwischen dem Grün ein Häuflein mit Muscheln und Steinen. In solchen Ansammlungen fand sich oft auch das, wonach sie suchte. Bernstein. Das Gold der Ostsee. Ganz genau untersuchte sie jeden verdächtigen Stein. Es waren die stürmischen Nächte, die das begehrte Gut an Land spülten. Im Sommer war Bernstein nur selten zu finden. Dann hatte Ella kaum Zeit, sich auf die Suche zu begeben. Aber ab Herbst, wenn die Winde zunahmen, fand man den gelben Schmuckstein wieder öfter. Dieses Häuflein enthielt jedoch keinen Schatz. Ella richtete sich auf und ging weiter.
Schon als kleines Kind war sie mit ihrer Mutter auf Bernsteinsuche gegangen. Inzwischen war sie alt genug, um allein loszuziehen. Der Bernstein bescherte ihrer Familie ein kleines Zubrot. Ihr Vater war Fischer, oft tagelang auf See. Die Mutter kümmerte sich zu Hause um das Räuchern des Fangs und brachte den Fisch zum Markt oder zum Händler Nigges, der ihn dann nach Kiel lieferte. Im Sommer gab es rege Nachfrage nach frischem und geräuchertem Fisch. Laboe war beliebt bei den Sommerfrischlern aus Hamburg, und manche blieben gar wochenlang in den Hotels oder Pensionen. In diesen Monaten hatte Ellas Familie ein gutes Auskommen. Doch der Winter war jedes Jahr lang, es wurde weniger Fisch benötigt, und oft wurde das Geld knapp. Die Jansens waren schließlich nicht die einzige Fischerfamilie in Laboe. Ellas Mutter hatte schon als junge Frau mit der Bernsteinsuche begonnen und ihren Fund dann an einen Händler weitergegeben oder selbst kleine Schmuckstücke daraus gefertigt. Die verkaufte sie im Sommer an Feriengäste. Wenn in der kalten Jahreszeit der Regen gegen die kleinen Fenster der Fischerkate der Jansens trommelte, saß Ella mit ihrer Mutter dicht am Ofenfeuer. Dann schliffen und polierten sie den Bernstein mit feinem Sandpapier, das ihre Mutter vom Händler Nigges bekam, der die Fische mit nach Kiel nahm.
„Hallo.“
Ella erschrak so heftig, dass sie einige Schritte rückwärtstaumelte und fast über ein Stück Treibholz gefallen wäre. Sie war tief in ihre Suche und ihre Gedanken versunken gewesen und hatte gar nicht bemerkt, dass sie am Strand nicht mehr allein war. Sie musste mit den Armen rudern, um nicht zu stürzen. Dabei löste sich der Gürtel des Mantels, der sich im Wind so stark blähte, dass Ella unsanft auf ihrem Hinterteil landete und ihr die Mütze über das Gesicht rutschte.
Ein helles Lachen erklang. „Oh, das tut mir leid, ich … ich wollte dich nicht erschrecken!“
Wie Ella gleich merkte, war dies auf keinen Fall einer der anderen Treibholzsammler, die an einem Morgen wie diesem den Strand absuchten.
Während Ella die Mütze zurückschob, spürte sie, wie sie jemand am Ärmel zupfte.
„Komm, ich helfe dir auf!“
Ella kam wieder auf die Beine und blickte in das blasse, aber muntere Gesicht eines jungen Mädchens. Sie brauchte einen Augenblick, um ihr Gegenüber zu erkennen. Eigentlich kannte sie alle Einwohner von Laboe, hier aber musste sie überlegen.
Das Mädchen kam ihr zuvor und streckte ihr höflich die Hand zum Gruß entgegen. „Annemarie. Annemarie Konrad. Wir kennen uns doch, du bist die Ella Jansen, die Tochter vom Fischer Jansen, nicht wahr?“
Ella nickte verwirrt, und jetzt erkannte sie Annemarie. Gesehen hatte sie das Mädchen aber schon lange nicht mehr. Annemarie war etwa zwei Jahre älter als sie und auch schon etwas größer. „Ja, die bin ich. Warum … bist du hier am Strand?“
„Das wollte ich dich auch gerade fragen. Du hast so beharrlich auf den Boden gestarrt, das sah aus, als würdest du einen Schatz suchen.“ Annemarie Konrad trug ebenfalls eine Mütze, allerdings aus wesentlich feinerem Strickstoff. Dazu einen akkurat sitzenden Mantel in Dunkelrot und passende Handschuhe. Eine einzelne kleine Locke ihres blonden Haars lugte unter der Mütze hervor. Ihre Füße steckten in Schnürstiefelchen, an denen Ellas Blick einen Augenblick lang hängen blieb.
„Geh nicht zu dicht ans Wasser!“, warnte sie. „Die Salzränder bekommst du sonst nie wieder aus deinen Schuhen heraus.“
Verwirrt blickte Annemarie nach unten. „Ach die, die sind sowieso vom letzten Jahr.“
Ella betrachtete die eigenen Füße. Ihre Stiefel waren das einzige Schuhwerk, das sie besaß. Inzwischen passten sie ihr. Die letzten drei Winter hatte ihre Mutter noch Schafwolle in die Spitzen gestopft, damit Ella nicht dauernd stolperte. Im Sommer lief sie meist barfuß. Ihre Sommerschuhe waren ihr zu klein geworden, und noch hatte ihre Mutter keine passenden neuen erwerben können.
„Also … was suchst du hier, Ella Jansen? Komm, sag es mir!“ Annemarie musterte sie auffordernd.
Ella zuckte mit den Achseln. „Bernstein. Ich suche Bernstein.“
„Ach … ich weiß, deine Mutter fertigt daraus so hübsche Ketten und Anhänger. Einige unserer Gäste haben schon welche gekauft.“
Die Familie Konrad führte ein angesehenes Hotel in Laboe. Ein stattliches Haus mit großer Terrasse. Die Köchin des Hauses kaufte oft Fisch bei Ellas Vater. Aber nur den jungen, den mit wenig Gräten, aus denen sie dann … Ella fiel nicht mehr ein, wie ihre Mutter die Speise genannt hatte … so etwas wie Mus herstellte.
„Und warum bist du hier?“ Ella empfand Annemaries Anwesenheit am Strand inzwischen als ziemlich unpassend. In Laboe gab es Bewohner, die gingen an den Strand, um sich dort irgendwie zu betätigen, Strandgut zu sammeln oder in der Brandung zu fischen. Andere wiederum spazierten am Strand entlang, wenn das Meer sanft und die Luft lau waren. Das taten sie der Kurzweil und der Erholung wegen, nicht weil sie einer Arbeit nachgingen. Annemarie gehörte eindeutig zu Letzteren.
Missmutig zog Annemarie die Mundwinkel nach unten und machte eine Schnute. „Ich soll an die Seeluft und tief atmen. Also bin ich hier.“
„Aber du kommst doch sonst nie an den Strand.“ Ella wollte langsam weitergehen, denn sie hatte schon viel zu lange untätig herumgestanden.
Annemarie wandte sich in dieselbe Richtung wie Ella und machte Anstalten, sie zu begleiten. „Ich bin eigentlich die meiste Zeit bei meiner Tante in Hamburg. Meine Mutter ist gestorben, als ich noch klein war.“ Traurig senkte sie den Blick. „Mein Vater meint, in Hamburg sei es besser für mich. Aber ich hatte den ganzen Sommer Husten. Da hat der Professor gesagt, ich solle lieber für einige Zeit nach Hause, die Luft sei hier gesünder für mich.“
Ella musterte Annemarie von der Seite. „Ist die Luft in Hamburg nicht so gut?“
Das Lachen des Mädchens wurde von einer Windbö davongetragen. „Nein, wahrlich nicht. Hamburg ist eng, die Straßen sind voll. Es staubt, die Automobile stinken und qualmen. Und einen Lärm machen die, das glaubst du nicht!“
„Gibt es dort schon viele Automobile?“ Ella kannte diese Gefährte, doch oft sah man sie hier nicht. Im Sommer kamen die Gäste damit angefahren, ja. Angeblich war das Reisen darin bequemer als mit der Kutsche. Die Pferde der hiesigen Kutscher scheuten immer, wenn die tuckernden Fahrzeuge an ihnen vorbeiratterten und dabei qualmten wie Lastenkähne unter Volldampf auf der Förde.
„Jeder, der etwas auf sich hält, besitzt in Hamburg ein Automobil. Aber die Straßen sind gefährlicher geworden. Also, wenn du mich fragst, ein Pferd ist einfacher zu bändigen als eine Maschine. Hier ist es ruhiger, wenn auch langweiliger. Aber mein Husten ist schon besser geworden. Unsere Edda, Edda Hansen, die Kinderfrau, die jagt mich jeden Tag vor die Tür, außer es regnet in Strömen. Mein Vater findet das unpassend, aber Edda meint, wenn der Professor in Hamburg es so verordnet hat, soll es so sein.“
Ella nickte nur. Sie konnte dazu nichts sagen, sie hatte keine Kinderfrau, keinen Husten und keinen Professor. Annemarie und sie waren zwar Kinder aus Laboe, aber es lagen Weltmeere zwischen ihren beiden Leben. Dass sie eigentlich nebeneinander aufgewachsen waren, sich dennoch kaum kannten, sagte alles. Ella fühlte sich plötzlich unwohl neben Annemarie. Wahrscheinlich war es sogar ungebührlich, dass sie miteinander sprachen. Womöglich beobachtete sie noch jemand, und Annemarie bekam Ärger. Annemarie schien daran aber keinen Gedanken zu verschwenden und plapperte fröhlich weiter.
„Jetzt zum Herbst wird es ja fürchterlich langweilig hier in Laboe. In Hamburg habe ich zwei ältere Cousinen. Die sollen diesen Winter in die Gesellschaft eingeführt werden. Da gibt es immer große Bälle. Ach, da wäre ich gern dabei gewesen! Gut, man hätte mich nicht mitgenommen, aber daheim hätte ich die Kleider sehen können … und was die dann alles zu erzählen hätten. Hier …“ Sie machte eine winkende Geste mit dem Arm. „Hier passiert ja nichts Aufregendes. Im Hotel gibt es kaum Gäste, und unser Hauslehrer kommt erst zurück, wenn mein Bruder wieder da ist.“
„Wo ist dein Bruder denn?“ Ella erinnerte sich an den dunkelhaarigen, schmächtigen Heinrich.
„Der ist in Kiel auf der Kadettenschule.“
„Oh, bei der Marine?“ Ella hob anerkennend das Kinn.
„Nein, erst einmal Schule. Ich glaube nicht, dass er zur Marine gehen wird, er wird schnell seekrank. Obwohl mein Vater es wohl gern sähe.“
„Dann wäre der Beruf für ihn nicht so gut geeignet, da hast du recht.“ Ella bückte sich und schob mit der Hand eine Ansammlung von Tang, Muscheln und Sand auseinander.
„Besuchst du auch die Dorfschule?“ Annemarie musterte Ella und blickte zur Promenade hinüber.
Ella zögerte. „Hm, ja. Manchmal.“ Sehr oft ging sie nicht zur Schule. Inzwischen konnte sie ja schreiben und ein wenig rechnen. Aber ihre Eltern brauchten sie bei der Kate, sie musste bei den Fischen helfen, im Haushalt, im Garten, bei den Hühnern und eben auch bei der Suche nach Bernstein. „Hier, sieh nur!“ Ella hob ein Stück auf und hielt es stolz auf der flachen Hand. „Das ist ein Bernstein, sogar ein besonders schöner.“
Annemarie zog einen ihrer Handschuhe aus und nahm das Stück Bernstein zwischen Daumen und Zeigefinger. „O ja, der ist hübsch.“
„Und groß, den nimmt der Händler sicher gern.“
„Welcher Händler?“ Annemarie hielt den Bernstein gegen das fahle Sonnenlicht.
„Der Kesselflicker, der alle Vierteljahr zu uns kommt. Kennst du den nicht? Der mit der Glocke und dem bunten Karrengaul.“
„Doch, den kenne ich. Unser Koch lässt sich immer die Messer von ihm schärfen.“
„Genau der, und der kauft von meiner Mutter den Bernstein und nimmt ihn mit, irgendwohin, wo Schmuck daraus gemacht wird. Aber wir bearbeiten ihn auch selbst.“
„Aha, Bernstein ist also wertvoll?“
„Er bringt gutes Geld, ja.“
Annemarie gab Ella den Stein zurück, zog ihren Handschuh wieder an und stemmte die Hände in die Hüften. „Dann will ich dir ab jetzt helfen, Bernstein zu finden.“
Unwillkürlich rümpfte Ella die Nase.
Annemarie lachte wieder. „Nicht für mich, du Dummchen. Für dich! Wenn ich dir helfe, bekommst du mehr Steine und deine Familie zusätzliches Geld. Und ich … ich muss nicht allein am Strand herumlaufen und immer nur tief atmen, weil der Professor es befohlen hat.“
Ella betrachtete den Bernstein, hob den Kopf und musterte Annemarie. „Gut. Aber du weißt doch gar nicht, wie du Bernstein findest, stimmt’s?“
„Das kannst du mir ja erklären. Komm, zeig mir, wo ich fündig werde!“
Ella lächelte schüchtern. „Du … du machst dir aber die Finger und die Schuhe schmutzig.“
„Das ist doch ganz egal.“ Annemarie ging in die Hocke und schob mit der Hand den Seetang zur Seite, ohne auf ihre Handschuhe zu achten. „Darunter liegt also der Bernstein?“
Ella bückte sich, und die Mädchen stießen fast mit den Köpfen zusammen. Beide mussten kichern. „Ja“, erklärte Ella, „der Bernstein wird angespült. Vor allem, wenn es nachts gestürmt hat. Dann fängt er sich im Tang oder im Seegras und landet am Strand.“
„Woher weißt du das?“ Angestrengt begutachtete Annemarie das Sammelsurium an Muscheln und Grünzeug.
„Das hat mir meine Mutter beigebracht.“
„Und woher weiß ich, dass es wirklich Bernstein ist und nicht irgendein beliebiger Stein?“
Ella musste überlegen. Sie selbst wusste es einfach. „Das … das erkennst du an der goldenen Farbe.“
Annemarie richtete sich auf und ging ein Stück weiter. „Das sind übrigens keine Steine, hat mir unser Lehrer erklärt.“
Ella folgte ihr. „Aber Bernstein ist doch hart wie Stein.“
Annemarie schüttelte den Kopf. „Es ist ganz altes Baumharz, hat der Lehrer gesagt. Wie das der Strandkiefern, nur dass es schon viele Tausend Jahre im Meer gelegen hat.“
Ella neigte den Kopf. „Meine Mutter hat mir aber eine andere Geschichte erzählt.“
„Die möchte ich hören“, verlangte Annemarie.
Während Ella sich wieder hinabbeugte, begann sie zu erzählen. „Meine Mutter sagt, jeden Abend, wenn die Sonne im Meer versinkt, verliert sie vor Trauer eine Träne. Am Morgen, wenn sie am Horizont aufsteigt, freut sie sich dann so, dass sie wieder eine Träne ins Meer fallen lässt. Diese Tränen werden zu Bernstein.“
Annemarie nickte. „Diese Geschichte ist viel schöner. Sonnentränen. Oh, schau, da! Ist das eine Träne?“ Sie deutete auf einen Stein.
Ella begutachtete den Fund und lachte. „Ja, du hast etwas gefunden! Und hier ist sogar noch ein Stück. Wir haben heute richtig Glück.“
Annemarie hakte sich bei Ella unter, als diese sich mit ihrem Schatz wieder aufrichtete, und strahlte. „Das ist schön. Dies ist der erste nicht so langweilige Tag, den ich hier erlebe. Ich werde dich jetzt so oft wie möglich begleiten, und zusammen werden wir ganz viel Bernstein finden. Wir … wir sind Bernsteinschwestern.“


1 – Kathrin unterdrückte …
Hamburg, im Mai 2019

Kathrin unterdrückte ein Gähnen und versuchte, unter dem viel zu kleinen Tisch noch Platz für ihre Beine zu finden. Während ihr Chef, Reinhard Foppe, bequem an seinem Schreibtisch saß, mussten sich die vier Mitarbeiter des Wandsbeker Kuriers zur monatlichen Redaktionsbesprechung an diesem eigens dafür aufgebauten Klapptisch einfinden, und es war jedes Mal eine unangenehm enge Situation für alle.
Mit einer Schreibmappe unter dem Arm und zwei großen Tassen Kaffee kam Julia als Letzte in Foppes Büro. Sie setzte sich neben Kathrin auf den letzten freien Platz und nuschelte ein „’tschuldigung“.
„Können wir endlich anfangen?“ Ungeduldig klapperte Foppe mit einem Kugelschreiber auf dem Tisch. Er war ein untersetzter kleiner Mann mit Halbglatze. Um überhaupt aufrecht an seinem Schreibtisch sitzen zu können, musste er sich immer etwas recken. Er nannte sich zwar Chefredakteur, ob er aber überhaupt schon einmal selbst etwas geschrieben hatte, wusste Kathrin nicht. Gut, der Wandsbeker Kurier verkaufte sich ordentlich, obwohl es sich nur um ein Stadtteilblatt handelte, das vierteljährlich erschien und ausschließlich von Werbekunden lebte. Doch die Auflage stieg jedes Jahr um einige Tausend. Dies lag wohl eher an den vielen Neubaugebieten und den steigenden Einwohnerzahlen sowie an deren Eignung als Kundschaft für Anzeigenpartner wie Küchenstudios, Möbelhäuser und alle Gewerke, die für mittelständische Familien von Interesse sein mochten, als an wirklicher Schreibkunst in dieser Redaktion.
Kathrin nippte an ihrem Kaffee und verbrannte sich dabei fast die Lippen. Aber sie brauchte jetzt dringend etwas Anschub, sonst würde sie womöglich wieder einschlafen. Die Redaktionsbesprechungen beim Wandsbeker Kurier waren ähnlich spannend wie das Nachtprogramm eines Shoppingsenders. Nur das erste Treffen in jedem Quartal, so auch an diesem Tag, war wichtig, denn dann wurden die neuen Themen für die nächste Ausgabe festgelegt. Änderungen ergaben sich nur dann, wenn etwas Wichtiges in den Stadtteilen passierte. Alle anderen Sitzungen verliefen weniger aufregend und dienten lediglich dazu, Foppe über den Fortschritt der Artikel und Themen zu unterrichten.
Kathrin erwartete auch diesmal nicht allzu viel. Das Team war eingespielt, jeder hatte seine Bereiche, und selten gab es Neuerungen. Dieses Gleichmaß empfand sie als beruhigend. Julia hingegen rutschte auf ihrem Stuhl schon wieder hin und her, als ginge es darum, den wichtigsten redaktionellen Teil oder einen überragend spannenden Artikel zu ergattern. Kathrin bedachte sie mit einem strafenden Blick. Julia hatte immer Hummeln unterm Hintern, und still zu sitzen fiel ihr schwer. An ihrem Schreibtisch war sie stets in Bewegung, tippte wie eine Wilde auf ihrer Tastatur herum, meist noch mit dem Telefonhörer zwischen Kopf und Schulter und einem zusätzlichen Laptop daneben. Julia betreute die spannenden Ressorts des Stadtteilblattes – Veranstaltungen, Mode, Behördenmeldungen und die Kinderseite. Heike kümmerte sich um die Gartenseiten, während Dennis die Artikel, die die Frauen geschrieben hatten, sowie die unzähligen großformatigen Anzeigen der Finanziers so in Form brachte, dass eine Zeitung daraus wurde.
Kathrin war für die Reiseseiten zuständig und durfte über kleinere örtliche Geschehnisse berichten. Die Reiseseiten hatten aber mehr Gewicht, denn – und das betonte Foppe immer wieder – die Bewohner der Hamburger Walddörfer wie Duvenstedt, Volksdorf, Wohldorf und Bergstedt gehörten zum wohlhabenden Mittelstand und reisten gern. Kathrin schrieb also über die Kanaren, die Küsten Portugals, Frankreichs Weingüter, Sylt und Paris und war selbst bisher noch nie viel weiter südlich gekommen als bis kurz hinter Hannover. Ihre Themen richteten sich eher nach den Wünschen und Angeboten der Anzeigensetzer. Wollte ein örtlicher Weinhändler eine Charge Bordeaux loswerden, gab es einen schicken Bericht über die Stadt, gepaart mit der dezenten Einladung zu einer Weinprobe in Hamburg. Bot ein örtlicher Gartenausstatter gerade Strandkörbe an, dann passte Sylt wunderbar zum Thema, und die Leser wurden dazu verführt, sich so ein sperriges Ding auf die Terrasse zu stellen. Dies war Kathrins Thema für die gerade erschienene Sommerausgabe gewesen. Geschickt hatte sie Sylter Geschehnisse mit verlockenden Strandbildern kombiniert. Hier und da hatte sie dann noch den einen oder anderen prominenten Namen aus der Hamburger High Society einfließen lassen, und schon hatte sie die Leser, aber auch die Interessen des Strandkorbanbieters auf ihrer Seite glücklich vereint. Schließlich konnte nicht jeder nach Sylt reisen wie vielleicht die Hamburger Nachbarn aus Harvestehude oder Eimsbüttel. Trotz dieser profanen Themenauswahl versuchte Kathrin, ihren Artikeln einen gewissen Anspruch zu verleihen. Nicht dass Foppe dies bisher aufgefallen wäre, aber nachdem es derzeit wenig Druck hinter ihrer Schreibtätigkeit gab, fühlte sich Kathrin einigermaßen beruhigt. Bisher hatte sie schon in weit aufreibenderen Jobs gearbeitet. Sie nahm einen großen Schluck des heißen Kaffees und strich sich eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht. Foppe räusperte sich und blickte mit ernstem Gesicht in die Runde. Augenblicklich verstummten alle, und eine gewisse Spannung lag in der Luft. Die Themen selbst konnte sich Kathrin nicht aussuchen, denn Foppe gab den Takt vor. Kathrin rieb sich die Augen. In den letzten Nächten hatte sie schlecht geschlafen. Die Wochenenden waren insgeheim ein Graus für sie. Sie war jetzt sechsunddreißig Jahre alt, fühlte sich aber seit einiger Zeit wesentlich älter. Irgendwie war ihr Leben in eine Sackgasse geraten. Unauffällig und still. Sie sehnte sich nicht nach Abenteuern, aber das tägliche Einerlei wirkte ermüdend auf sie. Die Arbeit beim Wandsbeker Kurier bot ihr das Geld, mit dem sie sich eine kleine Wohnung in Ohlsdorf leisten konnte. Dachgeschoss mit Aussicht auf den großen Ohlsdorfer Friedhof. Aber immerhin mit Blick ins Grüne. An jedem Arbeitstag fuhr sie mit der S-Bahn die wenigen Stationen nach Wandsbek, stieg dort aus und ging zu Fuß weiter zum Redaktionsbüro. Dieses lag in Poppenbüttel, in der Nähe des großen Einkaufszentrums. Nach der Arbeit besorgte sie sich dort oft noch etwas zu essen, schaute sich auf dem Weg ein paar Schaufenster an und fuhr wieder zu ihrer Wohnung. Die Wochenenden verbrachte sie meist zwischen Bett und Sofa. Gut, bei schönem Wetter unternahm sie öfter einen Spaziergang über den Friedhof, aber alles in allem war ihr Leben nicht sonderlich spannend. Dennoch saß sie an Tagen wie diesem, am Montagmorgen, in der Redaktionssitzung und war hundemüde. Vielleicht sollte sie mehr Sport treiben oder abends mal ausgehen. Aber dazu fehlte ihr irgendwie der Elan.
„Hey!“
Julia stieß sie mit dem Ellbogen an und riss sie aus ihren Gedanken. Kathrin straffte sich.
„… und aufgrund dieser erfreulichen Nachrichten, denn wir brauchen nach wie vor gute Anzeigenkunden, hoffe ich, Frau Broecker …“ Foppe richtete den Blick unverwandt auf Kathrin, die wie ein Reh im Lichtkegel erstarrte.
Kathrin sah Hilfe suchend zu Julia hinüber. Hatte sie etwas Wesentliches verpasst? Verdammt!
„… dass Sie unseren neuen Kunden mit einer schönen Serie über die holsteinischen Ostseebäder erfreuen. Der Herbst ist schließlich eine geeignete Reisezeit, um noch einmal Erholung in der näheren Umgebung zu suchen. Frank, die Automobilseiten müssen wir überarbeiten …“
So schnell, wie sich Foppes Lichtkegel auf sie gerichtet hatte, so schnell verschwand er wieder. Kathrin atmete tief durch und umklammerte ihre Kaffeetasse.
Nach der Besprechung verzogen sich die Mitarbeiter rasch wieder an ihre Schreibtische.
Der Wandsbeker Kurier verfügte weder über einen eigenen Besprechungsraum noch über genügend Platz, damit die Mitarbeiter ein Mindestmaß an privater Arbeitsatmosphäre bekamen. Neben dem Büro von Reinhard Foppe, das er für sich allein beanspruchte, gab es noch einen weiteren Raum, in dem die Schreibtische so dicht wie möglich neben- und hintereinander angeordnet waren. Alle hatten mit der Zeit eine Strategie entwickelt, wie sie sich ein wenig abschirmen konnten. Heikes Schreibtisch, gleich links neben der Tür, sah aus wie ein kleiner Schrebergarten. Aus irgendwelchen Grünpflanzen, deren Namen Kathrin nicht kannte, hatte sich Heike eine Hecke aufgebaut, über die sie sich weit hinüberbeugen musste, wenn sie mit Heike sprechen wollte. Dennis hingegen, er saß ganz rechts in der Ecke und war für das Layout zuständig, hatte ringsum so viele Papierstapel drapiert, dass man sich ihm nicht nähern konnte, ohne einen davon umzustoßen. Julia und Kathrin hingegen hatten ihre Schreibtische vor dem Fenster einander gegenüberstehen. So saßen sie nun seit vier Jahren, und da beide gut miteinander auskamen, hatten sie noch nie den Drang verspürt, sich voneinander abzuschirmen.

„Ist doch toll.“ Begeistert ließ sich Julia auf ihrem Bürostuhl nieder, und Kathrin fragte sich zum wiederholten Mal, woher ihre Kollegin immer diesen Drive hatte. Julia war nur drei Jahre jünger als Kathrin, aber wenn Kathrin sie jetzt so ansah, die strahlenden Augen, den immer lustig wippenden Pferdeschwanz, fühlte sie sich wie achtzig.
„Ostseebäder …“, murmelte Kathrin nur, als sie sich an ihrem Platz niederließ.
„Ja, super! Du kennst dich doch dort aus. Schließlich kommst du von der Küste. Das ergibt bestimmt einige gute Seiten, die du locker füllst. Dann ist Foppe glücklich, und der Anzeigenkunde – der mit den Individual- und Busreisen – wird immer passend dazu inserieren, mindestens ein Jahr lang. Vier Ausgaben, Kathrin, das ist doch eine sichere Bank für dich.“
Kathrin kippte ihren Bürostuhl nach hinten und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. „Äh ja, genau, Busreisen. Aber Ostseebäder sind doch etwas für Senioren. Sonst fährt da keiner mehr hin, außer Dauercampern oder Leuten, die ein Boot dort liegen haben. Heute ist Erlebnisurlaub viel angesagter. Rafting, Hiking …“
„Hi… was?“
„Das ist Neudeutsch für wandern.“ Kathrin verzog das Gesicht.
„Na, wandern kann man da oben doch auch. Der Anzeigenkunde bietet ja nicht nur Busreisen an. Schau dir mal seine Unterlagen an!“ Während sie sprach, starrte Julia schon wieder auf ihren Monitor. „Ich finde, dass die nahen Urlaubsziele viel mehr im Kommen sind als Fernreisen. Viele wollen nur Urlaub im eigenen Land machen, und gerade im Herbst bietet sich das an …“
„Ja, aber Ostsee? Da sind wir doch viel zu dicht dran. Die Gegend kennt hier schließlich jeder. Allgäu vielleicht nicht … oder die Eifel.“
Nun wandte Julia den Blick vom Monitor und bedachte Kathrin mit einem vorwurfsvollen Blick. „Ich weiß echt nicht, was du hast. Ist doch ein Superthema. Hab dich nicht so! Ich meinerseits muss wieder über Baustellen, Vereinsjubiläen und diesen neuen Kindergarten in Lemsahl-Mellingstedt schreiben. Die Leiterin dort ist ziemlich schräg. Die redet immer so singend und sieht aus wie Pippi Langstrumpf in den Fünfzigern.“
Hinter Heikes Hecke rührte sich etwas, und sie meldete sich zu Wort. „Die ist aber total nett und führt ganz tolle ökologische Gartenprojekte mit den Kindern durch.“
Julia spähte auf die grüne Wand aus Zimmerpflanzen und verzog das Gesicht. Das konnte Heike allerdings nicht sehen. „Dann geh doch zu Foppe und sag, dass du den Kindergarten-Artikel schreibst. Das ist jetzt schon der dritte dieses Jahr. Kriegt die Öko-Langstrumpf nicht genug Kinder für ihren Hort?“
Kathrin prustete los.
Hinter der Hecke raschelte es vorwurfsvoll. Ein Zeichen dafür, dass Heike nichts mehr sagen wollte.
Julia linste wieder zu Kathrin hinüber. „Also los! Ich finde, bei dem Thema Ostsee bist du zumindest mal dichter dran als bei deinen anderen Reiseartikeln.“
„Was soll das denn heißen?“
Julia legte den Kopf schief. „Na, dass du zumindest wirklich weißt, worüber du schreibst, und dir nicht alles nach Bildern aus dem Internet zusammenreimen musst.“
Dennis räusperte sich. „Kathrin, schöne Bilder, bitte! Wenn du die nicht liefern kannst, dann sag früh genug Bescheid.“
„Hallo, was wollt ihr mir heute eigentlich alles anhängen?“ Kathrin riss die Arme hoch und kippte mit ihrem Stuhl wieder nach vorn. „Wollt ihr behaupten, dass ich nicht anständig recherchiere?“
Julia lächelte freundschaftlich. „Aber nein, so war das nicht gemeint. Ich dachte nur, du freust dich, über deine alte Heimat schreiben zu dürfen.“

Die alte Heimat. Am späten Nachmittag saß Kathrin in der S-Bahn und sah die Häuser vorbeiziehen. Seit zehn Jahren lebte sie nun in Hamburg. Sie war im Dörfchen Stein in Holstein aufgewachsen. Dort oben an der Ostsee, in der Probstei im Kreis Plön, wo die kleinen Siedlungen noch zwischen weiten Feldern lagen und es nirgends weit war bis zum Ostseestrand. Es war eine unbeschwerte Kindheit gewesen, das konnte sie nicht bestreiten. Doch spätestens, als die Zeit der weiterführenden Schule gekommen war, rächte sich die abgeschiedene Lage. Zum Gymnasium nach Oldenburg in Holstein musste Kathrin immer lange mit dem Bus fahren. Wenn sie daran zurückdachte, kam es ihr vor, als hätte sie ihre halbe Jugend in einem dieser Busse verbracht. Sie spürte förmlich noch die abgewetzten Sitze, erinnerte sich an jedes Schlagloch, wie oft sie aus dem Fenster gestarrt und, wie jetzt, von der großen weiten Welt geträumt hatte. Sie hatte viele Stunden in einem Campingplatzkiosk gejobbt, um den Führerschein zu finanzieren, und zum achtzehnten Geburtstag einen alten kleinen Fiat von ihrem Großvater bekommen. Opa. Kathrin lächelte liebevoll. Dann hatte sie in Kiel studiert. Kiel, damals für sie fast eine Weltstadt. Natürlich war sie ab und zu nach Hamburg gefahren, um mit Freunden und Kommilitonen Party zu machen. Aber Hamburg war da noch so weit weg und ein eher exklusives Ausflugsziel gewesen. Von Kiel aus war es nicht weit nach Hause gewesen, und Kathrin hatte eigentlich gern zu Hause gelebt. Bei ihrem Großvater in Laboe oder bei ihren Eltern in Stein. Bis sich ein seit Langem nicht mehr spürbarer Dorn schmerzhaft in ihr Herz bohrte. Bis das mit Kai gewesen war. Wie Blitzlichter flammten sofort alle Erinnerungen wieder auf. Sie versuchte, sie einzufangen, zu verscheuchen, wegzusperren, ganz tief in ihre Seele, dorthin, wo die Erinnerungen seit ihrem Fortgang aus Stein geschlummert hatten. Sie fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und bemerkte, dass sie gleich aussteigen musste. Himmel, dass sie das immer noch so aufwühlte! Würde das überhaupt irgendwann einmal aufhören?
Angekommen in ihrer kleinen Dachgeschosswohnung, öffnete sie die Fenster in der Schräge. Draußen war es angenehm warm, der Frühling hatte die Stadt grün gesprenkelt, und überall blühte es bereits üppig. Doch unter dem Dach hatte sich die Wärme zu fast unerträglicher Hitze gestaut. Das waren die Momente, in denen sie sich gelegentlich nach der frischen Ostseeluft sehnte, ohne gleich von dunklen Erinnerungen heimgesucht zu werden. Sie ließ sich aufs Sofa fallen und streckte sich. Natürlich konnte sie über die Ostseebäder Holsteins schreiben. Und die Gegend zwischen Kiel, Laboe und Stein war auch nur ein kleiner Abschnitt der gesamten Küste. Grömitz, Heiligenhafen, Strande und Damp – da fiele ihr schon genug Stoff ein, um Foppe und den Reisebusveranstalter für einige Ausgaben glücklich zu machen. Gerade Laboe war eine schöne Ecke. Kathrin seufzte leise. Hatte sie doch Heimweh? Ihr Leben damals war fast perfekt gewesen. Bei einer großen Kreiszeitung hatte sie einen tollen und sicheren Job gehabt. Zusammen mit Kai hatte sie ihre Zukunft geplant, doch dann hatte er alles zerstört. Kathrin war Hals über Kopf abgehauen. Sie musste damals weg aus ihrem Umfeld, sonst wäre sie womöglich geplatzt vor Wut, Ärger und Scham. Mit zwei Reisetaschen war sie bei ihrer alten Studienfreundin Steffi in Hamburg gelandet und hatte sich für einige Wochen regelrecht verkrochen, bis der schlimmste Schmerz abgeflaut war. Dann hatte sie sich aufgerafft, in Hamburg nach einem Job gesucht und ihre erste kleine Wohnung gefunden. Sie war Journalistin, und der Ehrgeiz, es auch allein zu schaffen und erfolgreich zu werden, hatte sie für einige Jahre beflügelt. Kurzum, sie hatte tierisch hart gearbeitet. Sechs Jahre lang war alles gut gelaufen, sie hatte eine Superstelle in einem Verlag gehabt und für einige Magazine geschrieben. Dann wurde der Verlag an ein größeres Medienunternehmen verkauft, und viele Stellen wurden gestrichen. Auch die von Kathrin. Dass sie damals recht schnell beim Wandsbeker Kurier anfangen konnte, war Glück gewesen, wenngleich sie die Arbeitsstelle eigentlich nur als vorübergehende Lösung angesehen hatte. Aber jetzt, nach vier Jahren, saß sie immer noch dort. Mit ihrem Studium und ihren beruflichen Erfahrungen war sie maßlos überqualifiziert, doch – und das musste sie sich wieder einmal eingestehen – sie mochte die Ruhe und Beständigkeit, die dort herrschten. Die Kollegen waren nett, vom Gehalt konnte sie leben, und jeder Tag verlief in angenehmem Gleichmaß. Die Jahre in dem großen Verlag waren hektischer gewesen und hatten vor allem dazu beigetragen, dass sie vergessen konnte.
Sie erhob sich vom Sofa und betrat die zum Wohnraum hin offene kleine Küche. Sie stellte den Wasserkocher an, nahm ihre große Tasse und hängte einen Teebeutel hinein. Während das Wasser leise zu blubbern begann, besah sie sich ihre Pinnwand neben dem Kühlschrank. Dort hingen unzählige Karten und Einladungen, die sie in den letzten Jahren von ehemaligen Freunden aus Stein, Laboe und Kiel bekommen hatte. Geburtstage, Hochzeiten, Geburten, Taufen … Kathrin sah schnell wieder in ihre Teetasse. Ihr Leben war damals genau an dem Punkt aus den Fugen geraten, wo sie sich diesem Reigen hätte anschließen sollen.
Nachdenklich goss sie heißes Wasser in die Tasse. Dann nahm sie diese mit zum Sofa und setzte sich wieder. Unter der Dachschräge, auf einem kleinen Sideboard, stand das gerahmte Foto von ihrem Großvater und ihr selbst. Ihr wurde ganz warm ums Herz. Es war an ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag aufgenommen worden. Im Garten ihrer Eltern. Ihre Mutter war in Laboe geboren, dann hatte sie ihren Vater geheiratet, der aus Stein stammte. Seitdem führten sie eine kleine Bäckerei und eine Pension mit sechs Ferienzimmern in Stein, welche ihr Vater wiederum von seinen Eltern übernommen hatte. Ihre Eltern hatten immer viel gearbeitet, und so war der Großvater für Kathrin zu einer wichtigen und jederzeit ansprechbaren Bezugsperson geworden. Fast täglich war sie als Kind mit dem Rad von Stein nach Laboe gefahren. Am Campingplatz vorbei, bis hinauf zu der Stelle, wo der kleine Bach Hagener Au in die Ostsee mündete, ganz unromantisch durch ein Betonrohr. Dann ging es weiter am Koffiehuis vorbei, wo im Sommer die Gäste auf der Terrasse saßen, die Strandpromenade entlang, vorbei am Marinedenkmal und dann links ab in Richtung Kurpark. Der Großvater hatte damals noch in seiner alten Fischerkate im Oberdorf gewohnt, in einem urigen Häuschen mit Reetdach, Fachwerkgiebel und kleinen Sprossenfenstern. Dieses Haus hatte im Lauf der Jahrhunderte den Geruch der Ostsee und den der Räucherglut angenommen. Die knarrenden Dielen erzählten alte Seemannsgeschichten, und auf Opas Bett hatten so dicke Daunendecken gelegen, dass sie sich bei jedem Sturm sicher und wohlig aufgehoben gefühlt hatte. Kathrin durchfuhr ein Schauer. Liebevoll und traurig zugleich, denn vor einigen Jahren hatte ihr Großvater die alte Fischerkate verkauft und war in eine praktische, seniorengerechte Wohnung umgezogen. Diese lag weitab vom alten Ortskern, südlich des Friedhofs, dort, wo Laboe sich langsam zum Land hin ausbreitete, wo Discountläden eröffnet worden waren und kaum noch etwas an das alte Seebad erinnerte. Nach wie vor war der Großvater zwar fit und agil, das würde sich aber – so meinte er – sicher irgendwann einmal ändern. Und dann würde die enge, winkelige Kate, an der es immer etwas zu reparieren gab, wohl ungeeignet für ihn werden. Kathrins Eltern hatten dieser Entscheidung einhellig zugestimmt. Kathrin hingegen hatte es tief getroffen, dass die Kate, die für sie immer ein sicherer Zufluchtsort gewesen war, nicht mehr der Familie gehörte.
Kathrin zog ihren Laptop auf dem Tisch zu sich heran und schaltete ihn ein. Wenige Klicks, und sie landete auf der offiziellen Touristikseite von Laboe. Was hätte sie jetzt dafür gegeben, wieder einmal am Strand zu sitzen und die Zehen in den feinen, weichen Sand zu vergraben! Ihre letzten Besuche in der alten Heimat waren immer kurz und voller Hektik gewesen. Hingefahren war sie nur zu Anlässen, die sie nicht absagen konnte. An Weihnachten zu ihren Eltern, zu ganz besonderen Geburtstagen und zur Beerdigung von Nicoles Mutter. Nicole war früher ihre beste Freundin gewesen. Inzwischen telefonierten sie noch ab und an, aber Nicole hatte einen Mann, inzwischen vier Kinder und lebte zusammen mit den Schwiegereltern auf einem großen Milchbauernhof bei Brodersdorf. Außerdem hielt Nicole ihr immer wieder genau das Gleiche vor wie die eigene Mutter. Wärst du nicht davongelaufen, hätte sich vielleicht alles wieder eingerenkt. Kathrin verzog das Gesicht. Ja, ja. Dabei hatte sie doch keine Schuld gehabt! Was hätte sie denn tun sollen? Missmutig nahm sie einen großen Schluck von ihrem Tee und verbrannte sich dabei fast wieder die Zunge. Ihr Blick fiel auf das Bild des Großvaters. Er hatte sie damals verstanden. Sie seufzte noch einmal tief auf. Aber vielleicht wurde es auch wirklich Zeit, sich den alten Schatten zu stellen. Laboe eignete sich wirklich hervorragend, damit würde sie ihre Artikelserie beginnen. Dort kannte sie sich aus, und darüber konnte sie wunderbar schreiben. Und ihr Großvater wäre sicherlich stolz, wenn sie über seinen Heimatort berichtete. Früher hatte er immer alles von ihr gelesen und ihre Artikel gesammelt. Seit sie aber beim Wandsbeker Kurier arbeitete, lohnte sich das kaum noch. Julia hatte recht, sie war eine Schreibtischleiche. Recherchierte nur im Internet, naschte dabei Kekse und Schokolade und versteckte sich hinter ihrem Bildschirm. Sie straffte sich und fühlte eine ganz neue Motivation. Sie würde Foppe so gute Artikel liefern, dass der Reiseunternehmer gar nicht mehr nachkam vor Anfragen.


2 – »Du siehst heute so …

„Du siehst heute so fröhlich aus.“ Julia betrachtete Kathrin über die Schreibtische hinweg.
Kathrin zuckte mit den Achseln. „Alles gut. Es ist nichts anders als gestern.“
„Nicht?“ Julia hob die Brauen. „Warst du weg gestern Abend?“
„Ich?“ Kathrin lachte auf. „O nein! Fernsehen, Tee. Wie immer.“
„Hm.“ Julia wandte sich wieder ihrem Bildschirm zu. „Weißt du schon, wie du das Ostseethema angehen willst?“
„Ich werde mir nach und nach die wichtigsten und schönsten Orte vornehmen. Ist ja nicht so schwierig.“
Julia reckte sich kurz. „Ja, ich könnte auch mal wieder Urlaub gebrauchen. Felix will wieder nach Kroatien. Ich hätte aber Lust auf Italien. Ein bisschen Dolce Vita und so …“
Kathrin nickte nur und schürzte die Lippen. Julia und ihr Freund Felix reisten dauernd an Orte, die Kathrin nur aus dem Internet oder Fernsehen kannte. „Ich bin einfach nicht so der südländische Typ, viel zu warm, wobei … Hier wird es ja auch jeden Sommer heißer, wie ich finde.“ Draußen hatte die Temperatur an diesem Morgen schon wieder ordentlich zugelegt, und Kathrin hatte bereits an der S-Bahn-Station ihre leichte Strickjacke ausgezogen.
„Eben, und deswegen fahren viele gar nicht mehr weiter weg. Hab neulich im Radio gehört, dass die Urlaubsziele in Deutschland, Holland und Dänemark so häufig gebucht werden wie schon lange nicht mehr. Ich hab Felix auch schon Schweden vorgeschlagen, aber alles nördlich der Elbe kommt für ihn als Urlaubsziel einfach nicht infrage.“ Julia ließ sich auf ihrem Bürostuhl nach hinten kippen. „Ach du, da hab ich was Tolles gesehen neulich! Warte mal …“ Sie kippte wieder nach vorn und tippte auf ihrer Tastatur herum. „Ich hab dir den Link geschickt, guck dir den mal an. Ist zwar Nordsee, aber vielleicht inspiriert dich das.“
Kathrin klickte den Link an. Er führte sie zu einem Fernsehbericht. Es ging um Sylt. Kathrin verzog das Gesicht. Sicherlich nur wieder Strandkörbe und Promis, dann stöpselte sie die Kopfhörer in den PC. Heike ertrug es nicht, wenn irgendwelches Tonmaterial durch den Büroraum hallte. Um Heike hinter ihrer Hecke nicht zu belästigen, nutzten alle anderen artig einen Kopfhörer, wenn es darum ging, Medien, Tonträger oder einfach nur Radio zu hören.
Sylt einst und heute … Kathrin sah sich den Beitrag an. Keine Promis, keine Klischees. Kathrin war überrascht. Auf interessante Weise wurde hier dargestellt, wie sich die Insel durch den Tourismus verändert hatte. Mit vielen alten Fotografien und Filmmaterial wurden die Veränderungen verdeutlicht. Sie linste zu Julia hinüber und zeigte ihr einen erhobenen Daumen. Julia lächelte. In der Tat war dies ein spannender Ansatz.
Nach vierzig Minuten Beitrag hatte Kathrin schon einige Ideen, die sie in ihre Artikel einbauen wollte. Gerade in Laboe gab es alteingesessene Hotels und Pensionen, wunderschöne Jugendstilgebäude, über die sicherlich noch altes Bildmaterial vorhanden war. Laboe war einst ein mondänes Seebad gewesen. So etwas interessierte die Leser sicherlich. Fotos aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und dazu moderne Aufnahmen, denn diese Häuser gab es ja noch. Eine Mischung aus Nostalgie und verträumtem, modernem Shabby Chic. Kathrin war hoch motiviert und begann sofort, im Internet zu recherchieren.
„Kaffee?“
„Hm?“
„Kathrin, möchtest du einen Kaffee?“
Kathrin sah auf, es war inzwischen schon nach Mittag. Julia stand in der Tür und musterte sie fragend.
„Ja, wie immer bitte.“ Sie rieb sich die Augen.
Julia kam kurz darauf zurück und lächelte. „Nicht nur, dass deine Laune heute Morgen so gut war, jetzt hast du auch noch stundenlang totenstill an deinem PC gesessen … Das hast du schon lange nicht mehr so konsequent durchgezogen. Muss ich mir Sorgen machen?“ Sie stellte Kathrin die Tasse Kaffee auf den Schreibtisch.
„Danke. Nein, du, das ist wirklich spannend. Ich hab mich damit ja auch noch nie so intensiv befasst, aber viele der alten Hotels in Laboe – dort kenne ich jedes Haus – wurden vor über hundertfünfzig Jahren erbaut. Dazu gibt’s tolle Bilder, und die sehen heute wirklich noch so aus wie damals. Ich hab vieles wiedererkannt. Irgendwie komisch, aber total interessant.“ Kathrin nippte an ihrem heißen Kaffee. „Dennis?“ Sie wandte den Kopf. So versunken, wie sie auf den Bildschirm gestarrt hatte, war sie gar nicht sicher, ob Dennis gerade im Büro war.
„Hm?“ Er hob den Kopf.
„Sag, kann man für einen Artikel alte Bilder mit neuen zusammenfügen? Also zum Beispiel ein Haus von früher und dann, wie es heute aussieht? Nebeneinander, in einem Bild? Eine Seite alt, eine Seite neu?“
„Klar geht das, kein Problem. Du musst nur möglichst passende Abbildungen haben.“
„Inwiefern passend?“ Sie wandte sich in seine Richtung.
„Na, die sollten vom Aufnahmewinkel möglichst identisch sein. Wenn du ein altes Bild hast und das neue danebenlegen willst.“ Er reckte die Arme und schob in der Luft beide Hände aufeinander zu. „Und dann muss das möglichst von der gleichen Stelle aus aufgenommen sein, dann sieht’s am besten aus.“
„Okay … schade.“
„Warum schade?“ Er hob abermals die Hände.
„Weil ich keine jeweils gleichen Bilder habe. Es gibt vielleicht ein altes Foto, aber ein genau passendes neues zu finden, wird sicher schwierig.“ Enttäuscht blickte sie zu Dennis hinüber.
„Dann mach doch einfach selbst Aufnahmen!“ Er hob die Schultern und wandte sich wieder seinem Bildschirm zu.
Julia klatschte in die Hände. „Ja, mach doch einfach selbst Aufnahmen! Recherchereise. Das wäre super.“
Kathrin lachte laut auf. „Ja, klar, Foppe wird sich bedanken.“
Julia schüttelte den Kopf. „Ach was, du kannst doch dort oben günstig unterkommen bei deiner Familie, oder? Also brauchst du kein First-Class-Hotel. Außerdem täte es dir gut, ein paar Tage rauszukommen. Hast du überhaupt schon mal Urlaub genommen, seit du hier bist?“
Hinter Heikes Hecke regte es sich. „Fünf Tage.“
Julia und Kathrin starrten ungläubig auf das Grünzeug.
Dann wandte sich Julia mit mitleidiger Miene wieder an Kathrin. „Da hast du’s. Also, du machst ein paar Tage Urlaub an der Ostsee, schießt die benötigten Fotos, erholst dich so gut wie möglich. Dann kommst du zurück und hast Supermaterial für deinen ersten Artikel.“
Kathrin zog einen Schmollmund. „Meinst du?“
„Und ob ich das meine.“ Nachdrücklich schüttelte Julia den Kopf. „Du bist ein bisschen blass geworden, dauernd müde in letzter Zeit und … nimm es mir nicht übel, aber … du hängst echt ziemlich durch.“
„Danke.“
„Du weißt, wie ich das meine. Nachdem du noch so viel Urlaub ungenutzt auf dem Papier stehen hast … Mensch, nimm ihn doch einfach mal! Das wird Foppe sogar lieber sein, als wenn er ein Honorar abdrücken muss, um einen guten Artikel zu bekommen. Und ein paar Bilder machen, das ist doch ein Klacks.“
„Ich denke drüber nach.“
Julia hob einen Finger. „Denk nicht zu lange nach! Du weißt … Redaktionsschluss!“
„Ja, ja. Da bleibt ja wohl noch genug Zeit.“ Kathrin rollte mit ihrem Stuhl wieder hinter ihren Bildschirm, sodass Julia sie nicht mehr direkt ansehen konnte. Sollte sie das tun? Hing sie wirklich durch? Wahllos klickte sie sich durch weitere Internetseiten. Die Idee mit den Bildern war wirklich gut. Das sah hinterher auf dem Papier sicherlich klasse aus. Aber bei dem Gedanken, nach Laboe zu fahren, krampfte sich ihr Magen zusammen. Andererseits könnte sie ihren Großvater endlich mal wiedersehen. Der würde sich sicher freuen. Und auch ihre Eltern … es waren schon wieder über vier Monate vergangen seit Weihnachten. In dieser Zeit hatte sie nur zweimal mit ihrer Mutter telefoniert … und mit dem Großvater? Das schlechte Gewissen traf sie mit voller Wucht, und sie schluckte schwer. Gar zu heftig verdrängte sie die Sehnsucht nach ihrer Familie, die schließlich nichts dafür konnte. Und denjenigen, den sie mit ihrem Fortgang hatte strafen wollen, dem war es wahrscheinlich total egal. Ihr selbst sollte es inzwischen auch egal sein. Viel zu lange hatte sie an dieser Sache geknabbert. Gedankenverloren blickte sie aus dem Bürofenster. Zehn Jahre waren eine verdammt lange Zeit. Wenn sie nicht den Rest ihres Lebens daran tragen wollte, musste sie sich den Schatten stellen. „Gut“, sagte sie halblaut mehr zu sich selbst als zu ihren Kolleginnen.
„Bitte?“ Julia reckte den Hals und spähte zu Kathrin herüber.
Kathrin stieß sich vom Schreibtisch ab und klatschte in die Hände. „Jetzt reiche ich bei Foppe meinen Urlaub ein. Ihr kommt auch mal zehn oder vierzehn Tage ohne mich aus.“
„Denk an den Redaktionsschluss!“, tönte es hinter Dennis’ Papierstapel hervor.
„Versprochen! Du hast alles rechtzeitig auf dem Tisch. Ich will ja auch nicht wochenlang wegbleiben … und ansonsten kann ich dir alles per Mail schicken.“
Nur Minuten später stand Kathrin vor Foppes Schreibtisch. Der machte ein nachdenkliches Gesicht. „Meinen Sie wirklich, Frau Broecker, dass eine Recherche vor Ort nötig ist?“
„Ja, ansonsten klappt das nicht mit den Fotos. Herr Foppe, die Artikelserie ist doch so wichtig für uns, da will ich mir besondere Mühe geben. Und … es kostet Sie nichts. Ich nehme ein paar Tage Urlaub und erledige die Recherche vor Ort.“
„Na gut, wenn Sie meinen. Eigentlich wäre es nett, Urlaubsgesuche etwas weniger spontan einzureichen.“ Er verzog das Gesicht, als brächte Kathrin gerade sämtliche Arbeitsabläufe durcheinander. „Aber Sie … Sie fahren ja nicht so oft in Urlaub. Da will ich mal nicht so sein.“
Kathrin lächelte artig. „Danke, das ist sehr zuvorkommend von Ihnen.“ In Wirklichkeit fiel es Foppe doch nur bei Redaktionsschluss auf, wenn jemand nicht anwesend war oder wichtige Artikel plötzlich fehlten. Den Rest der Zeit hatte er kaum ein Auge darauf, wer im Büro saß und wer nicht. Und Julia verreiste viermal im Jahr. Da konnte er sich bei Kathrin nun wirklich nicht beschweren.
Triumphierend und ein bisschen stolz auf sich selbst kehrte Kathrin in ihr Büro zurück. „So, Leute, ab morgen bin ich dann mal weg.“
Julia nickte wohlwollend und zeigte ihr einen hochgereckten Daumen. „Super! Das wird dir guttun, glaub es mir.“
Dennis und Heike reagierten nicht. Aber das war Kathrin ziemlich egal.
Am Schreibtisch suchte sie im Internet nach einem Mietwagenanbieter. An der Ostsee wollte sie unbedingt mobil sein. Nachdem sie selbst schon lange kein eigenes Auto mehr hatte, da man in Hamburg mit öffentlichen Verkehrsmitteln schneller und entspannter unterwegs war, bedurfte es eines fahrbaren Untersatzes. Bei den Preisen musste sie allerdings erst einmal schlucken. Dann aber blieb ihr Blick an der Abbildung eines schicken Cabrios hängen. Kurz blinzelte sie nach draußen, wo die Sonne vom Himmel strahlte. Eigentlich musste sie nicht geizen. Sie hatte in den letzten Jahren so gut wie keine Sonderausgaben gehabt. Ihr Sparkonto war gut gefüllt. Ohne weiter nachzudenken, klickte sie auf den Reservieren-Button des Cabrios, erschrak erst selbst über ihre Spontaneität, musste dann aber lächeln. Sie sollte sich auch mal was gönnen. Zufrieden füllte sie das Reservierungsformular aus, drückte auf Abschicken und lehnte sich zurück. Am nächsten Tag um diese Zeit würde sie also schon mit einem schnieken Wagen in Richtung Ostsee fahren.
Am Abend war Kathrins erste Euphorie schon wieder verflogen. Sollte sie den Eltern ihr Kommen ankündigen? Sollte sie bei ihnen schlafen oder sich irgendwo ein Zimmer nehmen? Opas Couch belagern? „Mein Gott, Kathrin!“, schimpfte sie laut mit sich selbst, als sie auf dem Sofa saß und ihre Gedanken hektisch hin und her hüpften. „Du fährst nach Hause! Das ist keine Amazonasexpedition. Tasche packen und gut!“ Sie herrschte sich an, sich lieber auf die Arbeit zu konzentrieren, denn die war schließlich der beste Vorwand und auch die offizielle Version, warum sie endlich wieder länger als einen Tag in Laboe und Stein verbringen würde. Von ihrer ganz persönlichen, heimlichen Therapie gegen die alten Schatten musste ja keiner erfahren.
Auf ihrem Laptop rief sie nochmals eine Suchmaschine auf und gab einige Schlagwörter ein, mit denen sie am Vormittag im Büro schon auf alte Fotografien gestoßen war. Laboe historisch, Hotel, Haus. Sofort gab es unter den Ergebnissen mehrere Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Kathrin betrachtete sie. Manche Bilder stammten gar nicht aus Laboe, zumindest erkannte sie die Häuser nicht. Mit den Jahrzehnten war natürlich auch in Laboe vieles abgerissen und neu gebaut worden. Andere Gebäude wiederum waren ihr auf Anhieb vertraut. Die Pension Sonnenblick befand sich seit vielen Generationen in Familienhand. Dann alte Höfe aus dem historischen Oberdorf, die es noch immer gab. Kurz hielt sie inne, als sie auf einem Bild sogar einen Teil des Giebels der alten Fischerkate ihres Großvaters erkannte. Sie seufzte. Es war so schade, dass ihr Großvater das Häuschen aufgegeben hatte! Rasch konzentrierte sie sich wieder auf die anderen Bilder. Sie fand drei sehr gute Fotografien von Jugendstilgebäuden an der Strandpromenade. Die wären schon mal ideal für ihr Vorhaben. Sie musste sich aber unbedingt auch nach den Rechten an den Bildern erkundigen. Einfach kopieren und abdrucken durfte man sie schließlich nicht so einfach. Da war Dennis im Zweifelsfall der Spezialist. Zur Sicherheit speicherte sie die Bilder und die dazugehörigen Webseiten auf ihrem Laptop. Darum konnte sie sich auch noch während der Tage kümmern, wenn sie vor Ort war.
Mit einer immer stärker werdenden Sehnsucht betrachtete sie die Bilder des Strands und aktuelle Aufnahmen von Laboe, welche sich unter die alten Bilder mischten. Am nächsten Abend wäre sie wieder dort. Dann kam eine ganze Reihe alter Aufnahmen. Teils zeigten sie den Hafen und das Marinedenkmal, aber dann gab es auch wieder Bilder der alten Strandpromenade mit der Lesehalle dahinter. Schließlich erschienen Fotos des Kurgartens, der auch schon lange existierte. Bilder eines großen Hauses, welches einst wohl am Ende der Promenade gestanden hatte, erweckten ihre Neugier. Dieses Haus gab es definitiv nicht mehr. Sie beugte sich vor, um die Einzelheiten besser sehen zu können. Sie wusste, welche Häuser dort derzeit zu sehen waren. Dass dort aber früher ein großes Hotel gestanden hatte, davon hatte sie noch nie gehört. Die Bilder waren alt, sehr alt. Kathrin besah sich die Quelle. Sie stammte vom örtlichen Heimatverein, der wohl mit den Jahren viel historisches Material gesammelt hatte. Eine gute Quelle. Neben den Bildern dieses einen Hotels gab es weitere, auf denen Menschen zu sehen waren. Das Haus hatte über eine große Terrasse verfügt, auf der früher wohl rauschende Feste gefeiert worden waren. Amüsiert begutachtete sie die abgebildeten Personen. Männer mit langen Bärten und hohen Zylindern auf dem Kopf, alle mit Jackett und Weste bekleidet. Sogar die jungen Männer stützten sich stolz auf ihre Gehstöcke. Frauen in wunderlich kurzen Kleidern entstiegen alten, damals sicherlich hochmodernen Autos. Aufgrund des Haarschmucks, der Hüte und der Troddeln an den Damenkleidern schätzte Kathrin, dass die Aufnahmen wohl aus den Zwanzigerjahren stammten. Das musste eine wilde Zeit gewesen sein, und unwillkürlich musste sie lächeln. Plötzlich stockte sie. Auf einem der Bilder waren zwei Männer und zwei Frauen zu sehen. Ebenfalls festlich gekleidet und mit jeweils einem Champagnerglas in der Hand. Im Hintergrund war wieder die Fassade des inzwischen verschwundenen Hauses zu erkennen. Etwas am Dekolleté der einen Frau machte Kathrin stutzig. Daraufhin versuchte sie, das Bild größer zu zoomen, doch leider wurde es dadurch total unscharf. Verwundert kniff sie die Augen zusammen. Sie konnte sich irren, aber … Unvermittelt stand sie auf und eilte in ihr Schlafzimmer. Dort öffnete sie den Kleiderschrank und kniete davor nieder. Irgendwo zwischen ihren Schuhkartons, die sich dort stapelten, stand ihre alte Kiste. So achtlos, dass mehrere Schachteln umkippten und die Schuhe auf den Boden fielen, schob sie alles beiseite. Sie musste fast ganz in den Schrank hineinkriechen, um das Gesuchte zu erreichen. Vorsichtig zog sie die kleine Holzkiste hervor und wischte mit der Hand den Staub von der Oberfläche. Zum Vorschein kam das Bild eines Segelschiffs. Die Kiste hatte sie einst von ihrem Großvater bekommen. In ihren Jugendjahren war alles darin gelandet, was ihr wichtig erschienen war. Tagebücher, Freundschaftsbändchen, auch der eine oder andere holperige Liebesbrief aus Teenagerzeiten. Kurz musste sie überlegen, ob auch etwas aus späteren Jahren darin versteckt war. Aber soweit sie sich erinnerte, hatte sie nach dem Abi kaum noch etwas darin verstaut. Also bestand wohl keine Gefahr, dass aus dem schwelenden Funken in ihrer Seele ein Flächenbrand wurde. Vorsichtig öffnete sie den Deckel. Wie kleine bunte Schmetterlinge flogen sofort die längst vergessenen Erinnerungen daraus hervor. Hingebungsvoll vergrub sie die Finger in den vielen kleinen Schätzen. Doch sie suchte etwas Besonderes. Ganz unten musste es liegen, denn sie hatte es sehr früh bekommen. Zaghaft tastete sie zwischen den Briefen und dem Kleinkram herum. Dann fühlte sie das Bändchen. Entschlossen zog sie daran. Da war er! Am Ende des Bändchens, das genau genommen eine Kette war, baumelte ein Anhänger. Im ersten Augenblick wirkte er dunkel. Als ihn aber ein Lichtstrahl der Abendsonne traf, der gerade in Kathrins Schlafzimmer schien, blitzte er goldgelb auf. Vor Freude wurde ihr ganz warm ums Herz. Sie hatte völlig vergessen, wie schön er war und wie geheimnisvoll er funkelte. Zaghaft legte sie den Anhänger auf die Handfläche, stand auf und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Dort setzte sie sich aufs Sofa und wog den Anhänger vorsichtig in den Händen. Er war nicht groß, etwa wie eine Zweieuromünze, und hatte die Form einer Sonne mit kurzen Strahlen. Einer der Strahlen hatte ein Löchlein, durch das die Kette gefädelt worden war. Es war Bernstein. Die Sonne der Ostsee! Das waren die Worte ihres Großvaters gewesen, als er ihr den Anhänger damals überreicht hatte. Bewahr ihn gut auf! Er hat einst deiner Großmutter gehört. Wo immer du bist, Kati, wenn du ihn ansiehst, wirst du das Licht unseres Strands sehen, die Wärme der Sonne spüren und die Liebe empfinden, die ihm innewohnt.
Kathrin wischte sich eine Träne von der Wange. Es war genau so, wie ihr Großvater gesagt hatte. Jetzt, da sie den Anhänger betrachtete, zeigte sich alles wieder mit höchster Klarheit. Das goldene Funkeln glich der Sonne, wenn sie sich in der Dämmerung am Horizont verabschiedete. Liebevoll strich Kathrin mit dem Finger über das warme Material.
Doch sie hatte sich aus einem anderen Grund gerade an diesen Anhänger erinnert. Mit einer Hand hielt sie den Bernstein fest, mit der anderen zog sie ihren Laptop dichter zu sich heran. Ihr Blick schweifte zwischen Hand und Bildschirm hin und her. Täuschte sie sich? Vorsichtig nahm sie den Anhänger zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt ihn vor den Bildschirm. Die alte Fotografie war nicht sonderlich scharf, aber die Frau auf dem Bild trug ein helles Kleid, und auf ihrem Dekolleté – Kathrin schürzte die Lippen – prangte genau der gleiche Anhänger. Die sonnenähnliche Form zeichnete sich trotz der schlechten Bildqualität deutlich auf dem hellen Stoff ab.
Kathrin lehnte sich zurück und betrachtete ihren Anhänger, dann wieder die Frau im hellen Kleid. Die Abgebildete war ihr nicht bekannt. Konzentriert suchte sie nach Ähnlichkeiten, die ihr vielleicht ins Auge stachen. Ihre Großmutter war es auf jeden Fall nicht. Die kannte sie leider nur von Bildern und aus Erzählungen, aber sie war wohl eine untersetzte kleine Frau mit dunklem Haar gewesen. Die Frau auf dem Bild war schlank und hochgewachsen, elegant sah sie aus, und sie hatte eindeutig helles Haar. Kathrin ballte die Hand mit dem Anhänger zur Faust. Das konnte kein Zufall sein. Dieser Anhänger war zur damaligen Zeit sicherlich kein Massenprodukt gewesen. Sie wusste, dass das Erinnerungsstück ihrem Großvater sehr wichtig gewesen war, und spürte förmlich, wie der Bernstein in ihrer Hand immer wärmer wurde und aufgeregt zu vibrieren schien. Wer war die Frau auf dem Bild, und warum trug sie genau diesen Anhänger?

Anna Gerding

Über Anna Gerding

Biografie

Anna Gerding wurde 1977 in Norddeutschland geboren. Nach einigen Jahren in Hamburg zog es sie wieder zurück auf das Land. Gemeinsam mit ihrem Mann lebt sie dort heute in einem alten Fachwerkhaus, umgeben von Feldern und Wiesen. Ihre Leidenschaft gehört dem Schreiben, dem Reisen und ihren Tieren.

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