Die Bibliothekarin von Auschwitz Die Bibliothekarin von Auschwitz - eBook-Ausgabe
Roman nach einer wahren Geschichte
— Eine ergreifende Geschichte über die Magie der BücherDie Bibliothekarin von Auschwitz — Inhalt
Ein Ort des Schreckens. Acht Bücher, die alles ändern.
Im alles verschlingenden Morast des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau hat der Blockälteste Fredy Hirsch heimlich eine Schule aufgebaut. Ihr wertvollster Besitz sind acht alte, zerfallene Bücher. Fredy ernennt die 14-jährige Dita zur Bibliothekarin, sie soll die verbotenen Bände künftig verstecken und schützen. Dita, die schon früher Trost in Büchern gefunden hat, kümmert sich mit äußerster Hingabe um „ihre“ kleine Bibliothek. Und die Bücher geben zurück: Sie schenken Licht, wo nur noch Dunkelheit zu sein scheint, und bieten einen Anker, wo der Schmerz zu übermannen droht. Die Bücher begleiten Dita und die anderen Häftlinge durch die Zeiten der größten Verzweiflung, bis wieder ein neuer Hoffnungsschimmer zu erkennen ist.
Eine ergreifende Auschwitz-Geschichte über die Magie der Bücher, erzählt nach einer wahren Begebenheit.
Diese erweiterte Taschenbuchausgabe enthält ein exklusives Nachwort des Autors zu den Geschehnissen seit Veröffentlichung des Buches sowie über seine Treffen mit der Auschwitz-Überlebenenden Dita Kraus.
Die Presse über „Die Bibliothekarin von Auschwitz“:
- „Mitreißend und ergreifend.“ El Cultural
- „Ein vielschichtiges, rührendes und bewegendes Buch. Eine großartige Entdeckung.“ Sergio Vila-Sanjuán
- „Mit viel Fingerspitzengefühl, aber gnadenloser Ehrlichkeit erzählt Iturbe die Geschichte über das Familienlager und dessen Insassen.“ belletristik-couch.de
- „Ein unvergesslicher, herzzerreißender Roman.“ Publishers Weekly
- „Iturbe ist ein bewegendes Stück Literatur gelungen, das zu überzeugen weiß.“ histo-couch.de
Antonio Iturbe wuchs in Barcelona auf und arbeitete als Kulturjournalist für El Periódico und El País. In seinem international gefeierten Roman erzählt er die Geschichte der Holocaust-Überlebenden Dita Kraus, mit der er zahlreiche Interviews führte.
Leseprobe zu „Die Bibliothekarin von Auschwitz“
Kapitel 1
Auschwitz-Birkenau, Januar 1944
Die Offiziere tragen Schwarz. Sie begegnen dem Tod mit der Gleichgültigkeit von Totengräbern, und sie haben keine Ahnung, dass Alfred Hirsch über diesem alles verschlingenden Morast eine Schule gegründet hat. Sie wissen es nicht, und sie dürfen es nicht wissen. In Auschwitz gilt ein Menschenleben weniger als nichts, so wenig, dass man die Leute nicht einmal erschießt, denn Kugeln sind wertvoller als Menschen. In Auschwitz hat man Gemeinschaftsräume, in die Zyklon-B geleitet wird, weil das kostengünstig ist und man [...]
Kapitel 1
Auschwitz-Birkenau, Januar 1944
Die Offiziere tragen Schwarz. Sie begegnen dem Tod mit der Gleichgültigkeit von Totengräbern, und sie haben keine Ahnung, dass Alfred Hirsch über diesem alles verschlingenden Morast eine Schule gegründet hat. Sie wissen es nicht, und sie dürfen es nicht wissen. In Auschwitz gilt ein Menschenleben weniger als nichts, so wenig, dass man die Leute nicht einmal erschießt, denn Kugeln sind wertvoller als Menschen. In Auschwitz hat man Gemeinschaftsräume, in die Zyklon-B geleitet wird, weil das kostengünstig ist und man mit einem einzigen Kanister davon mehrere Hundert Menschen töten kann. Der Tod ist hier zu einer Industrie geworden, die sich nur auszahlt, wenn man sie im großen Maßstab betreibt.
Die Klassenzimmer in dem Bretterverschlag bestehen nur aus einer Ansammlung von Schemeln. Es gibt keine Wände, auch die Tafeln sind unsichtbar, und die Lehrer malen mit ihren Händen gleichschenklige Dreiecke in die Luft, Zirkumflexe und sogar den Verlauf der Flüsse Europas. Etwa zwanzig Grüppchen von Kindern werden hier unterrichtet, jedes von einem eigenen Lehrer. Die einzelnen Gruppen haben so wenig Abstand voneinander, dass die Lehrer flüsternd unterrichten müssen, damit die Erzählung von den zehn ägyptischen Plagen nicht mit dem Rhythmus des Einmaleins durcheinandergerät.
Viele hielten das hier für unmöglich, in ihren Augen war Hirsch ein Verrückter. Wie sollte man Kinder in einem grausamen Vernichtungslager unterrichten, in dem alles verboten war? Aber Hirsch lächelte nur das für ihn so typische, rätselhafte Lächeln, so, als wüsste er etwas, das den anderen verborgen war. Es spielt keine Rolle, wie viele Schulen die Nazis schließen, pflegte er zu antworten. Wann immer jemand in einer Ecke steht und etwas erzählt und dabei ein paar Kinder um ihn herumstehen und ihm zuhören, ist dort eine Schule gegründet worden.
Die Tür zur Baracke fliegt auf, und Jakopek, der Aufpasser, läuft zur Kammer des Blockältesten Hirsch. Seine Holzschuhe hinterlassen eine Spur feuchter Lagererde, und die angenehme Sicherheit in Block 31 ist dahin. Von ihrer Ecke aus starrt Dita Adlerova wie hypnotisiert auf die Erdbröckchen. Sie wirken so unbedeutend, aber sie verunreinigen den Boden genauso, wie ein einziger Tropfen Tinte eine Schüssel Milch ruiniert.
„Sechs, sechs, sechs!“
Es ist das Signal, dass die SS im Anmarsch ist, und ein Raunen geht durch die Baracke. In dieser Vernichtungsmaschinerie namens Auschwitz-Birkenau, wo die Öfen Tag und Nacht Leichen verbrennen, ist Block 31 untypisch, eine Anomalie sogar. Er ist ein Triumph für Fredy Hirsch, der früher einmal als Sportler Kinder trainiert hat und jetzt in Auschwitz einen Hindernislauf gegen die größte Todesfalle der Menschheitsgeschichte absolviert. Er konnte die deutsche Lagerleitung davon überzeugen, dass die Eltern im Lager BIIb besser arbeiten können, wenn man die Kinder in einer Hilfsbaracke unterbringt. Der Abschnitt BIIb heißt auch „Familienlager“, weil Kinder im restlichen Lager so selten wie Vögel sind. In Auschwitz gibt es keine Vögel; sie gehen an den Elektrozäunen zugrunde.
Die Lagerleitung hat dem Bau einer Kinderbaracke zugestimmt, möglicherweise war es auch von Anfang an so geplant. Die Bedingung war, dass nur spielerische Aktivitäten stattfinden; alles Schulische ist ausdrücklich verboten.
Hirsch, der Blockälteste, steckt den Kopf aus der Tür seiner Kammer. Er muss kein Wort sagen, weder zu seinen Gehilfen noch zu den Lehrern, die alle zu ihm hinsehen. Sein Nicken ist kaum wahrnehmbar. Sein Blick ist ein Befehl. Er tut stets das, was nötig ist, und erwartet das Gleiche von allen anderen.
Der Unterricht ist vorbei, banale deutsche Kinderlieder, Spiele und Rätsel ersetzen ihn, damit es so aussieht, als hätte alles seine Ordnung, wenn die arischen Wölfe hier auftauchen. Normalerweise betritt die aus ein paar SS-Männern bestehende Patrouille zwar die Baracke, bleibt jedoch am Eingang stehen und sieht den Kindern zu. Manchmal klatschen die Männer Beifall zu einem Lied oder tätscheln einem kleinen Kind den Kopf. Anschließend setzen sie ihre Runde fort.
Aber Jakopek fügt dem üblichen Alarm noch etwas hinzu: „Inspektion! Inspektion!“
Inspektionen sind etwas völlig anderes. Man muss sich aufstellen, es gibt Durchsuchungen, manchmal werden die Kleinsten ausgefragt, in der Hoffnung, dass sie durch ihre Naivität etwas verraten. Bisher ohne Erfolg. Die Kleinsten begreifen mehr, als man denken würde.
„Der Priester!“, flüstert jemand, und ängstliches Gemurmel geht durch die Baracke. „Der Priester“ ist ein Unteroffizier der SS, ein Oberscharführer, der im Gehen die Hände immer in die Ärmelaufschläge seiner Uniformjacke steckt wie ein Geistlicher, auch wenn er nach allem, was man weiß, nur der Religion der Grausamkeit huldigt.
„Los, los, los! Juda, sag ›Ich sehe was, was du nicht siehst …‹!“
„Und was soll ich sehen, Herr Stein?“
„Einfach irgendetwas, Kleiner, ganz egal was!“
Zwei Lehrer heben verängstigt die Köpfe. Sie halten etwas in ihren Händen, das in Auschwitz streng verboten ist und das, wenn man es bei ihnen fände, einem Todesurteil gleichkäme. Mit diesen Gegenständen, die so gefährlich sind, dass ihr Besitz die Höchststrafe nach sich zieht, kann man nicht schießen und genauso wenig hauen, stechen oder schneiden. Was die erbarmungslosen Wachen des Reichs so sehr fürchten, sind nur Bücher – so alt, dass ihr Einband sich schon auflöst, zerfleddert und ramponiert, wie er ist. Aber die Nazis sind hinter ihnen her, sie jagen und verbieten sie obsessiv. In der Geschichte der Menschheit war dieses Merkmal allen Diktatoren, Tyrannen und Unterdrückern gemeinsam, ob sie nun arischer, afrikanischer asiatischer, arabischer, slawischer oder sonstiger Herkunft waren. Ob sie für die Volksrevolution, die Privilegien der herrschenden Klasse, für das Wort Gottes oder die militärische Ordnung kämpften und ganz gleich, welche Ideologie sie vertraten, in diesem Punkt waren sie alle gleich: Immer kämpften sie erbittert gegen das geschriebene Wort. Bücher sind gefährlich, weil sie Menschen zum Denken bringen.
Die einzelnen Gruppen haben ihre Plätze eingenommen, sie singen und spielen und warten auf die Wachen, aber ein Mädchen stört die Harmonie des beschaulichen Zeitvertreibs und rennt wild durch die Kreise aus Schemeln.
„Setz dich hin! Was soll das? Bist du übergeschnappt?“, schreien die anderen sie an. Ein Lehrer will sie am Arm festhalten, aber sie reißt sich los und läuft weiter, anstatt still zu sitzen und keinen Verdacht zu erregen. Dabei wirft sie einen Schemel um, und das Poltern bringt für einen Augenblick alle Aktivitäten zum Erliegen.
„Verflixte Göre! Du wirst uns noch alle verraten!“, schreit Frau Krizková sie an, rot vor Wut. Die Kinder nennen sie unter sich den „Truthahn“. Natürlich weiß sie nicht, dass sich eben das Mädchen, das sie gerade ankeift, diesen Spitznamen ausgedacht hat. „Setz dich zu den anderen Gehilfen, du dummes Ding!“
Aber das Mädchen bleibt nicht stehen, es rennt weiter, ohne auf die bösen Blicke zu achten, die schmächtigen Beine in den gestreiften Kniestrümpfen fliegen durch den Raum. Viele Kinder beobachten sie fasziniert. Sie ist sehr dünn, ohne schwächlich zu sein, und hat halblanges, braunes Haar, das von einer Seite zur anderen fliegt, während sie im Slalom durch die Gruppen läuft. Dita Adlerova bewegt sich inmitten von mehreren Hundert Menschen, aber sie läuft allein. Im Zickzacklauf gelangt sie in die Mitte der Baracke und drängt sich in eine Gruppe.
Verblüfft sieht die Lehrerin aus Brünn, wie die junge, keuchende Bibliothekarin vor ihr stehen bleibt. Dita, die weder Zeit noch Luft genug hat, um etwas zu sagen, reißt ihr das Buch aus der Hand, und die Lehrerin ist unvermittelt erleichtert. Als sie sich einen Moment später bedanken will, ist Dita schon ein paar Schritte weiter. Nur noch ein paar Sekunden, dann werden die Nazis da sein.
Ingenieur Maródi, der das Manöver mitbekommen hat, passt sie am Rand seiner Gruppe ab. Während sie weiterläuft, übergibt er ihr das Algebrabuch, als wäre es der Stab in einem Staffellauf. Dita flitzt zu den Gehilfen, die im hinteren Teil der Baracke so tun, als würden sie den Boden fegen. Noch im Lauf registriert sie, wie das Gemurmel in den Gruppen leiser wird, es flackert wie eine Kerzenflamme, wenn das Fenster geöffnet wird. Sie muss sich nicht umdrehen – sie weiß, dass die Tür aufgegangen ist und die SS-Wachen da sind. Sofort lässt sie sich zu Boden fallen, inmitten einer Gruppe elfjähriger Mädchen. Sie schiebt die Bücher unter ihren Kittel und verschränkt die Arme über der Brust, damit sie nicht herunterfallen. Die Mädchen beobachten sie aus dem Augenwinkel, während die Lehrerin ihnen hektisch zunickt, damit sie weitersingen. Dann sind die SS-Leute da. Ein paar Sekunden nehmen sie alles in Augenschein, dann brüllen sie eines ihrer Lieblingswörter: „Achtung!“
Es wird totenstill. Der Singsang und das „Ich sehe was, was du nicht siehst“ brechen ab. Niemand rührt sich. Aber inmitten der Stille hört man, wie jemand deutlich erkennbar die Fünfte Sinfonie von Beethoven pfeift. Der Priester ist ein Furcht einflößender Unteroffizier, aber selbst er wirkt nervös, denn heute wird er von einem noch unheimlicheren Mann begleitet.
„Gott steh uns bei“, hört Dita die Lehrerin flüstern.
Ditas Mutter hatte vor dem Krieg ein Klavier, weshalb sie Beethoven sofort erkennt. Diese Sinfonie hat sie schon einmal jemanden auf diese ganz eigene und präzise Art eines Musikliebhabers pfeifen hören, wird ihr klar. Es war nach dem dreitägigen Transport, eingepfercht in einem verriegelten Güterwaggon, ohne Essen, ohne Wasser, aus dem Getto Theresienstadt, wohin sie von Prag aus deportiert worden war und wo sie mit ihrer Familie ein Jahr lang gelebt hatte. Es war Nacht, als sie in Auschwitz-Birkenau ankamen. Niemals wird sie das metallische Scheppern vergessen, mit dem das Tor sich öffnete. Niemals den ersten Atemzug frischer, kühler Luft, in der es nach verkohltem Fleisch roch. Niemals das gleißende Licht in der Nacht – die Endstation war so hell erleuchtet wie ein Operationssaal. Dann die Befehle, die Gewehrkolben, die gegen die Beschläge der Waggons donnerten, die Schüsse, die Pfiffe, die Schreie. Und inmitten von all dem Chaos diese Sinfonie von Beethoven, gelassen und fehlerlos gepfiffen von einem Hauptsturmführer, den die eigenen SS-Männer fürchteten.
An jenem Tag kam der Offizier ganz nah an Dita vorbei, und sie sah seine tadellose Uniform, die makellosen weißen Handschuhe und das Eiserne Kreuz an seiner Uniformjacke, eine Medaille, die man im Kampf erwarb. Vor einer Gruppe von Müttern mit ihren Kindern blieb er stehen und tätschelte einem der Kleinsten mit der behandschuhten Hand den Kopf. Er lächelte sogar. Er zeigte auf zwei Zwillingsbrüder, und ein Gefreiter beeilte sich, sie aus der Schlange herauszuholen. Die Mutter hielt den Soldaten am Saum seiner Uniformjacke fest, sie sank auf die Knie und flehte ihn an, die Jungen zu verschonen. Der Lagerarzt ging gelassen dazwischen. „Nirgends wird man sie so behandeln, wie Onkel Josef das tun wird.“
Und in gewisser Weise sollte er recht behalten. Niemand in Auschwitz krümmte den Zwillingen, die Dr. Josef Mengele sich für seine Experimente aussuchte, ein Haar. Niemand hätte sie je so behandelt wie er in seinen makabren genetischen Experimenten, die klären sollten, wie deutsche Frauen Zwillinge bekommen konnten, um die arische Geburtenrate zu steigern. Dita erinnert sich, wie Mengele davonging, die Jungen an der Hand, wobei er unaufhörlich zufrieden weiterpfiff. Dieselbe Melodie, die jetzt in Block 31 erklingt.
Mengele …
Die Tür zur Kammer des Blockältesten öffnet sich mit einem leisen Quietschen, und Hirsch kommt aus seinem winzigen Verschlag, wobei er sich freundlich überrascht über den Besuch der SS gibt. Er begrüßt den Offizier, indem er laut die Hacken zusammenknallt; es ist eine förmliche Respektsbezeugung vor dem militärischen Dienstgrad, aber auch eine Möglichkeit, sich kämpferisch zu geben anstatt unterwürfig oder feige. Mengele würdigt ihn kaum eines Blicks, er pfeift immer noch, gedankenverloren und die Hände auf dem Rücken verschränkt, als ginge ihn das alles nichts an. Der Oberscharführer mustert die Baracke mit seinen beinahe durchsichtigen Augen, die Hände immer noch in den Ärmelaufschlägen seiner Uniformjacke, die vor seinem Leib, unweit seines Pistolenholsters, herabhängen.
Jakopek hat sich nicht geirrt. „Inspektion“, raunt der Priester. Die SS-Männer, die ihn begleiten, wiederholen den Befehl und verstärken ihn, bis er zu einem Schrei wird, der den Gefangenen in den Ohren gellt. Dita, die inmitten der Mädchen kauert, beginnt zu zittern, sie presst die Arme an den Leib und hört, wie die Bücher über ihren Rippen knistern. Wenn man die Bücher bei ihr findet, ist alles aus.
„Es wäre nicht gerecht …“, murmelt sie. Sie ist doch erst vierzehn und hat das Leben noch vor sich, alles liegt noch vor ihr. Dita fällt das ein, was ihre Mutter seit Jahren monoton wiederholt, wenn sie wegen ihres Schicksals jammert: „Es ist der Krieg, Edita … es ist der Krieg.“
Sie ist so jung, dass sie sich kaum noch erinnern kann, wie die Welt vor dem Krieg war. Genauso, wie sie die Bücher unter ihrem Kleid verbirgt, an diesem Ort, an dem man ihr alles genommen hat, bewahrt sie in ihrem Kopf auch ein Album mit Erinnerungen auf. Sie macht die Augen zu und beschwört eine Welt herauf, in der es noch keine Angst gab.
Sie sieht sich selbst als Neunjährige, Anfang 1939, vor der astronomischen Uhr auf dem Rathausplatz in Prag. Ein wenig verstohlen betrachtet sie das alte Skelett, das über die Dächer der Stadt wacht, mit seinen riesigen, leeren Augenhöhlen, die aussehen wie schwarze Fäuste.
In der Schule hat sie gelernt, dass die große Uhr ein harmloser Mechanismus ist, den Meister Hanus vor mehr als fünfhundert Jahren ersonnen hat. Trotzdem flößt ihr die Legende Angst ein, die von den alten Frauen erzählt wird. Ihr zufolge beauftragte der König Hanus mit dem Bau der astronomischen Uhr. Nach der Fertigstellung befahl er seinen Handlangern, Hanus zu blenden, damit dieser nie mehr ein ähnliches Wunderwerk für einen anderen Monarchen erschaffen konnte. Um sich zu rächen, steckte der Uhrmacher die Hand in das Uhrwerk und machte es auf diese Weise unbrauchbar. Als die Zahnräder sich verhakten, blieb die Uhr stehen und konnte jahrelang nicht mehr repariert werden. Manchmal träumt Dita nachts von der amputierten Hand, die sich durch die Zahnräder schiebt.
Das Skelett läutet ein Glöckchen, und das mechanische Schauspiel beginnt: eine Figurenparade, die die Bürger daran erinnern soll, wie dicht die Minuten aufeinanderfolgen und die Stunden sich drängen. Doch jetzt, da die Angst sie im Griff hat, wird Dita klar, dass ein neunjähriges Mädchen für so etwas noch keinen Sinn hat. Für ein Kind ist die Zeit noch träge und, wenn sie nicht vergehen will, ein regloses, zähes Meer. In diesem Alter erschrecken einen Uhren bloß, wenn neben dem Zifferblatt ein Skelett steht.
Dita umklammert die alten Bücher, die sie in die Gaskammer bringen könnten, und erinnert sich wehmütig an das glückliche Kind, das sie einmal war. Wenn sie mit ihrer Mutter in die Stadt ging, war sie immer gern vor der astronomischen Uhr am Altstädter Ring stehen geblieben, aber nicht wegen des mechanischen Schauspiels, sondern um verstohlen die hingerissenen Zuschauer zu beobachten, viele von ihnen Ausländer und nur vorübergehend in der Hauptstadt, die gespannt auf die Figuren warteten. Beim Anblick der ergriffenen Gesichter und des einfältigen Lächelns der Leute konnte Dita sich kaum das Lachen verbeißen. Anschließend gab sie ihnen dann immer Spitznamen. Mit einem Anflug von Wehmut erinnert sie sich, dass das eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen war: allem und jedem Spitznamen zu geben, vor allem den Nachbarn und Freunden ihrer Eltern. Sie weiß noch gut, wie sie immer ein Stück hinter der Straßenbahn herrannte, die läutete, wenn sie um den Altstädter Ring herumfuhr und in Schlangenlinien in der Josephstadt verschwand, und wie Dita anschließend zum Laden von Herrn Ornest lief, wo ihre Mutter Stoff zu kaufen pflegte, aus dem sie für Dita Mäntel und Röcke für den Winter schneiderte. Sie weiß noch gut, wie sehr sie dieses Geschäft geliebt hat, mit der Leuchtreklame über der Tür, bei der die bunten Lämpchen der Reihe nach angingen und erloschen, bis das Ganze, am Ende angelangt, wieder von Neuem begann.
Wäre sie damals kein Kind gewesen, mit dem Schutzschild der kindlichen Unbefangenheit, dann wäre ihr vielleicht die lange Schlange vor dem Stand des Zeitungsverkäufers aufgefallen und auf dem Titelblatt der aufgestapelten Lidové noviny die reißerische Schlagzeile, in vier Spalten und in riesigen Lettern: „Die Regierung stimmt dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Prag zu.“
Dita öffnet kurz die Augen und sieht, wie die SS den hinteren Teil der Baracke durchsucht. Sie heben sogar die Zeichnungen an, die mit Drahtspitzen an den Wänden befestigt sind, um nachzusehen, ob darunter etwas versteckt ist. Kein Wort fällt, und die Geräusche von der Durchsuchung durch die Wachen sind deutlich zu hören in dieser Baracke, die nach Schimmel und Feuchtigkeit riecht. Und nach Angst. Es ist der Gestank des Krieges. Dita hat nur wenige Erinnerungen an ihre Kindheit, aber sie weiß noch gut, dass der Frieden nach der dicken Hühnersuppe roch, die jeden Freitagabend auf dem Herd köchelte. Wie hätte sie außerdem den Geschmack von durchgebratenem Lammfleisch vergessen können, oder den Geschmack von Eiernudeln und Nüssen? Die langen Tage in der Schule und die Nachmittage, an denen sie Himmel und Hölle und Verstecken spielte, mit Margit und anderen Schulfreundinnen, die in ihrer Erinnerung miteinander verschmelzen … bis zum Beginn des schleichenden Niedergangs.
Die Veränderungen kamen nicht schlagartig, sie vollzogen sich langsam. Aber einen Tag gab es, als sich Ditas Kindheit hinter ihr schloss wie die Höhle von Ali Baba. An jenen Tag kann sie sich noch gut erinnern. Das Datum weiß sie nicht mehr, aber es war der 15. März 1939.
Prag bebte bei Tagesanbruch. Die kristallenen Tropfen der Wohnzimmerlampe vibrierten, aber Dita wusste, dass es kein Erdbeben war, weil niemand herumrannte oder in Aufregung war. Ihr Vater trank seinen Morgentee und las mit gespielter Ruhe die Zeitung, als wäre alles in bester Ordnung.
Als ihre Mutter sie zur Schule brachte, zitterte die Stadt. In der Nähe des Wenzelsplatzes hörten sie es allmählich, dort bebte der Boden so sehr, dass es an den Fußsohlen kitzelte. Je näher sie kamen, desto deutlicher waren die dumpfen Laute zu hören. Das seltsame Phänomen faszinierte Dita. Als sie ihr Ziel erreicht hatten, war es unmöglich, die Straße zu überqueren, auf der sich die Menschen drängten, und abgesehen von einer Mauer aus Rücken, Mänteln, Hälsen und Hüten konnte man auch nichts sehen. Unvermittelt blieb ihre Mutter stehen. Ihr Gesicht war angespannt, und sie schien auf einmal um Jahre zu altern. Sie machte auf dem Absatz kehrt und zerrte ihre Tochter an der Hand hinter sich her, ging über einen Umweg zur Schule, aber Ditas Neugier war stärker, und sie riss sich von der festen Hand ihrer Mutter los. Sie war klein und schmal, und so war es ein Leichtes für sie, sich durch die Menge zu zwängen, die sich auf dem Asphalt drängte, bis sie ganz vorne stand, wo die Prager Polizisten mit verschränkten Händen eine Barrikade bildeten.
Der Lärm war ohrenbetäubend. Graue Motorräder mit Beiwagen, die nacheinander vorbeifuhren, darin Soldaten in glänzenden Lederjacken und Motorradbrillen um den Hals. Ihre Helme schimmerten, sie kamen frisch aus den Fabriken in der Mitte Deutschlands, waren noch ohne jeden Kratzer, ohne Spuren des Kampfes. Dahinter kamen die Geschützwagen mit den gewaltigen Maschinengewehren, und danach die dröhnenden Panzer, die sich bedrohlich langsam wie Elefanten über die große Straße bewegten.
Dita weiß noch, dass ihr das Ganze wie eine Parade aus Automaten vorkam, so ähnlich wie bei der astronomischen Uhr am Rathaus. Nur noch ein paar Sekunden, dann würde sich eine Tür hinter ihnen schließen, und sie wären weg. Dann würde das Beben vorbei sein. Aber diesmal waren es keine Automaten, die mechanisch an ihr vorbeidefilierten, sondern Menschen. In den kommenden Jahren sollte sie lernen, dass beides manchmal kaum zu unterscheiden ist.
Sie war erst neun Jahre alt, aber sie hatte Angst. Da waren weder Musik noch Gelächter, weder Stimmengewirr noch Pfiffe … nur die stumme Parade. Was sollte dieser Aufmarsch aus uniformierten Männern? Wieso lachte niemand? Mit einem Mal fühlte sie sich an einen Leichenzug erinnert.
Die eiserne Hand ihrer Mutter zerrte sie weg. Sie entfernten sich in die andere Richtung, und vor Ditas Augen verwandelte sich Prag wieder in die lebenslustige Stadt, die ihr vertraut war. Es war, als würde man aus einem Albtraum aufwachen und erleichtert feststellen, dass alles war, wie es sein sollte. Aber der Boden unter ihren Füßen bebte immer noch. Die Stadt zitterte. Auch ihre Mutter zitterte. Sie schritt schnell aus in ihren eleganten Lackschuhen und zerrte Dita erbittert hinter sich her, weg von der Parade und weg von der monströsen Pranke des Krieges.
Aufseufzend umklammert Dita ihre Bücher, und voller Schwermut wird ihr klar, dass es jener Tag war und nicht der ihrer ersten Periode, mit dem ihre Kindheit zu Ende ging – als sie aufhörte, vor Skeletten und Geschichten über Geisterhände Angst zu haben, und begann, sich vor den Menschen zu fürchten.
Kapitel 2
Die SS hat mit der Durchsuchung der Baracke begonnen. Sie würdigen die Häftlinge kaum eines Blicks und befassen sich nur mit den Wänden, dem Fußboden und den Gegenständen. Die Deutschen lieben Ordnung; erst kommt das Gebäude, dann der Inhalt. Dr. Mengele dreht sich um, um mit Fredy Hirsch zu sprechen, der die ganze Zeit beinahe in Habachtstellung geblieben ist und sich keinen Millimeter vom Fleck gerührt hat. Dita fragt sich, worüber sie wohl reden. Was mag Hirsch diesem Offizier zu sagen haben, den selbst die Mitglieder der SS fürchten, um so dazustehen, ohne sichtbare Reaktion, aber offenbar aufmerksam? Nur wenige Juden wären imstande, ein Gespräch mit Mengele durchzuhalten, oder mit Dr. Tod, wie manche ihn nennen. Jedenfalls nicht ohne Zittern in der Stimme oder ohne spürbare Nervosität. Aber Hirsch wirkt, als würde er sich auf der Straße mit einem Nachbarn unterhalten.
Manche Leute denken, dass Hirsch keine Angst hat. Andere behaupten, er komme bei den Deutschen gut an, weil er selbst Deutscher sei, und wieder andere argwöhnen sogar, dass sich hinter seinem adretten Äußeren etwas Anrüchiges verbirgt.
Der Priester, der die Durchsuchung leitet, macht eine Handbewegung, die Dita nicht deuten kann. Falls der Befehl kommt, aufzustehen und Haltung anzunehmen, wie soll sie dann verhindern, dass die Bücher herunterfallen?
Die erste Lektion, die jeder Neuankömmling von den Alteingesessenen lernt, besteht darin, immer das oberste Ziel im Kopf zu behalten: überleben. Ein paar weitere Stunden, die sich zu einem Tag summieren, aus dem dann mit noch mehr Tagen eine Woche wird. Und so geht es weiter: niemals große Pläne machen, niemals große Ziele haben, immer nur überleben, in jedem Augenblick. Leben ist ein Verb, das nur im Präsens konjugiert wird.
Es ist die letzte Gelegenheit, um die Hand unter ihr Kleid zu schieben und die Bücher heimlich unter einen leeren Hocker in ihrer Nähe zu legen. Wenn sich erst einmal alle aufgestellt haben, wird niemand Dita wegen der Bücher beschuldigen. Schuld werden alle und niemand sein. Auch wenn man Block 31 mit Sicherheit schließen würde. Dita fragt sich, ob das wirklich so schlimm wäre. Ein paar Lehrer sollen anfangs rebelliert haben: Wozu Kinder unterrichten, die wahrscheinlich niemals lebend aus Auschwitz herauskommen werden? Hat es einen Sinn, ihnen etwas über Eisbären beizubringen oder ihnen das Einmaleins einzutrichtern, und sollte man ihnen nicht vielmehr etwas über die Schornsteine erzählen, aus denen ein paar Meter entfernt der schwarze Rauch der verbrannten Leichen aufsteigt? Aber Hirsch hat sie mit seiner Autorität und seinem Enthusiasmus überzeugt. Er hat gesagt, Block 31 werde für die Kinder eine Oase sein. Oase oder Fata Morgana?, fragen sich manche immer noch.
Am vernünftigsten wäre es, Dita würde die Bücher loswerden, um ihr Leben kämpfen. Aber sie ist unschlüssig. Der Unteroffizier steht vor seinem Vorgesetzten stramm und nimmt Befehle entgegen, die er sogleich gebieterisch weitergibt: „Aufstehen! Stillgestanden!“
Jetzt kommt Bewegung in die Menschen, alle stehen auf. Das Durcheinander rettet Dita. Sie lässt die Arme locker, und die Bücher rutschen unter ihrem Kleid nach unten. Aber dann presst sie sie wieder an sich, an ihren Bauch, so fest, dass sie das Knacken hören kann, als hätten die Bücher Knochen. Mit jeder Sekunde, die sie zögert, bringt sie ihr Leben mehr in Gefahr.
Die SS befiehlt ihnen zu schweigen, niemand rührt sich vom Fleck. Chaos stört die Deutschen am meisten, es ist ihnen unerträglich. Als man mit der „Endlösung“ begann, führten die blutigen Hinrichtungen bei vielen SS-Mitgliedern zu Widerwillen. Die vielen Leichen zwischen den Sterbenden, die mühselige Aufgabe, einen nach dem anderen abzuknallen, durch das Blutbad über die Leichen zu stapfen, die Hände der Sterbenden, die ihre Stiefel umklammerten wie Schlingpflanzen, das alles war ihnen zuwider. Seit es eine Lösung zur effizienten Ausrottung der Juden gibt, bei denen es in Zentren wie Auschwitz nicht zu chaotischen Situationen kommt, ist das ungeheuerliche, von Berlin diktierte Verbrechen kein Problem mehr. Es ist zu einer weiteren Routineaufgabe im Krieg geworden.
Die Leute stehen jetzt so vor Dita, dass die SS sie nicht sehen kann. Sie schiebt die rechte Hand unter den Kittel und erspürt das Geometriebuch. Sie spürt die rauen Seiten und streicht mit dem Finger über die Furchen des Gummi arabicums an dem zerschlissenen Buchrücken. So ein Buchrücken ähnelt einem umgepflügten Feld, denkt sie. Und da macht sie die Augen zu und drückt die Bücher fest an sich. Sie weiß jetzt, was sie von Anfang an gewusst hat: dass sie es nicht tun kann. Sie ist die Bibliothekarin von 31. Sie wird Fredy Hirsch nicht im Stich lassen, denn sie selbst hat ihn gebeten, beinahe angefleht, ihr zu vertrauen. Und er hat ihr vertraut, er hat ihr die acht geheimen Bücher gegeben und gesagt, dass dies nun ihre Bibliothek ist.
Vorsichtig steht sie auf. Den einen Arm drückt sie gegen den Körper, damit die Bücher nicht herunterfallen. Sie steht in der Mitte der Mädchengruppe und ist daher nicht ganz zu sehen, aber sie ist größer als die anderen, und ihre Haltung macht sie verdächtig.
Bevor der Oberscharführer die Häftlinge in Augenschein nimmt, erteilt er ein paar Befehle, und zwei SS-Mitglieder verschwinden in der Kammer des Blockältesten. Dita fallen die anderen Bücher ein, die sich in Hirschs Zimmer befinden, und ihr wird klar, dass der Blockälteste jetzt in großer Gefahr schwebt. Wenn man die Bücher bei ihm findet, ist es aus. Trotzdem ist es ein gutes Versteck, findet sie. Eine der Fußbodendielen in seiner Kammer lässt sich herausnehmen. Die Aushöhlung darunter ist groß genug, um eine kleine Bibliothek aufzunehmen. Die Bücher passen genau hinein, sodass es, selbst wenn jemand auf die Diele tritt oder dagegenklopft, nicht hohl klingt, und niemand würde auf die Idee kommen, dass sich darunter ein winziges Versteck befindet.
Dita ist erst seit ein paar Tagen die Bibliothekarin, aber für sie fühlt es sich an wie Wochen oder Monate. In Auschwitz geht die Zeit nicht vorbei, sie dehnt sich aus und verrinnt unendlich viel langsamer als im Rest der Welt. Ein paar Tage in Auschwitz machen einen Neuling zu einem alten Hasen, junge Menschen altern, widerstandsfähige zerbrechen.
Hirsch rührt sich nicht vom Fleck, während die Deutschen seine Kammer durchsuchen. Mengele, die Hände auf dem Rücken, hat sich einige Schritte entfernt und pfeift ein paar Takte Liszt vor sich hin. Vor der Kammer warten mehrere SS-Männer darauf, dass die anderen fertig werden, sie haben sich bereits entspannt und die Köpfe träge in den Nacken gelegt. Hirsch hält sich immer noch kerzengerade. Je mehr die Männer ihre Haltung vernachlässigen, desto aufrechter steht er. Er will nicht die kleinste Möglichkeit auslassen, mit jeder Bewegung, so unbedeutend sie auch sein mag, die Stärke der Juden zu demonstrieren. Es ist seine feste Überzeugung, dass die Juden viel stärker sind als die Nazis, dass die Nazis sie aus eben diesem Grund fürchten. Dass sie sie deshalb ausrotten wollen. Sie haben die Juden nur besiegt, weil die keine eigene Armee haben, aber er ist sich sicher, dass sich dieser Fehler nicht wiederholen wird. Er hegt nicht den geringsten Zweifel: Wenn das alles erst einmal vorbei ist, werden sie eine Armee aus dem Boden stampfen, die härter sein wird als alle anderen.
Die zwei SS-Männer verlassen die Kammer, der Priester hält ein paar Papiere in der Hand. Anscheinend haben sie sonst nichts Verdächtiges gefunden. Mengele nimmt die Blätter kurz in Augenschein und gibt sie dann geringschätzig an den Unteroffizier weiter, lässt sie beinahe in dessen Hand fallen. Es sind die Berichte, die der Blockälteste von Block 31 für die Lagerleitung abgefasst hat. Mengele ist bestens mit ihnen vertraut, denn Hirsch schreibt sie für ihn. Der Priester steckt seine Hände wieder in die etwas ausgeleierten Ärmelaufschläge seiner Uniformjacke. Er gibt seine Befehle mit leiser Stimme, aber jetzt kommt Bewegung in die Wachen. Sie kommen auf die Insassen zu und werfen dabei die Schemel um, die ihnen im Weg sind. Den Kindern und den neuen Lehrern ist die Angst deutlich anzumerken, Angstschreie und Schluchzer sind zu hören. Die Alteingesessenen machen sich nicht so viele Sorgen. Hirsch rührt sich keinen Millimeter. Nicht weit von ihm steht Mengele in einer Ecke und beobachtet das Geschehen.
Die älteren Insassen wissen, dass dies kein plötzlicher Akt des Vandalismus ist, die Nazis sind nicht mit einem Mal übergeschnappt und werden auch nicht anfangen, wild um sich zu schießen. Das alles ist Teil des Krieges. Es hat nichts mit dem Einzelnen zu tun. Die Schemel umzustoßen dient als Warnung davor, dass sie den Menschen jederzeit das Gleiche zufügen können. Auch Töten gehört zum Krieg.
Vor der ersten Häftlingsgruppe bleibt die Meute stehen. Ihr Vorgesetzter gesellt sich zu ihnen, und die Durchsuchung beginnt, beinahe in Zeitlupe. Immer wieder bleiben sie stehen und inspizieren die Insassen, durchsuchen einige von ihnen, mustern sie von oben bis unten, ohne genau zu wissen, was sie eigentlich suchen. Die Gefangenen geben vor, geradeaus zu schauen, aber heimlich wechseln sie Blicke mit ihren Nachbarn. Eine der Lehrerinnen muss vortreten, eine hochgewachsene Frau, die Handarbeit unterrichtet und bei der die Kinder aus alten Schnürsenkeln, Spänen, zerbrochenen Löffeln oder Lumpen wahre Wunderwerke herstellen. Die Soldaten brüllen die Frau an, und einer schubst sie. Wahrscheinlich gibt es keinen richtigen Grund. Auch Brüllen und Schubsen gehören zur Routine. Die Lehrerin ist groß und schlank, sie wirkt wie ein Schilfrohr, das kurz vor dem Zerbrechen ist. Ein Stoß und noch mehr Gebrüll befördert sie auf ihren Platz in der Gruppe zurück.
Wieder gehen die Wachen weiter. Ditas Arm ermüdet, aber sie drückt die Bücher noch fester an sich. Die Männer halten bei der Gruppe neben ihr an, drei Meter von ihr entfernt. Der Priester hebt den Kopf und befiehlt einem der Männer vorzutreten. Professor Morgenstern ist Dita bisher noch nie aufgefallen. Er sieht harmlos aus und muss, den Falten unter seinem Kinn nach zu schließen, einmal beleibt gewesen sein. Er hat graue Locken, trägt einen zerschlissenen, viel zu weiten Nadelstreifenanzug und dazu eine Brille mit runden Gläsern, hinter denen seine kurzsichtigen Biberaugen hervorlugen. Dita kann die Worte nicht verstehen, die der Priester an ihn richtet, aber sie sieht, wie Professor Morgenstern ihm die Brille gibt. Der Oberscharführer nimmt die Brille und betrachtet sie; die Insassen dürfen keine persönlichen Gegenstände haben, aber niemand hatte bisher eine Brille gegen Kurzsichtigkeit für einen Luxusgegenstand gehalten. Dennoch untersucht der SS-Mann sie eingehend, bevor er sie dem Mann zurückgibt, doch als der Lehrer die Hand ausstreckt, um sie entgegenzunehmen, lässt der Priester die Brille fallen, und sie zersplittert auf einem Schemel, noch bevor sie auf dem Fußboden auftrifft.
„Dummkopf! Tölpel!“, schreit ihn der Unteroffizier an.
Professor Morgenstern bückt sich unterwürfig, um seine kaputte Brille aufzuheben. Als er sich aufrichten will, fallen ihm zwei zerknitterte Papiervögel aus der Jackentasche, und er muss sich erneut bücken. Dabei lässt er erneut die Brille fallen. Der Priester beobachtet seine ungeschickten Bemühungen mit kaum verhohlener Gereiztheit. Aufgebracht wendet er sich ab und setzt die Inspektion fort.
Mengele verfolgt alles von hinten, kein Detail entgeht ihm. Die SS-Männer mit den gekreuzten Knochen und dem Totenkopf an der Mütze und mit ihren Stiefeln, die alles zermalmen, bewegen sich ganz langsam vorwärts, sie betrachten die Insassen mit einem Hunger nach Gewalt, der ihre Augen vor Gier glitzern lässt. Dita spürt, wie sie näher kommen, wagt jedoch nicht hinzusehen. Unglücklicherweise bleiben sie genau vor ihrer Gruppe stehen, der Priester direkt vor Dita, kaum vier oder fünf Schritte entfernt. Dita sieht, wie die Mädchen vor ihr zittern. Ihr eigener Rücken ist feucht von kaltem Schweiß. Sie kann nichts tun: Wegen ihrer Größe sticht sie zwischen den Mädchen heraus, und sie ist die Einzige, die nicht in Habachtstellung steht und die die Arme stattdessen an den Körper presst. Ihre seltsame Haltung verrät sie. Dem unerbittlichen Blick des Priesters entgeht nichts. Er gehört, genau wie Hitler, zu diesen abstinenten Nazis, die sich nur am Hass berauschen.
Dita schaut geradeaus, spürt jedoch, wie der Blick des Priesters auf ihr ruht. In ihrem Hals formt sich ein Kloß aus Angst, sie kann kaum atmen und glaubt zu ersticken. Sie hört eine männliche Stimme und macht sich bereit, vorzutreten. Es ist aus …
Aber noch nicht. Sie bleibt stehen, als ihr klar wird, dass sie nicht die Stimme des Priesters hört, sondern eine andere, viel zaghaftere. Es ist die Stimme des unseligen Professors Morgenstern. „Verzeihen Sie, Herr Oberscharführer, wenn ich vielleicht auf einen Platz in der Reihe zurückkehren dürfte? Natürlich nur, wenn Sie einverstanden sind, ansonsten bleibe ich hier, bis Sie es befehlen. Ich möchte Ihnen auf keinen Fall Umstände bereiten …“
Der Priester dreht den Kopf und macht eine zornige Geste zu dem unbedeutenden kleinen Mann, der es gewagt hat, ihn unaufgefordert anzusprechen. Der alte Lehrer hat seine Brille wieder aufgesetzt, ein Glas ist gesprungen, und er schaut die SS-Männer von seinem Platz aus unendlich einfältig und gutmütig an. Der Priester geht ein paar Schritte auf ihn zu, hinter sich die Wachmänner. Jetzt wird er zum ersten Mal lauter: „Du jüdischer Volltrottel! Wenn du nicht in drei Sekunden auf deinem Platz bist, setzt es Stockhiebe!“
„Selbstverständlich, zu Befehl“, sagt der Mann demütig. „Bitte verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht verärgern. Ich wollte nur sichergehen, damit ich nichts Ungehöriges tue und gegen die Vorschriften verstoße. Weil ich mich nämlich nicht ungebührlich verhalten will und Ihnen auf die bestmögliche Weise dienen …“
„Zurück auf deinen Platz, du Trottel!“
„Zu Befehl, Herr Oberscharführer. Ich bitte nochmals um Entschuldigung. Es war nicht meine Absicht, Sie zu unterbrechen, vielmehr wollte ich …“
„Schweig, bevor ich dir eine Kugel in den Kopf jage!“, schreit ihn der Nazi erbost an.
Der Professor geht mit gesenktem Kopf nach hinten und stellt sich wieder zu seiner Gruppe. Dem Priester war nicht bewusst, dass die Wachmänner hinter ihm gingen, und als er sich jetzt fuchsteufelswild umdreht, stößt er mit ihnen zusammen. Es ist eine filmreife Szene, als die Nazis wie Billardkugeln zusammenprallen. Ein paar Kinder lachen unterdrückt, und die Lehrer stoßen sie alarmiert in die Rippen, um sie zum Schweigen zu bringen. Der sichtlich nervöse Priester wirft einen verstohlenen Blick zu seinem Vorgesetzten hinüber, dem düsteren Lagerarzt, der immer noch in einem dunklen Winkel steht, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Der Priester kann zwar sein Gesicht nicht sehen, doch die Geringschätzung darin kann er sich lebhaft vorstellen. Nichts verachtet Mengele mehr als Inkompetenz und Mittelmäßigkeit.
Mit einer unwilligen Geste schiebt der Unteroffizier seine Leute beiseite und setzt seine Inspektion fort. Er kommt an Ditas Reihe vorbei, und sie drückt ihren eingeschlafenen Arm an sich. Auch die Zähne beißt sie zusammen. Sie spannt jeden Muskel an, bei dem das möglich ist. Aber der Priester ist verärgert, er denkt, dass er diese Gruppe bereits inspiziert hat, und geht an ihr vorbei. Noch mehr Gebrüll und Geschubse, irgendjemand wird gefilzt … und dann entfernt sich der Trupp langsam.
Die Bibliothekarin beginnt wieder zu atmen, obwohl sie weiß, dass die Gefahr erst gebannt ist, wenn die Männer die Baracke verlassen. Diese Leute sind wie Giftschlangen; sie können jederzeit zuschlagen, wenn man es am wenigsten erwartet. Ditas Arm schmerzt, weil sie ihn schon so lange nicht mehr bewegt hat. Es sticht wie von tausend Nadeln, aber sie wagt nicht, sich zu bewegen, aus Furcht, die Bücher könnten herunterfallen. Um den Schmerz zu vergessen, ruft sie sich den Zufall in Erinnerung, der sie in Block 31 geführt hat.
Als ihr Transport im Dezember ankam, liefen gerade die letzten Vorbereitungen für eine Theateraufführung von Schneewittchen und die sieben Zwerge. Der Anlass war Chanukka, das Fest, bei welchem dem Aufstand der Makkabäer gegen die Griechen gedacht wird. Vor dem Morgenappell lief ihre Mutter einer Bekannten aus Theresienstadt über den Weg, Frau Turnovská, die früher einen Obstgarten in Zlín gehabt hatte. Ein kleiner Lichtblick in all dem Elend. Frau Turnovská war eine freundliche Frau, die gleich zu Beginn des Krieges ihren Mann verloren hatte. Sie erzählte Ditas Mutter, es gebe da anscheinend eine Schule in einer Baracke für Kinder unter dreizehn. Als ihre Mutter einwandte, Dita sei bereits vierzehn, sagte Frau Turnovská, der Direktor der Schule sei schlau und habe die Deutschen überzeugt, ihm ein paar Gehilfen zu bewilligen. Dieser Trick habe es ihm bereits ermöglicht, einige Jugendliche zwischen vierzehn und sechzehn Jahren einzustellen.
„Dort halten sie die Zählappelle innen ab, die Kinder müssen also nicht jeden Morgen Kälte und Feuchtigkeit ertragen. Sogar die Essensrationen sind ein bisschen besser.“ Frau Turnovská, die immer über alles auf dem Laufenden war, wusste auch, dass Mirjam Edelstein Konrektorin bei Fredy Hirsch werden würde. „Mirjam Edelstein schläft in meiner Baracke, wir kennen uns. Komm, wir reden mit ihr.“
Als die beiden sie fanden, eilte sie gerade über die Lagerstraße, die Hauptverkehrsader des Lagers, die von einem Ende zum anderen führte. Mirjam Edelstein hatte keine Zeit und war nicht gut aufgelegt; seit der Verlegung aus dem Getto Theresienstadt, wo ihr Mann Jakub Präsident im Ältestenrat gewesen war, war es ihr nicht gut ergangen. Kurz nach seiner Ankunft war er von der Gruppe getrennt und bei den politischen Häftlingen in Auschwitz I untergebracht worden.
Frau Turnovská pries augenblicklich Ditas Vorzüge an, als wollte sie Zwetschgen verkaufen, aber Mirjam Edelstein unterbrach sie, bevor sie mit ihrer Ansprache fertig war. „Wir haben schon genug Gehilfen, und außerdem haben mich vor Ihnen schon mehrere Leute um den gleichen Gefallen gebeten.“ Und sie schickte sich an, rasch weiterzugehen.
Doch kurz bevor sie auf der Lagerstraße verschwand, blieb sie stehen und ging noch einmal zu den Frauen zurück. Die drei waren so enttäuscht, dass sie sich noch nicht vom Fleck gerührt hatten. „Sie sagen, das Mädchen spricht perfekt Tschechisch und Deutsch, und gut lesen kann sie auch? Wir bräuchten dringend einen Souffleur … könnte sie das übernehmen?“
Alle Blicke richteten sich auf Dita. Und ob sie das übernehmen konnte! An jenem Nachmittag betrat sie zum ersten Mal Block 31. Er war eine der zweiunddreißig Baracken, die das Lager BIIb bildeten, bestehend aus zwei Reihen zu je sechzehn Baracken, durch die die Hauptverkehrsader, die Lagerstraße, führte, soweit dieser Sumpf den Namen Straße verdiente. Eine der rechteckigen Behausungen mit einem gemauerten Kamin über dem gestampften Lehmfußboden, der den Raum in zwei Hälften teilte. Doch wie sich herausstellte, war Block 31 in einem entscheidenden Punkt anders: Statt der Reihen mit den dreistöckigen Pritschen, in denen die Häftlinge schliefen, standen hier Schemel; und an den Wänden sah man statt des morschen Holzes Zeichnungen von Eskimos und den Zwergen aus Schneewittchen.
Die Schemel bildeten eine improvisierte Bestuhlung, und es herrschte ein fröhliches Kommen und Gehen, während die Freiwilligen die armselige Baracke in ein Theater verwandelten. Einige stellten gerade die Schemel fertig auf, andere transportierten Stoffbahnen, und eine Gruppe übte eine Passage mit den Kindern, die bemüht waren, sich den Text zu merken. Im hinteren Teil der Baracke bauten die Gehilfen aus Matratzen ein kleines Bühnenbild auf, und zwei Frauen von undefinierbarem Alter zogen die grünen Stoffbahnen zurecht, die den Wald von Schneewittchen darstellen sollten. Dita musste an das letzte Buch denken, das sie gelesen hatte, bevor sie Prag verlassen hatte: Es hieß Mikrobenjäger, und der Autor, Paul de Kruif, erzählte darin von den Forschern, die ihr Leben den Bakterien und mikroskopisch kleinen Lebewesen gewidmet hatten. In dieser Baracke fühlte sie sich ein bisschen wie Koch, Grassi oder Pasteur, die hinter ihrem Vergrößerungsglas das ausgelassene Treiben der winzigen Lebewesen beobachteten, in einer Welt, die nicht größer war als ein Tropfen Wasser. So wie in einem Schlammtropfen ging auch hier das Leben weiter, trotz aller Widrigkeiten.
Man wies ihr ein kleines Kabuff vor der Bühne zu, das aus schwarz angemaltem Packpapier bestand. Der Regisseur des Stücks, kam zu ihr und schärfte ihr ein, besonders auf die kleine Sarah zu achten, denn wenn diese die Nerven verlor, vergaß sie gern ihren deutschen Text und wechselte ins Tschechische, ohne es zu merken. Zu den Bedingungen, unter denen die Nazis die Aufführung gestatteten, gehörte auch, dass auf Deutsch gespielt wurde. Dita erinnert sich noch daran, wie nervös sie zu Beginn der Vorstellung war, an das Gewicht der Verantwortung, das auf ihr lastete, und an die beunruhigende Gegenwart einiger Führungskräfte von Auschwitz II, die in der ersten Reihe saßen, wie Obersturmführer Schwarzhuber und Dr. Mengele. Sie spähte durch ein Loch in dem Karton und beobachtete überrascht, wie sie lachten und klatschten. Die Vorstellung schien ihnen zu gefallen. Waren das wirklich dieselben Menschen, die jeden Tag mehrere Tausend Kinder in den Tod schickten?
Von den Stücken, die in Block 31 inszeniert wurden, war Schneewittchen, aufgeführt im Dezember 1943, für die Mitwirkenden jenes Abends, das denkwürdigste. Gleich zu Beginn der Vorstellung fing der Zauberspiegel, der der Stiefmutter sagen sollte, wer die Schönste im ganzen Land sei, zu stottern an. Das Publikum brach in Gelächter aus. Alle hielten es für einen Scherz, der zum Stück gehörte. Dita schwitzte in ihrem Papierhäuschen. Das Stottern gehörte genauso wenig zum Stück wie die Nervosität des Jungen, aber jeder Anflug von Humor wurde dankbar gefeiert, denn in Auschwitz war Gelächter ein noch selteneres Gut als Brot, und sie hatten es dringend nötig. Als Schneewittchen schließlich im Wald zurückblieb, erstarb das Gelächter. Die Darstellerin war ein Mädchen mit traurigen Augen, und die rötliche Schminke verstärkte den Eindruck der Verlassenheit noch. Wie sie so durch den Wald irrte und mit ihrer zarten Stimme um Hilfe flehte, sah sie so zerbrechlich aus, dass Dita einen Kloß im Hals verspürte. Sie sah sich selbst, genauso hilfsbedürftig, am Rand von Polen, allein in einem feindlichen Wald voller Wölfe in Uniformen.
Die sporadischen Lacher über den vergessenen Text endeten unvermittelt, als das kleine Schneewittchen zu singen begann. Wer sich bis dahin immer noch fragte, wieso man für die Rolle dieses schmächtige, blasse Mädchen mit dem Gesicht einer antiken Porzellanpuppe ausgewählt hatte, fand hier die Antwort. Sie hatte eine wunderschöne Stimme, und die Melodie aus dem Film von Walt Disney wirkte selbst ohne jede musikalische Begleitung derart kraftvoll, dass viele Zuhörer die Fassung verloren. Wenn man Menschen wie Vieh zusammenpfercht, brandmarkt und opfert, halten sie sich irgendwann wirklich für Tiere. Lachen und Weinen erinnern sie dann an die eigene Menschlichkeit.
Endlich erschien unter Jubel der rettende Prinz, sehr groß verglichen mit den anderen Darstellern, breitschultrig, das feuchte Haar wie mit Gel zurückgekämmt: Fredy Hirsch. Schneewittchen wurde von der ältesten Medizin der Welt aus dem Schlaf geweckt, und die Aufführung endete unter dem frenetischen Beifall des Publikums. Selbst der undurchsichtige Dr. Mengele applaudierte, wenngleich ohne die weißen Handschuhe auszuziehen.
Es war derselbe Dr. Mengele, der jetzt am einen Ende von Block 31 steht und die Szene beobachtet, die Hände hinter dem Rücken, als hätte das alles nichts mit ihm zu tun. Der Priester geleitet sein finsteres Gefolge zum hinteren Teil der Baracke, wobei er mehrere Schemel fortkickt und alle nervös macht. Er lässt einige Insassen vortreten, mehr aus Schikane, als um sie durchsuchen zu lassen. Zum Glück wird es gleich vorbei sein, und sie haben keinen Grund gefunden, um jemanden mitzunehmen, diesmal nicht.
Als die Nazis mit ihrer Inspektion der Baracke fast fertig sind, dreht sich der Oberscharführer zu dem Arzt um, aber der ist gegangen. Eigentlich müssten die Wachen zufrieden sein, sie haben keine Fluchttunnel gefunden, keine Waffen und auch sonst nichts, das gegen die Regeln verstößt. Aber sie sind wütend, es gibt nichts zu bestrafen. Sie brüllen noch ein wenig herum und stoßen Drohungen aus, und dann verschwinden sie durch die Hintertür der Baracke. Diesmal haben die Wölfe nur ein wenig Gestrüpp abgerissen. Sie sind fort, aber sie werden wiederkommen.
Als die Tür hinter ihnen zugeht, ist erleichtertes Gemurmel zu hören. Fredy Hirsch hebt die Trillerpfeife, die immer um seinen Hals hängt, an die Lippen und stößt einen schrillen Pfiff aus, als Zeichen, dass die Gruppe sich auflösen darf. Ditas Arm ist derart taub, dass sie ihn nicht mehr bewegen kann. Vor Schmerz schießen ihr Tränen in die Augen, aber die Erleichterung darüber, dass die Nazis fort sind, ist so groß, dass sie gleichzeitig lacht und weint.
Es herrscht ein wildes Durcheinander. Die Lehrer möchten reden, den anderen erzählen, was sie empfunden und erlebt haben. Die kleinen Kinder nutzen den Augenblick, um herumzutoben. Dita sieht, wie Frau Krizková direkt auf sie zusteuert. Die labbrige Haut unter ihrem Kinn bewegt sich genau wie bei einem Truthahn. Unmittelbar vor Dita bleibt sie stehen. „Hast du den Verstand verloren, Mädchen? Weißt du denn nicht, dass du bei den Gehilfen stehen bleiben musst, wenn der Befehl kommt, und nicht mehr herumlaufen darfst? Ist dir nicht klar, dass sie dich verhaften und umbringen können? Dass sie uns alle umbringen können?“
„Ich habe das getan, was ich für richtig hielt …“
„Was du für richtig hieltest … und wie kommst du dazu, alles über den Haufen zu werfen, was wir vereinbart hatten? Glaubst du etwa, du weißt es besser?“
„Es tut mir leid, Frau Krizková …“ Dita ballt die Fäuste, um nicht zu weinen. Diesen Gefallen wird sie ihr nicht tun.
„Ich werde mich über dich beschweren …“
„Das wird nicht nötig sein.“ Es ist eine sehr männliche Stimme, die die tschechischen Worte ausspricht, mit starkem deutschem Akzent, ruhig, aber bestimmt. Als die beiden sich umdrehen, steht Hirsch vor ihnen, perfekt rasiert und gekämmt. „Frau Krizková, der Unterricht ist noch nicht zu Ende. Kümmern Sie sich doch bitte um Ihre Gruppe, die ist ein wenig unruhig.“
Die Lehrerin prahlt gern damit, dass sie wegen ihrer Strenge die fleißigste und disziplinierteste Mädchengruppe in Block 31 hat. Sie sagt nichts und wirft dem Blockältesten nur einen bösen Blick zu. Dann dreht sie sich um und marschiert missgelaunt zu ihren Schülerinnen hinüber. Dita atmet erleichtert auf.
„Vielen Dank, Herr Hirsch. Es tut mir leid, dass ich gegen die Regeln verstoßen habe.“
Hirsch lächelt. „Ein guter Soldat braucht keine Befehle, denn er kennt seine Pflicht.“
Bevor er geht, dreht er sich zu ihr um und betrachtet die Bücher, die sie an sich drückt. „Ich bin stolz auf dich, Dita. Gott segne dich.“
Er entfernt sich mit energischen Schritten, und während sie ihm nachsieht, muss sie an die Vorstellung von Schneewittchen denken. Als die Helfer damals das Bühnenbild abbauten, verließ sie ihren Verschlag und ging zum Ausgang, wobei sie darüber nachdachte, ob sie wohl je wieder einen Fuß in diese Baracke setzen würde, die sich in ein Theater verwandeln konnte. Aber eine vertraute Stimme hielt sie auf.
„Warte, Mädchen …“ Fredy Hirsch war immer noch weiß geschminkt. „Es trifft sich gut, dass du jetzt hier bist“, sagte er.
Es überraschte Dita, dass er sich noch an sie erinnerte. Im Getto Theresienstadt hatte Hirsch die Abteilung für die Jugend geleitet, aber sie hatte ihn nur einige Male gesehen, während sie einer Bibliothekarin half, den Bücherwagen durch die Gefängnisstadt zu ziehen.
„Wirklich?“
„Auf jeden Fall!“ Er winkte sie zum hinteren Teil des Bühnenbilds, wo niemand mehr war. Aus der Nähe waren Hirschs Augen eine seltsame Mischung aus Sanftheit und Übermut. „Ich brauche dringend eine Bibliothekarin für unseren Kinderblock.“
Dita war verblüfft. Sie war doch erst vierzehn und stellte sich noch manchmal auf die Zehenspitzen, um größer zu wirken. „Verzeihen Sie, aber ich glaube, das ist ein Missverständnis. Die Bibliothekarin war Frau Sittigová, ich habe ihr nur ein paarmal geholfen, die Bücher hin und her zu bringen.“
Der Blockälteste von 31 lächelte sein eigenartiges Lächeln, freundlich und ein wenig gönnerhaft. „Ich habe dich schon einige Male gesehen. Du hast doch den Bücherwagen geschoben.“
„Ja, weil er für sie zu schwer war und sich die kleinen Räder auf den Steinen nur schlecht drehten. Deswegen.“
„Du hast den Bücherwagen geschoben. Du hättest den Nachmittag über auf deiner Pritsche verbringen, mit deinen Freunden spazieren gehen oder dich um deine eigenen Angelegenheiten kümmern können. Stattdessen hast du den Karren geschoben, damit die Leute Bücher bekamen.“
Verblüfft sah sie ihn an, aber Hirsch ließ keine Widerrede zu. Er leitete keine Baracke, sondern eine Armee. Und wie der General eines bewaffneten Volksaufstands einen Bauer zu sich herwinkt und ihm mitteilt: „Du bist jetzt Oberst“, so winkte er an jenem Nachmittag, mit dem gleichen Ernst, in jener verwahrlosten Baracke Dita zu sich und sagte zu ihr: „Du bist ab jetzt die Bibliothekarin.“
Doch er fügte hinzu: „Aber es ist gefährlich. Sehr gefährlich. Der Umgang mit Büchern ist hier kein Spiel. Wen die SS mit Büchern erwischt, der wird hingerichtet.“ Dabei reckte er den Daumen, streckt den Zeigefinger aus und richtete die imaginäre Pistole auf Ditas Stirn.
Sie bemühte sich um Gelassenheit, aber die unerwartete Verantwortung beunruhigte sie. „Sie können sich auf mich verlassen.“
„Das Risiko ist sehr groß.“
„Das ist mir ganz egal.“
„Du könntest dabei dein Leben verlieren.“
„Das ist mir egal.“ Dita gab sich Mühe, fest zu klingen, aber es gelang ihr nicht. Genauso wenig, wie sie ihre Beine unter Kontrolle hatte, deren Zittern ihren ganzen Körper zum Beben brachte. Der Blockälteste beäugte das Spektakel, das ihre spindeldürren Beine in den langen Wollstrümpfen vollführten.
„Für die Bibliothek brauche ich jemanden, der mutig ist …“
Dita wurde rot, denn ihre Beine wollten einfach nicht aufhören zu zittern. Je mehr sie sich bemühte, sie ruhig zu halten, desto mehr bewegten sie sich. Und jetzt zitterten auch ihre Hände, zum Teil wegen der Nazis, aber auch aus Furcht, der Blockälteste könnte sie für ängstlich halten und sie doch nicht nehmen. Sich vor der Furcht zu fürchten ist so, als würde man bergab rennen. „Dann … dann möchten Sie sich also lieber nicht auf mich verlassen?“
„Auf mich wirkst du wie ein mutiges Mädchen.“
„Aber ich zittere doch!“, sagte sie verzweifelt.
Da lächelte Hirsch auf seine eigentümliche Weise, so, als würde er die Probleme auf der Welt von einem komfortablen Lehnstuhl aus studieren. „Eben das macht dich mutig. Mut bedeutet nicht, keine Angst zu haben. Solche Menschen sind nur tollkühn, sie ignorieren das Risiko und begeben sich in Gefahr, ohne an die Folgen zu denken. Wer sich der Gefahr nicht bewusst ist, bringt leicht seine Mitstreiter in Gefahr. Solche Leute kann ich nicht brauchen. Ich brauche diejenigen, die zittern, ohne zu wanken, diejenigen, denen klar ist, was sie riskieren, und die trotzdem weitermachen.“
Jetzt merkte Dita, wie ihre Beine aufhörten zu zittern.
„Mutige Menschen überwinden ihre Angst. Und du gehörst zu diesen Menschen. Wie heißt du?“
„Mein Name ist Dita Adlerova, Herr Hirsch.“
„Willkommen in Block 31, Dita. Möge Gott dich segnen. Und bitte, sag Fredy zu mir.“
Dita kann sich noch genau erinnern, wie an jenem Abend nach der Aufführung alle davongingen. Danach betrat Dita Hirschs Kammer, ein rechteckiges Kabuff, in dem eine Pritsche und zwei alte Stühle standen. Es war vollgestopft mit Kartons, leeren Behältern, Unterlagen mit amtlichen Siegeln, ein paar zerbeulten Blechnäpfen und seinen Kleidern, spärlich, aber ordentlich gefaltet.
Als Hirsch darum bat, die armselige Ernährung der Kinder aufzubessern, hatte Dr. Mengele in unerwarteter Nachgiebigkeit die Pakete der Angehörigen für die bereits verstorbenen Insassen zu Block 31 bringen lassen. Im Krankenbau gab es häufig Zugänge und täglich Todesfälle. Von den fünftausendundsieben im September eingetroffenen Deportierten waren bis Ende Dezember etwa tausend bereits gestorben. Abgesehen von Atemwegserkrankungen wie Bronchitis und Lungenentzündung grassierten im Lager Wundrose und Gelbsucht, und die mangelhafte Ernährung sowie die schlechte Hygiene machten alles noch schlimmer. Die verwaisten Pakete gingen erst durch die Hände der SS, und bei der Ankunft in Block 31 waren sie derart geplündert, dass manchmal nur noch Krümel und leere Verpackungen übrig waren. Aber zuweilen enthielten sie Kekse, ein wenig Wurst, etwas Zucker … sie werteten die Ernährung der Kinder auf und dienten der Organisation von Festen und Wettkämpfen, bei denen der Preis in einer halben Zwiebel, einem Stück Schokolade oder ein wenig Grieß bestand.
Hirsch erzählte Dita etwas, bei dem ihr der Mund offen stehen blieb: Sie hatten eine Bibliothek mit Beinen, eine menschliche Bibliothek. Die Lehrer, die sich mit einem literarischen Werk gut auskannten, waren zu lebendigen Büchern mutiert. Sie wechselten zwischen den verschiedenen Gruppen hin und her und erzählten den Kindern die Geschichten, die sie fast auswendig kannten.
„Magda kennt sich gut mit Nils Holgerssons wunderbare Reise mit den Wildgänsen aus, und die Kinder lieben es, sich vorzustellen, wie sie, von Gänsen getragen, durch den Himmel von Schweden fliegen. Shashek ist sehr gut, was Geschichten über Indianer und Abenteuer im Wilden Westen angeht. Dezo Kovak erzählt die Geschichten der Patriarchen mit viel Liebe zum Detail, fast wie eine sprechende Bibel.“
Aber damit hatte sich Hirsch nicht begnügt. Er erzählte Dita, dass die Bücher nach und nach heimlich ins Lager gekommen waren. Ein polnischer Zimmermann namens Mietek hatte drei beigesteuert und ein slowakischer Elektriker zwei weitere. Die beiden gehörten zu den Häftlingen, die sich wegen der ihnen übertragenen Instandhaltungsarbeiten um einiges freier zwischen den Lagern bewegen konnten. Aus dem riesigen Effektenlager, in dem die konfiszierten Besitztümer der Häftlinge nach der Ankunft in Auschwitz landeten und das Kanada genannt wurde, hatten sie ein paar Bücher geschmuggelt, die Hirsch mit Anteilen aus den Paketen bezahlte, die bei ihm auf dem Tisch landeten.
Ditas Aufgabe bestand darin, darüber zu wachen, an welche Lehrer die Bücher verliehen wurden, sie nach dem Unterricht wieder einzusammeln und sie am Ende des Tages zurück in ihr Versteck zu bringen. Die Kammer war zwar vollgestopft, aber nicht unordentlich. Es war eine von Hirsch kalkulierte Unordnung, um einige Dinge zu verbergen, die nicht offen herumliegen durften. Der Blockälteste ging in eine Ecke, in der sich Stoffreste türmten, und zog sie auseinander. Er nahm ein Bodenbrett heraus, und darunter kamen Bücher zum Vorschein. Dita konnte ihre Freude nicht zurückhalten und klatschte in die Hände wie bei einem Zaubertrick.
„Es ist eine Bibliothek. Wenn auch nicht gerade groß.“ Verstohlen sah er sie an, um die Wirkung seiner Worte zu überprüfen.
Die Bibliothek war tatsächlich nicht sehr umfangreich. Eigentlich bestand sie nur aus acht Büchern, und eins davon war in beklagenswertem Zustand. Aber es waren Bücher. An diesem trostlosen Ort, an dem sich die dunkelsten Seiten der Menschheit offenbarten, waren sie eine Erinnerung an weniger düstere und gnädigere Zeiten, in denen Worte mehr Gewicht hatten als Maschinengewehre. An eine vergangene Epoche. Dita nahm die Bände nacheinander in die Hand, so behutsam, als würde sie einen Säugling halten.
Das erste war ein Atlas ohne Einband, bei dem mehrere Seiten fehlten und der ein Europa mit veralteten Grenzen zeigte und Imperien, die schon längst nicht mehr existierten. Die bunten Farben der politischen Karten, die ein lebhaftes Mosaik bildeten – das Zinnoberrot, die leuchtenden Grüntöne, das Orange, das Marineblau –, bildeten einen starken Kontrast zu dem Grau in Ditas Umgebung, mit seinen Akzenten aus dem Dunkelbraun des Moors, dem verblichenen Ocker der Baracken, dem Grau des von Asche verhangenen Himmels. Sie begann in dem Atlas zu blättern, und ihr war zumute, als könnte sie fliegen: Sie überquerte Ozeane, glitt über Kaps mit exotischen Namen – das Kap der Guten Hoffnung, Kap Hoorn, die Spitze von Tarifa –, flog über Gebirge, sprang über Meerengen, deren Ränder sich zu berühren schienen wie die von Bering, von Gibraltar oder von Panama, navigierte mit dem Finger über die Donau, die Wolga und über den Nil. Die Millionen Quadratkilometer der Meere, der Wälder, alle irdischen Gebirgsketten, alle Flüsse, Städte und sämtliche Länder auf derart kleinem Raum unterzubringen war ein Wunder, wie es nur ein Buch vollbringen kann.
Fredy Hirsch beobachtete sie schweigend und freute sich still an ihrem abwesenden Blick und ihrem offenen Mund, während sie in dem Atlas blätterte. Falls er noch Zweifel gehabt hatte, diesem tschechischen Mädchen so viel Verantwortung zu übertragen, so lösten sie sich in diesem Moment in Luft auf. Er wusste, dass Dita sich gewissenhaft um die Bibliothek kümmern würde. Sie hatte diese Beziehung zu Büchern, wie sie manchen Menschen eigen ist. Ihm selbst ging diese Eigenschaft ab, er war zu aktiv, als dass ihn Buchstaben auf Papier gefesselt hätten. Fredy bevorzugte die Tat, den Sport, die Lieder, die Ansprache. Aber er sah, dass Dita diese Begeisterung hatte, die eine Handvoll Seiten für bestimmte Menschen zu einer eigenen Welt werden lässt.
Die Einführung in die Geometrie war etwas besser erhalten. Auf ihren Seiten entfaltete sich eine andere Geografie: eine Landschaft aus gleichschenkligen Dreiecken, Achtecken und Zylindern, aus Zahlenreihen, angeordnet zu arithmetischen Armeen, aus Konstruktionen, die aussahen wie Wolken, und Parallelogrammen, die mysteriösen Zellen ähnelten.
Beim dritten Buch riss Dita die Augen auf. Es war Die Geschichte unserer Welt von H. G. Wells. Ein Buch, das von Urmenschen, Ägyptern, Römern, Maya bevölkert wurde … Zivilisationen, die Reiche gegründet hatten und die zugrunde gegangen waren, damit neue aufsteigen konnten. Der vierte Titel war eine russische Grammatik. Dita verstand kein Wort, aber die rätselhaften Buchstaben gefielen ihr. Sie wirkten wie gemacht für Legenden. Jetzt, da Deutschland sich ebenfalls im Krieg mit Russland befand, waren die Russen ihre Freunde. Dita hatte gehört, dass es in Auschwitz viele russische Kriegsgefangene gab und dass die Nazis sie mit besonderer Grausamkeit behandelten.
Bei einem weiteren Buch handelte es sich um einen Roman in französischer Sprache, stark beschädigt – einige Seiten fehlten, und andere hatten Wasserflecken. Dita konnte kein Französisch, aber sie würde schon einen Weg finden, um die Geschichte darin zu entziffern. Dann war da noch eine Abhandlung mit dem Titel Wege der psychoanalytischen Theorie von einem gewissen Professor Freud. Außerdem ein weiterer Roman, auf Russisch, ohne Einband. Und das achte Buch war ein Roman in tschechischer Sprache, in erbärmlichem Zustand – eine Handvoll Seiten, die nur noch von ein paar Fäden am Buchrücken zusammengehalten wurden. Bevor sie das Buch in die Hand nehmen konnte, nahm Fredy Hirsch es ihr weg. Sie sah ihn an und setzte ein missmutiges Bibliothekarinnengesicht auf. Am liebsten hätte sie eine Hornbrille gehabt, um ihn über deren Rand anzublicken wie eine richtige Bibliothekarin.
„Das hier ist sehr stark beschädigt. Es nützt niemandem mehr.“
„Ich werde es reparieren.“
„Außerdem … ist das kein Buch für jüngere Kinder. Und auch keins für Mädchen.“
Dita riss die Augen noch weiter auf, er sollte sehen, wie verwirrt sie war. „Bei allem Respekt, Herr Hirsch, ich bin vierzehn. Denken Sie etwa, ich würde mich noch von Romanen beeindrucken lassen, während ich jeden Tag erlebe, wie unsere Frühstücksration an einem Wagen voller Leichen vorbeigetragen wird, und tagtäglich mitbekomme, wie Tausende von Menschen am Rande des Lagers in die Gaskammer gehen?“
Hirsch sah sie überrascht an, und es war nicht leicht, ihn zu überraschen. Bei dem Buch handle es sich um Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg, erklärte er. Ein Alkoholiker und Gotteslästerer namens Jaroslav Hašek habe es geschrieben, es enthalte skandalöse Ansichten zu Politik und Religion und außerdem moralisch mehr als zweifelhafte Szenen, die ihrem Alter nicht angemessen seien. Aber Hirsch merkte, dass er wenig überzeugend klang, und das Mädchen mit den intensiven blaugrünen Augen sah ihn entschlossen an. Hirsch rieb sich das Kinn, als wollte er den Bart abreiben, der ihm im Lauf des Tages gewachsen war. Er schnaufte. Noch einmal strich er sich das Haar zurück, dann gab er nach und händigte Dita auch das ramponierte Buch aus.
Dita betrachtete die Bücher, doch vor allem streichelte sie sie. Sie waren abgewetzt und zerkratzt, abgegriffen, hatten rötliche Wasserringe, einige waren beschädigt … aber sie waren ein Schatz. Ihre Zerbrechlichkeit machte sie noch wertvoller. Sie begriff, dass sie diese Bücher hüten musste wie die greisen Überlebenden einer Katastrophe, denn ohne sie drohte das Wissen von Jahrhunderten der Zivilisation verloren zu gehen. Die Methoden der Geografie, durch die wir wissen, wie die Welt beschaffen ist; die Kunst der Literatur, durch die sich das Leben des Lesers vervielfältigt; der wissenschaftliche Fortschritt der Mathematik; die Geschichte, die uns daran erinnert, woher wir kommen, und die uns bei der Entscheidung helfen kann, wohin wir gehen wollen; die Grammatik, die die Fäden der Kommunikation zwischen den Menschen zusammenhält … Von diesem Tag an war sie nicht nur eine Bibliothekarin: Sie wurde zur Bücherkrankenschwester.
Würden Sie „Die Bibliothekarin von Auschwitz“ in drei Sätzen für uns beschreiben?
Antonio Iturbe: Der Häftling Fredy Hirsch wurde von der Lagerleitung des KZ Auschwitz-Birkenau beauftragt, in Baracke 31 einen Ort zu schaffen, an dem die Kinder beschäftigt werden konnten, während ihre Eltern arbeiten mussten. Es wurde ihm verboten, sie zu unterrichten, über Religion oder Politik zu sprechen. Aber Hirsch hört nicht auf sie. Er organisierte eine kleine Schule im Untergrund und suchte acht alte Bücher auf dem Schwarzmarkt im Lager zusammen, wodurch die Baracke eine hinsichtlich der Anzahl der Exemplare winzige Bibliothek erhielt, und machte ein 14-jähriges Mädchen namens Edita für diese empfindlichen Bücher verantwortlich.
Wie wurden Sie auf die Geschichte von Dita Kraus aufmerksam?
Ich bin kein Experte für den Zweiten Weltkrieg, aber ich arbeite seit Jahren in Literaturmagazinen und lese viel über die Geschichte des Lesens. Durch die Lektüre eines Werkes von Alberto Manguel, einem der weltweit führenden Experten auf dem Gebiet der Geschichte des Buches, hörte ich zum ersten Mal von der Existenz der kleinen Bibliothek in der geheimen Schule im Lager BIIb in Auschwitz. Durch die angegebenen Quellen wurde ich auf Nili Keren, eine Expertin für den Holocaust, aufmerksam. In einem ihrer Aufsätze geht sie ausführlicher auf die Baracke 31 in Auschwitz und auf deren Bücher ein. Dort las ich auch zum ersten Mal, dass das Mädchen, das sich um die Bücher im Lager kümmerte, Edita hieß.
Was war die größte Herausforderung beim Schreiben Ihres Romans?
Die Herausforderung besteht immer darin, dieses Wunschkonzert, das in deinem Kopf mit einer Bandbreite von einer Million Tönen, Farben, Schattierungen und Emotionen herrlich klingt, auf die flache Dimension eines Papiers in schwarz-weißer Schrift zu übertragen. Virginia Woolf verglich es mit der Wasserentnahme aus einem Brunnen. Schreiben ist wie einen Eimer auf den Boden eines Brunnens zu werfen, in der Hoffnung, dass er, wenn er wieder hochkommt, mit frischem Wasser gefüllt ist. Aber er kommt fast immer leer wieder heraus. Wenn jedoch auch nur ein paar Fingerbreit frisches Wasser darin herumplätschern, wenn es einen Textabschnitt gibt, von dem man glaubt, dass das innere Licht nach außen dringt, dann rechtfertigt dieser Moment die ständigen Niederlagen eines Autors.
Wie viel haben Sie in der Geschichte selbst erfunden, wie viel ist tatsächlich passiert?
Wie viel tatsächlich passiert ist, weiß niemand. Dies ist keine Biographie, sondern ein Roman. Dita Kraus selbst hat gerade ihre Memoiren geschrieben, und das ist natürlich tatsächlich eine richtige Autobiographie. Ich habe „Die Bibliothekarin von Auschwitz“ auf der Grundlage der Fakten geschrieben, die Dita Kraus mir erzählt hat, die ich in mehr als dreißig Büchern gelesen habe und die sich in meinem Kopf mit dieser stroboskopartigen Genauigkeit von Träumen offenbart haben. In diesem Buch gibt es sowohl Fakten als auch ein Abbild meines eigenen Blickwinkels, der sicher so verzerrt ist wie der von Don Quijote. Aber für mich ist dieses Buch Wirklichkeit. Selbst die Dialoge, die ich nicht hören und wiedergeben konnte, die Blicke, die ich nicht sah, die Nebenfiguren, die ich hinzugefügt habe, die Bücher, die mit der Zeit vergessen wurden, die ich wieder in die kleine, geheime Bibliothek gestellt habe – für mich gibt es daran nichts Unechtes. Während ich schrieb, lebte das alles in mir.
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