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Die Dunkelheit der Welt (Die schwarze Venus 3)

Die Dunkelheit der Welt (Die schwarze Venus 3) - eBook-Ausgabe

Veronika Rusch
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Die Josephine-Baker-Verschwörung

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Die Dunkelheit der Welt (Die schwarze Venus 3) — Inhalt

„Die Schwarze Venus“-Trilogie: Historische Spannung um eine legendäre Figur – Josephine Baker, Tänzerin, Vordenkerin, Kämpferin!
Der Abschlussband „Die Dunkelheit der Welt“ spielt in Paris 1942: Als die Leiche einer jungen Frau gefunden wird, die von Deutschen ermordet wurde, vermutet die französische Résistance einen Verräter in den eigenen Reihen. Tristan Nowak, der sich dem Widerstand angeschlossen hat, versucht, die Identität des Kollaborateurs aufzudecken. Als er erfährt, dass Josephine Baker, die ebenfalls für die Résistance arbeitet, nach Paris kommen wird, tut er alles, um sie zu schützen. Er ahnt nicht, dass er damit genau in die Hände der Verschwörer spielt: Er selbst soll zum Lockvogel für Josephine werden – und damit zur Schlüsselfigur in ihrer Ermordung.  
In ihren historischen Kriminalromanen (Bd. 1: „Der Tod ist ein Tänzer“, Bd. 2: „Die Spur der Grausamkeit“, Bd. 3: „Die Dunkelheit der Welt“) macht Veronika Rusch die faszinierende Tänzerin und Sängerin Josephine Baker, die man auch „Die schwarze Venus“ nannte, zur zentralen Figur einer groß angelegten Verschwörung. Die drei Bände führen die Leser in drei glamouröse Hauptstädte – Berlin, Wien und Paris – und von den goldenen Zwanzigern bis ins Paris des Jahres 1942: Drei Schicksale treffen wieder und wieder aufeinander, ein Mann, gezeichnet durch den Krieg, eine Frau, entschlossen, die Welt zu erobern, ein Gegner, gefährlich und unberechenbar …

„›Der Tod ist ein Tänzer‹ ist ein großartiger historischer Roman, eine gelungene Mischung aus Fakten und Fiktion, unheimlich atmosphärisch und spannend bis zum Schluss. Dieser Roman macht unbedingt Lust auf Teil zwei und drei.“ WDR 4

Die Josephine-Baker-Verschwörung
Band 1: Der Tod ist ein Tänzer
Band 2: Die Spur der Grausamkeit
Band 3: Die Dunkelheit der Wel

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 02.12.2021
480 Seiten
EAN 978-3-492-99870-3
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Leseprobe zu „Die Dunkelheit der Welt (Die schwarze Venus 3)“

1

Paris, 23. Juli 1942, Donnerstag


Die Stadt war leer. Das war sein erster Eindruck gewesen, als er gestern Nachmittag am Gare de l’Est angekommen war. Im Vergleich zu seinem letzten Besuch vor sechzehn Jahren schien sie sogar nahezu entvölkert zu sein. Es herrschte eine seltsame Stille, es waren kaum Menschen zu sehen, und die wenigen privaten Automobile, die unterwegs waren, krochen seltsam verloren über die prächtigen Boulevards, die dadurch noch breiter und leerer wirkten. Mit dem Einmarsch der Truppen war ein Großteil der Pariser geflohen, und die [...]

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1

Paris, 23. Juli 1942, Donnerstag


Die Stadt war leer. Das war sein erster Eindruck gewesen, als er gestern Nachmittag am Gare de l’Est angekommen war. Im Vergleich zu seinem letzten Besuch vor sechzehn Jahren schien sie sogar nahezu entvölkert zu sein. Es herrschte eine seltsame Stille, es waren kaum Menschen zu sehen, und die wenigen privaten Automobile, die unterwegs waren, krochen seltsam verloren über die prächtigen Boulevards, die dadurch noch breiter und leerer wirkten. Mit dem Einmarsch der Truppen war ein Großteil der Pariser geflohen, und die wenigsten waren seither zurückgekehrt. Für die Verbliebenen war Benzin streng rationiert, Zivilisten hatten kaum Gelegenheit, welches zu bekommen. Und so gehörten die Straßen von Paris den Panzern und Kübelwagen der deutschen Wehrmacht sowie den glänzend schwarzen Limousinen der SS-Offiziere. In eine von diesen, ein Mercedes-Benz 630, stieg von Waldeck nun mit größter Genugtuung.

Am Steuer saß SS-Untersturmführer Höllrich, sein neuer Adjutant. Er hatte vor von Waldecks frisch bezogenem Quartier in der Rue du Faubourg Saint-Honoré auf ihn gewartet, nachdem er zuvor Hermann Gille am Hotel Crillon, wo die Offiziere der Wehrmacht und Angehörige des Stabs der deutschen Sicherheitspolizei untergebracht waren, abgeholt hatte.

„Guten Morgen, Herr Standartenführer“, grüßte ihn Gille höflich, und von Waldeck erwiderte den Gruß mit einem Nicken. Die sechs Zylinder des offenen Tourenwagens schnurrten wie eine Raubkatze, als sie losfuhren, und man konnte die verhaltene Kraft von hundert PS geradezu unter sich spüren. Der Wagen hatte zwar nicht die Klasse des 770er-Mercedes des Führers, aber er kam ihm schon sehr nahe. Sie fuhren natürlich über die Champs-Élysées, und von ein paar Radfahrern abgesehen gehörte der breite Boulevard an diesem Morgen ganz ihnen. Die Straße mit ihren prächtigen Häusern erstrahlte im flirrenden Licht der Morgensonne, das durch das Laub der geometrisch gestutzten Alleebäume vielfach gebrochen wurde, und ließ den Triumphbogen in der Ferne wie das Tor zu einer anderen Welt erscheinen. Von Waldeck dachte an den Plan des Führers, Berlin in ein „Germania“ umzugestalten, wie die Hauptstadt des großgermanischen Reiches dann heißen sollte, und er hoffte, Speer würde sich in seinen Entwürfen dazu von Paris inspirieren lassen. Natürlich würde alles noch moderner, schöner und gewaltiger werden, doch es lohnte durchaus, sich Anregungen dazu von Paris zu holen. Man konnte von den Franzosen halten, was man wollte, aber Größe zeigen, darin waren sie gut.

Am Étoile, wie der Platz mit den sternförmig abgehenden Straßen rund um den Triumphbogen genannt wurde, bogen sie in die Avenue Foch ab. Dort befand sich das Hauptquartier der Pariser Gestapo, dessen Leitung von Waldeck heute antreten würde. Hermann Gille hatte er mit nach Paris genommen, um einen Vertrauten an seiner Seite zu haben. Gille hatte sich bei der Gestapo in Berlin unter seinem alten Freund Franz von Geldern bis zum Kriminalkommissar hochgedient und sich in den vergangenen Jahren als treuer Gefolgsmann erwiesen. Von Waldeck war sich bewusst, wie wichtig solche Männer innerhalb einer Organisation waren, wo jeder sein eigenes Süppchen kochte.

Von Waldecks Hand tastete unauffällig zu dem kleinen, schon etwas vergilbten Blatt Papier, das in der Brusttasche seiner Uniform steckte. Er trug es seit vierzehn Jahren bei sich, eine ständige Mahnung, die von seinen zivilen Anzügen in seine Uniformen gewechselt war. Um nicht zu vergessen, was sein Ziel war: die Auslöschung. Die endgültige Vernichtung jener drei Menschen, deren Namen auf dem Zettel standen und die der wahre Grund waren, warum er sich um den Posten des Pariser Gestapochefs bemüht hatte.

Eigentlich war diese Notiz lachhaft, eine sentimentale Albernheit. Von Waldeck brauchte keine Mahnung, denn er vergaß nicht. Dies war seine wohl hervorstechendste Tugend – erlittenes Unrecht niemals und unter keinen Umständen zu vergessen. Dicht gefolgt von seinem urpreußischen Bedürfnis, begonnene Dinge zu Ende zu bringen.

Aus sicherer Quelle hatte er vor einigen Jahren die Bestätigung dessen erhalten, was er von Anfang an vermutet hatte: Sein verhasster Halbbruder, dessen Schlampe und der Rote Graf waren nach Frankreich geflohen, in die Stadt, in der Tristan in seiner Kindheit schon einmal gelebt und in der sein Onkel exzellente Verbindungen hatte. Sie hatten sich aus Berlin davongemacht wie Ratten, die sich feige verkrochen, um ihren Jägern zu entgehen. Doch das würde ihnen nicht gelingen. Am Ende würde er sie kriegen. Alle drei.

Julius von Waldeck verzog sein Gesicht zu einem zufriedenen Lächeln. Taktik und Geduld, das waren die Stärken eines guten Feldherrn. Und natürlich, das Wichtigste, unerbittliche Härte, wenn es darauf ankam.

 

Für diesen Feldzug privater Natur benötigte er jedoch einen Helfer, auf den er sich verlassen konnte. Jemanden, der ebenso hart sein konnte und ebenso hasste wie er. Dies war der zweite Grund, weshalb er Hermann Gille mit nach Paris genommen hatte. Er warf einen Blick auf den Mann, der neben ihm saß und schwieg, seit sie losgefahren waren. Julius von Waldeck hatte ihn seit ihrer gemeinsamen Rückkehr aus Wien im Auge behalten und wusste, Gille verfügte über beides in ausreichendem Maße. Unauffällig musterte er das grobe Profil seines Begleiters, der mit einem faszinierten Gesichtsausdruck die Umgebung betrachtete. Der fast vierzigjährige Mann mit dem Gesicht eines brutalen Jahrmarktschlägers staunte über diese Stadt wie ein Kind. Er war das erste Mal in Paris. Anders als von Waldeck, der als Kind oft die Sommerferien bei Verwandten verbracht hatte, „um die französische Lebensart kennenzulernen“, wie sein Vater sich ausgedrückt hatte. Zu diesem Zweck hatte sein Vater Tristan sogar ein Jahr das Lycée in Paris besuchen lassen, was er selbst nicht gedurft hatte. Für ihn war die Karriere eines Offiziers vorgesehen gewesen, darauf hatte seine Mutter, die aus einer alten preußischen Offiziersfamilie stammte, bestanden. Schon mit elf Jahren war er in die Kadettenanstalt Groß-Lichterfelde gekommen, wie alle seine männlichen Vorfahren mütterlicherseits. Das war hart gewesen, hatte ihn aber zu dem geformt, was er heute war: ein aufrechter, ehrenhafter Soldat.

Sie waren am Ziel angekommen, einem fünfstöckigen, schlichten Haus, vielfach unterteilt von schmalen, hohen Fenstern und schmiedeeisernen Balkonen. Es sah genau so aus, wie es ihre Arbeit erforderte: diskret. Höllrich brachte den Wagen direkt vor dem Eingang zum Stehen. Eilfertig sprang er heraus, um seinem Vorgesetzten die Tür aufzuhalten. Von Waldeck stieg aus, dicht gefolgt von Gille.

In der Eingangshalle erwarteten ihn bereits sein geschasster Vorgänger und seine künftigen Untergebenen. Die verhaltene Begrüßung erwiderte von Waldeck mit einem kühlen Nicken, ebenso die Vorstellung der wichtigsten Mitarbeiter. Gille stand die ganze Zeit wie ein Schatten hinter ihm. Weder sprach er ein Wort, noch stellte ihn von Waldeck vor.

Es war immer von Vorteil, die Leute im Unklaren zu lassen. Stattdessen ließ er sich unverzüglich sein Büro zeigen, ein geräumiges, elegant eingerichtetes Zimmer mit glänzendem Parkettboden und einem Mahagonischreibtisch. An der Wand hinter dem Schreibtisch hing eine große rot-weiße Hakenkreuzfahne, die er sofort entfernen ließ. Sosehr er die Zurschaustellung der Insignien der Macht im öffentlichen Raum zu schätzen wusste, in seinem Büro hatte derlei Pomp nichts zu suchen. Er beabsichtigte, allein durch seine Präsenz zu zeigen, wer hier das Sagen hatte.

Von Waldeck entließ Gille, dem ein Büro ein Stockwerk tiefer zugeteilt worden war, mit einem knappen Nicken und zündete sich eine Zigarette an. Dann trat er ans Fenster, ließ den Blick über die silbergrauen Dächer der umliegenden Häuser schweifen und bleckte dabei für einen Moment die Zähne. Tristan und von Seidlitz waren hier irgendwo, er konnte ihre Anwesenheit spüren, ja förmlich wittern, wie ein Jagdhund seine Beute. Er war hierhergekommen, um ihre Fährte aufzunehmen. Und wenn er sie gefunden hatte, würde auch der dritte Name auf der Liste in unmittelbare Reichweite rücken. Denn hatte er erst einmal Tristan, dann würde er auch Josephine Baker bekommen, gleichgültig, wo sie sich gerade aufhielt.

Seine verkrüppelte rechte Hand verkrampfte sich bei dem Gedanken an seine lang ersehnte Rache so jäh und ruckartig, dass die Zigarette, die er zwischen den verbliebenen Fingern gehalten hatte, zu Boden fiel. Leise fluchend bückte er sich, hob sie auf, ging zum Schreibtisch und setzte sich. Die glänzende Mahagoniplatte war leer bis auf die Auswahl der aktuellen Tageszeitungen, die er sich erbeten hatte.

Mit mäßigem Interesse blätterte er sich durch die Pariser Zeitung, das offizielle Blatt der Besatzungsmacht, von dem keine interessanten Informationen zu erwarten waren, und schlug dann L’ŒUVRE auf. Mal sehen, was die Franzosen so schrieben. Zunächst ließ ihn das Motto, Les imbéciles ne lisent pas L’Œuvre, Dummköpfe lesen die Oeuvre nicht, verächtlich schmunzeln. Einst hatte die Zeitung wahrhaft dümmliche, sozialistische und pazifistische Gedanken verbreitet, wie von Waldeck wusste, da er sich über die örtliche Presselandschaft genau informiert hatte. Inzwischen jedoch arbeitete der Chefredakteur erfreulich eng mit ihnen zusammen. Er überflog den Leitartikel und ließ dann seinen Blick langsam nach unten wandern, bis er bei einem kleinen Artikel hängen blieb. Ungläubig las er die wenigen Zeilen ein zweites und danach ein drittes Mal, dann ließ er die Zeitung sinken und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Eine ganze Weile blieb er vollkommen reglos sitzen und starrte in die Ferne. Mit einer bedächtigen Bewegung zog er das vergilbte Blatt Papier aus seiner Brusttasche, faltete es auf und legte es vor sich auf den Schreibtisch. Er betrachtete die drei verblassten Namen, schraubte seinen Füllfederhalter auf und strich einen davon mit einem kräftigen Strich durch.

* * *

Helene hastete die Rue de l’Abbaye entlang, bog nach links ab und erreichte nach wenigen Schritten den Place de Furstemberg, wo im dritten Stock eines hellgrau getünchten Hauses ihre Wohnung lag. Vor dem Zeitschriften- und Tabakwarenladen von Monsieur Martin, einem freundlichen älteren Witwer, der ihr Vermieter war, blieb sie kurz stehen, um zu Atem zu kommen. Sie lehnte sich an die warme Hauswand und ließ ihren Blick über den kreisrund angelegten Platz mit der Laterne und den vier Linden in der Mitte schweifen. Der Place de Furstemberg war ein stiller, verträumter Ort. Fast vergaß man, dass man sich mitten in einer Großstadt befand. Jetzt, kurz nach Mittag, war niemand zu sehen, keine Kinder spielten, die Fensterläden der umliegenden Häuser waren wegen der sommerlichen Hitze geschlossen, nur die Bäume spendeten ein wenig Schatten.

Ein Blick auf die Armbanduhr sagte Helene, dass sie trotz aller Eile spät dran war. Pauline, die sie heute, an ihrem Ehrentag, partout nicht hatte begleiten wollen, sondern störrisch wie ein kleiner Maulesel darauf bestanden hatte, zu Hause zu bleiben, „für alle Fälle“, würde sie schon ungeduldig erwarten. Doch Geneviève, die Leiterin der kirchlichen Suppenküche der Pfarrei von Saint-Germain-des-Prés, in der Helene vormittags mitarbeitete, hatte sie aufgehalten. Und angesichts dessen, was sie zu sagen gehabt hatte, hatte sie sie nicht abwürgen können. Nicht bei diesem Thema, das alle in der Stadt seit Tagen aufwühlte.

Helene spürte, wie ihr Mund trocken wurde. Es gab keine Worte für das Grauen, das ihr die sonst immer so fröhliche Geneviève mit Tränen in den Augen beschrieben hatte. Jeder Versuch, solche Dinge zu verstehen, war von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Grausamkeit war nicht zu begreifen. Während Genevièves Schilderung hatte sich trotz der Sommerhitze eine eisige Kälte in Helene ausgebreitet, die sie noch immer ausfüllte wie frostiger Nebel. Er hatte sich in ihren Knochen, in ihrem Magen und in ihrem Herzen festgesetzt und wollte nicht mehr weichen. Nicht mehr daran denken, ermahnte sie sich. Jetzt geht es um Pauline. Sie schloss für einen Moment die Augen, strich sich mit beiden Händen über das vom Laufen erhitzte Gesicht und betrat dann den Schreibwarenladen.

„Ah, Madame Arnaud!“ Das runzelige Gesicht von Monsieur Martin tauchte hinter einem Ständer mit verstaubten Postkarten auf, der auf dem Tresen stand. Die Ansichtskarten waren schon vor dem Krieg verstaubt gewesen, allzu selten hatten sich Touristen auf den versteckten kleinen Platz im 6. Arrondissement verirrt, und jetzt kam gar keiner mehr hierher. Noch nicht mal die Deutschen, worüber allerdings niemand im Viertel traurig war.

„Was kann ich für Sie tun, Madame?“, fragte er sie mit einem Lächeln, doch wenn man genau hinsah, sah man, dass seine dunklen Augen nicht mitlächelten; sie waren voller Schmerz, und der alte Mann wirkte zutiefst verschreckt. Helene schoss durch den Kopf, dass es vermutlich jedem Bewohner des Place du Furstemberg so ging, und nicht nur ihnen, sondern Tausenden von Bürgern der Stadt, die noch nicht begreifen konnten, was passiert war, es vielleicht nie begreifen würden.

Helene versuchte erneut, die beklemmenden Gedanken abzuschütteln. „Haben Sie farbiges Seidenpapier?“, fragte sie. „Am liebsten ein rotes.“

Monsieur Martin runzelte die Stirn, dann drehte er sich zu einem der Regale in seinem Rücken um, zog eine Schublade auf und nahm ein paar Bögen dünnen Papiers heraus. Allerdings waren sie nicht rot.

„Braun?“ Helene schüttelte entschieden den Kopf. „Das sieht grauenhaft aus.“

„Etwas anderes habe ich leider nicht.“ Monsieur Martin hob bedauernd die Arme. „Wofür brauchen Sie es denn?“

„Um ein Geschenk darin einzuwickeln. Pauline hat heute Geburtstag. Sie wird elf.“

„Nein, so was! Wie die Zeit vergeht.“ Monsieur Martins Lächeln wurde ein wenig breiter, und jetzt erreichte es auch seine Augen. „Da ist unser Paulinchen ja fast schon eine kleine Dame.“ Er überlegte. „Warten Sie, Madame, vielleicht habe ich etwas, was die Farbe etwas fröhlicher macht.“ Er bückte sich mit steifem Rücken und kramte unter dem Tresen herum, und als er sich wieder aufrichtete, hielt er ein rosafarbenes Band in den Händen. Es war aus festem Samt, fast zwei Zentimeter breit und schimmerte seidig. „Eine Kundin hat es bei mir verloren. Vermutlich war es als Zierde für ein Kleid gedacht. Ich habe es aufbewahrt, für den Fall, dass sie zurückkommt. Doch das ist sie nicht. Ich wusste, irgendwann wird es jemand brauchen können.“ Er hielt es an das braune Seidenpapier. „Sehen Sie, Madame? So sieht das Braun plötzlich edel aus. Wie feiner Nugat!“

„Sie haben recht.“ Helene nahm aus ihrer Tasche das Kleid, das Geneviève in ihrem Auftrag für Pauline genäht hatte. Es war ein mintgrünes, mit rosa Streublümchen bedrucktes Sommerkleid aus Baumwollmusselin mit einem schwingenden Rock und kleinen Puffärmeln. „Das ist das Geschenk“, sagte sie.

„O wie schön. Das wird Pauline fabelhaft stehen.“ Monsieur Martin nahm ihr das federleichte Kleid ab, schlug es in einen der Seidenpapierbögen ein und wickelte das Samtband als Schleife darum. Gemeinsam betrachteten sie das Päckchen, das jetzt in der Tat recht hübsch wirkte.

„Wie viel bekommen Sie dafür?“, fragte Helene und zückte ihre Geldbörse.

Monsieur Martin winkte ab. „Keinen Sou, Madame, das ist mein Geschenk für Pauline.“

„Danke! Sie sind ein Schatz.“ Helene lächelte ihm zu. „Pauline kommt nachher runter und bringt Ihnen ein Stück Geburtstagskuchen.“

„Das wäre schön. Zu einem Kuchen sag ich nie Nein“, sagte er und fügte dann leise hinzu: „Wissen Sie, wie es Levin geht? Ich habe ihn heute noch gar nicht gesehen.“

„Ich auch nicht.“ Helene ignorierte das leichte Frösteln und das unheilvolle Kribbeln in ihrem Nacken, das sich augenblicklich wieder einstellte. „Ich war heute Morgen oben bei ihm, habe geklopft, doch er hat nicht aufgemacht. Ich werde es nach der Geburtstagsfeier noch einmal versuchen. Er könnte natürlich gerne kommen, aber …“ Sie verstummte hilflos.

„Nein, da haben Sie recht, Madame, das könnte er nicht ertragen.“ Monsieur Martin schüttelte betrübt den Kopf. „Der arme, arme Mann …“

Levin und Esther Pollak und ihre kleine Tochter Recha, Paulines beste Freundin, waren vor sechs Jahren auf abenteuerlichen Wegen praktisch in allerletzter Minute aus Berlin hierhergeflüchtet, und Monsieur Martin hatte ihnen die kleine Wohnung unter dem Dach vermietet. Esther war da bereits schwanger gewesen, und kurz darauf war Léon auf die Welt gekommen, ungeachtet der Strapazen der Flucht ein rundum gesundes, fröhliches Kind.

Jetzt war von der vierköpfigen Familie nur noch der Vater übrig. Nein, das stimmte nicht, korrigierte sich Helene. Im Grunde war niemand mehr übrig. Levin Pollak war gestern erloschen. Als er die Nachricht bekommen hatte. Man hatte es seinem Gesicht angesehen, das von einer Sekunde auf die andere aschgrau geworden war, wie das eines Toten.

 

Vor fünf Tagen hatte die französische Polizei um vier Uhr morgens die Tür der Wohnung der Pollaks eingetreten und ohne Begründung Esther und die beiden Kinder mitgenommen. Zuvor hatten bereits einige Tage Gerüchte kursiert, dass erneut Juden verhaftet werden würden, aber niemand im Viertel hatte geglaubt, dass sie dieses Mal auch Frauen und Kinder mitnehmen würden. Bisher war es immer nur um die Männer gegangen. Levin hatte sich daher wie viele andere Männer versteckt, um der Festnahme zu entgehen. Doch als er nach der Razzia zurückkam, war seine Familie nicht mehr da gewesen. Nach und nach hatten die Pariser erfahren, dass die über achttausend Menschen, von denen die meisten Frauen und Kinder waren, im Vélodrom d’Hiver festgehalten wurden, zusammengepfercht in diesem Stadion, auf dessen Kunststoffdach die Julisonne unbarmherzig herunterbrannte und in dem es keine Versorgungsmöglichkeiten für so viele Menschen gab. Alle Bemühungen, zu den Verhafteten zu gelangen oder gar ihre Freilassung zu erreichen, waren zwecklos gewesen. Jeder, der es versucht hatte, Jude oder nicht, hatte befürchten müssen, selbst festgenommen zu werden. Gestern Morgen war dann die Nachricht gekommen, dass alle abtransportiert würden, in Bussen zum Bahnhof und von dort weiter. Niemand hatte etwas Genaues über den Zielort gewusst, doch jedem war augenblicklich klar gewesen, was das bedeutete.

Genevièves Schwester Marthe war Grundschullehrerin im Viertel, und sie war mit einigen anderen Frauen abkommandiert worden, als Betreuerin mitzukommen, um dafür zu sorgen, dass keines der Kinder entwischte. „Marthe zittert am ganzen Körper und weint ohne Unterlass, seit sie heute spätnachts zurückgekommen ist“, hatte Geneviève mit aufgerissenen Augen erzählt und sich dabei den Schweiß von der Stirn gewischt. Und dann hatte sie Helene von den Schlägen und Peitschenhieben der Polizisten auf die Frauen und Kinder berichtet und den verzweifelten Schreien der Kinder, als sie am Bahnhof schließlich ihren Müttern entrissen wurden. „Auch die jüngsten, Babys und ganz kleine Würmchen von zwei, drei Jahren“, schluchzte Geneviève. Ohne ihre Mütter hatte man sie ganz alleine in die Viehwaggons des Zuges gepfercht, der sie in den Osten bringen würde. Mit Tränen in den Augen hatte Helene an die dunkelhaarige, immer so gewissenhafte Recha und den stupsnasigen Léon denken müssen, der die lockigen rotblonden Haare seines Vaters geerbt hatte. Sie wusste, sie würden, ebenso wie ihre Mutter, nie mehr zurückkehren. Die Dunkelheit, der sie vor sechs Jahren geglaubt hatten, in letzter Minute entronnen zu sein, hatte sie eingeholt.

 

Helene griff nach dem Geschenk. „Was soll ich nur Pauline sagen?“, flüsterte sie. „Sie hat Recha vor ein paar Tagen eine Einladungskarte für ihr Geburtstagsfest gebastelt und in den Briefschlitz gesteckt. Sie hofft immer noch, dass ihre Freundin rechtzeitig zurückkommt. Heute Vormittag ist sie deswegen extra zu Hause geblieben, ›für alle Fälle‹, wie sie meinte, um Recha nicht zu verpassen.“ Ihr Kinn begann zu zittern. „Soll ich ihr etwa sagen, dass diese Monster …?“ Sie sprach nicht weiter, sondern nahm ein paar Centimes aus ihrem Geldbeutel und legte sie Monsieur Martin, der sie tief bekümmert ansah, für das Seidenpapier auf den Tresen. „Und dann lese ich heute in der Pariser Zeitung, diesem verlogenen Drecksblatt, dass der Stadtpolizei mit dieser Razzia ein erfolgreicher Schlag gegen Verbrecher, Kommunisten und sonstiges asoziales Gesindel gelungen sei. Dabei sind es Kinder! Sie ermorden Kinder …“ Atemlos vor Zorn und innerer Erregung holte Helene Luft und griff nach einer der Tageszeitungen, die im Ständer neben dem Tresen steckten. „Keine unserer Zeitungen hat die Eier, darüber zu berichten, worum es hier wirklich ging!“ Sie hatte l’Œuvre zu fassen bekommen, ein ehemals anständiges Blatt, das inzwischen gemeinsame Sache mit den Deutschen machte. Zornig warf sie es auf den Tresen. „Schauen Sie, Monsieur Martin! Kein Wort steht da von Esther, Recha und Léon und all den anderen …“ Sie verstummte, als ihr Blick auf eine kleine Notiz im unteren Teil des Blattes fiel, und als sie die wenigen Zeilen las, vergaß sie für einen Moment das Grauen der Razzia vom Vel’ d’Hiv.


Josephine Baker tot

Von Krankheit gezeichnet, entkräftet

und völlig verarmt stirbt

Josephine Baker in einem Krankenhaus

in Casablanca.

 

Das war nicht möglich! Dies war ihr erster Gedanke. Und ihr zweiter: Er darf es nicht erfahren! Nicht jetzt. Nicht heute. Helene legte dem verdutzten Monsieur Martin auch noch das Geld für die Zeitung auf den Tresen, nahm das Blatt und das Geschenk und verließ wie in Trance den Laden. Draußen durchforstete sie die Zeitung Seite für Seite, ob sich womöglich noch ein größerer Artikel und genauere Informationen zu dieser Nachricht fänden, doch vergebens. Josephine Baker, vor ein paar Jahren noch ein frenetisch gefeierter Star, hatte Paris nicht mehr betreten, seit die Deutschen einmarschiert waren. Dieselben Zeitungen, die ihr früher ganze Seiten gewidmet hatten, hatten heute für die Nachricht ihres Todes gerade einmal vier Zeilen übrig. So eilfertig und vorauseilend folgten sie den Vorgaben der Besatzungsmacht, für die der dunkelhäutige Star aus naheliegenden Gründen eine Persona non grata war.

Auch für Helene war Josephine viele Jahre lang ein Schreckgespenst gewesen, allerdings aus ganz anderen Gründen. Die Nachricht ihres Todes erschütterte sie dennoch bis ins Mark. Josephine und sie waren sich seit Jahren nicht mehr persönlich begegnet, dennoch war Josephine so lange Teil ihres Lebens mit Tristan gewesen, dass sie sich einfach nicht vorstellen konnte, dass sie nicht mehr am Leben war.

Vielleicht war aber auch ihre Vorstellungskraft nach den albtraumhaften Ereignissen der letzten Tage so ausgereizt, dass diese neuerliche Schreckensnachricht keinen Platz mehr in ihrem Kopf fand. Sie faltete langsam die Zeitung zusammen und legte sie dann auf die Bank, die vor dem Laden stand. Tristan durfte es nicht erfahren. Das war ihr einziger Gedanke, als sie sich auf den Weg nach oben in ihre Wohnung machte. Ihr Mann war außer sich gewesen, als er von der Verhaftung der Pollaks erfahren hatte, und hatte seither kaum mehr geschlafen. Unruhig wie ein gefangenes Tier schlich er Nacht für Nacht durch die Wohnung, und ihre Tröstungsversuche fanden nirgends Halt, glitten an ihm ab wie an einer Wand aus grauem Granit.

Levin war ein alter Freund, Tristan kannte ihn noch aus Berlin, und er hatte die Familie nach ihrer Ankunft in Paris unterstützt. Die Nachricht von Josephines Tod würde ihm endgültig den Boden unter den Füßen fortreißen. Und Helene wusste, was das bedeutete.

Veronika  Rusch

Über Veronika Rusch

Biografie

Veronika Rusch ist Jahrgang 1968. Sie studierte Rechtswissenschaften und Italienisch in Passau und Rom und arbeitete als Anwältin in Verona, sowie in einer internationalen Anwaltskanzlei in München, bevor sie sich selbständig machte. Heute lebt sie als Schriftstellerin mit ihrer Familie in ihrem...

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