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Die Entdeckung der LangsamkeitDie Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit Die Entdeckung der Langsamkeit - eBook-Ausgabe

Sten Nadolny
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Roman

— Eines der Bücher, die man gelesen haben muss

„Nadolny ist ein Erzähler unvergeßlicher Geschichten.“ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

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Die Entdeckung der Langsamkeit — Inhalt

Seit seiner Kindheit träumt John Franklin davon, zur See zu fahren, obwohl er dafür denkbar ungeeignet ist, denn in allem, was er tut, ist er extrem langsam. Doch was er einmal erfasst hat, vergisst er nicht mehr. Er geht zur Marine und erlebt den Krieg. Insgeheim aber träumt er von friedlichen Fahrten auf See und von der Entdeckung der legendären Nordwestpassage. Als Kommandant eines Schiffes begibt er sich auf die Suche … Sten Nadolnys vielfach preisgekrönter Bestseller ist auf den ersten Blick zugleich ein Seefahrerroman, ein Roman über das Abenteuer und die Sehnsucht danach und ein Entwicklungsroman. Doch hat Sten Nadolny die Biografie des englischen Seefahrers und Nordpolforschers John Franklin (1786–1847) zu einer subtilen Studie über die Zeit umgeschrieben.

€ 14,00 [D], € 14,40 [A]
Erschienen am 01.04.1987
384 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-20700-3
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€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 17.07.2012
384 Seiten
EAN 978-3-492-95793-9
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Leseprobe zu „Die Entdeckung der Langsamkeit“

Erstes Kapitel


Das Dorf


John Franklin war schon zehn Jahre alt und noch immer so langsam, daß er keinen Ball fangen konnte. Er hielt für die anderen die Schnur. Vom tiefsten Ast des Baums reichte sie herüber bis in seine emporgestreckte Hand. Er hielt sie so gut wie der Baum, er senkte den Arm nicht vor dem Ende des Spiels. Als Schnurhalter war er geeignet wie kein anderes Kind in Spilsby oder sogar in Lincolnshire. Aus dem Fenster des Rathauses sah der Schreiber herüber. Sein Blick schien anerkennend.

Vielleicht war in ganz England keiner, der eine Stunde [...]

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Erstes Kapitel


Das Dorf


John Franklin war schon zehn Jahre alt und noch immer so langsam, daß er keinen Ball fangen konnte. Er hielt für die anderen die Schnur. Vom tiefsten Ast des Baums reichte sie herüber bis in seine emporgestreckte Hand. Er hielt sie so gut wie der Baum, er senkte den Arm nicht vor dem Ende des Spiels. Als Schnurhalter war er geeignet wie kein anderes Kind in Spilsby oder sogar in Lincolnshire. Aus dem Fenster des Rathauses sah der Schreiber herüber. Sein Blick schien anerkennend.

Vielleicht war in ganz England keiner, der eine Stunde und länger nur stehen und eine Schnur halten konnte. Er stand so ruhig wie ein Grabkreuz, ragte wie ein Denkmal. „Wie eine Vogelscheuche!“ sagte Tom Barker.

Dem Spiel konnte John nicht folgen, also nicht Schiedsrichter sein. Er sah nicht genau, wann der Ball die Erde berührte. Er wußte nicht, ob es wirklich der Ball war, was gerade einer fing, oder ob der, bei dem er landete, ihn fing oder nur die Hände hinhielt. Er beobachtete Tom Barker. Wie ging denn das Fangen? Wenn Tom den Ball längst nicht mehr hatte, wußte John: das Entscheidende hatte er wieder nicht gesehen. Fangen, das würde nie einer besser können als Tom, der sah alles in einer Sekunde und bewegte sich ganz ohne Stocken, fehlerlos.

Jetzt hatte John eine Schliere im Auge. Blickte er zum Kamin des Hotels, dann saß sie in dessen oberstem Fenster. Stellte er den Blick aufs Fensterkreuz ein, dann rutschte sie herunter auf das Hotelschild. So zuckte sie vor seinem Blick her immer weiter nach unten, folgte aber höhnisch wieder hinauf, wenn er in den Himmel sah.

Morgen würden sie zum Pferdemarkt nach Horncastle fahren, er fing schon an sich zu freuen, er kannte die Fahrt. Wenn die Kutsche aus dem Dorf fuhr, flimmerte erst die Kirchhofsmauer vorbei, dann kamen die Hütten des Armenlandes Ing Ming, davor Frauen ohne Hüte, nur mit Kopf­tüchern. Die Hunde waren dort mager, bei den Menschen sah man es nicht, die hatten etwas an.


Sherard würde vor der Tür stehen und winken. Später dann das Gehöft mit der rosenbewachsenen Wand und dem Kettenhund, der seine eigene Hütte hinter sich herschleifte. Dann die lange Hecke mit den zwei Enden, dem sanften und dem scharfen. Das sanfte lag von der Straße entfernt, man sah es lang kommen und lang gehen. Das scharfe, dicht am Straßenrand, hackte einmal durchs Bild wie die Schneide einer Axt. Das war das Erstaunliche: in dichter Nähe funkelte und hüpfte es, Zaunpfähle, Blumen, Zweige. Weiter hinten gab es Kühe, Strohdächer und Waldhügel, da hatte das Erscheinen und Verschwinden schon einen feierlichen und beruhigenden Rhythmus. Die fernsten Berge aber waren wie er selbst, sie standen einfach da und schauten.


Auf die Pferde freute er sich weniger, aber auf Menschen, die er kannte, sogar auf den Wirt des Red Lion in Baumher. Dort pflegten sie haltzumachen, Vater wollte zum Wirt an die Theke. Da kam dann etwas Gelbes im hohen Glas, Gift für Vaters Beine, der Wirt reichte es herüber mit seinem schrecklichen Blick. Das Getränk hieß Luther und Calvin. John hatte keine Angst vor finsteren Gesichtern, wenn sie nur so blieben und ihre Mienen nicht auf unerklärliche Weise rasch wechselten.

Jetzt hörte John das Wort „schläft“ sagen und erkannte vor sich Tom Barker. Schlafen? Sein Arm war unverändert, die Schnur gespannt, was konnte Tom auszusetzen haben? Das Spiel ging weiter, John hatte nichts verstanden. Alles war etwas zu schnell, das Spiel, das Sprechen der anderen, das Treiben auf der Straße vor dem Rathaus. Es war auch ein unruhiger Tag. Eben wurlte die Jagd­gesellschaft von Lord Willoughby vorbei, rote Röcke, nervöse Pferde, braungefleckte Hunde mit tanzenden Ruten, ein großes ­Gebelfer. Was hatte nur der Lord von so viel Wirbel?

Ferner gab es wenigstens fünfzehn Hühner hier auf dem Platz, und Hühner waren nicht angenehm. Sie suchten dem Auge auf plumpe Art Streiche zu spielen. Regungslos standen sie da, kratzten dann, pickten, erstarrten wieder, als hätten sie nie gepickt, täuschten frech vor, sie stünden seit ­Minuten unverändert. Schaute er aufs Huhn, dann zur Turmuhr, dann wieder aufs Huhn, so stand es starr und warnend wie vordem, hatte aber inzwischen gepickt, gekratzt, mit dem Kopf geruckt, den Hals gewandt, die Augen glotzten anderwärts, alles Täuschung! Auch die verwirrende Anordnung der Augen: was sah denn ein Huhn? Wenn es mit dem einen Auge auf John sah, was nahm das andere wahr? Damit fing es doch schon an! Hühnern fehlte der gesammelte Blick und die zügige, angemessene Bewegung. Schritt man auf sie zu, um sie bei ungetarnten Veränderungen zu ertappen, dann fiel die Maske, es gab Geflatter und Geschrei. Hühner kamen überall vor, wo Häuser standen, es war eine Last.


Eben hatte Sherard ihn angelacht, aber nur kurz. Er mußte sich Mühe geben und ein tüchtiger Fänger sein, er stammte aus Ing Ming und war mit fünf Jahren der Jüngste. „Ich muß aufpassen wie Adler“, pflegte Sherard zu sagen, nicht „wie ein Adler“, sondern „wie Adler“ ohne „ein“, und dabei guckte er ganz ernst und starr wie ein spähendes Tier, um zu zeigen, was er meinte. Sherard Philip Lound war klein, aber John Franklins Freund.


Jetzt nahm sich John die Uhr von St. James vor. Das Zifferblatt war an der Seitenkante des dicken Turms auf den Stein gemalt. Nur einen Zeiger gab es, und der mußte dreimal am Tag vorgerückt werden. John hatte eine Bemerkung gehört, die ihn mit dem eigensinnigen Uhrwerk in Verbindung brachte. Verstanden hatte er sie nicht, aber er fand seitdem, die Uhr habe mit ihm zu tun.

Im Inneren der Kirche stand Peregrin Bertie, der steinerne Ritter, und überschaute die Gemeinde, den Schwertgriff in der Hand seit vielen hundert Jahren. Einer seiner Onkel war Seefahrer gewesen und hatte den nördlichsten Teil der Erde gefunden, so weit weg, daß die Sonne nicht unterging und die Zeit nicht ablief.

Auf den Turm ließen sie John nicht hinauf. Dabei konnte man sich bestimmt an den vier Spitzen und ihren vielen Zacken gut festhalten, während man übers Land sah. Auf dem Friedhof kannte John sich aus. Die erste Zeile auf allen Grabsteinen hieß: „To the memory of“. Er konnte lesen, aber er vertiefte sich lieber in den Geist der einzelnen Buchstaben. Sie waren im Geschriebenen das Dauerhafte, das immer Wiederkehrende, er liebte sie. Die Grabsteine stellten sich tagsüber auf, der eine steiler, der andere schräger, um für ihre Toten etwas Sonne aufzufangen. Nachts legten sie sich flach und sammelten in den Vertiefungen ihrer Inschriften mit großer Geduld den Tau. Grabsteine konnten auch sehen. Sie nahmen Bewegungen wahr, die für menschliche Augen zu allmählich waren: den Tanz der Wolken bei Windstille, das Herumschwenken des Turmschattens von West nach Ost, die Kopfbewegungen der Blumen nach der Sonne hin, sogar den Graswuchs. Im ganzen war die Kirche John Frank­lins Ort, nur gab es dort außer dem Beten und Singen nicht viel zu tun, und gerade das Singen liebte er nicht.


Johns Arm hielt die Schnur. Die Herde hinter dem Hotel graste im Verlauf einer Viertelstunde um eine Ochsenlänge weiter. Das kleine Weiße war die Ziege, sie graste stets mit, denn das verhinderte, so hieß es, Angst und Unruhe in der Herde. Von Osten schwebte eine Möwe ein und setzte sich auf eine der roten Tonröhren des Hotelkamins. Auf der anderen Seite bewegte sich etwas, drüben vor dem Gasthaus Zum weißen Hirsch. John wandte den Kopf. Da ging seine Tante Ann Chapell, begleitet von Matthew, dem Seemann, und der hielt ihre Hand. Wahrscheinlich heirateten sie bald. Er trug eine Kokarde am Hut wie alle Seeoffiziere, wenn sie an Land waren. Die beiden nickten herüber, sagten etwas zueinander und blieben stehen. Um sie nicht anzustarren, studierte John den weißen Hirsch, wie er da auf dem Erkerdach lag, die goldene Krone um den Hals. Wie hatte man die übers Geweih gekriegt? Das wollte sicher wieder niemand beantworten. Links neben dem Hirsch stand zu lesen: „Dinners and Teas“ und rechts „Ales, Wines, Spirits“. Konnte es sein, daß Ann und Matthew über ihn, John Franklin, sprachen? Sie machten jedenfalls besorgte Gesichter. Äußerlich war er doch in Ordnung? Vielleicht sagten sie: „Er kommt nach der Mutter.“ Hannah Franklin war die langsamste Mutter weit und breit.

Er sah wieder nach der Möwe. Jenseits des Marschlandes lagen die Sandküste und das Meer. Seine Brüder hatten es schon gesehen. Es gab dort eine Bucht, genannt The Wash. In ihrer Mitte hatte King John seine Kronjuwelen verloren. Womöglich wurde man König, wenn man sie wiederfand. Er konnte beim Tauchen lang die Luft anhalten. Wenn einer viel besaß, waren die anderen sofort respektvoll und geduldig.

Der Waisenjunge Tommy im Kinderbuch war einfach fortgegangen. Nach dem Schiffbruch war er zu den Hottentotten gekommen und am Leben geblieben, weil er eine tickende Uhr hatte. Die Schwarzen hielten sie für ein Zaubertier. Er hatte einen Löwen gezähmt, der für ihn auf die Jagd ging, Gold gefunden und ein Schiff nach England erwischt. Reich kam er zurück und half seiner Schwester Goody bei der Aussteuer, denn sie heiratete gerade.


Als reicher Mann würde John tagelang die Gesichter der Häuser studieren und in den Fluß blicken. Abends würde er vor dem Kamin liegen von der ersten Flamme bis zum letzten Knistern, und alle würden es für ganz selbstverständlich halten. John Franklin, der König von Spilsby. Die Kühe grasten, die Ziege half gegen Unglück, Vögel ließen sich nieder, Grabsteine sogen sich voll Sonne, Wolken tanzten, überall Friede. Hühner waren verboten.


„Tranfunzel“, hörte John sagen. Tom Barker stand vor ihm, beobachtete ihn durch halbgeschlossene Augen und zeigte die Zähne. „Laß ihn!“ rief der kleine Sherard dem schnellen Tom zu, „der kann doch nicht wütend werden!“ Aber das wollte Tom eben herausfinden. John hielt die Schnur wie zuvor und sah Tom ratlos ins Auge. Der redete nun mehrere Sätze, so rasch, daß kein Wort zu verstehen war. „Verstehe nicht“, sagte John. Tom deutete auf Johns Ohr, und weil er schon so nahe dran war, packte er es und zog am Ohrläppchen. „Was soll ich?“ fragte John. Wieder viele Worte. Dann war Tom weg, John versuchte sich umzudrehen, obwohl ihn jemand festhielt. „Laß doch die Schnur los!“ rief Sherard. „Ist der blöd!“ schrien die anderen. Jetzt traf der schwere Ball gegen Johns Kniekehlen. Er fiel um wie eine zu steil gestellte Leiter, erst langsam und dann mit Wucht. Von der Hüfte und vom Ellenbogen her breitete sich Schmerz aus. Tom stand wieder da, nachsichtig lächelnd. Halblaut sagte er, ohne den Blick von John abzuwenden, etwas zu den anderen, wieder mit dem Wort „schläft“. John brachte sich wieder in die Höhe, die Schnur immer noch in der emporgestreckten Hand, daran wollte er nichts ändern. Vielleicht stellte sich die vorige Lage wie durch ein Wunder wieder her, und was dann, wenn er die Schnur hatte sinken lassen. Die Kinder kicherten und lachten, es klang wie Federvieh. „Hau ihm mal eine rein, dann wacht er auf!“ „Der tut nichts, der glotzt nur.“ Dazwischen stand immer irgendwo Tom Barker und sah unter den gesenkten Wimpern hervor. John mußte seine Augen weit aufreißen, um alles im Blick zu behalten, denn der andere wechselte ständig den Standort. Behaglich war das nicht, aber weglaufen wäre feige gewesen, auch konnte er gar nicht rennen, und außerdem hatte er nicht die geringste Angst. Schlagen konnte er Tom aber nicht. Blieb also nur übrig, ihm nachzugehen. Ein Mädchen rief: „Wann läßt der endlich die Schnur los?“ Sherard versuchte Tom festzuhalten, aber er war zu klein und zu schwach. Während John das noch zu sehen meinte, zog ihn jemand von hinten an den Haaren. Wie war Tom dorthin gekommen, da fehlte schon wieder ein Stück Zeit. Er drehte sich um, stolperte, und auf einmal lagen sie alle beide am Boden, denn Tom war mit dem Bein in die Schnur verheddert, und die hielt John jetzt wieder fest. Tom wandte sich um und stieß John die Faust gegen den Mund, kam wieder frei und tauchte weg. John fühlte, daß in der oberen Zahnreihe einer wackelte. Das war der Friede nicht! Er tappte ­energisch hinter Tom her wie eine ferngelenkte Puppe. Nutzlos fuhrwerkte er mit den Armen, als wolle er den Feind nicht schlagen, sondern fortwedeln. Einmal hielt ihm Tom das Gesicht richtig hin mit höhnischer Miene, aber Johns Hand blieb in der Luft stehen wie gelähmt, wie das Denkmal einer Ohrfeige. „Der blutet ja!“ „Geh doch nach Hause, John!“ Den Kindern wurde es peinlich. Auch Sherard mischte sich wieder ein: „Der kann sich doch nicht richtig wehren!“ John ging weiter hinter Tom her und angelte nach ihm, aber ohne Überzeugung. Sie waren vielleicht nicht alle gegen ihn, auch wenn sie lachten und gespannt zusahen, aber einen Moment lang konnte John nicht mehr einsehen, warum die Gesichter von Menschen so aussahen: fletschende Zähne, seltsam geweitete Nasenlöcher, auf- und zuklappende Augenlider, und einer wollte immer noch lauter sein als der andere. „John ist wie eine Hobelbank“, rief einer, vielleicht Sherard, „wenn er einen packt, dann hält er ihn fest!“ Aber eine Hobelbank kriegt keinen, der sich dünn macht. Es wurde langweilig.


Tom ging einfach weg, hoheitsvoll und nicht zu rasch, von John gefolgt, soweit die Schnur reichte. Dann gingen die ­anderen. Sherard sagte noch tröstend: „Tom hat Angst gekriegt!“


Die Nase war verkrustet und schmerzte. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er den Milchzahn, nach dem die Zunge in der Lücke noch vergebens tastete. Der Kittel war blutig. „Guten Tag, Mr. Walker!“ Der alte Walker war längst vorüber, als John das herausbrachte.


Im Auge hatte er jetzt wieder eine interessante Schliere, wenn er sie ansehen wollte, wich sie aus. Guckte er aber weg, rückte sie nach. Dieses Hin- und Herrücken mußte die Art sein, wie das Auge sich überhaupt bewegte. Es sprang von Punkt zu Punkt, aber nach welcher Regel? John legte einen Finger auf das geschlossene Lid des rechten Auges und durchforschte mit dem linken die High Street von Spilsby. Er spürte, wie das Auge weiterzuckte, immer Neues erfassend, zuletzt den Vater am Fenster, und der sagte: „Da kommt ja der Schwachkopf!“ Vielleicht hatte er recht: Johns Hemd war zerrissen, sein Knie aufgeschunden, der Kittel voll Blut, und er stand vor dem Marktkreuz, glotzte und befühlte sein Auge. Das mußte Vater kränken. „Deiner Mutter das anzutun!“ hörte John, und dann kamen schon die Prügel. „Tut weh!“ stellte John fest, denn der Vater mußte ja wissen, ob seine Anstrengungen Erfolg hatten. Der Vater meinte, er müsse seinen Jüngsten ordentlich verdreschen, damit er aufwache. Wer nicht kämpfen und sich nicht ernähren konnte, fiel der Gemeinde zur Last, das sah man an Sherards Eltern, und die waren nicht einmal langsam. Vielleicht Spinnarbeit, vielleicht mit krummem Rücken auf dem Feld. Vater hatte sicher recht.


Im Bett sortierte John die Schmerzen des Tages. Er liebte die Ruhe, aber man mußte eben auch das Eilige tun können. Wenn er nicht mitkam, lief alles gegen ihn. Er mußte also aufholen. John setzte sich im Bett auf, legte die Hände auf die Knie und wühlte mit der Zunge in der Zahnwunde, um besser nachdenken zu können. Er mußte jetzt Schnelligkeit studieren wie andere Menschen die Bibel oder die Spuren des Wildes. Eines Tages würde er schneller sein als alle, die ihm jetzt noch überlegen waren. Ich möchte richtig rasen können, dachte er, ich möchte sein wie die Sonne, die zieht nur scheinbar langsam über den Himmel! Ihre Strahlen sind schnell wie ein Blick des Auges, sie erreichen frühmorgens auf einen Schlag die fernsten Berge. „Schnell wie die Sonne!“ sagte er laut und ließ sich in die Kissen zurückfallen.

Im Traum sah er Peregrin Bertie, den steinernen Lord von Willoughby. Der hielt Tom Barker fest gepackt, damit er John zuhören mußte. Tom kam nicht frei, seine Raschheit reichte nur für ein paar winzige Bewegungen. John sah ihm eine Weile zu und überlegte sich immer wieder von neuem, was er ihm sagen könnte.


Zweites Kapitel


Der Zehnjährige und die Küste


Woran lag es? Vielleicht war es eine Art Kälte. Menschen und Tiere wurden starr, wenn sie froren. Oder es war wie bei den Leuten aus Ing Ming, die Hunger hatten. Er bewegte sich stockend, also fehlte ihm irgendeine besondere Nahrung. Er mußte sie finden und essen. John saß, während er das dachte, oben im Baum neben der Straße nach Partney. Die Sonne beschien Spilsbys Kaminröhren, und die Uhr von St. James, eben nachgestellt, zeigte vier Stunden nach Mittag. Große Tiere, dachte John, bewegen sich langsamer als Mäuse oder Wespen. Vielleicht war er ein heimlicher Riese. Scheinbar war er klein wie die anderen, aber er tat gut daran, sich vorsichtig zu bewegen, um niemanden totzutreten.


Er stieg wieder hinunter und wieder hinauf. Es ging wirklich zu langsam: die Hand griff nach dem Ast und fand Halt. Jetzt hätte er aber schon längst den nächsten Ast im Blick haben müssen. Was tat das Auge? Es blieb bei der Hand. Es lag also am Schauen. Den Baum kannte er schon sehr gut, aber schneller ging es trotzdem nicht. Seine Augen ließen sich nicht hetzen.


Wieder saß er in der Astgabel. Viertel nach vier. Er hatte ja Zeit. Ihn suchte keiner, höchstens Sherard, und der fand ihn nicht. Heute morgen die Kutsche! Mit starrem Blick hatten ihn die Geschwister angesehen, als er hineinkletterte, denn sie waren ungeduldig, und sie waren nicht gern seine Geschwister. John wußte, daß er seltsam aussah, wenn er etwas in Eile tat. Schon wegen der weit aufgerissenen Augen. Für ihn konnte sich der Türgriff plötzlich in eine Radspeiche oder in den Schwanz eines Pferdes verwandeln. Die Zunge im Mundwinkel, die Stirn gespannt, der Atem keuchend, und die anderen sagten: „Er buchstabiert wieder!“ So nannten sie seine Bewegungen, Vater selbst hatte den Ausdruck aufgebracht.


Er schaute zu langsam. Blind sähe es besser aus. Er hatte eine Idee! Er stieg wieder hinunter, legte sich auf den Rücken und lernte die ganze Ulme auswendig, jeden Ast, jeden Handgriff von unten her. Dann band er sich einen Strumpf ums Gesicht, tastete nach dem untersten Ast und bewegte seine Glieder aus dem Kopf, während er laut zählte. Die ­Methode war gut, aber etwas gefährlich. Er beherrschte seinen Baum doch noch nicht, es passierten Fehler. Er nahm sich vor, so schnell zu werden, daß der Mund mit dem Zählen nicht mitkam.


Fünf Stunden nach Mittag. Er saß keuchend und schwitzend in der Astgabel und schob den Strumpf in die Stirn ­hinauf. Keine Zeit verlieren, nur etwas verschnaufen! Der schnellste Mann der Welt würde er bald sein, sich aber noch listig verstellen, als habe sich nichts geändert. Zum Schein würde er immer noch träg hören, zäh sprechen, das Gehen buchstabieren und überall kümmerlich nachklappen. Aber dann käme eine öffentliche Vorführung: „Keiner ist schneller als John Franklin“. Auf dem Pferdemarkt in Horncastle würde er ein Zelt aufstellen lassen. Alle würden kommen, um richtig über ihn zu lachen, die Barkers aus Spilsby, die Tennysons aus Market Rasen, der sauergesichtige Apotheker Flinders aus Donington, die Cracrofts – eben alle von heute morgen! Er würde zunächst zeigen, daß er dem schnellsten Sprecher folgen konnte, auch bei völlig ungebräuchlichen Wendungen, und dann würde er so schnell antworten, daß keiner ein Wort verstand. Mit Spielkarten und Bällen würde er umgehen, daß allen die Augen flimmerten. John memorierte noch einmal die Äste und kletterte hinunter. Den letzten Halt verfehlte er und fiel. Er zog die Augenbinde hoch: immer das rechte Knie!


Heute mittag hatte Vater von einem Diktator in Frankreich gesprochen. Der sei gestürzt und habe den Kopf verloren. Wenn Vater viel Luther und Calvin getrunken hatte, verstand John gut, was er sagte. Auch sein Gang war dann anders, so als befürchte er ein plötzliches Nachgeben der Erde oder Änderungen der Witterung. Was ein Diktator war, mußte John noch herausfinden. Wenn er ein Wort verstanden hatte, wollte er auch wissen, was es hieß. Luther und Calvin, das waren Bier und Genever.

Er stand auf. Jetzt wollte er Ballspielen üben. Binnen einer Stunde wollte er den Ball gegen eine Wand werfen und wieder auffangen können. Aber eine Stunde später hatte er den Ball kein einziges Mal gefangen, sondern Prügel bezogen und ganz neue Entschlüsse gefaßt. Er hockte auf der Schwelle des Franklinhauses und dachte angestrengt nach.


Das Ballfangen hätte er fast geschafft, denn er hatte ein Hilfsmittel erfunden: den starren Blick. Er sah nicht etwa dem Ball nach, wie er hochstieg und niedersauste, sondern blieb mit dem Auge auf einer bestimmten Stelle der Mauer. Er wußte: den Ball fing er nicht, wenn er ihm folgte, sondern nur, wenn er ihm auflauerte. Einige Male wäre der Ball beinahe in die Falle gegangen, aber dann kam ein Unglück nach dem anderen. Zunächst hörte er das Wort „Zahnlücke“ – so hieß er seit gestern. Tom und die anderen waren da und wollten nur mal zuschauen. Dann das Lächelspiel. Wenn man John anlächelte, mußte er zurücklächeln, er konnte es nicht unterdrücken. Auch wenn man ihn unterdessen an den Haaren zog oder gegen das Schienbein trat, er wurde das Lächeln so schnell nicht los. Daran hatte Tom seinen Spaß, und Sherard konnte nichts ändern. Dann stahlen sie den Ball.

In der überdachten Passage neben dem Franklinhaus war Lärm verboten. Das Geschrei rief Mutter Hannah herbei, die um Vaters Laune besorgt war. Den Gegnern fiel auf, daß sie fast ebenso ging und redete wie John. Auch sie konnte nicht wütend werden, und das ließ Widersacher frech werden. Mutter verlangte den Ball, und man warf ihn ihr zu, aber so heftig, daß sie ihn nicht auffangen konnte. Die Jungen waren groß geworden, sie gehorchten einer Erwachsenen nicht, wenn sie langsam war. Jetzt kam Vater Franklin. Wen beschimpfte er? Mutter. Wen prügelte er? John. Dem verdutzten Sherard verbot er, sich hier noch einmal sehen zu lassen. So war das abgelaufen.


Der starre Blick eignete sich auch zum Nachdenken. Erst sah John nur das Marktkreuz, dann kam um diese Mitte herum immer mehr hinzu, Stufen, Häuser und Kutschen, er überblickte alles, ohne daß sein Auge hüpfte oder hetzte. Zugleich fügte sich in seinem Kopf eine große Erklärung allen Übels zusammen wie ein gemaltes Bild, mit Stufen und Häusern und dem Horizont dahinter.

Hier kannten sie ihn und wußten, wie sehr er sich anstrengen mußte. Er wollte lieber unter fremde Leute, die womöglich eher so waren wie er selbst. Es mußte sie geben, vielleicht sehr weit weg. Und dort würde er Schnelligkeit besser lernen können. Außerdem wollte er gern das Meer sehen. Hier konnte er nichts werden. John war entschlossen: heute nacht noch! Die Mutter konnte ihn nicht schützen und er sie auch nicht, er machte ihr eher noch Kummer. „Es ist nicht einfach mit mir“, flüsterte John, „ich werde mich ändern, und dann wird alles anders sein!“ Er mußte weg, nach Osten zur Küste, wo der Wind herkam. Er fing schon an, sich zu freuen.

Irgendwann würde er zurückkommen wie Tommy im Buch, flink und beweglich und in reiche Kleider gehüllt. Er würde in die Kirche gehen und mitten im Gottesdienst laut „Stop“ rufen. Alle, die ihn oder die Mutter gekränkt hatten, würden von selbst das Dorf verlassen, und Vater würde stürzen und den Kopf verlieren.

Gegen Morgen schlich er aus dem Haus. Er ging nicht über den Platz am Marktkreuz vorbei, sondern zwischen den Ställen durch direkt auf die Weiden. Sie würden ihn suchen, also mußte er an die Spuren denken. Er passierte Ing Ming. Sherard wollte er nicht wecken, der war arm und würde mitgehen wollen, und er war doch zu klein, um auf einem Schiff genommen zu werden. John erreichte die Ställe von Hundleby. Feuchtkühl war es noch und das Licht schwach. Er war gespannt auf die Fremde, und seine Pläne waren gut ausgedacht.


In einem dünnen Wassergraben watete er bis zum Bache Lymn. Sie würden denken, er sei in Richtung Horncastle gegangen und nicht zum Meer. In weitem Bogen wanderte er dann nördlich an Spilsby vorbei. Als die Sonne aufging, tappte er durch eine Furt des Steeping River, die Schuhe in der Hand. Jetzt war er schon weit östlich des Dorfs. Allenfalls den Schäfer konnte er noch treffen im Hügelland, aber der schlief bis in den Vormittag, getreu seiner Meinung, die Morgendämmerung müsse den Tieren des Waldes gehören. Der Schäfer hatte Zeit und dachte viel nach, meist mit geballten Fäusten. John mochte ihn, aber heute war es besser, ihm nicht zu begegnen. Vielleicht würde er sich einmischen. Ein Erwachsener hatte über das Weglaufen immer eine andere Meinung als ein Kind, auch wenn er nur ein Schäfer war, ein Langschläfer und Rebell.


Mühsam ging John durch Wälder und Wiesen, vermied jeden Weg, kroch durch Zäune und Hecken. Wenn er im dunklen Gehölz gegangen war und durchs Gebüsch aus dem Wald wieder ausstieg, griff die Sonne nach ihm, erst mit dem Licht und dann mit der Wärme, immer kräftiger. Dornen zerkratzten seine Beine. Er war froh wie noch nie, denn er war nun ganz auf sich selbst gestellt. Von fern hallten die Schüsse einer Jagdgesellschaft durch die Stämme. Er machte einen Bogen nach Norden durchs Weidegebiet, denn er wollte kein Wild sein.


John suchte einen Ort, an dem niemand ihn zu langsam fand. Der konnte aber noch weit sein.


Einen einzigen Schilling besaß er, ein Geschenk von Matthew, dem Seemann. Dafür bekam er im Notfall einen Braten mit Salat. Für einen Schilling konnte man auch einige Meilen mit der Postkutsche fahren, wenn man außen mitfuhr, also sich aufs Dach setzte. Aber da würde er sich nicht richtig festhalten können oder den Kopf nicht einziehen, wenn niedrige Torwege kamen. Am besten waren allemal das Meer und ein Schiff.


Als Steuermann war er vielleicht brauchbar, aber die anderen mußten ihm auch vertrauen. Vor Monaten hatten sie sich verirrt auf der Waldwanderung. Allein er, John, hatte die allmählichen Veränderungen beobachtet, den Sonnenstand, die Steigungen des Bodens – er wußte, wo es zurückging. Er ritzte eine Zeichnung in den Waldboden, aber sie wollten sich die gar nicht ansehen. Sie trafen eilige Entscheidungen, die sie ebensoschnell wieder umstießen. Allein konnte John nicht zurück, sie hätten ihn nicht gehen lassen. Sorgenvoll schlich er hinter den kleinen Königen des Schulhofs her, die ihr Ansehen der Schnelligkeit verdankten und jetzt nicht wußten, wie es weitergehen sollte. Wäre nicht der schottische Viehtreiber gewesen, sie hätten im Freien übernachtet.


Jetzt stand die Sonne im Zenit. In der Ferne bevölkerte eine Schafherde die Nordseite eines Hügels. Die Wasser­gräben wurden häufiger, die Wälder dünner. Er sah weit ins flache Land hinein und erkannte Windmühlen, Alleen und Herrensitze. Der Wind frischte auf, die Möwenschwärme wurden größer. Bedächtig überwand er Zaun um Zaun. Kühe kamen nickend und schaukelnd, um ihn zu besich­tigen.

Er legte sich hinter eine Hecke. Die Sonne füllte seine Augen hinter den geschlossenen Lidern mit rotem Feuer. Sherard, dachte er, wird sich betrogen fühlen. Er schlug die Augen wieder auf, um nicht traurig zu werden.

Wenn man nur so dasäße und ins Land schaute wie ein Stein, ganze Jahrhunderte lang, und aus Grasflächen würden Wälder, und aus Sümpfen Dörfer oder Äcker! Niemand würde ihm eine Frage stellen, man würde ihn als Menschen nur erkennen, wenn er sich bewegte.


Von der Erdbevölkerung konnte man hier hinter der Hecke nichts weiter hören als ferne Hühner und Hunde, und ab und zu einen Schuß. Vielleicht begegnete er im Wald einem Räuber. Dann wäre der Schilling dahin.

John stand auf und schritt weiter durch die Marschwiesen. Die Sonne sank schon zum Horizont, weit hinten über Spilsby. Die Füße schmerzten, die Zunge klebte. Er umging ein Dorf. Immer breitere Gräben waren zu durchwaten oder zu überspringen, und John sprang schlecht. Dafür hörten die Hecken auf. Er folgte einem Weg, obwohl er auf ein Dorf hinführte, dessen Kirche so aussah wie St. James. Die Vorstellung vom elterlichen Haus und vom Abendessen schob er leicht beiseite. Er dachte trotz des Hungers vergnügt, daß sie jetzt dort saßen und warteten, sie, die nicht warten konnten, und daß sie Bemerkungen für seine Ohren sammelten, die sie nicht loswerden würden.


Das Dorf hieß Ingoldmells. Die Sonne ging unter. Ein Mädchen verschwand mit einer Last auf dem Kopf ins Haus, ohne ihn zu sehen. Da erkannte John jenseits des Dorfs das, was er suchte.

Eine bleigraue, riesenhaft ausgedehnte Ebene lag da, schmutzig und neblig, wie ein ausladender Brotteig, etwas drohend wie ein ferner Stern von nah gesehen. John atmete tief. Er setzte seine Füße in einen stolpernden Trab und lief auf das ausladende Ding zu, so schnell er konnte. Jetzt hatte er den Ort gefunden, der zu ihm gehörte. Das Meer war ein Freund, das spürte er, auch wenn es im Augenblick nicht so gut aussah.


Es wurde dunkel. John suchte nach dem Wasser. Es gab nur Schlamm und Sand und dünne Rinnsale, er mußte warten. Hinter einer Bootshütte liegend, starrte er auf den schwärzlichen Horizont, bis er einschlief. Nachts wachte er mitten im Nebel auf, ausgekühlt und hungrig. Das Meer war jetzt da, er hörte es. Er ging hin und senkte sein Gesicht auf wenige Fingerbreit über die Linie, wo das Land ins Meer überging. Wo die war, ließ sich aber nicht genau ausmachen. Mal saß er im Meer, mal an Land, das gab zu denken. Woher kam nur der viele Sand? Wohin verschwand das Meer bei Ebbe? Er war glücklich und klapperte mit den Zähnen. Dann ging er wieder zur Hütte und versuchte zu schlafen.

Morgens tappte er am Ufer entlang und beobachtete die Gischtfetzen. Wie kam er auf ein Schiff? Zwischen schwarzen, faulig riechenden Netzen zimmerte ein Fischer am umgedrehten Boot. John mußte sich seine Frage gut überlegen und sie etwas üben, damit der Fischer nicht gleich die Geduld verlor. In der Ferne sah er ein Schiff. Die Segel schimmerten vielfältig in der Morgensonne, der Rumpf war schon jenseits der Wasserkante verschwunden. Der Mann sah Johns Blick, kniff die Augen zusammen und prüfte das Schiff. „Das ist eine Fregatte, ein Mann des Krieges.“ Ein etwas erstaunlicher Satz! Dann zimmerte er wieder. John sah ihn an und stellte seine Frage: „Wie komme ich, bitte, auf ein Schiff?“

„In Hull“, sprach der Fischer und wies mit dem Hammer nach Norden, „oder Skegness im Süden, aber nur mit viel Glück.“ Er betrachtete John mit einem schnellen Blick von oben bis unten und, wie der in der Luft stehenbleibende Hammer verriet, mit Interesse. Ein weiteres Wort kam nicht aus seinem Munde.

Der Wind zerrte und schob, John stampfte nach Süden. Glück hatte er bestimmt, also Skegness! Er wandte kaum den Blick von den unaufhörlich ins Land greifenden Wellen. Ab und zu setzte er sich auf eine der hölzernen Barrikaden, die in gestaffelter Formation das Meer an seiner Sandarbeit hindern sollten. Ständig sah er neue Rinnsale, Teiche und Löcher entstehen, die sich alsbald wieder in strahlend glatte Flächen zurückverwandelten. Triumphierend schrien die Möwen: „Richtig so!“ oder „Geh nur!“ Am besten gar nicht erst betteln! Sofort auf ein Schiff, da gab es auch zu essen. Wenn die ihn erst einmal genommen hatten, dann fuhr er dreimal um die Welt, bevor sie ihn wieder nach Hause schicken konnten. Die Häuser von Skegness schimmerten schon hinter den Dünen. Er war schwach, aber zuversichtlich. Er setzte sich nieder und starrte eine Weile auf den feingerippten Sand, und seine Ohren hörten die Glocken der Stadt.


Die Wirtin in Skegness sah John Franklins Bewegungen, blickte ihm in die Augen und sagte: „Der kommt nicht mehr vom Fleck, der ist ja halb verhungert.“ John fand sich an einem Tisch mit rauhem Tuch wieder, einen Teller vor sich mit einer Scheibe darauf, wie dickgeschnittenes Brot, aber aus Fleischstücken zusammengesetzt. Den Schilling durfte er steckenlassen. Es schmeckte kühl, sauer und salzig und war für den Schlund, was Glocken für die Ohren waren und feingerippter Sand für die Augen. Er aß voll tiefer Freude, die gierigen Fliegen störten nicht, er lächelte während der ganzen Mahlzeit. Auch die Zukunft sah reich und freundlich aus, dabei überschaubar wie auf einem Teller. Er war auf dem Weg in fremde Erdteile. Er würde die Schnelligkeit erforschen und lernen. Eine Frau hatte er gefunden, die ihm zu essen gab. Da konnte auch ein gutes Schiff nicht weit sein.

„Wie heißt das?“ fragte er und deutete mit der Gabel auf den Teller. „Das ist eine gestandene Schüssel“, sagte die Wirtin, „Sülze vom Schweinskopf, die gibt Kraft.“

Er hatte jetzt Kraft, aber ein Schiff fand er nicht. Kein Glück sonst in Skegness. Sülze ja, Fregatte nein. Aber das konnte ihn nicht beirren. In der Nähe sollte der Gibraltar Point liegen, da kamen viele Schiffe vorbei auf dem Weg in die Bucht Wash. Dort wollte er sich umsehen. Vielleicht konnte er ein Floß bauen und hinausfahren bis zur Schifffahrtslinie, dann sahen sie ihn und mußten ihn mitnehmen. Er wanderte nach Süden aus dem Ort hinaus: Gibraltar Point!


Nach einer halben Stunde im gleißenden Sand drehte er sich um. Die Stadt verschwamm schon wieder im Dunst. Davor aber bewegte sich ein Punkt, sehr klar zu erkennen. Da näherte sich jemand ganz rasch! John beobachtete die Bewegung mit Sorge. Immer länglicher wurde der Punkt in der Senkrechten, hüpfte auf und ab. Das war kein Mensch zu Fuß! John stolperte eilends hinter einen der Wellenbrecher aus Holzbalken, kroch flach am Boden bis zur Wasserlinie und versuchte sich in den Sand einzuwühlen. Er lag auf dem Rücken, scharrte mit Fersen und Ellenbogen und hoffte, das Meer würde ihn mit einigen langen, leckenden Schlägen so einsintern lassen, daß nur die Nase heraussah. Jetzt hörte er Hundegebell näher kommen. Er hielt die Luft an und blickte starr in die Wolken des Himmels, mit hölzernen Gliedern, als sei er selbst der Wellenbrecher. Als die Jagdhunde direkt in sein Ohr kläfften, gab er auf. Sie hatten ihn. Nun sah er auch die Pferde.


Vom Fluß Steeping her war Thomas angeritten, von Skegness der Vater mit den Hunden. Thomas zerrte ihn am Arm, John wußte nicht warum. Dann übernahm ihn Vater, es kamen die Prügel, gleich hier unter der Nachmittagssonne.

Sechsunddreißig Stunden nach dem Beginn seiner Flucht war John wieder auf dem Heimweg, vor seinem Vater sitzend auf dem immerzu wackelnden und stoßenden Pferd, und durch verschwollene Augen beobachtete er die fernen Berge, die wie im Hohn zusammen mit ihm zurückritten nach Spilsby, während Hecken, Bäche und Zäune, die ihn Stunden gekostet hatten, vorüberflimmerten auf Nimmerwiedersehen.


Jetzt hatte er keine Zuversicht mehr. Auf das Erwachsenwerden wollte er nicht mehr warten! Eingesperrt in die Kammer mit Wasser und Brot, damit er daraus etwas lerne, wollte er auch nichts mehr lernen. Bewegungslos starrte er immer auf den gleichen Fleck, ohne etwas zu sehen. Sein Atem ging, als sei die Luft wie Lehm. Seine Lider schlossen sich nur alle Stunden, er ließ alles laufen, was lief. Jetzt wollte er nicht mehr schnell werden. Im Gegenteil, er wollte sich zu Tode verlangsamen. Es war sicher nicht leicht, Kummers zu sterben ohne Hilfsmittel, aber er würde es schaffen. Allem Zeitablauf gegenüber würde er sich jetzt willentlich verspäten und bald so nachgehen, daß sie ihn ganz für tot hielten. Der Tag der anderen würde für ihn nur eine Stunde dauern, und ihre Stunde Minuten. Ihre Sonne jagte über den Himmel, platschte in die Südsee, schoß über China wieder herauf und rollte über Asien weg wie eine Kegelkugel. Die Leute in den Dörfern zwitscherten und zappelten eine halbe Stunde, das war ihr Tag. Dann verstummten sie und sanken um, und der Mond ruderte hastig über das Firmament, weil auf der anderen Seite schon wieder die Sonne herankeuchte. Immer langsamer würde er werden. Der Wechsel von Tag und Nacht schließlich nur noch ein Flimmern, und endlich, weil sie ihn ja für tot hielten, sein Begräbnis! John sog die Luft ein und hielt den Atem an.


Die Krankheit wurde ernster, mit heftigem Leibschneiden. Der Körper warf heraus, was er eben hatte. Der Geist wurde dämmrig. Die Uhr von St. James, er sah sie durchs Fenster, konnte John nichts mehr sagen, wie sollte er sich noch mit einer Uhr zusammenbringen? Um halb elf war es wieder zehn, jeder Abend war wieder der Abend zuvor. Wenn er jetzt starb, war es wieder wie vor der Geburt, er war nicht gewesen.


Fiebrig war er wie ein Ofen. Senfpflaster wurden aufgelegt, Tee von Königskerzen und Leinsamen eingeflößt, dazwischen schluckte er Gerstenschleim. Der Doktor befahl, die anderen Kinder gut fernzuhalten. Sie sollten Johannis- und Heidelbeeren essen, das helfe gegen die Ansteckung. Alle vier Stunden wanderte ein Löffel mit einem Pulver aus Columbowurzel, Kaskarillenrinde und getrocknetem Rhabarber über Johns Lippen.


Krankheit war keine schlechte Methode, um den Überblick wiederzugewinnen. Besucher kamen ans Bett: Vater, Großvater, dann Tante Eliza, schließlich Matthew, der Seemann. Mutter war fast ständig da, stumm und ungeschickt, aber nie hilflos und immer friedlich, als wüßte sie sicher, daß alles doch noch gut werden würde. Ihr waren alle überlegen, und sie brauchten sie doch. Vater siegte, und immer ganz ­unnütz. Er war immer oben, zumal beim Reden, und sogar wenn er Freundliches sagen wollte: „Nicht mehr lange, und du bist auf der Schule in Louth. Da wirst du einen Casum setzen lernen, das werden sie dir einbleuen und anderes mehr.“ Geschützt durch Krankheit studierte John, was sonst noch alles kam. Großvater war schwerhörig. Jeden, der lispelte oder nuschelte, betrachtete er als Herausforderer. Ein Ver­räter war, wer es wagte, einen Nuschler zu verstehen: „Dadurch gewöhnt er sich’s ja an!“ Während dieses Vortrags durfte John die Taschenuhr sehen. Auf dem reichbemalten Zifferblatt trug sie einen Bibelspruch, der mit „Selig sind …“ anfing, es war eine verzwickte Schrift. Als Junge, erzählte Großvater unterdessen, sei er von zu Hause fortgelaufen zur Küste. Auch er sei wieder eingefangen worden. Der Bericht endete so plötzlich, wie er angefangen hatte. Großvater befühlte Johns Stirn und ging.


Tante Eliza schilderte ihre Reise von Theddlethorpe-All-Saints, wo sie wohnte, bis nach Spilsby, eine Fahrt, auf der sie nichts gesehen hatte. Ihre Rede ging dennoch fort und fort wie eine ausrauschende Drachenschnur. An Tante Eliza konnte man lernen, daß bei allzu schnellen Reden der Inhalt oft so überflüssig war wie die Schnelligkeit. John schloß die Augen. Als die Tante das endlich merkte, ging sie übertrieben leise und etwas gekränkt hinaus. Anderntags kam Matthew. Er sprach vernünftig und machte Pausen. Er behauptete keineswegs, daß auf See alles sehr schnell gehen müsse. Er sagte nur: „Auf einem Schiff muß man klettern können und vieles auswendig lernen.“ Matthew hatte besonders starke Unterzähne, er sah aus wie ein wohlwollender Bullenbeißer. Sein Blick war scharf und sicher, es war immer deutlich, wo er hinsah und was ihn wirklich interessierte. Matthew wollte von John eine Menge hören und wartete geduldig, bis die Antworten fertig waren und herauskamen. Auch John hatte viel zu fragen. Es wurde Abend.

Wenn einer vom Meer etwas verstand, dann hieß das ­Navigation. John sprach das Wort einige Male nach. Es bedeutete: Sterne, Instrumente und sorgfältige Überlegungen. Das gefiel ihm. Er sagte: „Segel möchte ich setzen lernen!“

Bevor Matthew ging, beugte er sich näher zu John heran. „Ich fahre jetzt zur Terra australis, ich werde zwei Jahre lang weg sein. Danach bekomme ich ein eigenes Schiff.“ Terra ­australis, terra australis«, übte John.

„Lauf nicht wieder weg! Du kannst ein Seemann werden. Du bist allerdings etwas nachdenklich, also mußt du Offizier werden, sonst erlebst du die Hölle. Versuch die Schule zu überstehen, bis ich wieder da bin. Ich schicke dir noch Bücher über Navigation. Ich werde dich als Midshipman auf mein Schiff nehmen.“

„Bitte noch mal!“ bat John. Als er alles genau verstanden hatte, wollte er gleich wieder schneller werden.

„Es geht schon viel besser“, verkündete der Arzt mit Stolz. „Gegen die Kaskarillenrinde kommt das böse Blut nicht an!“


Drittes Kapitel


Dr. Orme


Alle Knöpfe falsch geknöpft: noch einmal von vorne! War das Halstuch ordentlich gebunden, die Kniehose zureichend geschlossen? Vor dem Frühstück Überprüfung der äußeren Person durch den Unterlehrer. Durchgefallen: kein Frühstück. Für jeden falsch sitzenden Knopf: Nasenstüber. Waren die Haare nicht gekämmt: Kopfnuß. Den Kragen der Weste über den Rock legen, die Strümpfe glattziehen. Lauter Gefahren lauerten schon am Anfang des Tages. Schuhe mit Schnallen, Ärmelaufschläge, Rockschöße und der Hut, diese Falle!

Das Anziehen war bestimmt eine gute Übung für später. Die Schule hatte Nachteile, aber John war fest davon überzeugt, daß man an jedem Ort der Welt irgend etwas für das Leben lernen konnte, also auch in der Schule. Selbst wenn dem nicht so war, kam Flucht nicht in Frage. Es mußte gewartet werden – wenn nicht aus Lust, dann aus Klugheit.

Von Matthew noch keine Nachricht. Aber warum auch? Zwei Jahre, hatte er gesagt, und die waren noch längst nicht um.


Lernen im Unterricht. Der Schulraum war dunkel, die Fenster hoch droben, draußen Herbststurm. Dr. Orme saß wie in einer Altarnische hinter seinem Pult, und auf diesem stand die Sanduhr. Alle Körner mußten durch die Engstelle, um unten denselben Haufen zu bilden wie vordem oben. Der entstandene Zeitverlust hieß Lateinstunde. Es wurde schon kühl, und der Kamin war beim Lehrer.

Die ältesten Schüler hießen Moderatoren, sie saßen oben an der Wand und überwachten alle anderen. In der Nähe der Tür saß Unterlehrer Stopford und notierte sich Schüler­namen.

John starrte gerade auf die Windungen in Hopkinsons Ohr, da wurde eine Frage an ihn gerichtet. Aber er verstand ihren Sinn. Jetzt Vorsicht! Bei eiligen Antworten kam sein Stottern und Würgen, das störte die Zuhörer. Andererseits hatte Dr. Orme schon in der ersten Woche ein für alle Mal ­erklärt: „Wer das Richtige sagt, braucht dabei nicht gut auszusehen!“ Daran konnte man sich halten.

Aufsagen, Konjugieren, Deklinieren, den richtigen Casum setzen. Wenn das geschafft war, hatte er wieder Zeit für die Windungen Hopkinsons oder für die Mauer, die er durchs Fenster sah, nasse Ziegel und flatternde Schlingpflanzen im Sturm.


Lernen in der freien Zeit am Abend. Bogenschießen im Hof erlaubt, Würfeln und Kartenspielen verboten. Schach erlaubt, Backgammon verboten. Wenn er durfte, ging John zu seinem Kletterbaum, wenn nicht, dann las er oder übte etwas. Manchmal probierte er Schnelligkeit mit dem Messer: die eine Hand lag gespreizt, mit der anderen stieß er die Klinge in die Dreiecke zwischen seinen Fingern. Das Messer war entwendet, der Tisch litt empfindlich, und ab und zu traf es einen der Finger. Es war ja nur die Linke.

Auch Briefe schrieb er, an Mutter oder an Matthew. Beim Schreiben wollte ihm nie einer zusehen, dabei schrieb er gern und in Schönschrift. Wie er den Gänsekiel eintauchte, abstreifte, die Buchstaben malte, das Blatt faltete, um es zu versiegeln – das zu sehen hielt keiner aus.

In der Schule ein anderer zu werden, das war schwer. Hier war es wie in Spilsby: sie kannten seine Schwäche, keiner glaubte an seine Übungen, alle waren nur davon überzeugt, daß er immer so bleiben würde, wie er war.


Mit anderen Schülern umgehen lernen. Auch auf einem Schiff würde er es mit einer Menge von Leuten zu tun haben, und wenn zu viele ihn nicht mochten, wurde es mühsam.

Die Schüler waren mit allem rasch fertig und merkten ­sofort, wenn einer nachklappte. Namen nannten sie stets nur einmal. Fragte er nach, dann buchstabierten sie. Beim schnellen Buchstabieren kam er schlechter mit als beim langsamen Sprechen. Die Ungeduld der anderen aushalten. Charles Tennyson, Robert Cracroft, Atkinson und Hopkinson, die wetzten an John ihre Schnäbel, wo es ging. Ihm schien es, als sähen sie ihn immer nur mit einem Auge an. Mit dem jeweils anderen verständigten sie sich untereinander. Sagte er etwas, dann legten sie den Kopf schief, das hieß: „Du langweilst, komm endlich zum Schluß!“ Die schwierigste Aufgabe war nach wie vor Tom Barker. Gab man ihm, was er verlangte, dann tat er, als habe er ganz anderes verlangt. Wer zu ihm sprach, wurde sofort unterbrochen, wer ihn ansah, stieß auf eine Grimasse. Im Schlafsaal mußten John und Tom nebeneinanderliegen, weil sie beide aus Spilsby kamen. Sie teilten sich die Truhe zwischen ihren Betten. Jeder sah, was der andere hatte. Vielleicht eine gute Vorbereitung auf die Seefahrt, da ging es auch eng zu, und manche konnten sich nicht leiden.


Nichts konnte John elend machen, seine Hoffnung war die eines Riesen. Über Hindernisse, die er nicht besiegen konnte, sah er einfach hinweg. Meistens wußte er sich aber zu helfen. Er hatte an die hundert Redewendungen auswendig gelernt, sie lagen bereit und nützten sehr, denn ihre Geläufigkeit gab manchem Zuhörer den Mut, noch ein wenig zu warten, bis John zum Kern seiner Antwort kam. „Wenn du so willst“, „zuviel der Ehre“ oder „das ergibt sich aus der Sache selbst“, „vielen Dank für die Bemühung“ – das ließ sich schnell hersagen. Auch die Admirale konnte er schon flüssig. Es wurde viel von Siegen geredet, da wollte er Admiralsnamen sofort erkennen und ergänzen können.

Und Gespräche wollte er führen lernen. Er hörte ohnehin gern zu und freute sich, wenn die eingefangenen Bruchstücke einen Sinn ergaben. Mit Tricks war er vorsichtig. Einfach ja sagen und so tun, als habe er verstanden, das bewährte sich nicht. Allzuoft wurde von einem, der ja gesagt hatte, irgend etwas erwartet. Sagte er aber nein, dann fielen sie erst recht über ihn her: Warum nein? Begründung! Grundloses Nein war noch schneller entlarvt als grundloses ja.

Überreden will ich niemanden, dachte er. Wenn die anderen nur mich nicht überreden. Sie sollen mich fragen und gespannt auf meine Antwort warten. Dahin muß ich es bringen, das ist alles.


Der Baum. Der Weg dorthin führte durch die Evangeliumsgasse und dann durch eine Straße, die Das gebrochene Genick hieß. Durch Klettern wurde er nicht schneller, das wußte er inzwischen. Aber damit war der Baum nicht unnütz. Von Ast zu Ast ließ sich zusammenhängend nachdenken, viel besser als zu ebener Erde. Wenn er fest schnaufen mußte, sah er eine Ordnung in den Dingen.

Von oben war die Stadt Louth zu überblicken: rote Ziegel, weiße Simse und zehnmal mehr Kaminröhren als in Spilsby. Die Häuser sahen allesamt der Schule ähnlich, nur schienen sie geschrumpft. Auch fehlte ihnen der zugemauerte Hof und die Rasenfläche. Die Schule hatte drei hohe, eckige Schornsteine, als sollte drinnen was geschmiedet werden. Gehämmert wurde genug.


Der „Tag der Korrektur“. Es gab zwei, den Stocktag und den Rutentag. Konnte eine Pflanze in Freiheit so wachsen, daß ein Rohrstock daraus wurde? Seltsam war auch, daß es so viele Bezeichnungen gab, wenn es ums Bestrafen ging. Der Kopf hieß Rübe oder Poetenkasten, der Hintern Register, die Ohren Löffel, die Hände Tatzen und die zu Bestrafenden Male­faktoren. John hatte mit gebräuchlichen Wörtern schon genug zu tun. Ihm schienen diese zusätzlichen Vokabeln verschwendet.

Die Strafe selbst ignorierte er. Den Mund geschlossen, den Blick auf die ferne Welt gerichtet, so überstand man alle Tage der Korrektur. Schmählich war, daß die Moderatoren den Delinquenten festhielten, als wolle er fortlaufen. John ignorierte sie ebenfalls. Strafen gab es auch außer der Reihe. Zu spät beim Gebet, zum Baum nicht abgemeldet, beim Würfeln ­erwischt: da kam es ad hoc! Im Siegel der Schule stand: „Qui parcit virgam, odit filium“ – „Wer die Rute spart, haßt das Kind.“ Dr. Orme bemerkte, es handle sich um minderes Latein. Parcere regiere den Dativ.

Dr. Orme trug seidene Kniehosen, wohnte in einem Haus am Gebrochenen Genick und machte dort, wie es hieß wissenschaftliche Experimente mit Uhren und Pflanzen – beides sammelte er mit Eifer. Einer seiner Vorfahren, so sagte man, habe zu den berühmten „acht Kapitänen von Portsmouth“ gehört. Obwohl John nie erfuhr, was diese Kapitäne getan haben sollten, bekam der zarte Schulmeister für ihn etwas Navigatorisches, oft sah er ihn sogar als einen auf geheimnisvolle Weise Verbündeten an.


Dr. Orme brüllte und prügelte nie. Vielleicht interessierten ihn die Kinder weniger als seine Uhren. Er ließ die nötige Disziplin vom Unterlehrer herstellen und kam nur zu den Unterrichtsstunden herüber.

Mit Menschen wie Stopford wollte John besser umgehen lernen, sie waren nicht ungefährlich. In den ersten Schul­tagen hatte er einmal auf eine Frage Stopfords gesagt: „Sir, für die Antwort brauche ich etwas Zeit!“ Der Unterlehrer war irritiert. Es gab Schülerverbrechen, die selbst ihm keine Freude machten. Mehr Zeit zu verlangen, das war keine Zucht mehr.


Thomas Webb und Bob Cracroft führten dicke Notizbücher, in die sie alle Tage in Schönschrift etwas eintrugen. Auf den Einbänden stand „Aussprüche und Gedanken“ oder „Gebräuchliche lateinische Phrasen“. Das machte einen guten Eindruck, deshalb begann John ein umfängliches Heft mit der Überschrift: „Bemerkenswerte Phrasen und Konstruktionen zur Erinnerung“ und trug Zitate von Vergil und ­Cicero ein. Wenn er nicht darin schrieb, lag das Heft unter seiner Wäsche in der Truhe.


Das Abendessen. Nach langem Gebet nur Brot, Dünnbier und Käse. Fleischbrühe bekamen sie zweimal die Woche, ­Gemüse nie. Wer in Obstgärten einfiel und plünderte, kriegte den Stock. In Rugby, erzählte Atkinson, hätten sie vor zwei Jahren ihren Rektor in den Keller gesperrt. Seitdem gebe es dreimal die Woche Fleisch im Stück und nur einmal Prügel. „Ist er denn noch unten?“ fragte John.

In der Flotte hatten sie auch gemeutert, gegen Admirale!


Der Schlafsaal war groß und kalt. Überall standen die Namen von gewesenen Schülern, die es zu etwas gebracht hatten, weil sie hier tüchtig gelernt hatten. Die Fenster waren vergittert. Die Betten ragten frei in den Raum. Beiderseits zugänglich war jeder Schläfer, keiner konnte sich zu einer schützenden Wand kehren und sie anstarren oder auf sie hinweinen. Man tat, als ob man schliefe, bis man schlief. Die Lampe brannte immer. Stopford wanderte auf und ab und sah nach, wo die Schüler ihre Hände hätten. John Franklins Reisen unter der Decke fielen nicht auf, er entzog sie dem Auge durch Gemächlichkeit.


Oft lernte er auch beim Einschlafen, indem er wiederholte, was er gelernt hatte, oder er sprach mit Sagals.

Den Namen hatte er irgendwann geträumt. Inzwischen stellte er sich einen großen Mann vor, weißgekleidet und ruhig, der von jenseits der Saaldecke herunterblickte und zuhören konnte, auch bei schwierigen Gedanken. Mit Sagals ließ sich reden, der war nie plötzlich weg. Er sagte kaum etwas, nur ab und zu ein einziges Wort, das aber einen Sinn ergab, gerade wenn es ganz außerhalb von Johns Überlegung stand. Ratschläge gab Sagals nicht, aber an seinem Gesicht meinte John deutlich zu erkennen, was er dachte. Zumindest, ob es mehr ein Ja oder mehr ein Nein war. Er konnte auch freundlich-hintergründig lächeln. Das Beste war aber, daß er Zeit hatte. Sagals blieb immer so lange über dem Saal, bis John eingeschlafen war. Matthew würde auch bald kommen.


Auf Navigation verstand er sich jetzt. Mit Gowers „Abhandlung über Theorie und Praxis der Seefahrt“ hatte er angefangen. Im Einbanddeckel war ein kleines Schiff festgeknüpft, es hatte verstellbare Rahen und ein bewegliches Ruderblatt. Hier übte John Wenden und Halsen. Das Buch selbst war das Meer, ein Fahrwasser zum Zuklappen. Moores „Praktischen Navigator“ hatte er gelesen und sich an Euklid versucht. Rechnen fiel ihm leicht, wenn keiner drängte. Manchmal verwechselte er noch plus und minus, er wurde den Zweifel nie ganz los, ob der Unterschied so kleiner Zeichen wirklich von Belang sei. Die Abdrift von Schiffen, die Mißweisung des Kompasses, die Mittagshöhe, all das konnte er ausrechnen. Im Frühjahr sprach er mehr als hundertmal in die hellen Blätter des Baums hinein: „Sphärische Trigonometrie, sphärische Trigonometrie.“ Er wollte den Namen seines Gebiets fehlerfrei vorbringen können.

Ein neuer Lehrer sollte kommen, ein junger Mann ­namens Burnaby. Vielleicht unterrichtete er Mathematik.

Navigation: wenn man in Louth dieses Wort gebrauchte, meinte man damit den Binnenkanal vom Lud zur Humbermündung. Soviel zu Louth! Dabei lag das Meer nur einen halben Tag weit entfernt. Nach einem neuen Gespräch mit Sagals widerstand John der Versuchung. Er wollte weiter auf Matthew warten.

Er wollte auch Tom Barker dazu bringen, in die Marine mitzukommen.


Ins Heft schrieb John jetzt nur noch englische Sätze zum eigenen Gebrauch, Erklärungen seines Eigensinns und Zeitsinns, die er notfalls geläufig wollte abgeben können.

Atkinson und Hopkinson waren mit ihren Eltern am Meer gewesen. Nein, auf Schiffe habe er nicht geachtet, sagte Hopkinson. Dafür erzählte er von Bademaschinen. Das waren Kabinen auf Rädern, die von einem Pferd ins Meer gezogen wurden, damit der Badende sich ungesehen zu Wasser lassen konnte. Und daß die Damen in Flanellsäcken badeten. Was Hopkinson eben so alles interessierte. Atkinson redete ausschließlich von einem Galgen, an dem der Mörder Keal aus Muckton gehängt worden sei, und dann gevierteilt, und dann den Vögeln zum Fraß vorgeworfen. „Das ergibt sich aus der Sache selbst“, antwortete John höflich, aber etwas enttäuscht. Atkinson und Hopkinson waren keine Zierde für eine seefahrende Nation.


Andrew Burnaby zeigte meist ein sanftes Lächeln. Er sagte gleich zu Anfang, er sei für alle da, besonders für die Schwächeren. So sah John sein Lächeln oft. Es wirkte immer ein wenig angespannt, denn wer für alle da war, der hatte wenig Zeit. Zu Körperstrafen neigte Burnaby nicht, aber er hatte den Ehrgeiz, die Zeit auszunutzen. Die Stunden der Sanduhr bedeuteten nichts mehr, es ging jetzt um Minuten und Sekunden. Für die Antworten auf seine Fragen setzte er heimlich oder ausdrücklich eine geziemende Zeitgrenze, und was nicht rechtzeitig kam, mußte nachgearbeitet werden. John überschritt diese Grenze jedesmal und antwortete oft außer der Reihe unerwartet auf die vorletzte Frage, denn nichts konnte ihn von einer Lösung abhalten, auch wenn sie schon ganz unziemlich geworden war. Das mußte besser werden. Ins Phrasenheft schrieb er: „Es gibt für alles zwei Zeitpunkte, den richtigen und den verpaßten“, und darunter: „Sagals, erstes Buch, drittes Kapitel“, damit es wie ein anerkanntes Zitat aussah. Er legte das Heft jetzt nicht mehr unter die Wäsche, sondern offen obenauf. Sollte Tom es ruhig lesen. Ob er es wohl tat?


Am Sonntag Jubilate regnete es. John ging mit Bob Cracroft auf den Jahrmarkt. Es troff von den Zelten, man patschte in die Pfützen. John war nicht glücklich, denn er dachte an Tom Barker und an sich selbst. Wenn es den idealen Menschen auch bei uns gibt und nicht bloß in Griechenland, dachte er, dann hat er lange, helle Glieder, lacht leise und kann so gemein sein wie Tom. Seit er Tom bewunderte, betrachtete er sich selbst mit Mißfallen. Wie er daherkam zum Beispiel: breitbeinig, rundäugig, mit schiefem Kopf wie ein Hund. Seine Bewegungen klebten in der Luft, und sprechen konnte er nur wie die Axt auf dem Hackklotz. Es gab nicht viel zu lachen, und wenn, dann lachte er zu lang. Die Stimme war heiser geworden, als krähe ein Hahn aus ihm. Das würde auf dem Meer keine Rolle spielen. Aber da war noch eine neue Erscheinung, die immer unerwartet auftrat, eine Schwellung, die nur sehr langsam verschwand. Ausgerechnet an so einer Stelle auffällig zu werden! John war besorgt. „Das ist normal“, hatte Bob bemerkt, „Offenbarung, Kapitel drei, Vers neunzehn: ›die ich liebe, die stelle ich bloß und strafe sie.‹“ Es war wieder ein Beweis für die völlige Unverständlichkeit der Bibel. John sah ins Getümmel des Jahrmarkts mit dem glasstarren Blick, als gelte es einen Ball zu fangen. Am Zaun stand Spavens, der Einbeinige, der ein Buch mit Seemannserinnerungen geschrieben hatte. „Das Geld verreckt!“ verkündete er. „Alles ist doppelt so teuer, und mein Verleger stellt sich taub!“

Nicht weit von ihm war der Stand mit der Wunderdrehscheibe. Wenn sie schnell genug um ihre eigene Achse wirbelte, wurden Harlekin und Colombine, die auf den ent­gegengesetzten Seiten aufgemalt waren, zum Paar vereinigt. Es hatte mit Schnelligkeit zu tun, aber John fühlte sich heute zu dumm dafür. Er ging wieder zu Spavens, weil der langsam genug redete. Ein Wort nach dem anderen brachte er an, wie man Bilder an einer Wand befestigt. „Der Friede, das ist Gott!“ rief er mit tropfender Nase. „Aber was schickt er? Krieg und Teuerung!“ Er reckte den Beinstumpf unter dem Mantel heraus, mit dem wohlgedrechselten, schuhwichs­polierten Holzstampfer daran. „Die teuren Siege schickt er uns, um uns nur noch mehr zu prüfen!“ Bei jedem Satz stieß er seinen Stampfer in den Rasen, einen kleinen Graben hatte er schon hineingestampft, und jedesmal spritzte den Umstehenden das Schlammwasser auf die Strümpfe. Bob Cracroft flüsterte: „Ich glaube, der ist nicht besonders objektiv.“ Dann begann er von sich selbst zu sprechen.


Als Zuhörer war John inzwischen gern gesehen, gerade weil er fragte, wenn er etwas nicht verstanden hatte. Sogar Tom hatte gesagt: „Wenn du etwas verstanden hast, muß es richtig sein.“ John hatte überlegt, wie das gemeint war, und geantwortet: „Ich verstehe jedenfalls nichts zu früh!“

Diesmal war John kein guter Zuhörer. Am anderen Ende des Marktes hatte er das mannshohe Modell einer Fregatte ausgemacht, sie hatte einen schwarz-gelben Rumpf, alle ­Kanonen, alle Rahen und Wanten. Sie gehörte zum Werberzelt der Kriegsmarine. John studierte jeden Faden und stellte zu jedem Einzelteil wenigstens drei Fragen. Der Offizier ließ sich nach einer Stunde ablösen und sank aufs Lager.

Abends schrieb John ins Heft: „Zwei Freunde, der eine schnell, der andere langsam, die kommen durch die ganze Welt. Sagals, zwölftes Buch.“ Schrieb’s und legte es Tom auf die Wäsche.


Sie saßen am Ufer des Lud bei der Mühle, ringsum war kein Mensch, nur ab und zu knarrte eine Kutsche über die Brücke. Tom hielt den Fuß ins Wasser, einen dieser wun­derschönen Füße. Er sagte: „Sie haben sich über dich gestritten.“ Johns Herzschläge klopften zu den Seiten seines Halses hoch. Ob Tom in den „Bemerkenswerten Phrasen“ gelesen hatte?

„Burnaby sagte, du seist aus gutem Holz, du habest Einsicht in die Autorität, und deine weitere Erziehung würde lohnen. Dr. Orme hält dich dagegen für einen Auswendiglerner, dem man mit den alten Sprachen keinen Gefallen tue. Er will mit deinem Vater sprechen, damit du in eine Lehre kommst.“

Tom hatte abends am offenen Fenster des Wheatsheaf Inn gelauscht. „Ich habe nicht alles verstanden. Über mich haben sie kein Wort geredet. Burnaby sagte – ich dachte, das interessiert dich?“

„Ja, sehr“, sagte John, „vielen Dank für die Bemühung.“

„Burnaby sprach über dein gutes Gedächtnis. Später meinte er noch, die Freiheit sei nur ein Zwischenstadium, ich weiß nicht, ob das noch über dich war. Er rief wütend: ›Die Schüler lieben mich.‹ Ich glaube, Dr. Orme war auch wütend, aber leiser. Er sagte etwas von ›gottähnlich‹ und ›Gleichheit› und daß Burnaby noch nicht reif sei. Oder die Zeit. Es war ziemlich leise.“

Über die Brücke fuhr eine Kutsche stadtauswärts. Jetzt brachte John seine Frage heraus:

„Hast du in meinem Buch gelesen?“

„In welchem Buch? In deinen Notizen? Was sollte ich damit?“

Darauf begann John von Matthew zu sprechen, und daß er entschlossen sei, Seefahrer zu werden. „Matthew ist in meine Tante verliebt, der nimmt mich mit, und dich auch!“

„Wozu? Ich werde Arzt oder Apotheker. Wenn du ertrinken willst, dann tu das alleine!“ Und wie um das zu bestä­tigen, nahm Tom den wunderschönen Fuß aus dem Wasser des Lud, in dem nun bestimmt kein Mensch ertrinken konnte, und zog den Strumpf wieder an.


Burnaby lehrte neuerdings wirklich Mathematik, immer samstags. Daß John bereits vieles konnte, schien ihm keine rechte Freude zu machen, aber das Lächeln blieb. Wenn John in Burnabys Erklärungen einen Fehler entdeckt hatte, geschah es oft, daß der Lehrer von Erziehung zu reden begann, beschwörend und feurig oder etwas wehmütig, aber immer lächelnd. John wollte versuchen, Erziehung zu verstehen, denn er wollte gern Burnaby recht froh machen.

Dr. Orme saß samstags dabei und hörte zu. Mathematik konnte er vielleicht besser als Burnaby, aber ein Absatz in der Stiftungsurkunde der Schule verbot ihm, etwas anderes zu unterrichten als Religion, Geschichte und Sprachen.

Ab und zu schmunzelte er.


John Franklin saß im Kerker. Er hatte einen, der sich ungeduldig abwandte und den Rest seiner Antwort nicht mehr hören wollte, einfach gepackt und festgehalten, ohne ge­nügend zu bedenken, daß es sich um Burnaby handelte. Ich kann nichts loslassen, hatte John daraus gefolgert, kein Bild, keinen Menschen und keinen Lehrer. Burnaby hingegen hatte gefolgert, daß John schwer bestraft werden müsse.

Der Kerker war die schwerste Strafe. Für John Franklin nicht, der konnte warten wie eine Spinne. Wenn er nur etwas zu lesen gehabt hätte! Inzwischen liebte er Bücher aller Art. Papier konnte warten und drängte nicht. Gulliver kannte er, Robinson und Spavens’ Biographie, neuerdings auch Roderick Random. Eben wäre dem armen Jack Rattlin beinahe das gebrochene Bein abgesägt worden. Der unfähige Schiffsarzt Mackshane, wahrscheinlich ein heimlicher Katholik, hatte schon die Aderpresse angesetzt, da war ihm Roderick Random in den Arm gefallen. Mit giftigem Blick hatte der Pfuscher das Feld geräumt, sechs Wochen später war Jack Rattlin auf zwei gesunden Beinen wieder zum Dienst erschienen. Ein gutes Argument gegen alle voreiligen Maßnahmen. „Es gibt drei Zeitpunkte, einen richtigen, einen verpaßten und einen verfrühten.“ Das wollte John ins Heft schreiben, wenn er hier wieder heraus war.


Im Kerker war es wenig behaglich, der Kellerstein hatte noch Winter. Auf dem Rücken liegend, sprach John durchs Gewölbe hindurch mit Sagals, dem Geist, der alle Bücher der Welt geschrieben hatte, dem Schöpfer aller Bibliotheken.

Burnaby hatte gerufen: „So lohnt ihr’s mir!“ Warum „ihr“? Es war doch nur John gewesen, in dessen Griff er gezappelt hatte. Und Hopkinson, vor Hochachtung raunend: „Mann, bist du stark!“

In der Schule würde er nicht bleiben können. Wo konnte er auf Matthew warten? Der hätte längst auftauchen müssen. Besser fliehen, sobald er konnte! Auf einem Lastkahn sich verstecken unter der Plane im Getreide. Sollten sie denken, er sei im Lud ertrunken.

Im Hafen von Hull konnte er auf einem Kohlensegler ­anfangen wie der große James Cook.


Mit Tom war nichts los. Sherard Lound, der wäre mit­gegangen! Aber der hackte jetzt Rüben auf dem Feld.

Während John mit Sagals Rat hielt, tat sich die Kellertür auf, und Dr. Orme kam herein, den Kopf tief zwischen den Schultern, als wolle er zeigen, daß ein Kerker für Lehrer ­eigentlich nicht gedacht sei.

„Ich komme, um mit dir zu beten“, sprach Dr. Orme. Er sah John sehr genau, aber nicht unfreundlich an. Seine ­Augendeckel klappten auf und zu, als sollten sie seinem ­angestrengten Gehirn Luft zufächeln. „Man hat mir deine Bücher und dein Schreibheft vorgelegt“, sagte er. »Wer ist ­eigentlich Sagals?«

Sten Nadolny

Über Sten Nadolny

Biografie

Sten Nadolny, geboren 1942 in Zehdenick an der Havel, lebt in Berlin. Für sein Werk wurde er unter anderen mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis 1980, dem Hans-Fallada-Preis 1985, dem Premio Vallombrosa 1986, dem Ernst-Hoferichter-Preis 1995 und dem Weilheimer Literaturpreis 2010 ausgezeichnet. Nach...

Pressestimmen
Playboy

„Wieder entdeckt: Was für ein Abenteurer! Die Story des John Franklin fesselt nicht nur, sondern ändert auch Sichtweisen. Dass Schwache sich als stark entpuppen können und Geschwindigkeit nicht alles ist. Sten Nadolny hat sich mit Die Entdeckung der Langsamkeit selbst ein Denkmal gesetzt.“

Die Zeit

Nadolny und sein John Franklin entdecken die Langsamkeit als menschenfreundliches Prinzip. Man könnte auch sagen: die Bedächtigkeit, den vorsichtigen Umgang mit sich selber und den Dingen.

Frankfurter Allgemeine Zeitung

„Nadolny ist ein Erzähler unvergeßlicher Geschichten.“

Kommentare zum Buch
Ein fantastisches Abenteuer
Larissa am 24.09.2020

Meinung Nachdem der erste Band die Einleitung bildete und sehr langsam voran schritt so beginnt dieser Teil direkt sehr spannend. Wir stürzen uns zwar nicht direkt ins Abenteuer, doch dies lässt nicht lange auf sich warten. Nachdem Rand im letzten Teil erfuhr, wer er ist und was seine Bestimmung darstellt, versucht er verzweifelt diesem Chaos zu entkommen und schottet sich ab. Wir bekommen hier einen tieferen Einblick in die Gefühle und Gedanken von Rand, was mir persönlich sehr gefällt. Normalerweise bin ich kein Fan von Charakteren welche sich konsequent gegen alles wehren, da ihr Verhalten in den meisten Fällen leider denen eines sturen Kleinkindes gleicht und das geht sehr schnell auf die Nerven. Aber Robert Jordan hat es geschafft, dass man Rand versteht und seine Gefühle, sowie Beweggründe nachvollziehen kann. Schließlich wurde er Hals über Kopf mit seinem Schicksal konfrontiert. Wer wäre da nicht verstört?! Persönlich tauche ich immer tiefer in die Welt ab und beginne mehr zu verstehen. Es lassen sich langsam Zusammenhänge erkenne, welche vorher unbekannt waren.   Die Charaktere werden nicht weniger, man wird regelrecht überhäuft, dennoch fängt man nun an sie zu lieben oder zu hassen. Man fühlt mit ihnen und ist gespannt wie es weiter geht. Vor allem Rand hat sich langsam in mein Herz geschlichen und darüber bin ich froh, denn es ist nicht zuträglich für den Lese- Spaß, wenn man für den Protagonisten nichts übrig hat. Ich bin sehr gespannt auf seine Entwicklung im weiteren Verlauf.   Robert Jordan verliert sich gerne in detaillierten Beschreibungen, vor allem bei Kleidern, aber auch der Umgebung. Alles wird bis ins kleinste Detail beschrieben. Ich persönlich liebe Einzelheiten und habe lieber mehr als zu wenig, denn nur so kann man alles an dieser Welt aufsaugen. Manchmal artet es jedoch etwas aus und man ertappt sich dabei abzuschweifen, wenn es wieder um irgendwelche Muster auf einem Kleid geht. Gerne werden diese auch mehrfach erwähnt.   Gegen Ende überschlagen sich die Ereignisse und ich war außer Stande es wegzulegen. Es fühlte sich an als hätte die Reise nun endgültig begonnen und ich war zu Tränen gerührt, die Gefühle überwältigten mich. Nicht weil es traurig war, sondern weil ich wusste, es wartet ein Abenteuer voll epischen Ausmaßes auf mich und ich werde die Reise in vollen Zügen genießen.   "The wheel waves as the wheel wills"!   Fazit Grandioser zweiter Teil. Eine epische Quest, tolle Charaktere und ein komplexes Worldbuilding legen den Grundstein für ein legendäres Abenteuer, welches nun erst richtig beginnt.

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