Die Fotografin Die Fotografin - eBook-Ausgabe
Die vielen Leben der Amory Clay
— RomanRoman
Die Fotografin — Inhalt
Amory Clay, Fotografin, Reisende, Kriegsberichterstatterin: eine Frau, die ihrer Zeit weit voraus ist, die unerschrocken ihren Weg geht und ihre Geschicke selbst in die Hand nimmt. Tief fühlt sich William Boyd in sie ein und versteht es glänzend, Fiktion und Geschichte miteinander zu verschränken: das ausschweifende Berlin der Dreißigerjahre, New York, wo sie den Mann trifft, der alles verändert, Paris im Zweiten Weltkrieg. Nach „Ruhelos“ hat Boyd erneut eine unvergessliche Heldin geschaffen, eine verwegene, verblüffende Frau, einen Künstlerroman, der das Porträt einer ganzen Epoche zeichnet.
Leseprobe zu „Die Fotografin“
Amory Clay im Jahr 1928
PROLOG
Was hat mich dorthin gezogen, frage ich mich, ans Ende des Gartens? Ich erinnere mich an das Sommerlicht, an das Grün der Bäume, der Sträucher, des Rasens, das im Schein der weichen, wohlwollenden Nachmittagssonne leuchtete. War es das Licht? Doch da war auch noch das Gelächter, vom Teich her, wo ein Grüppchen Leute beisammenstand. Jemand hatte wohl herumgeblödelt und alle zum Lachen gebracht. Es waren das Licht und das Lachen.
Ich war im Haus, in meinem Zimmer, und langweilte mich. Durch das offene Fenster konnte ich die [...]
Amory Clay im Jahr 1928
PROLOG
Was hat mich dorthin gezogen, frage ich mich, ans Ende des Gartens? Ich erinnere mich an das Sommerlicht, an das Grün der Bäume, der Sträucher, des Rasens, das im Schein der weichen, wohlwollenden Nachmittagssonne leuchtete. War es das Licht? Doch da war auch noch das Gelächter, vom Teich her, wo ein Grüppchen Leute beisammenstand. Jemand hatte wohl herumgeblödelt und alle zum Lachen gebracht. Es waren das Licht und das Lachen.
Ich war im Haus, in meinem Zimmer, und langweilte mich. Durch das offene Fenster konnte ich die Stimmen der Gäste hören, die sich angeregt unterhielten, und dann das plötzlich aufbrandende Arpeggio fröhlichen Gelächters, das mich veranlasste, vom Bett aufzustehen und ans Fenster zu gehen, um zu den Herren und Damen hinunterzuschauen, zu dem Festzelt und den mit Appetithäppchen und Bowleschüsseln eingedeckten Tischen. Ich wurde neugierig – warum machten sich von dort nun alle auf den Weg zum Teich? Was war der Anlass dieser Heiterkeit? Also lief ich eilig nach unten, um mich ihnen anzuschließen.
Und dann, mitten auf dem Rasen, machte ich noch einmal kehrt und lief zurück ins Haus, um meine Kamera zu holen. Wieso, wie kam ich auf die Idee? Heute, all diese Jahre später, glaube ich eine Ahnung zu haben. Ich wollte den Augenblick einfangen, diese freundliche Zusammenkunft im Garten an einem warmen Sommerabend in England; ihn einfangen und für alle Zeit fixieren. Irgendwie wusste ich, dass es in meiner Macht stand, die unerbittlich verrinnende Zeit anzuhalten und diese Szene, diesen Bruchteil einer Sekunde auf einem Foto zu bannen – mit den Damen und Herren in ihrer vornehmen Kleidung, die gerade so sorglos und unbekümmert lachten. Ich würde sie einfangen, für immer, dank der Fähigkeiten meines Wunderapparats. In meinen Händen lag die Macht, die Zeit anzuhalten; so dachte ich zumindest.
ERSTES BUCH
1908 – 1927
1. Mädchen mit Kamera
Wenn ich es recht bedenke, wurde schon am Tag meiner Geburt ein Fehler gemacht. Heute scheint es nicht mehr weiter von Belang, meine Mutter aber war darüber am 7. März 1908 – wie lange das schon her ist, fast siebzig Jahre – sehr erbost. An jenem Tag also kam ich zur Welt, und mein Vater musste auf strenges Geheiß meiner Mutter eine Geburtsanzeige in der Times aufgeben. Ich war ihr erstes Kind, also wurde die Welt, sprich: die Leserschaft der Londoner Times, pflichtschuldig über die Ankunft des neuen Erdenbürgers in Kenntnis gesetzt. „7. März 1908, Beverley und Wilfreda Clay, ein Sohn, Amory.“
Warum hat er „Sohn“ angegeben? Um seine Frau zu ärgern, meine Mutter? Oder kam darin der unterdrückte Wunsch zum Ausdruck, ich möge kein Mädchen sein, weil er keine Tochter wollte? Ist das der Grund, frage ich mich, warum er mich später umzubringen versuchte? Als ich in einem Sammelalbum auf den alten, vergilbten Zeitungsausschnitt stieß, war mein Vater schon seit Jahrzehnten tot. Zu spät, ihn danach zu fragen. Ein weiterer Fehler.
Beverley Vernon Clay, mein Vater – Ihnen und seinen wenigen Lesern (die meisten längst verstorben) aber fraglos besser bekannt als B. V. Clay, Verfasser von Kurzgeschichten zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts – hauptsächlich Spuk- und Schauergeschichten –, gescheiterter Romanautor und Universalliterat. Geboren 1878, gestorben 1944. Der Eintrag über ihn im Oxford Companion to English Literature (dritte Auflage) lautet wie folgt:
Clay, Beverley Vernon
B. V. Clay (1878 – 1944). Autor von Kurzgeschichten. Gesammelt in Eine undankbare Aufgabe (1901), Das unheilvolle Wiegenlied (1905), Heimliche Vergnügen (1907), Der Freitags-Club (1910) u. a. Bänden. Er ist der Verfasser etlicher phantastischer Erzählungen, von denen „Die Belladonna-Wohltat“ am bekanntesten ist. Sie wurde von Eric Maude (s. d.) für die Bühne bearbeitet und im Londoner West End über eine Laufzeit von gut drei Jahren über 1000-mal aufgeführt (siehe Edwardianisches Theater).
Macht nicht viel her, nicht wahr? Nicht eben viele Worte, um ein so verwickeltes, schwieriges Leben zusammenzufassen, aber wohl immer noch mehr, als über die meisten von uns in den diversen Annalen der Nachwelt zu lesen sein wird, die unseren flüchtigen Aufenthalt auf diesem kleinen Planeten verzeichnen. Lustigerweise ging ich immer davon aus, dass über mich, die Tochter B. V. Clays, wohl nie etwas geschrieben würde, was sich jedoch als Irrtum herausstellen sollte …
Nun, wie dem auch sei. Ich habe zwar frühe Kindheitserinnerungen an meinen Vater, begann ihn aber erst nach seiner Heimkehr 1918 aus dem Krieg – dem Großen Krieg – richtig kennenzulernen, mit zehn Jahren, als ich mich bereits ansatzweise zu der Person und Persönlichkeit entwickelt hatte, die ich heute bin. Die durch den Krieg entstandene zeitliche Lücke blieb natürlich nicht ohne Auswirkungen, und auch er, das haben mir seither alle bestätigt, war bei seiner Rückkehr nicht mehr derselbe, war durch seine Erlebnisse unwiderruflich verändert worden. Ich wollte, ich hätte ihn vor diesem Trauma besser gekannt – und wer wünschte sich nicht, in die Vergangenheit zurückreisen zu können und die eigenen Eltern kennenzulernen, ehe sie in die Elternrolle schlüpften? Ehe sie als „Mutter“ und „Vater“ zu mythischen Figuren im Kosmos der Familie wurden, für immer und ewig eingeschlossen und fixiert im Bernstein jener Bezeichnungen und aller damit einhergehender Konsequenzen?
Die Familie Clay.
Mein Vater: B. V. Clay (geb. 1878)
Meine Mutter: Wilfreda Clay (geborene Reade-Hill, geb. 1879)
Ich: Amory, die Erstgeborene, ein Mädchen (geb. 1908)
Schwester: Peggy (geb. 1914)
Bruder: Alexander, von jeher Xan genannt (geb. 1916)
Die Familie Clay.
*
BARRANDALE-JOURNAL 1977
Ich war auf der Rückfahrt von Oban nach Barrandale, im spukhaften Dämmerlicht eines schottischen Sommerabends, als mir eine Wildkatze ins Auge fiel, die quer über die Straße lief, keine zweihundert Meter vor der Brücke, die zu der Insel hinüberführt. Ich hielt sofort an und schaltete den Motor aus, blickte nach vorn und wartete. Die gemächlich dahinschleichende Katze hielt inne und wandte mir den Kopf zu, beinahe hochmütig, als fühlte sie sich durch mich gestört. Ich griff reflexhaft nach der Kamera, meiner alten Leica, hob sie ans Auge – und ließ sie wieder sinken. Es gibt keine langweiligeren Fotos als Tierfotos – wage ich zu behaupten. Ich sah zu, wie die getigerte Katze, die so groß war wie ein Cockerspaniel, ihre Straßenüberquerung beendete und in das neu angepflanzte Nadelgehölz verschwand. Dann ließ ich den Motor wieder an und setzte, seltsam beschwingt, die Heimfahrt zum Cottage fort.
Ich nenne es „das Cottage“, seine genaue postalische Anschrift aber lautet 6, Druim Rigg Road, Barrandale Island. Wo sich die Hausnummern 1 bis 5 befinden, entzieht sich meiner Kenntnis, denn das Cottage steht ganz allein an der kleinen Bucht, an der die Druim Rigg Road endet. Es ist ein zweistöckiges Haus, erbaut um 1850, mit soliden, dicken Mauern, kleinen Zimmern, zwei Schornsteinen und von einstöckigen Nebengebäuden links und rechts flankiert. Vermutlich hat hier jemand vor hundert Jahren mal das Land bewirtschaftet, aber davon ist heute nichts mehr zu sehen. Die geschindelten Dächer sind grün bemoost, und die mit Beton verschalten Mauern, die sich im Lauf der Zeit zu einem unschönen Graugrün verfärbt hatten, habe ich bei meinem Einzug schneeweiß tünchen lassen.
Es steht direkt an der kleinen, namenlosen Bucht, und wenn man sich nach links wendet, nach Westen, kann man die Südspitze von Mull sehen und den windgepeitschten, endlosen grauen Atlantik dahinter.
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