Die Frauen von Capri – Das Lied vergangener Sommer (Die Capri-Reihe 2) Die Frauen von Capri – Das Lied vergangener Sommer (Die Capri-Reihe 2) - eBook-Ausgabe
Roman
— Sommerlicher Italien-Roman um vier Frauen, eine Villa und viele GeheimnisseDie Frauen von Capri – Das Lied vergangener Sommer (Die Capri-Reihe 2) — Inhalt
In „Die Frauen von Capri – Das Lied vergangener Sommer“ erzählt SPIEGEL-Bestsellerautorin Antonia Riepp von vier Frauen, einer unerwarteten Erbschaft und einem alten Verbrechen.
Weite Himmel, türkisfarbene Wellen und steile Felsen – die Trauminsel Capri hat auch ihre Abgründe. Und in diesem 2. Band von Antonia Riepps Capri-Reihe wird Italiens schönste Insel zur farbenprächtigen Kulisse für einen packenden Urlaubsschmöker.
Herrschaftlich, strahlend weiß und wunderschön – von der Villa des Sängers Carlo Romano, hoch oben auf den steilen Felsen Capris, kann man bis dorthin sehen, wo türkisfarbenes Meer und blauer Himmel eins werden. Ein magischer Ort.
Doch für die drei Frauen, die sie nach Carlos plötzlichem Tod erben sollen, wird die Villa zum Härtetest: Bevor sich Ehefrau, Ex-Frau und Ex-Geliebte das Erbe teilen dürfen, müssen sie sechs Monate lang zusammen dort leben, überwacht von Carlos strenger Mutter. Es entsteht eine Zwangs-WG, in der sich alle misstrauen. Alte Wunden brechen auf, Lebenslügen werden aufgedeckt. Erst als eine Tragödie ihr Glück bedroht, werden aus Feindinnen Freundinnen und wird Capri zum neuen Zuhause.
„Antonia Riepp schreibt unaufgeregt und fließend leicht. Gleich ab der ersten Seite fühlt man mit den so unterschiedlichen Frauen mit und kann das Buch kaum noch zur Seite legen.“ Freundin über „Belmonte“
Mit „Die Frauen von Capri“ legt SPIEGEL-Bestellerautorin Antonia Riepp nach „Belmonte“ („Belmonte“, „Villa Fortuna“ und „Santo Fiore“) ihre neue, atmosphärische Reihe von Urlaubsromanen vor. Wer fesselnde Sommerlektüren rund um Familien und ihre Geheimnisse, alte Häuser und ihre Geschichten, Liebe und Verrat, Freundschaft und Intrigen liebt, ist hier genau richtig.
Leseprobe zu „Die Frauen von Capri – Das Lied vergangener Sommer (Die Capri-Reihe 2)“
Kapitel 1
Luisa stellte den Motorroller in den Schatten einer Pinie und blickte sich um. Die Villa Octavia präsentierte sich im gleißenden Sonnenlicht wie ein Diamant in der Auslage eines Juweliers. Ihr Baustil war nicht unbedingt typisch für Capri. Mit den vorspringenden Seitenflügeln, den Arkaden und den Rundbogenfenstern erweckte das Bauwerk vielmehr den Eindruck, als hätten dem Architekten die eleganten Villen an der Côte d’Azur als Vorbild gedient. Lediglich der Anstrich war im inseltypischen schlichten Weiß gehalten, was der Grandezza jedoch keinen [...]
Kapitel 1
Luisa stellte den Motorroller in den Schatten einer Pinie und blickte sich um. Die Villa Octavia präsentierte sich im gleißenden Sonnenlicht wie ein Diamant in der Auslage eines Juweliers. Ihr Baustil war nicht unbedingt typisch für Capri. Mit den vorspringenden Seitenflügeln, den Arkaden und den Rundbogenfenstern erweckte das Bauwerk vielmehr den Eindruck, als hätten dem Architekten die eleganten Villen an der Côte d’Azur als Vorbild gedient. Lediglich der Anstrich war im inseltypischen schlichten Weiß gehalten, was der Grandezza jedoch keinen Abbruch tat.
Die weiße Villa am Meer war in Würde gealtert. Vor mehr als hundert Jahren hatte man sie kühn dorthin gesetzt, wo die Ausläufer des Tiberius-Felsens abflachten, nur um danach gleich wieder steil hinabzustürzen in das Tyrrhenische Meer. Es musste ein Stück Fels weggesprengt werden, um Platz für die Räume zu schaffen und damit noch Grund übrig blieb für den Garten. Hinter dem verschnörkelten Eisentor der Zufahrt duckte sich ein weiteres Gebäude gegen die Felswand. Das Torhaus, wie Carlo es immer genannt hatte. Der Bau mit dem abgeflachten Dach aus Ziegeln bot lediglich Platz für ein Appartement. Seine ebenfalls weiß getünchten Wände schimmerten durch die üppig blühenden Bougainvilleen, die man davor gepflanzt hatte, als wollte man das schlichte Häuschen verstecken. Sie bildeten grelle Farbtupfer in Pink und Lila in dem ansonsten eher dezent gestalteten Garten, der größtenteils aus Pinien, Palmen, Zitronen- und Feigenbäumen bestand. Dazwischen wuchs hartes, störrisches Gras, das jetzt, Ende Juli, längst braun geworden war.
Das Torhaus war einst für das Hauspersonal gedacht, doch Luisa kannte es nur leer. Um den Garten kümmerte sich eine Firma, ansonsten brauchten sie und Carlo während ihrer Sommeraufenthalte kein Personal. Wenn es nach ihm gegangen wäre, vielleicht schon, er besaß diesen Hang zum Großspurigen. Luisa dagegen wollte niemanden um sich haben, der ihnen den Dreck wegputzte oder für sie kochte. Sie war im Gegenteil froh, wenn sie etwas zu tun hatte, und sei es nur, sich um einen Zweipersonenhaushalt zu kümmern.
Jetzt war es nur noch ein Einpersonenhaushalt. Vor zwei Wochen fand Carlo Romano, der berühmte Sohn der Insel, der Schlagersänger, der seit vier Jahrzehnten die Frauenherzen höherschlagen ließ, den Tod auf der Via Provinciale Anacapri, der sehr kurvigen Verbindungsstraße zwischen Capri-Stadt und dem Bergdorf Anacapri.
Es musste etwa gegen vier Uhr morgens passiert sein. Der Angestellte einer Bäckerei war mit dem Moped unterwegs zur Arbeit und entdeckte Carlos Alfa Spider im scharfen Knick einer Serpentine. Er klebte mit eingedrückter Schnauze an der Begrenzungsmauer, der Motor qualmte. Der Fahrer war durch den Aufprall aus dem Cabrio geschleudert worden. Sein zerschundener Körper lag unterhalb der Straße zwischen den schrundigen, scharfen Kalksteinfelsen, aus denen praktisch die gesamte Insel bestand.
„War es ein Infarkt?“, fragte Luisa die Ärztin in der Rechtsmedizin in Neapel. Denn das würde den Unfall erklären und die böswilligen Unterstellungen der Boulevardpresse wenn schon nicht widerlegen, dann wenigstens abschwächen. Den Sicherheitsgurt anzulegen konnte man schließlich durchaus einmal vergessen. Vielleicht hatte der Gurt auch nicht funktioniert. Das war doch möglich, bei einem über dreißig Jahre alten Auto.
Die Ärztin war mitfühlend und nahm sich Zeit für Luisa. Sie erklärte ihr, dass sich bei einer Obduktion die Anzeichen eines Infarkts am Gewebe des Herzmuskels sehr gut feststellen ließen. Carlos Herz sei intakt gewesen. Was man hingegen von seiner Leber nicht uneingeschränkt behaupten konnte. Sie hätten außerdem Spuren von Alkohol und Kokain in seinem Blut nachgewiesen. Bei diesen Worten schaute die Dottoressa Luisa bedeutungsvoll an.
Dabei hatte er ihr geschworen, die Finger davonzulassen.
Unfall oder Suizid? Erst Karriereabsturz, dann der Sturz in die Felsen. So titelte ein Klatschmagazin, und die anderen hieben in dieselbe Kerbe.
Luisa mied in diesen Tagen sämtliche Medien, so gut es ging. Für sie galt es, nach vorn zu blicken. Sie war achtundzwanzig Jahre alt und hatte gerade keinen Plan, wie es weitergehen sollte.
Sie nahm den Helm ab, hängte ihn an den Lenker und fuhr mit den Fingern durch ihre dunklen Locken. Ihr Blick wanderte durch den Garten über die niedrige Mauer hinweg auf das Meer. Die Aussicht auf den Golf von Neapel war schlichtweg atemberaubend. Wann immer sie hier war, konnte sie sich in den ersten Tagen kaum daran sattsehen. Che bellezza! Ehe man sich schließlich an die Schönheit gewöhnte und das Leben in Langeweile versank.
Die Villa gehörte nun vermutlich ihr. Bei dem Gedanken wurde ihr ein bisschen flau. Villenbesitzerin zu sein war nie ihr Wunsch gewesen. Wenn Freunde in Rom neidvoll von „eurer Villa auf Capri“ sprachen, war Luisa stets peinlich berührt und hätte am liebsten darauf hingewiesen, dass das Haus ein Relikt aus Carlos früherem Leben war und mit ihr nichts zu tun hatte. Sie verkniff es sich nur, um Carlo nicht zu kränken.
Was sollte sie mit diesem noblen alten Gemäuer bloß anfangen? Hier wohnen? Auf gar keinen Fall! Und zwar aus zwei simplen Gründen: Haus zu groß, Insel zu klein.
Lächerliche zehn Quadratkilometer umfasste die Fläche Capris. Das war etwa der Richmond Park in London. Allerdings hatte man selten so viel Landschaft auf so wenig Grund. Wo man auch stand und sich umsah, man wähnte sich stets am schönsten Punkt der Insel, mit dem tollsten Ausblick, nur um nach der nächsten Biegung eines Besseren belehrt zu werden. Ja, Capri war ein Fluchtort, wenn man es im Hochsommer in Rom vor Hitze nicht aushielt. Zwar brannte auch hier die Sonne gnadenlos herab, doch um die Villa an der Steilküste wehte fast immer ein Wind, der die Temperaturen erträglich machte. Am schönsten fand Luisa die Insel aber im zeitigen Frühjahr. Im Februar oder März strahlte das Licht hier viel heller als in der Stadt, die Farben leuchteten intensiver, und das Beste: Man war noch „unter sich“.
Dennoch, auf Capri zu leben kam nicht infrage. Schon im letzten Sommer schwankte sie ständig zwischen genervt sein vom Trubel an den Hotspots der Insel und dem Gefühl der Eintönigkeit und des Abgeschnittenseins, das sich nach spätestens einer Woche in der Villa zuverlässig einstellte. Deshalb war sie erschrocken, als Carlo dieses Jahr bereits im Juni vorschlug, sich vorzeitig in die Sommerfrische zu begeben. Tatsächlich war es für Juni sehr heiß in Rom. Doch Luisa wand sich.
„Fahr du allein voraus, amore. Ich kann nicht von heute auf morgen von hier verschwinden. In zwei, drei Wochen komme ich nach.“
Insgeheim beschloss sie, diese Frist noch länger auszudehnen. Deutlich länger.
Die Wahrheit war: Nach vier Jahren hatte ihre Ehe die Honeymoon-Phase definitiv überschritten. Das Lachen und die Gesprächsthemen waren ihnen schleichend abhandengekommen, abseits der Banalitäten des Alltags hatte sich Sprachlosigkeit breitgemacht. Daher graute Luisa vor einem monatelangen Alleinsein mit Carlo an diesem abgelegenen Ort, an dem jegliche Impulse von außen – Freunde, Kollegen, Patienten – fehlten.
Apropos Honeymoon. Sie könnte die Villa künftig an Hochzeitsgesellschaften vermieten. Über das erste Stockwerk verteilt gab es sechs Schlafzimmer, zwei im Mittelteil und je zwei in den Seitenflügeln, und dazu drei Bäder. Im Untergeschoss lagen großzügige Räume und eine gut ausgestattete Küche. Zugegeben, die Einrichtung, die Elektrik und die Wasserleitungen waren ein wenig in die Jahre gekommen, die Bäder nicht mehr ganz l’ultima mania, der letzte Schrei. Es zog durch die Fensterrahmen, und die Läden gehörten gestrichen. Wann immer Luisa etwas davon in Angriff nehmen wollte, blockte Carlo ab und behauptete, er liebe diesen morbiden Charme, er wünsche, dass alles so bleibe.
Wenn erst die Mieteinnahmen flossen, überlegte Luisa, könnte man den morschen Kasten peu à peu wieder herrichten. Das klang doch nach einem sinnvollen Plan. Sofern sie überhaupt die Alleinerbin war. Dies würde sich in Kürze herausstellen. Die Testamentseröffnung war für sechzehn Uhr angesetzt. Luisa war extra eine Stunde früher gekommen. Sie wollte sich noch einmal ungestört umsehen und gründlich durchlüften. Vielleicht mussten ein paar Sachen von Carlo weggeräumt werden, die entweder posthum kein gutes Licht auf ihn werfen würden oder einfach nicht für die Augen anderer bestimmt waren. Bei ihm wusste man ja nie.
Allerdings war sie nicht die Erste. Der Fiat Panda ihrer Schwiegermutter Gloria Romano stand im Carport zwischen dem Torhaus und der Villa. Zu Luisas Leidwesen besaß Carlos Mutter einen Schlüssel für die Villa.
„Wenn irgendetwas sein sollte, ist sie viel schneller vor Ort als wir“, hatte Carlo argumentiert.
„Sie wird hemmungslos in unseren Sachen herumschnüffeln.“
„Wenn schon? Was hast du denn zu verbergen?“
Im Grunde nichts. Dennoch deponierte Luisa nichts von ihren Kleidern oder persönlichen Dingen dort, wenn sie im Spätsommer wieder nach Rom zurückkehrten. Nein, die Villa Octavia war nie ihr Zuhause gewesen, sie war dort immer nur Gast.
Eines der unteren Fenster stand offen. Sie hörte die sonore, tragende Stimme eines Mannes. Er schien mit Gloria zu erörtern, in welchem der Räume die Sache über die Bühne gehen sollte. Wie? Der Notar war auch schon hier? Wahrscheinlich hatte Gloria ihn vom Fähranleger abgeholt. Das war im Grunde nichts Besonderes, aber die Vorstellung, dass ihre Schwiegermutter und der Notar alleine im Haus waren, wer weiß, wie lange schon, gefiel Luisa gar nicht. Kannten die sich? Kungelten sie gerade hinter Luisas Rücken etwas aus? Luisa hegte gegenüber ihrer Schwiegermutter ein ausgeprägtes Misstrauen. Den Notar kannte sie nicht. Wo sie herkam, aus Bergamo, stand ein Notar für absolute Seriosität. Allerdings war man hier im Süden, der Heimat von Korruption und Vetternwirtschaft. Durfte man einem Notar aus Neapel über den Weg trauen?
Warum musste diese Testamentseröffnung ausgerechnet hier stattfinden? Warum nicht in Neapel, dem Sitz des Notariats Bergesio, wie es im Briefkopf stand? Vermutlich, weil Carlo es so gewollt hatte. Jedenfalls sah es ihm und seinem Hang zu Symbolik und Theatralik ähnlich, seinen Letzten Willen in seiner geliebten Villa Octavia, seinem Rückzugsort und Prestigeobjekt, verkünden zu lassen.
Luisa hatte nicht gewusst, dass Carlo ein Testament aufgesetzt und hinterlegt hatte. Andererseits, warum nicht? Carlo wäre im August neunundfünfzig geworden. Vielleicht würde Luisa in dreißig Jahren ebenfalls einen Letzten Willen verfassen, und wer weiß, welche Extravaganzen ihr dabei in den Sinn kämen.
Im Schreiben des Notars wurde sie als Erbberechtigte bezeichnet. Das war zu erwarten. Kinder hatte Carlo keine, auch keine Geschwister. Seine einzige Verwandte war seine Mutter. Bestimmt würde auch sie das eine oder andere Stück erben. Bilder oder Möbel. Luisa hatte kein Problem damit. Sie hatte lediglich ein Problem mit ihrer Schwiegermutter: Gloria Romano, achtzig Jahre alt, ehemalige Operndiva. Wobei sich ehemalig lediglich auf den Operngesang bezog. Eine Diva war sie noch immer.
Luisa konnte sich beim besten Willen noch nicht überwinden, ins Haus zu gehen und Gloria zu begrüßen. Lieber verbrachte sie die Wartezeit auf der Terrasse. Sie lag zwischen drei Pinien, die dastanden wie die Figuren eines Theaterstücks. Die ganze Insel erschien Luisa zuweilen wie ein Bühnenwerk. Auch die Faraglioni-Felsen hatten diese theatralische Anmutung, ganz zu schweigen von den verfallenen römischen Villen. Sie trat vor bis an die Mauer. Dahinter fiel der Fels steil hinab bis zu einem winzigen Kiesstrand. Das Ende der Mauer bildeten zwei Pfeiler, darauf hockte je ein Gargoyle. Der eine bewachte mit grimmigem Blick den Garten und die Villa, der andere den Golf von Neapel. Luisa betrachtete fasziniert die Wellen, die wütend gegen die Steilküste klatschten. In der vergangenen Nacht war ein Sturm über Süditalien gezogen, und das Meer hatte sich noch nicht wieder beruhigt, obwohl es heute windstill war und der Himmel wolkenlos. Sie brauchte einen Moment der Kontemplation und der Ruhe, um sich für die Begegnung mit Gloria zu wappnen. Vielleicht wäre es das letzte Mal. Womöglich musste sie nach dieser Testamentseröffnung ihre Schwiegermutter nie wiedersehen. Das war doch immerhin ein Lichtblick.
Ein knatterndes Geräusch drang durch das Rauschen der Brandung. Luisa wandte sich um. Ein Motorroller näherte sich. Kam noch jemand? Wer mochte das sein? Auf Capri erhielten nur die Einwohner eine Lizenz für ein Auto, doch viele fuhren lieber ein Moped, ein Dreirad oder einen Roller. Damit kam man in den engen Gassen der Ortschaften und auf den schmalen, steilen Straßen der Insel schneller voran. Die kurvige Schotterstraße, die hinab zur Villa Octavia führte, war in dieser Hinsicht keine Ausnahme.
Der Roller hielt neben dem von Luisa. Eine Frau in einem schlichten schwarzen Kleid stieg ab und zog ihren Helm vom Kopf. Zum Vorschein kam langes brünettes Haar mit ein paar grauen Strähnen darin. Es umrahmte ein längliches Gesicht mit hellbraunen Augen. Milena! Was machte Carlos erste Ehefrau denn hier? Dumme Frage! Was wohl? Sie musste ebenfalls eine Einladung des Notars bekommen haben, denn sie kam bestimmt nicht zufällig vorbei.
Luisa und Milena kannten sich flüchtig. Vor vier Jahren, beim ersten ihrer Sommeraufenthalte auf Capri, hatte Carlo ein Treffen eingefädelt und Milena seine neue Ehefrau vorgestellt. Man könnte auch sagen: zur Begutachtung präsentiert. Luisa erkannte, dass es Carlo wichtig war, nur deshalb ließ sie sich widerwillig darauf ein. Doch was, fragte sie sich beklommen, wenn Milena den Daumen senkte über Luisas Haupt? Dieser Macht aus der Vergangenheit hatte sie wenig entgegenzusetzen.
Die Begegnung war beiden Frauen nicht sonderlich angenehm. In stillem Einverständnis machten sie bella figura, zumindest für die Dauer eines Cocktails auf der inseleigenen Bühne der Eitelkeiten, der Piazzetta von Capri-Stadt. Schweigend angesichts der Vergangenheitsintimität der beiden Ex-Ehepartner, die sich schon seit der Schulzeit kannten, saß Luisa daneben und fühlte sich wie ein Kind, das dazu verdammt war, den langweiligen Gesprächen der Erwachsenen zu lauschen. Das Kind, das das Paar niemals hatte.
Milena entdeckte Luisa und winkte ihr zu. Das ärmellose Kleid ließ muskulöse Oberarme sehen. Alles an Milena war stramm und drahtig. Schon vor Jahren hatte sie die Bootswerft ihrer Familie übernommen. Sie beschäftigte zwei Angestellte, aber es war unübersehbar, dass die Chefin auch selbst mit anpackte.
„Salve, Luisa“, rief sie, noch während sie näher kam, zögernd, als wäre es ihr nicht recht, überhaupt hier zu sein.
„Salve, Milena!“
„Weißt du, warum ich die Einladung dieses Notars bekommen habe?“
„Keine Ahnung“, antwortete Luisa, und um der Situation die Peinlichkeit zu nehmen, umarmte sie ihre Vorgängerin in einem spontanen Anflug von Herzlichkeit und sagte: „Ich bin froh, dass du hier bist. Ich weiß, du mochtest Carlo, trotz allem, und er mochte dich. Er hat jedenfalls immer voller Zuneigung und Respekt von dir geredet.“
„Hat er das?“
„In seinen Augen standst du kurz vor der Heiligsprechung.“
„Oje! Du musst mich gehasst haben!“
„Wie die Pest!“
Ein gemeinsames Lachen hätte sicherlich zur Entkrampfung der Situation beigetragen, aber eingedenk der ernsten Situation beließen sie es bei einem konspirativen Lächeln. Auch für den Fall, dass Gloria hinter einem der Fenster lauerte und sie beobachtete.
„Wie geht es dir?“, fragte Milena.
„Einigermaßen“, antwortete Luisa wahrheitsgemäß. „Ich bin nur froh, wenn ich das alles endlich hinter mir habe.“ Damit meinte Luisa die Pflicht, Carlos Leiche zu identifizieren, die Trauerfeier, deren Planung allerdings Gloria ganz und gar an sich gerissen hatte, und nun diese Testamentseröffnung.
„Es tut mir leid, dass ich bei der Trauerfeier so früh gegangen bin“, entschuldigte sich Milena. „Aber ich konnte sie nicht mehr ertragen.“
Luisa wusste genau, von wem die Rede war.
Ihrer extrovertierten Natur entsprechend hielt Gloria Romano nichts von stiller Trauer. Sie nutzte die Beisetzung ihres Sohnes, um sich nach allen Regeln der Kunst zu inszenieren – als leidende Mutter und trauernde Operndiva. Der schwarze Schleier, der in Kaskaden von ihrem ausladenden Hut herabfiel, verhüllte ihr Gesicht. Wenn sie nicht gerade sang. Sie ließ es sich nämlich nicht nehmen, in der Kirche für ihren Sohn zu singen, begleitet von zwei älteren Herren, die Violine und Cello spielten. Un bel dì, vedremo aus Madame Butterfly machte den Anfang. Der Sopran der achtzigjährigen Künstlerin war mittlerweile brüchig wie altes Pergament. Luisa schwankte während der Darbietung zwischen Fremdscham und der Furcht vor dem nächsten holprigen Ton. Sie mochte sich gar nicht ausmalen, was ihre Eltern gerade dachten. Die Rinaldis saßen zu ihrer Linken, und Luisa war, als kicherte ihr Vater – als Husten getarnt – in ein Taschentuch, während ihre Mutter die Augen verdrehte und gut hörbar stöhnte. Der Rede des Pfarrers folgte eine todtraurige Arie, die Luisa nicht kannte, aber das Kirchenschiff von San Michele in Anacapri schwamm in Tränen.
Diese terroni! Typisch Süditaliener. Was waren sie doch sentimental und nah am Wasser gebaut!
Danach ging es in einem endlos langen Trauerzug zum Friedhof, und wenig später stand Gloria Romano aufrecht wie eine düstere Säule vor der Familiengruft der Romanos. Wer gehofft hatte, es nach dem Trauergottesdienst überstanden zu haben, dem stand das Schlimmste noch bevor. Ein letzter Gesang ertönte auf dem Friedhof, neben dem Sarg: Il dolce suono, die Wahnsinnsarie aus der Oper Lucia di Lammermoor von Donizetti. Dabei war beileibe nicht jeder Ton dolce. Zu diesem Zeitpunkt war Luisa schon so wütend, dass es ihr unmöglich war, sich ihrer eigenen Trauer zu widmen, was eigentlich der Zweck dieser Feier gewesen wäre. Sogar den Abschied von Carlo musste dieses Weib ihr noch verderben!
Anscheinend hatte Gloria trotz der Anstrengung, die das Singen ihr abverlangte, dennoch mitbekommen, wie Milena und Luisa einen genervten Blick wechselten und synchron die Augen verdrehten.
„Wie wollt ihr beiden auch ermessen, was der Tod eines Kindes für eine Mutter bedeutet, da ihr ja nicht einmal eines geboren habt“, warf sie ihnen gleich nach dem Segen mit dramatischem Tremolo an den Kopf.
Das nahm Milena zum Anlass, sich wortlos zu verabschieden und zu gehen.
Luisa beneidete sie um diese Freiheit. Sie selbst musste bis zum bitteren Ende ausharren und der endlosen Reihe der Kondolierenden entgegentreten, schon um der Presse kein Futter zu liefern, aber hauptsächlich, um Gloria nicht kampflos das Feld zu überlassen.
„Für einen Moment hatte ich gehofft, sie lässt sich mit Carlo zusammen in die Gruft einmauern“, gestand Luisa nun.
Milena hielt sich rasch die Hand vor den Mund, um ihren Lacher zu ersticken. „Ist sie drin?“, fragte sie dann und wies mit einer kleinen Kopfbewegung in Richtung der Villa.
„Sieht so aus. Sie und dieser Notar. Ich habe mich noch nicht hineingewagt.“
„Ich dachte, du wohnst hier. Ich meine, zurzeit.“
Luisa schüttelte den Kopf. „Ich habe ein Hotelzimmer genommen. Bei der Vorstellung, nachts allein in diesem Haus zu sein … Ich hätte kein Auge zugemacht und bei jedem Geräusch gedacht: Vielleicht spukt sein Geist noch herum. Dabei glaube ich gar nicht an so etwas, ehrlich nicht. Zumindest nicht tagsüber.“
„Ich verstehe dich vollkommen. Hätte ich auch nicht gemacht“, versicherte Milena und schlug vor: „Vielleicht sollten wir reingehen und es hinter uns bringen.“
Sie durchquerten den Garten und stiegen die sechs ausgetretenen Marmorstufen hinauf, die vor dem Portal einen Halbkreis bildeten. An der obersten Stufe wachte auf jeder Seite ein steinerner Löwe auf einem Sockel über die Besucher.
„Warte, ich habe einen Schlüssel.“ Luisa kramte in ihrem kleinen Rucksack. Sie wollte auf keinen Fall den Türklopfer – ebenfalls ein Löwenkopf – benutzen und damit Gloria die Genugtuung geben, sie gnädig hereinzubitten, als wäre sie die Hausherrin. Das musste sich erst noch herausstellen, wer das in Zukunft war.
Reifen knirschten über den Kies. Beide wandten den Kopf in Richtung des Geräuschs. Eines der inseltypischen offenen Taxis mit Sonnendach passierte die Einfahrt, wendete und hielt dann an. Sie hatten es wohl wegen des lautlosen Elektroantriebs nicht eher gehört. Eine blonde Frau in einer blauen Bluse und einem geblümten Rock stieg aus. Ihr Gesicht wurde halb verdeckt von einer dickrahmigen Sonnenbrille. Das Taxi fuhr davon. Die Frau blieb stehen und schaute sich um. Sie musste Milena und Luisa längst gesehen haben, dennoch zeigte sie keinerlei Regung. Eine froschgrüne Handtasche hing über ihrem Arm, und die hohen Absätze ihrer goldfarbenen Sandaletten bohrten sich in den Kies, als sie langsam, mit erhobenem Kinn und durchgedrücktem Kreuz auf die Villa zustöckelte.
„Wer ist das denn jetzt?“, wunderte sich Luisa. „Hat er uns eine Tochter verschwiegen oder eine dritte Ehefrau?“
Milena antwortete nicht gleich, sondern starrte die Frau aus schmalen Augen an. Ihre Stimme war dunkel vor Wut, als sie schließlich sagte: „Das ist Emilia Prodi.“
„Wer ist sie?“, fragte Luisa.
„Wer sie ist? Eine gottverfluchte Schlampe! Das ist sie!“
Gloria Romano, 80 Jahre alt, Carlos Mutter
Der ehemaligen Opernsängerin blieb der Welterfolg, von dem sie träumte, versagt. Dass ihr Sohn Carlo ausgerechnet als Schlagersänger Karriere machte, war die zweite Enttäuschung ihres Lebens. Von seinen Frauen hat sie nie viel gehalten. Jetzt will sie ihnen allen eins auswischen und die Wahrheit über Carlos Tod herausfinden.
Milena Mancuso, 57 Jahre alt
Carlos erste Ehefrau litt über Jahre unter der nörgelnden Schwiegermutter Gloria. Die Veränderung ihres Mannes durch seinen Erfolg und das Jet-Set-Leben zerrütteten ihre Ehe zusätzlich. Carlos Affäre mit der jungen Emilia gab Milena den Rest: Sie ließ sich scheiden und investierte die Abfindung in die schwächelnde Werft ihres Bruders. Das Geld aus Carlos Erbe könnte sie gut gebrauchen.
Emilia Prodi, 47 Jahre alt
Emilia träumte schon als Kind von einer Karriere als Sängerin, schaffte es jedoch nur auf einige Provinzbühnen. Erst ihre Affäre mit Carlo, Futter für die Paparazzi, brachte ihr den erhofften Erfolg: Einer ihrer Chansons stieg in den Charts auf. Öffentlichkeitswirksam trennte sie sich von Carlo, doch leider blieb es bei dem One-Hit-Wonder. Zwanzig Jahre und zwei gescheiterte Ehen später käme ihr eine größere Erbschaft gerade recht.
Luisa Rinaldi, 28 Jahre alt
Luisa begegnete Carlo in dem Sanatorium nahe Rom, wo sie als Physiotherapeutin arbeitete. Sie und Carlo freundeten sich an, allmählich kam auch sein alter Charme wieder durch, und aus einer Laune heraus heiratete sie ihn. Anders als von Gloria unterstellt, hat Luisa es nicht auf Carlos Geld abgesehen. Sie kommt aus einer gut situierten Familie, geht aber lieber ihren eigenen Weg, der sich nicht zuletzt um eine neue alte Liebe dreht.
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