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Die Grenzen der ToleranzDie Grenzen der Toleranz

Die Grenzen der Toleranz Die Grenzen der Toleranz - eBook-Ausgabe

Michael Schmidt-Salomon
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Warum wir die offene Gesellschaft verteidigen müssen

„Das Buch ist auf jeden Fall uneingeschränkt empfehlenswert.“ - Trust

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Die Grenzen der Toleranz — Inhalt

Wofür es sich zu streiten lohnt

Die offene Gesellschaft hat viele Feinde. Die einen streiten für „Allah“, die anderen für die Rettung des „christlichen Abendlandes“, letztlich aber verfolgen sie das gleiche Ziel: Sie wollen das Rad der Zeit zurückdrehen und vormoderne Dogmen an die Stelle individueller Freiheitsrechte setzen. Wie sollen wir auf diese doppelte Bedrohung reagieren? Welche Entwicklungen sollten wir begrüßen, welche mit aller Macht bekämpfen? Michael Schmidt-Salomon erklärt, warum grenzenlose Toleranz im Kampf gegen Demagogen auf beiden Seiten nicht hilft und wie wir die richtigen Maßnahmen ergreifen, um unsere Freiheit zu verteidigen.

€ 11,00 [D], € 11,40 [A]
Erschienen am 04.10.2016
224 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31031-4
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€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 04.10.2016
215 Seiten
EAN 978-3-492-95254-5
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Leseprobe zu „Die Grenzen der Toleranz“

Vorwort

Toleranz im Zeitalter des Empörialismus


Demagogen feiern mit halben Wahrheiten ganze Erfolge. Um sie zu stoppen, muss man ihnen recht geben, wo sie recht haben, und sie dort kritisieren, wo sie die Wirklichkeit verzerren. So löscht man das Feuer, auf dem sie ihr ideologisches Süppchen kochen.

Doch das ist leichter gesagt als getan. Denn wir leben in einem Zeitalter des „Empörialismus“: Auf der „richtigen Seite“ zu stehen und „aufrichtig empört“ zu sein zählt oft mehr als die Fähigkeit, unterschiedliche Sichtweisen unvoreingenommen gegeneinander [...]

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Vorwort

Toleranz im Zeitalter des Empörialismus


Demagogen feiern mit halben Wahrheiten ganze Erfolge. Um sie zu stoppen, muss man ihnen recht geben, wo sie recht haben, und sie dort kritisieren, wo sie die Wirklichkeit verzerren. So löscht man das Feuer, auf dem sie ihr ideologisches Süppchen kochen.

Doch das ist leichter gesagt als getan. Denn wir leben in einem Zeitalter des „Empörialismus“: Auf der „richtigen Seite“ zu stehen und „aufrichtig empört“ zu sein zählt oft mehr als die Fähigkeit, unterschiedliche Sichtweisen unvoreingenommen gegeneinander abzuwägen. Empörialisten haben den öffentlichen Raum so sehr mit moralischen Killerphrasen besetzt, dass eine rationale Debatte kaum mehr möglich erscheint. „Stimmung statt Argumente!“ heißt die Devise, deren Folgen man in den sozialen Netzwerken beobachten kann. Wer auf die Gefahren des politischen Islam hinweist, wird im Handumdrehen als „Rassist“ abgestempelt; wer aufzeigt, dass nicht alle Muslime vom Dschihad träumen, als „unverbesserlicher Gutmensch“ vorgeführt.

Polarisierung ist „in“. Und so sehen wir uns zunehmend mit „Alternativen“ konfrontiert, die allenfalls die Wahl zwischen Pest und Cholera erlauben: „Rettung des christlichen Abendlandes“ oder „Islamisierung Europas“, „Respekt für jeden“ oder „Abdriften in einen neuen Faschismus“, „Militärische Absicherung der Grenzen“ oder „Ertrinken in der Flüchtlingsschwemme“, „Gläserner Mensch“ oder „Steigende Terrorgefahr“! Der Philosoph Hans Albert hat das Anbieten solcher scheinbar auswegloser Szenarien schon vor 50 Jahren als „Alternativ-Radikalismus“ kritisiert. Seine Analyse ist erschreckend aktuell geblieben.

Zugegeben: Nicht jeder folgt dem Trend zur Polarisierung. Viele versuchen, dem Radikalismus zu entgehen, indem sie „die Wahrheit in der Mitte suchen“. Das klingt einigermaßen abgeklärt, ist aber nicht unbedingt aufgeklärt. Denn die Wahrheit folgt keinen geometrischen Vorgaben. Hier irrt sich der „Extremismus der Mitte“. Er übersieht, dass die Wahrheit sehr wohl auch an den Rändern der Gesellschaft angesiedelt sein kann und es – historisch betrachtet – in vielen Fällen auch war.

Schon ein kurzer Blick in die Geschichte verrät, dass sich Mehrheiten ebenso irren können wie Minderheiten. So wähnten sich die Menschen vor 500 Jahren mehrheitlich noch im Mittelpunkt des Universums (viele tun dies heute noch!) und ächteten jeden, der – wie Giordano Bruno – das Gegenteil behauptete. Noch vor 100 Jahren glaubten sie, ihre Kinder ausgerechnet dadurch fördern zu können, dass sie sie ordentlich züchtigten. Die Tatsache, dass eine Überzeugung von 90 Prozent der Gesellschaftsmitglieder geteilt wird, sagt nichts darüber aus, ob sie in irgendeiner Weise vernünftig ist.

An dieser Stelle zeigt sich, worin die besondere Stärke der modernen, offenen Gesellschaft besteht. Denn sie schützt Minderheitenpositionen nicht nur, weil die Meinungsfreiheit ein hohes rechtsstaatliches Gut darstellt, sondern auch, weil der freundlich-feindliche Widerstreit der Positionen wesentlicher Motor des gesellschaftlichen Fortschritts ist. Der Slogan „Vielfalt statt Einfalt“ findet hier seine Berechtigung, denn es ist wahr: Nur weil wir unterschiedlich sind, können wir voneinander lernen. Wären wir stets einer Meinung, hätten wir uns nicht viel zu sagen. Wir hätten kein Gegenüber, das uns korrigieren könnte, sondern würden uns wechselseitig in unseren Vorurteilen bestärken, was die gesellschaftliche Entwicklung zum Erliegen brächte.

Die geschichtliche Erfahrung zeigt, dass Gesellschaften, die jede Abweichung von der Norm bestrafen, zu kulturellem Stillstand verdammt sind. Zumindest ein Teil der Menschheit hat daraus eine Lehre gezogen. Und so begreifen moderne Gesellschaften den Widerstreit der Meinungen nicht mehr vorrangig als unerwünschten Störfaktor, sondern als Nährboden für zivilisatorischen Fortschritt. Dies drückt sich auch in dem schönen Begriff „Streitkultur“ aus, der anzeigt, worum es in der Moderne wesentlich geht, nämlich um eine Kultur des Streitens. Tatsächlich zeichnen sich moderne Gesellschaften dadurch aus, dass sie die Auseinandersetzung um das „Wahre, Schöne, Gute“ nicht nur erlauben, sondern aktiv fördern. Allerdings sollten sie dies nicht ungeregelt tun, sondern unter klar definierten kulturellen Vorgaben, die man als Spielregeln des zivilisierten Widerstreits bezeichnen könnte.

Wir werden diese Spielregeln im Verlauf des Textes noch unter die Lupe nehmen, doch es sollte schon hier – ohne weitere Erörterungen – einsichtig sein, dass den Beteiligten am gesellschaftlichen Debattenspiel vor allem eines abverlangt wird: ein erhebliches Maß an Toleranz. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Wer es partout nicht ertragen kann, dass andere Menschen Auffassungen vertreten, die von den eigenen Überzeugungen empfindlich abweichen, wird sich in einer offenen Gesellschaft nicht zurechtfinden können.

Dennoch ist Toleranz kein Wert an sich. Zwar mag eine tolerante Haltung in vielen Fällen gerechtfertigt sein, aber sie ist es keineswegs immer und überall. So wäre jede Form von Toleranz unangebracht, wenn wir mit systematischen Verletzungen der Menschenrechte konfrontiert sind. Wer Derartiges problemlos erdulden kann, beweist keine aufgeklärte, tolerante Haltung, sondern begeht Verrat an den Idealen der Aufklärung, die die Prinzipien der Toleranz hervorgebracht haben.

Von allgemeinen Aufrufen zu mehr Toleranz und Respekt, wie sie von Politikern in unschöner Regelmäßigkeit vorgebracht werden, sollte man daher Abstand nehmen. Schließlich hat vieles, was in der Welt geschieht, was Menschen denken oder wie sie handeln, keinerlei Respekt verdient! Manches davon bedroht die offene Gesellschaft sogar in solch fundamentaler Weise, dass sich jede Form der Nachgiebigkeit von selbst verbietet.

Wir dürfen den Feinden der offenen Gesellschaft ganz gewiss nicht die Freiheit geben, die Fundamente der Freiheit zu untergraben. Deshalb müssen wir aufhören, Toleranz und Respekt nach dem Gießkannenprinzip zu verteilen. Es ist nämlich alles andere als gleichgültig, wem wir Toleranz oder Respekt erweisen. Gleichgültig wäre es nur, wenn alle Traditionen, Ideologien, Lebensformen gleichermaßen gültig wären. Doch dies ist, wie ich zeigen werde, keineswegs der Fall.

Es ist eines der Grundübel unserer Zeit, dass ein Großteil der Menschen entweder nicht willens oder nicht fähig ist, zwischen Humanem und Inhumanem, Recht und Unrecht, Wahrheit und Propaganda, Vernünftigem und Widersinnigem zu unterscheiden. Insofern besteht das zentrale Problem, mit dem wir zu kämpfen haben, nicht in einem Mangel an Toleranz, sondern in einem Übermaß an Ignoranz.

Ignoranz begegnet uns heute in unterschiedlichsten Erscheinungsformen: Mal als egozentrischer Tunnelblick, der alle Probleme jenseits der eigenen kurzfristigen Interessen ausblendet. Mal als postmoderner Gleich-Gültigkeits-Wahn, der schon den schüchternsten Versuch einer rationalen Unterscheidung als unerträgliche Anmaßung zurückweist. Mal als opportunistische Rückgratlosigkeit, die die Konsequenzen des eigenen Handels falsch einschätzt, weil sie davon ausgeht, dass sich alle Probleme von selbst auflösen werden, wenn man nur nett und artig genug auftritt. Und nicht zuletzt auch als empörialistischer Herdentrieb, der jedes noch so vernünftige Argument attackiert, sofern es von der „falschen Seite“ geäußert wird.

All diese Formen der Ignoranz verhindern, dass wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort klare Kante zeigen. Sie unterlaufen jede sinnvolle Strategie, die offene Gesellschaft gegen ihre Feinde zu verteidigen. Und sie stärken all jene Kräfte, die sich zum Ziel gesetzt haben, das Rad der Geschichte um Jahrzehnte, wenn nicht sogar um Jahrhunderte zurückzudrehen.

Wir werden in den nachfolgenden Kapiteln untersuchen, wie es zu diesen Formen der Ignoranz gekommen ist und welche Maßstäbe wir anlegen sollten, um wohlbegründet zwischen wahrer und falscher Toleranz bzw. zwischen wahrem und falschem Respekt zu unterscheiden. Dabei wird sich zeigen, dass wir die Grenzen der Toleranz nur dann vernünftig ziehen können, wenn wir uns der Werte bewusst sind, die der offenen Gesellschaft zugrunde liegen.

Eine effektive Verteidigung der Freiheit kann, wie ich darlegen werde, nur gelingen, wenn wir uns dazu durchringen, das Profil des säkularen Rechtsstaats zu stärken. Töricht wäre es hingegen, würden wir die kulturellen Schotten dicht machen und aus Angst vor Terror und fundamentalistischer Unterwanderung all die zivilisatorischen Errungenschaften aufgeben, die es eigentlich zu verteidigen gilt. Deshalb werde ich in diesem Buch dafür plädieren, die offene Gesellschaft zu schützen, indem wir ihre Kernelemente sehr viel deutlicher betonen, als es bislang geschehen ist. Herauskommen wird dabei unter anderem ein Konzept, das sich am treffendsten wohl auf die paradox anmutende Formel „Abschreckung durch Freiheit“ bringen lässt.

Leserinnen und Leser meiner vorangegangenen Bücher werden feststellen, dass in dieser Streitschrift hin und wieder Argumente auftauchen, die ich schon früher vorgetragen habe. Das ist unvermeidlich, da in meinen Veröffentlichungen zum evolutionären Humanismus mitunter Themen angerissen wurden, die mit der Frage nach den Grenzen der Toleranz eng verknüpft sind. Ich bin jedoch überzeugt, dass der Fokus dieses Buches vieles in neuem Licht erscheinen lässt. Darüber hinaus ist es sicher auch nicht verkehrt, Argumente in Erinnerung zu rufen, die zwar alt, aber nicht veraltet sind. Seit über 20 Jahren warne ich nun schon davor, dass das 21. Jahrhundert zu einem „Jahrhundert der globalen Religionskriege“ werden könnte, wenn wir nicht sehr viel entschiedener für die Prinzipien der offenen Gesellschaft eintreten. Doch wie heißt es so schön? Manches sollte man so lange wiederholen, bis es verstanden wird.



Auch Streiten will gelernt sein

Ein Blick in die Abgründe der Islamdebatte


Hin und wieder hat man das Gefühl, in einem Irrenhaus zu leben. Ja, ich weiß: Es ist nicht politisch korrekt, von „Irren“ zu sprechen. Doch der Alternativbegriff „Psychiatrie-Erfahrene“ taugt nicht zur Beschreibung von Personen, die noch keinerlei Erfahrungen mit der Psychiatrie gemacht haben und wohl auch nie machen werden. Denn die „Irren“, um die es mir geht, verstehen sich keineswegs als psychisch krank, sondern, ganz im Gegenteil, als Vertreter eines „gesunden Volksempfindens“.

Das Krankheitsbild des gesunden Volksempfindens kann sich in vielerlei Hinsicht äußern: Man denke zum Beispiel an jene „aufrechten Europäer“, die die Diskriminierung von Muslimen, mitunter sogar das Niederbrennen von Flüchtlingsheimen, als notwendige Maßnahme zur „Rettung des Abendlandes“ begreifen. Oder an jene „hochsensiblen Muslime“, die beim Anblick jeder noch so harmlosen Zeichnung ihres „Propheten“ bittere Tränen des Schmerzes vergießen, ihre Begeisterung aber kaum mehr zügeln können, wenn eine „Ehebrecherin“ direkt vor ihren Augen gesteinigt wird.

Es waren Menschen dieses Schlags, die Raif Badawi in Saudi-Arabien zu zehn Jahren Haft und 1000 Stockhieben verurteilten, weil er es gewagt hatte, die Beachtung von Menschenrechten in einem Land einzufordern, das die Missachtung der Menschenrechte zum Dogma erhoben hat. Und es waren Menschen dieses Schlags, die frenetisch „Allahu akbar“ („Gott ist am größten“) riefen, als Raif am 9. Januar 2015 die ersten 50 Stockhiebe über sich ergehen lassen musste.

Als die Bilder von der öffentlichen Auspeitschung im Internet auftauchten, kam es in den westlichen Ländern zu unerwartet starken Protesten. Zuvor hatte es die Weltöffentlichkeit kaum interessiert, wenn Menschenrechtler in islamischen Staaten inhaftiert oder ermordet wurden. Raif hingegen avancierte innerhalb weniger Wochen zu einer globalen Ikone. Politiker und Prominente weltweit forderten seine Freilassung, Popbands wie U2 widmeten ihm Konzerte, in vielen Orten rund um den Erdball fanden Mahnwachen statt.

Dass Raifs Schicksal so viele berührte, ist nicht zuletzt seiner Frau Ensaf Haidar zu verdanken, die mit großem Mut und ebenso großem Geschick für die Freiheit ihres Mannes kämpft. Ich habe Ensaf kurz vor Beginn der Arbeit an diesem Buch getroffen und lange mit ihr über die Situation der politischen Gefangenen in den arabischen Ländern gesprochen. Es ist bewundernswert, mit welcher Kraft und Würde sie die Rolle ausfüllt, die ihr als Frau des wohl bekanntesten inhaftierten Dissidenten der islamischen Welt zugefallen ist. Und doch hätte Ensafs Einsatz kaum ausgereicht, um Raifs Fall in die internationalen Schlagzeilen zu bringen. Leider muss man annehmen, dass heute nur sehr wenige von Raifs Martyrium wüssten, wären die Bilder von seiner Auspeitschung nicht ausgerechnet in jenen aufwühlenden Tagen des Januars 2015 um die Welt gegangen, als der Westen für das Thema des islamischen Totalitarismus in besonderer Weise empfänglich war.

Am 7. Januar 2015, nur zwei Tage bevor Raif die Schläge vor der Al-Dschafali-Moschee in Dschidda ertragen musste, hatten Islamisten das Büro der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris überfallen und elf Personen getötet, darunter fünf der bekanntesten Cartoonisten Frankreichs: Stéphane Charbonnier („Charb“), Jean Cabut („Cabu“), Bernard Verlhac („Tignous“), Philippe Honoré und Georges Wolinski. Der Anschlag löste nicht nur weltweites Entsetzen, sondern auch eine außerordentliche Welle der Solidarität aus. Innerhalb kürzester Zeit eroberte der Slogan „Je suis Charlie“ die Welt. In ihm äußerten sich nicht nur Trauer und Wut angesichts des Terrors, er brachte auch ein trotziges Bekenntnis zu den Freiheitsrechten einer offenen Gesellschaft zum Ausdruck, die sich von den Einschüchterungsversuchen militanter Islamisten nicht unterkriegen lässt.

Anders als im Jahr 2006, als der sogenannte „Karikaturenstreit“ die Welt zutiefst gespalten hatte, schien es nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo für einen kurzen Moment so, als hätten selbst die konservativsten Politiker und Gelehrten des islamischen Kulturkreises begriffen, dass religionskritische Texte und Zeichnungen keine Legitimation für militante Ausschreitungen oder gar Terrorakte sein können. Während 2006 führende Repräsentanten der Muslime die gewalttätigen Proteste, die auf die Veröffentlichung von zwölf Mohammed-Karikaturen in Dänemark gefolgt waren, weiter angeheizt hatten, wurde das Attentat auf Charlie Hebdo sofort von allen Seiten verurteilt – nicht nur von der Arabischen Liga, der al-Azhar-Universität und den Präsidenten von Pakistan, Afghanistan und des Iran, sondern auch von der einflussreichen Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC), der über 50 Staaten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit angehören.

Klare Worte kamen auch von der saudischen Regierung, die den Pariser Anschlag „als feigen Terrorakt, der gegen den wahren Islam verstößt“, kritisierte. Der saudische Botschafter nahm sogar an der großen Demonstration in Paris teil, bei der mehr als 1,5 Millionen Menschen der insgesamt 17 Terroropfer gedachten und sich für Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit starkmachten. Umso heftiger fiel daher die Empörung des Westens aus, als bekannt wurde, dass das saudische Regime Raif Badawi nahezu zeitgleich auspeitschen ließ, gerade weil er sich für die Achtung der Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit eingesetzt hatte.

Die offenkundige Diskrepanz zwischen den Verlautbarungen und den tatsächlichen Handlungen Saudi-Arabiens alarmierte selbst diejenigen, die sich zuvor mit Kritik an dem sunnitisch-wahhabitischen Gottesstaat zurückgehalten hatten. Dass Raif Badawi barbarisches Unrecht widerfuhr, dass es nie und nimmer gerechtfertigt sein konnte, einen Menschen einzusperren, geschweige denn ihn einer Prügelstrafe zu unterziehen, weil er Muslime, Juden, Christen und Atheisten als gleichwertige Gesellschaftsmitglieder betrachtet, war eine der wenigen Einsichten, für die es im Westen quer durch alle politischen Fraktionen hindurch Zustimmung gab. Insofern verwundert es nicht, dass das EU-Parlament bereits im Februar 2015 mit großer Mehrheit die sofortige Freilassung Raif Badawis forderte.

Das doppelzüngige Agieren Saudi-Arabiens schien fatalerweise aber auch jene zu bestätigen, die Muslimen generell unterstellen, in der Kommunikation mit gezinkten Karten zu spielen. In rechtspopulistischen Kreisen gilt es nämlich als ausgemacht, dass Muslime permanent die sogenannte Taqīya-Strategie anwenden, um ihre eigentlichen Ziele zu verbergen und die „Ungläubigen“ in falscher Sicherheit zu wiegen.

Was steckt dahinter? Nun, das Taqīya-Prinzip (das arabische Wort bedeutet „Furcht“ oder „Vorsicht“), das vor allem in schiitischen Traditionen bekannt ist, besagt, dass es Muslimen erlaubt ist, in Zwangssituationen den eigenen Glauben bzw. die eigenen Ziele zu verheimlichen. Grundlage hierfür ist der Koranvers 3:28, in dem es heißt, dass die Gläubigen sich die Ungläubigen nicht zu Freunden nehmen sollten – es sei denn, sie hätten Grund, die Ungläubigen zu fürchten.

Gewöhnlich wird Taqīya als defensive Verteidigungsmaßnahme verstanden. Einige muslimische Führer, zum Beispiel Ajatollah Khomeini, haben sie jedoch auch als offensive Strategie im Dschihad empfohlen, um feindliche Regime durch systematische Täuschung und Unterwanderung zum Einsturz zu bringen. Khomeini selbst hat 1978 eindrucksvoll vorgeführt, wie dies funktioniert. Kurz vor seiner Rückkehr in den Iran beruhigte der damals im französischen Exil lebende schiitische Geistliche die Weltöffentlichkeit, indem er in zahlreichen Interviews behauptete, „gegenüber den religiösen Vorstellungen der anderen mit Respekt vorgehen“ und „keine Funktion innerhalb der Regierung“ einnehmen zu wollen. Wenige Monate später ließ sich Khomeini zum „Obersten Revolutionsführer auf Lebenszeit“ ernennen und befahl die systematische Verfolgung und Ermordung Andersgläubiger und Andersdenkender.

Kein Zweifel: Taqīya gibt es wirklich. Doch lässt sich aus dem Umstand, dass sich Taqīya aus dem Koran ableiten lässt, schließen, dass die dahinterstehende Haltung exklusiv bei Muslimen anzutreffen ist? Selbstverständlich nicht! Menschen aller Zeiten und aller Kulturen haben sich an die Gepflogenheiten ihres Umfelds angepasst und den Eindruck erweckt, sie zu unterstützen, obwohl sie insgeheim völlig anders dachten. Oftmals war dies die einzige Chance, um Verfolgungen und Diskriminierungen zu entgehen. Und natürlich spielen List und Tücke, Täuschung und Unterwanderung seit jeher auch eine wichtige Rolle in der Weltpolitik, wie uns die Geschichte lehrt.

Kulturelle Täuschungsmanöver sind also mitnichten eine muslimische Spezialität. Jedoch bot der Begriff der »Taqīya« eine wunderbare Vorlage zur Konstruktion einer universellen Verschwörungstheorie. Diejenigen, die vor einer „großen islamischen Weltverschwörung“ warnen, glauben nämlich felsenfest daran, dass fromme Muslime gar nicht anders können, als vom globalen Dschihad zu träumen, weshalb man ihnen nie und nimmer Glauben schenken dürfe, wenn sie sich zu Religionsfreiheit, Demokratie und Menschenrechten bekennen.

Das Vertrackte an dieser Konstruktion ist, dass sie sich – wie jede „gute“ Verschwörungstheorie – gegen jegliche Form von Kritik immunisiert. Denn entweder rufen Muslime tatsächlich offen zur islamischen Weltrevolution auf (wie etwa al-Qaida oder der sogenannte Islamische Staat), oder aber sie widersprechen diesem Aufruf, was aus verschwörungstheoretischer Sicht nur bedeuten kann, dass sie ihr eigentliches Anliegen, die Unterwerfung der Welt, durch Vortäuschung falscher Tatsachen verschleiern. So oder so ist Muslimen aus dieser Perspektive nicht zu trauen – und zwar vor allem dann nicht, wenn sie besonders glaubwürdig den Eindruck erwecken, die Prinzipien der offenen Gesellschaft zu respektieren. Dass ein solcher Generalverdacht jeden Ansatz einer rationalen Debatte zunichtemacht, dürfte einsichtig sein.

Michael Schmidt-Salomon

Über Michael Schmidt-Salomon

Biografie

Michael Schmidt-Salomon, Dr. phil., geboren 1967, ist freischaffender Philosoph und Schriftsteller sowie Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung. Er ist häufiger Interviewpartner in Presse, Funk und Fernsehen. Zuletzt erschien sein Titel „Die Evolution des Denkens“.

Pressestimmen
Trust

„Das Buch ist auf jeden Fall uneingeschränkt empfehlenswert.“

Psychologie Heute

„Erhellend ist die Darstellung der Islamdebatte. Es gelte zu unterscheiden zwischen dem politischen Islam als einer religiös-faschistischen Herrschaftsideologie und dem islamischen Humanismus der allermeisten Muslime. Zwar gebe es historische Bezüge zwischen Faschismus und Islamismus, aber dies dürfe nicht dazu verleiten, zu glauben, dass Muslime mehrheitlich faschistisch denken. (...) Der Autor argumentiert klug und für ein breites Publikum verständlich, immer im Sinne der Aufklärung und des Humanismus.“

Die Südostschweiz (CH)

»Entlang der aktuellen Islamdebatte und anhand einer kurzen Geschichte der Toleranz führt der Autor seine Leser zu einer zentralen Unterscheidung: Tolerieren heißt noch lange nicht akzeptieren. Tolerieren heißt „aushalten“. Akzeptieren bedeutet, etwas gutzuheißen. (...) Schmidt-Salomon plädiert dafür, dass wir die anstrengende „Kultur des Streitens“ wieder aktivieren, jenseits des „Empörialismus“. Und dass wir immer wieder neu definieren, was es zu tolerieren und was es zu akzeptieren gilt.«

hdp.de Humanistischer Pressedienst

„Ein spannend lesbares, uneingeschränkt empfehlenswertes Buch, das gerade in Zeiten von Unsicherheit und hohen Herausforderungen Klarheit zu grundlegenden Fragen unseres Umgangs mit Werten, Umbrüchen und Veränderungen unserer Lebenswelt vermittelt und gleichzeitig Wege zu deren Bewältigung aufzeigt.“

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