Die Grüne Null — Inhalt
Deutschland will klimaneutral werden. Aber was bedeutet das?
Die Erderhitzung brennt uns plötzlich allen auf den Nägeln. Dürre in Deutschland, Waldbrände und schmelzendes Eis in aller Welt, der Erfolg der „Fridays for Future“, eine neue EU-Politik und ein Machtwort des Bundesverfassungsgerichts machen deutlich: Wir müssen mehr tun. Bis 2045 soll Deutschland klimaneutral sein. Das heißt: Wir dürfen nicht mehr Treibhausgase ausstoßen, als wir aus der Atmosphäre binden. Unsere Emissionen müssen praktisch auf null.
Was technisch klingt, ist eine Herkulesaufgabe für Wirtschaft und Politik: Wir müssen Industrie, Verkehr, Energiesystem, Ernährung und Lebensstile umstellen – und das in nur einer Generation, am besten noch schneller.
Bernhard Pötter zeigt, wie hart um diesen größten und dringendsten Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland gerungen wird. Und wie er trotzdem gelingen kann. Er beschreibt ganz konkret, wie die Akteure in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Gesellschaft vorankommen – aber auch, wer und was sie bremst.
„Sehr kenntnisreich beschreibt Bernhard Pötter Herausforderungen und Chancen beim Versprechen der Klimaneutralität. Er benennt schonungslos die Probleme und die Instrumente. Dabei wird deutlich: Das Ziel erfordert Mut, Weitblick und einen langen Atem, doch am Ziel lockt ein Zugewinn an Lebensqualität.“
Annalena Baerbock, Bundesvorsitzende Bündnis90/Die Grünen
„Die ›Grüne Null‹, die Treibhausgasneutralität, wird die Wirtschaft grundlegend verändern. Wer wissen will, wie sich Autoindustrie, Finanzwirtschaft oder Landwirtschaft diesem Transformationsprozess stellen, wird dieses Buch mit großem Gewinn lesen.“
Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung
„Schwarz auf weiß jetzt im Gesetz ist die ›Grüne Null‹ eine zentrale Zielmarke für ein nachhaltiges Deutschland. Pötters Klimareise an die Basis der Neutralität liefert umfassende Einblicke für die notwendige Debatte um die richtigen Rezepte.“
Andreas Jung, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
Leseprobe zu „Die Grüne Null“
Einführung
Trau keinem über 24
Hier und jetzt entscheiden wir über unsere Zukunft:
Gefährlicher Stillstand oder Aufbruch zur Verantwortung?
An das Jahr 1997 kann ich mich noch gut erinnern. Der Bundespräsident hieß Roman Herzog und forderte, durch Deutschland müsse ein „Ruck“ gehen. Jan Ullrich gewann die Tour de France, Prinzessin Diana starb bei einem Autounfall in Paris, und der erste Band von „Harry Potter“ erschien. In Japan beschloss die UN-Klimakonferenz das „Kyoto-Protokoll“, und in Berlin zog meine Freundin bei mir ein. Heute leben wir immer noch [...]
Einführung
Trau keinem über 24
Hier und jetzt entscheiden wir über unsere Zukunft:
Gefährlicher Stillstand oder Aufbruch zur Verantwortung?
An das Jahr 1997 kann ich mich noch gut erinnern. Der Bundespräsident hieß Roman Herzog und forderte, durch Deutschland müsse ein „Ruck“ gehen. Jan Ullrich gewann die Tour de France, Prinzessin Diana starb bei einem Autounfall in Paris, und der erste Band von „Harry Potter“ erschien. In Japan beschloss die UN-Klimakonferenz das „Kyoto-Protokoll“, und in Berlin zog meine Freundin bei mir ein. Heute leben wir immer noch zusammen, aber vieles andere hat sich stark verändert. Trotzdem erinnere ich mich noch gut daran, wie die Welt sich damals anfühlte. 24 Jahre sind keine lange Zeit, wenn man auf sie zurückblickt.
Wenn man hingegen in die Zukunft schaut, scheinen 24 Jahre endlos. Wer weiß schon, wie unser Leben in einer Generation aussehen wird? Vieles dabei ist unsicher. Aber eines ist klar: Im Jahr 2045 sollen Deutschland und bis 2050 auch ganz Europa (und hoffentlich weite Teile der restlichen Welt) „klimaneutral“ sein – also praktisch keine Treibhausgase mehr in die Atmosphäre blasen, die die Klimakrise weiter anheizen. Was das für uns alle eigentlich bedeutet, wie wir das schaffen können und warum das so wichtig ist, darum geht es in diesem Buch.
„Klimaneutralität“ ist das größte Versprechen, das uns Politik und Wirtschaft geben können. Genauso groß wäre vielleicht „Weltfrieden“, aber den verspricht uns keiner. Aus gutem Grund. Um aber die Grüne Null bei den CO2-Emissionen zu erreichen, müssen wir die Art und Weise völlig umstellen, wie wir Strom erzeugen, uns fortbewegen, Dinge produzieren und verbrauchen, was wir essen, wohin wir reisen, wie wir unser Geld anlegen und was wir erfinden. Wir werden dafür sehr viel Kapital brauchen, sehr viele Ideen, sehr viel Entschlossenheit und sehr viel Mut zur Veränderung. Und das alles innerhalb einer Generation.
Veränderungen machen vielen Menschen Angst. Das ist normal und logisch. Wer grundlegende Umstürze wie im Osten Deutschlands ab 1989 erlebt hat, der wird vom Komplettumbau der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft erst einmal nicht begeistert sein. Aber die Welt verändert sich trotzdem: Die Digitalisierung formt unser Leben um, globale Migration ist eine Tatsache, Krankheiten wie die Corona-Pandemie machen uns klar, wie verletzlich unsere Körper und unsere Gesellschaften sind. Und der Klimawandel verändert rasant die Bedingungen, unter denen wir Menschen leben und arbeiten.
Es hilft nichts, den Kopf in den Sand zu stecken. Und auf die größte akute Bedrohung, die Klimakrise, gibt es ja eine gute Antwort: die „Klimaneutralität“. Wir müssen schnell weg von den größten Verursachern der Erderhitzung, von Kohle, Öl und Gas.
Unmöglich, sagen manche. Sehr gut möglich, sagen viele andere: Wir haben das Geld, wir haben die Technik, wir haben viele Gesetze, wir haben den Willen. Wir müssen nur richtig loslegen. Auch das beschreibt dieses Buch: Wo stehen wir auf diesem abenteuerlichen Weg Richtung 2045 – und wie kommen wir weiter? Was und wer treibt uns an? Wer bremst? Was fehlt noch?
Je mehr man zu dem Thema recherchiert, desto klarer wird: Auch die Verantwortlichen in Politik, Industrie und Gesellschaft wissen oft nicht, wie groß das Thema Klimaneutralität ist und wie sie damit umgehen sollen. Es gibt keinen genauen Fahrplan, keine exakte Kostenabschätzung, keinen 24-Jahres-Plan. Aber die großen Ziele sind klar, die Wegmarken gesetzt, die Instrumente liegen zum großen Teil bereit. Es muss nur endlich losgehen. Das legt der Blick auf die Zahlen und Daten der Wissenschaft dringend nahe: Die Klimakrise, der Auslöser aller Ideen zur Grünen Null, wartet nicht. Je schneller und entschlossener wir jetzt handeln, desto weniger wird es kosten – weniger Geld, weniger Menschenleben, weniger Zukunftschancen, die wir uns verbauen.
„Die Zeit zu handeln ist jetzt“, so heißt es auf jeder UN-Klimakonferenz seit fast 30 Jahren. Nie war dieser Satz so richtig wie heute. In den 2020er-Jahren wird sich entscheiden, ob die Welt den Klimawandel noch so abbremsen kann, dass sie 2100 im Schnitt nicht mehr als zwei Grad oder 1,5 Grad wärmer ist als vor der Industrialisierung ab 1850. Bisher sind die klimaschädlichen Emissionen weltweit fast immer nur gestiegen. Jetzt müssen sie nach allen Prognosen in den nächsten zehn Jahren weltweit halbiert werden, damit die Ziele erreichbar sind.
Noch einmal laut und deutlich: In zehn Jahren muss die Welt ihre CO2-Emissionen halbieren. Und Industriestaaten wie Deutschland, die Wirtschaftskraft Nummer 1 in Europa, müssen dabei vorangehen. Warum? Weil sie einen großen Teil des Problems verursacht haben, weil sie damit reich geworden sind, weil sie die Technik dazu entwickeln und weil sie sich schon auf den Weg gemacht haben. Deutschland hat seine Emissionen um etwa 40 Prozent gegenüber 1990 reduziert und verspricht noch viel mehr. Denn nur eine klimafreundliche Gesellschaft birgt die Chance auf sauberen Wohlstand und halbwegs gerechten Frieden in Europa und weltweit.
Deshalb sind die Pläne zur Klimaneutralität auch und vor allem für Deutschland so aktuell und brisant: Was in den nächsten zehn Jahren in Berlin und Brüssel, aber auch in den deutschen Bundesländern, Kommunen, Konzernleitungen und Hinterzimmern entschieden und umgesetzt wird, legt den Pfad bis 2045 fest.
Um es mal drastisch zu sagen: Was der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung in den nächsten zwei Legislaturperioden ab 2021 zur Klimaneutralität beschließen und umsetzen, entscheidet über unser Schicksal – darüber, ob Deutschland seiner Verantwortung gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern, der Europäischen Union und der Weltgemeinschaft nachkommt. Nämlich als reiches Industrieland mit schier unbegrenzten Vorräten an Kapital, Erfindungsgeist und politischer Stabilität den Weg zur Klimaneutralität mit anderen zu gehen und ihn anderen vorzuzeichnen.
30 Jahre lang haben sich die Verantwortlichen auch in der deutschen Klimapolitik mit Klein-Klein durchgemogelt. Damit ist es jetzt vorbei. Sie stehen vor einer schwierigen Aufgabe, die sie sich selbst gestellt haben – und die sie durch jahrzehntelange Versäumnisse deutlich schwieriger gemacht haben als nötig: jetzt Maßnahmen durchzusetzen, deren Ergebnisse sie nicht mehr erleben werden – zumindest nicht als Amtsträger. Wenn es Lehren aus der globalen Corona-Pandemie gibt, so heißen sie: Wir sind als Menschen und als Gesellschaften verwundbarer, als wir glauben. Wir sollten kommende Risiken minimieren und uns auf mögliche Folgen einstellen. Wir sollten alles tun, um nicht sehenden Auges in eine weltweite Krise hineinzulaufen. Und wir sollten daran denken, dass der „Impfstoff“ gegen die Klimakrise schon erfunden ist: ein klimaneutrales Leben und Wirtschaften.
Viele begreifen einen solchen Umbau als Bedrohung. Für manche ist er es auch. Aber für die große Mehrheit der Menschen und Unternehmen bedeutet ein klimaneutrales Deutschland eine große Chance: auf gute Jobs, saubere Luft, lebenswerte Städte, eine halbwegs intakte Natur, auf ein Ende des „Immer mehr“ und einen neuen Blick darauf, was wirklich zählt – auf mehr Wohlstand und Gesundheit statt einfach nur immer mehr Besitz.
Dieses Buch beschreibt, was bereits getan wird und was noch zu tun bleibt, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Es zeigt aber auch, was alles noch fehlt. Und was wir in Zukunft unterlassen müssen, wenn unsere große Rechnung spätestens 2045 mit einer Grünen Null unterm Strich enden soll.
Das bedeutet nicht, auf alles zu verzichten. Ganz im Gegenteil. Wir werden uns auch in der nächsten Generation eine Menge Komfort und Überfluss erlauben können. Nur eines nicht mehr: den Luxus des Nichtstuns. 24 Jahre gehen schnell vorbei.
Teil 1 Von 850 Millionen auf null – das Ziel Klimaneutralität
Merkels grüne Zeitbombe
Was „Klimaneutralität“ konkret bedeutet, weiß bisher in
Politik und Wirtschaft praktisch niemand. Trotzdem wird
der Abschied von Erdgas, Kohle und Öl die nächsten Jahr-
zehnte dominieren.
Raum und Anlass sind nicht dafür gemacht, dass hier Geschichte geschrieben wird. Das unscheinbare Gebäude der DZ Bank am Brandenburger Tor in Berlin-Mitte duckt sich zwischen der Botschaft der USA und der Akademie der Künste. Im Foyer thront eine riesige silbrige Skulptur, die aussieht wie ein durchlöcherter Fußball. Im Kellergeschoss füllen unter einer Glasdecke blaue Sitzreihen den Saal. Hier tritt an diesem 14. Mai 2019 um zehn Uhr morgens Bundeskanzlerin Angela Merkel im roten Blazer ans Rednerpult – im Hintergrund eine blaue Wand mit dem Logo der Bundesregierung.
Im Publikum sind die zweite und dritte Garde der internationalen Klimadiplomatie versammelt. Und die Bundeskanzlerin macht eine unscheinbare Aussage, die allerdings eine Menge Sprengstoff enthält: „Ich schlage vor, dass unser konkretes Datum für die Klimaneutralität 2050 sein soll. Wir sollten darüber reden, wie wir das Ziel erreichen – nicht, ob wir es erreichen wollen.“
Merkel spricht beim Petersberger Klimadialog – benannt nach dem ersten Treffen im Jahr 2010 auf dem Petersberg nahe Bonn, jetzt aber immer in Berlin abgehalten. Seit einem Jahrzehnt treffen sich Ministerinnen und Minister, Klimaretter und Klimabremser, Sherpas und Beamte aus etwa 20 wichtigen Staaten für zwei Tage hinter verschlossenen Türen. Sie loten aus, welche Deals bei den nächsten Verhandlungen möglich sind.
Merkel hat dieses Forum immer schon gern für ein Ausrufezeichen zur Klimapolitik genutzt: 2014 verkündete sie hier, Deutschland werde seine Finanzhilfen für arme Staaten verdoppeln; 2018 nannte sie den Verkehrssektor mitten im Dieselskandal „unser Sorgenkind“. Und auch an diesem 14. Mai 2019 hat die Bundeskanzlerin vor allem eine Botschaft an die eigene Bevölkerung: Deutschland soll sich verpflichten, bis spätestens 2050 nicht mehr Treibhausgase in die Atmosphäre zu blasen, als wieder herausgefiltert werden – ob mittels der Speicherfunktion der Wälder oder durch technische Kniffs. Die Idee klingt abstrakt-technisch, Merkel trägt sie trocken in den für sie typischen Schachtelsätzen vor.
Zwei Jahre später, der 7. Mai 2021. Wieder ist „Petersberger Klimadialog“, wieder sitzt Angela Merkel, diesmal im blauen Sakko, vor einer blauen Wand und spricht mit PolitikerInnen in der ganzen Welt – wegen der Coronakrise allerdings nur am Bildschirm. Die Bundeskanzlerin verkündet, warum sie nach harter Kritik des obersten deutschen Gerichts an ihrer Politik dem Land ein noch schärferes Klimaziel verordnet: „Das Bundesverfassungsgericht hat uns in einem wegweisenden Urteil aufgegeben, beim Klimaschutz die Generationengerechtigkeit stärker in den Blick zu nehmen und den Weg zu Klimaneutralität konkreter zu beschreiben.“ Deutschland wolle deshalb schon bis 2045 klimaneutral sein und schon bis 2030 seine Treibhausgas-Emissionen um 65 Prozent gegenüber 1990 senken, nicht nur um 55 Prozent. Das steht in dem Entwurf für ein geändertes „Klimaschutzgesetz“, den Merkels Beamte nach hektischer Arbeit einen Tag vor „Petersberg“ gerade noch fertiggestellt haben.
Plötzlich geht alles ganz schnell. In den letzten Wochen vor Merkels letztem Auftritt im „Petersberg“-Format haben sich die Ereignisse überschlagen. am 29. April erklärte das Bundesverfassungsgericht das „Klimaschutzgesetz“ von Merkels Regierung teilweise für verfassungswidrig. Und nur eine Woche später verkündet die sonst oft zögerliche Kanzlerin einer verwunderten Öffentlichkeit, Klimaschutz werde jetzt noch schneller und drastischer betrieben als schon seit 2019 angekündigt.
Tatsächlich ist diese Idee aber ein radikales Zukunftsziel, das Politik, Wirtschaft und Gesellschaft enorm unter Druck setzt. Denn „Klimaneutralität“ bedeutet: bis 2045, also im Rahmen einer Generation, muss das viertgrößte Industrieland der Welt seinen Stoffwechsel komplett umbauen. Weg von einer Gesellschaft, die bei der Produktion von Gütern, bei der Mobilität und der Ernährung, bei der Errichtung, Heizung und Kühlung von Gebäuden und der Elektrizität auf Kohle, fossiles Gas, Öl oder Atom setzt – hin zu dem, was die Wissenschaft und ein wachsender Teil der Bevölkerung immer dringender fordern: ein Land, das unterm Strich keine klimaschädlichen Treibhausgase mehr ausstößt.
Ein radikales Klimaziel als politisches Erbe
Mit der Entscheidung für ein klimaneutrales Deutschland definiert Angela Merkel das politische Erbe ihrer Kanzlerschaft. Der Unterschied zum alten Klimaziel von minus 80 bis 95 Prozent sei weitaus größer als ein paar Prozentpunkte, sagte Jochen Flasbarth, der seit 2013 als SPD-Staatssekretär im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit in der Regierung den Klimaschutz beharrlich vorangetrieben hat. „Vorher haben die Vertreter der Stahl-, Zement- oder Autoindustrie immer gemeint, die verbleibenden fünf bis 15 Prozent Treibhausgase wären für sie reserviert. Diese Tür ist jetzt zu.“
Experten rund um das Thema Klimapolitik sehen das ähnlich. „Klimaneutralität lässt keine Restemissionen mehr zu; der Einsatz von Kohle, Öl und Erdgas muss um 100 Prozent reduziert werden“, sagt Rainer Baake. Als Staatssekretär für Bündnis 90/Die Grünen im Umwelt- und Wirtschaftsministerium hat er lange am Ausstieg aus der Atomkraft und am Ausbau der erneuerbaren Energien gearbeitet; er hat den Ökoverband Deutsche Umwelthilfe (DUH) geleitet und den Thinktank Agora Energiewende aufgebaut. Seit Ende 2020 treibt Baake mit der neu gegründeten Stiftung Klimaneutralität die Regierung mit Gutachten und Gesetzesvorschlägen vor sich her, ob es darum geht, wie man die Windkraft ausbaut oder wie man die Nutzung von fossilen Brennstoffen einschränkt. Er sagt: „Vor allem die Industrie braucht diese klaren Vorgaben, wenn sie jetzt die richtigen Investitionen für die nächsten Jahrzehnte entscheiden soll – und vor allem, wenn sie ganz konkret die falschen Investitionen in fossile Kraftwerke oder Verbrennungsmotoren unterlassen soll.“
Auch auf der EU-Ebene ist das Signal angekommen. Im Dezember 2019 beschließen die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Länder, die Union mit ihren etwa 450 Millionen Menschen solle spätestens 2050 klimaneutral sein – viele der PolitikerInnen wissen wohl nicht so genau, wozu sie ihre Länder da verpflichten. Gleichzeitig präsentiert die EU-Kommission ihren „Green Deal“, der den Weg zu diesem Null-Ziel vorzeichnet und gravierende Folgen haben wird. Der Vizechef der EU-Kommission und Kommissar für Klimaschutz Frans Timmermans, beschreibt sie so: „Die EU-Länder haben sich auf diese Ziele festgelegt. Keiner kann sich mehr verstecken, und keiner kann sagen: Es bleibt alles beim Alten.“
„Keiner kann sagen: Es bleibt alles beim Alten.“
Es muss sich etwas ändern, das ist auch Angela Merkel in den letzten zwei Jahren ihrer Amtszeit klar geworden. Oder besser: Dass Veränderungen nötig sind, weiß die promovierte Physikerin, die als Umweltministerin 1997 das Kyoto-Protokoll mitverhandelte, besser als andere. Aber nun sieht die Machtpolitikerin auch eine Chance, für solche Veränderungen Mehrheiten zu organisieren. Da sind die Warnungen aus der Wissenschaft, dass sich der Klimawandel immer weiter und immer schneller zuspitzt. Ein knappes Jahr zuvor hatte der UN-Klimarat (Intergovernmental Panel on Climate Change; IPCC) in einem Sondergutachten klargestellt, dass der Unterschied zwischen einer Erwärmung um 1,5 oder um zwei Grad Celsius bis 2100 groß wäre – die beiden Grenzen, die im Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 angesprochen sind. Die EU und alle Industriestaaten müssen ihre CO2-Emissionen bis 2030 praktisch halbieren, um das Schlimmste zu verhindern.
Dazu kommt: Der Klimawandel ist für Deutschland nicht mehr eine weit entfernte Zukunft. Er brennt auf der Haut. Extrem trockene und warme Sommer seit 2018 bringen Rekordtemperaturen, sie schädigen den Wald und die Landwirtschaft. Es regnet auch im Herbst und im Frühjahr weniger. All die Szenarien, vor denen die Wissenschaft lange gewarnt hat, rücken nun näher.
Dann ist da aber auch der Druck von der Straße. Seit 2019 streiken freitags Schülerinnen und Schüler in Deutschland als „Fridays for Future“ für konsequenten Klimaschutz. 2018 hatte das schwedische Schulmädchen Greta Thunberg eine weltweite Klimabewegung ausgelöst, mit Folgen auch in Deutschland: Bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen und der Europawahl 2019 wird die „Klimaschutzpartei“ Bündnis 90/Die Grünen so stark wie nie zuvor. Und Merkels Vertraute Ursula von der Leyen stellt sich als EU-Kommissionspräsidentin an die Spitze derer, die für Klimaneutralität werben.
Angela Merkel hat in den 14 Jahren ihrer Kanzlerschaft bis 2019 einen Schlingerkurs zwischen „Klimakanzlerin“ und Ökobremserin vollzogen. Unter ihrer Führung ist Deutschland politisch und wirtschaftlich stabil geblieben, hat die Finanz-, die Euro- und die Migrationskrise gemeistert, dafür aber die Klimakrise auf die lange Bank geschoben. In Merkels Deutschland ist die Wirtschaft gewachsen und der Anteil von Ökostrom am Strommix auf über 40 Prozent gestiegen. Aber die CO2-Emissionen sind lange kaum gesunken.
Das Land hat unter Merkel den Ausstieg aus der Atomkraft bis 2022 und aus der Kohle bis 2038 begonnen. Aber es wird auch deutlich, dass all das nicht genügt, um den Anforderungen des Pariser Abkommens, den Warnungen der Wissenschaft oder dem Protest in der Gesellschaft wirksam zu begegnen.
Das Klimaschutzgesetz bindet die kommenden Regierungen
Am 12. Mai 2021 beschloss das Bundeskabinett das neue Klimaschutzgesetz, keine zwei Wochen nach dem epochalen Urteil des Verfassungsgerichts. Wie gefordert, verschärfte darin die Regierung nicht nur die Ziele, sondern legte auch für jedes Jahr bis 2045 eine Obergrenze für die Emissionen fest. Bis 2030 werden diese CO2-Deckel fein säuberlich auf die Sektoren wie Industrie, Verkehr, Gebäude oder Landwirtschaft verteilt. Was noch zwei Jahre zuvor in Merkels CDU/CSU-Fraktion als „Öko-Planwirtschaft“ beschimpft und abgelehnt wurde, fand plötzlich allgemeine Zustimmung. Ein Unions-Abgeordneter fasste die gewandelte Stimmung so zusammen: „Es ist unser Gesetz, es gehört zu den Regeln, die unsere Kanzlerin auf EU-Ebene durchgesetzt hat und die unsere Unionskollegin von der Leyen vorantreibt. Und als Rechtsstaatspartei müssen wir umsetzen, was das Verfassungsgericht verlangt.“
Damit waren die neuen Ziele beschlossen. Ob sich die große Koalition noch auf entsprechende Maßnahmen einigen konnte, war bei Redaktionsschluss dieses Buches noch offen. Allerdings verabredete die Koalition, mehr Geld für Klimaschutz zur Verfügung zu stellen. Schon im „Klimaschutzprogramm 2030“ hatte die Regierung dazu im September 2019 unter dem Eindruck großer Demonstrationen der „Fridays for Future“ solche Weichen gestellt. Demnach wird ab 2021 erstmals in Deutschland auch der CO2-Austoß von Gebäuden und Verkehr mit einem Preis im „deutschen Emissionshandel“ belegt; Bahnfahren wird billiger, der Ausbau des Ökostroms auf 65 Prozent bis 2030 festgelegt und der Preis der im Erneuerbare-Energien-Gesetz festgelegten EEG-Umlage gedeckelt. Neue Förderprogramme sollen die Energieforschung und die bessere Dämmung von Häusern vorantreiben, Pendler entlasten und E-Autos billiger machen. Auch in der Corona-Krise wird das Ziel „Klimaneutralität“ nicht angetastet. Allerdings werden die milliardenschweren Hilfs- und Rettungsprogramme der Regierung nicht konsequent auf das Ziel der Grünen Null ausgerichtet. Für die Rettung der angeschlagenen Lufthansa gibt es auch ohne jede zusätzliche Ökoverpflichtung etwa so viele Steuergelder wie für die Zukunftstechnologie grüner Wasserstoff – knapp acht Milliarden Euro.
Am Ende von Angela Merkels Amtszeit zeigt sich: Die „Klimakanzlerin“ hinterlässt ihrer Nachfolgerin oder ihrem Nachfolger wichtige Weichenstellungen, aber auch schwere Hypotheken. Deutschland hat über ein Jahrzehnt seine Emissionen praktisch nicht gesenkt, die erneuerbaren Energien gleichzeitig stark ausgebaut, die Dynamik aber wieder gedrosselt. Den Umbau der Gesellschaft zur „Klimaneutralität“ hat die Regierung Merkel zwar beschlossen, aber die Umsetzung dieses Mammutprojekts hat sie dem nächsten Parlament und der nächsten Regierung – oder besser: für die nächsten Jahrzehnte allen Regierungen und Parlamenten – überlassen. Die „wilden Zwanzigerjahre“ des 21. Jahrhunderts sind das entscheidende Jahrzehnt für den Klimaschutz. Deutschland bietet an dieser Schwelle ein widersprüchliches Bild: Die fossile Nulldiät für eine Industrienation bleibt bislang trotz allem Fitness- und Effizienzgerede weit hinter dem Nötigen und Möglichen zurück. Das alte fossile System von Kohle, Verbrennungsmotor und Gasheizung hat keine Zukunft, klammert sich aber an die Vergangenheit. Viele Menschen ahnen, dass sich etwas grundlegend ändern muss, vermissen aber eine Bauanleitung für eine saubere Zukunft.
Auf der anderen Seite ist das Ziel der Klimaneutralität gesetzlich, politisch, juristisch und gesellschaftlich verankert; jede folgende Bundesregierung ist daran gebunden. Aus den Ländern und Kommunen kommen Druck und die Bereitschaft zur Veränderung. Viele Unternehmen sehen Chancen für neue Märkte, wenn sie klare Signale bekommen. Bei vielen Menschen wächst das Bewusstsein, dass ein klimaneutrales Deutschland keine Ökodiktatur sein wird, sondern eine Chance für ein gesünderes Leben mit mehr Qualität und wirtschaftlichen Möglichkeiten. Und der Druck zur Veränderung steigt mit jedem Hitzesommer und jeder Dürreperiode.
Was aber ist „Klimaneutralität“ eigentlich – wo kommt sie her? Und wo führt sie uns hin?
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