Die kleine Kartäuserin - eBook-Ausgabe
Roman
„Ein wunderbarer Text über die Einsamkeit, die Liebe zu Büchern und die scheiternde Liebe zwischen Menschen.“ - Der Standard
Die kleine Kartäuserin — Inhalt
„Ein großer Roman über das Leben, den Tod und die Kraft der Literatur.“ Brigitte
Ein Buchhändler, der über sich hinauswächst, als ein Kind seine Hilfe braucht. Ein versteinertes Herz, das zu neuem Leben erwacht, als das Schicksal am grausamsten zuschlägt. Und ein Mädchen, dem die schönsten Worte die Sprache rauben. Pierre Péjus Sensationserfolg aus Frankreich ist eine wunderbare Lektüre „für alle, die für die Literatur leben“. Le Monde
Leseprobe zu „Die kleine Kartäuserin“
TEIL 1
DAS ÜBERFAHRENE KIND
Fünf Uhr abends. Punkt fünf Uhr abends wird es sein im kalten Novemberregen, wenn der Lieferwagen des Buchhändlers Vollard (Etienne) im raschen Verkehr auf dem Boulevard mit voller Wucht ein kleines Mädchen treffen wird, das sich plötzlich vor seine Räder wirft.
Mit seinen feinen Gliedern, dem bleichen, zarten Fleisch unter dem roten Anorak und der roten Strumpfhose läuft das Mädchen einfach geradeaus. Tränennebel, Panik eines Kindes, das sich verlaufen hat, und im letzten Moment dieser entsetzte Blick unter dem braunen Pony. [...]
TEIL 1
DAS ÜBERFAHRENE KIND
Fünf Uhr abends. Punkt fünf Uhr abends wird es sein im kalten Novemberregen, wenn der Lieferwagen des Buchhändlers Vollard (Etienne) im raschen Verkehr auf dem Boulevard mit voller Wucht ein kleines Mädchen treffen wird, das sich plötzlich vor seine Räder wirft.
Mit seinen feinen Gliedern, dem bleichen, zarten Fleisch unter dem roten Anorak und der roten Strumpfhose läuft das Mädchen einfach geradeaus. Tränennebel, Panik eines Kindes, das sich verlaufen hat, und im letzten Moment dieser entsetzte Blick unter dem braunen Pony. Aufgetaucht aus dem Nirgends, wird der kleine Körper von der Gewalt des Aufpralls nach oben gerissen. Er rollt über die Motorhaube, die Stirn kracht gegen die Windschutzscheibe, und Vollard meint zu hören, wie die Knochen im Aufkreischen der Bremsen zerbersten. Um fünf Uhr abends, mitten im Tosen und Quietschen der Kraftmaschinen, ist da dieses Kind, niedergemäht in seinem Lauf, aufgeprallt, überschlagen, dann weit nach hinten geschleudert, der Schulranzen weggerissen, ein Schuh verloren.
Auf dem regennassen Asphalt beginnt sich rund um einen verrenkten Puppenkörper eine dunkelrote Lache auszubreiten, und feine blutige Rinnsale schlängeln sich an den Reifen der Autos vorbei, die im Novemberregen so plötzlich zum Stehen kamen.
Fünf Uhr abends wird es sein, aber einstweilen hat sich der Unfall noch nicht ereignet. Noch nicht einmal unvermeidlich ist er, schließlich ist das Schicksal nirgends festgeschrieben, allein die Zufälle in letzter Minute bestimmen das Leben, diese kleinen, entscheidenden Winzigkeiten, die den Vorzeichen und Prognosen trotzen und auf unsere Erwartungen pfeifen.
Um halb fünf kommen in allen Vierteln aller Städte die Kinder aus den Grundschulen. „Mama-Stunde“ nennen sie diesen Moment. Zwischen den Fassaden der langen grauen Straßen, die noch vor ein paar Minuten wie gelähmt dalagen, steigt ein lustiges Gemurmel auf, durchlöchert von den Rufen der Kinder. Die Schulen öffnen sich wie Muschelschalen, und unter ihren regennassen Segeltuchpanzern empfängt die schützende Mutterherde all diese Kleinen mit ihren schmalen, viel zu schweren Flügeln, die im Gedränge aneinanderstoßen.
Imposant, hingebungsvoll sind die Mütter, sie beugen sich zu ihren Kindern, die die Nase hochrecken, ihre glatten Wangen zum Kuß darbieten und die alle gleichzeitig durcheinanderreden und hochhalten, was sie aus Pappe, Stoff und Gips gebastelt haben. Die kräftigen mütterlichen Arme nehmen die Lasten von den Schultern, verstauen die Schätze an sicherer Stelle, und ganz plötzlich zerstreut sich die Menge. Schon verschwinden die Regenschirme in alle Richtungen. Brummend springen die Autos an. Schnelle Ausdehnung des Familienlebens.
Umgeben nur von den wenigen Kindern, die noch im Hort bleiben, kommt die Frau im blauen Kittel und schließt das Schultor zu.
Die Stille macht sich wieder breit, das Tageslicht verblaßt, der Regen wird immer stärker.
Alles ist jetzt möglich, auch das Schlimmste. Denn auch das Schlimmste streicht immer in der Meute des Möglichen umher. Die Hyäne des Schlimmsten tummelt sich ziellos in der Banalität.
Um halb fünf war Eva, das kleine Mädchen mit dem roten Anorak, noch in der Reihe von Kindern, die den Hof überquerten. Kaum durch das Tor, laufen alle fröhlich durcheinander, rennen los. Jedes Kind ist ohne weiteres in der Lage, in der kompakten Muttermasse die einmalige, vertraute Wärme zu erkennen, die Hand, in die es die seine schiebt, die Wange, auf die es einen schnellen Kuß haucht. Der Geruch nach Mutter, nach Feuchtigkeit, nach Hefekuchen. Alltägliches, verregnetes Wiedersehen.
Als die Reihe sich auflöst, wird Eva langsamer, sie läßt sich überholen, spürt, wie die dicken Tropfen ihr über den Pony auf die Stirn tropfen. Sie ist neu in dieser Schule, in diesem Viertel, in dieser Stadt. Sie hat erst sehr wenig mit den anderen Schulkindern geredet.
Eva ist unruhig wie jeden Abend, wenn sie Angst hat, ihre Mutter in der wartenden Menge nicht zu finden, nicht zu spüren, wie das Strahlen der wohlwollenden Augen auf ihr liegt, wenn sie sie herankommen sehen.
Evas Mutter kommt so oft zu spät! Immer ein paar Minuten, manchmal auch einiges mehr, und das, seit sie in diese Stadt gezogen sind. Mehrmals in der Woche erscheint Thérèse erst dann, wenn alle Mütter sich schon verstreut haben, aufgelöst in alle Richtungen. Sie läuft in schnellen Schritten, scheint außer Atem, eine Zigarette zwischen den Fingerspitzen. Von weitem deutet sie in einer Geste eine ungefähre Erklärung an, nickt mit dem Kopf, lächelt, als würde sie um ein bißchen Nachsicht betteln, und dann nimmt sie wieder ihren abwesenden Ausdruck an, diese nebelige Leichtigkeit.
Die junge Mutter sagt mit den immer gleichen Worten: „Ich habe mich furchtbar verspätet … Das verstehst du doch, nicht wahr, Eva, mein Liebes?“ Oder ganz unverfroren, aber ohne selbst daran zu glauben: „Aber das kann doch nicht sein, haben sie euch früher rausgelassen?“, wobei sie vorgibt, sie wüßte nicht, wie pünktlich sich die Schulmuschelschale öffnet und schließt. Aber bis jetzt ist diese säumige Mutter irgendwann immer noch gekommen. Und das ist es schließlich, was für Eva zählt, was die Welt davon abhält, sich im Taumel zu drehen, was den Boden dieser Stadt, in der sie niemanden kennt, daran hindert, ihr unter den Füßen wegzugleiten.
Auf dem Heimweg klammert sich das Kind an den Mantel seiner Mutter, denn die hält einen nicht gerne an der Hand, als würde eine kleine Hand zwischen den von den Zigaretten gelblich verfärbten Fingern sie stören, ihr im Weg sein.
An diesem Tag fühlt Eva sich zwischen all diesen feuchten Regenmänteln, den triefenden Schirmen elender und elender. Ihr Herz pocht so, daß es weh tut, und sie kneift die Augen zusammen, um am Ende der Straße den einzigen Menschen zu erkennen, auf den es ihr jetzt ankommt. Nein! Nur Gestalten, die sich wegbewegen. Keine Frau, die Mama sein könnte, kommt auf sie zu. Die Stille wie ein Nebelschwaden, der immer dicker wird. Das Schultor ist geschlossen, und da Eva sich nicht getraut hat, bei der Frau im blauen Kittel nachzufragen, kann sie sich nur unter dem Torbogen unterstellen. Nervös steigt sie auf die Zehenspitzen und fängt an, wie ein verstörtes Tier zu zappeln. Sie kauert sich nieder, ein trauriger, resignierter Frosch, ein hellroter Frosch. Sie seufzt, stellt sich wieder hin, reibt sich den Knöchel. Sie weiß, daß sie den Weg von der Schule zur Wohnung nur sehr schlecht kennt, es ist nicht gerade nah. Eine Wohnung, in der ihre Mutter und sie erst seit zwei Monaten wohnen.
Evas schwarze Augen spähen immer rascher in alle Richtungen.
Diesmal hat sie ihre eigene Stimme gehört, wie sie „Mama“ sagte. Jede Gestalt, die näher kommt, erweist sich als unerträglich fremd. Das da hinten ist sie! Nein, sie ist es nicht!
Trostlosigkeit auf diesem abstoßenden Gehsteig, mit diesem Spalt im Teer, in dem das Wasser steht, und mit dieser durchnäßten, zerknitterten Zeitung im Rinnstein. Ein unbestimmtes Gefühl, nichts mehr zu sein, unsichtbar.
Urplötzlich reißt sich die Kleine von der Mauer los, an der sie gelehnt hatte, und rennt los. Eva, so mager ist sie, so verletzlich, rennt durch die Stadt, mit diesem Ranzen voller Bücher, der ihr ins Kreuz schlägt. Die Gehsteige sind rutschig. Die Rücklichter der Autos sind große rote Sterne in ihren Augen, die voll Tränen stehen. Alles ist verschwommen. Wäre da nicht der Lärm der Stadt, so könnte man das Wimmern hören, das aus ihrer Kehle dringt, während sie, ohne abzubremsen, ohne auch nur einen Blick nach rechts oder links eine Straße überquert, dann noch eine, dann drei oder vier, wie es der Zufall will.
Eva rennt länger, als ihre Kräfte es zulassen, ihr geht der Atem aus. Die brennende Kehle, die schmerzenden Beine und dieser Ranzen, der so schwer ist, daß er sie bremst, den sie am liebsten wegwerfen würde, wenn nicht sein Verlust sie noch mehr verstören würde.
Der Unfall hat sich immer noch nicht ereignet. Es fehlte nur eine Winzigkeit, damit es nicht passiert. Eva könnte wie durch ein Wunder den richtigen Weg nehmen, vor Erschöpfung auf einer Ladenschwelle niedersinken, bis ein Passant sie fragen würde: „Hast du dich verlaufen?“ Aber nichts von alledem tritt ein, und der kalte Regen macht noch die letzte Chance zunichte.
Eva verfolgt ihre Bahn der Verlassenheit, sie ahnt nicht, daß ihre Mutter, die sich eine gute Dosis einsames Vergessen, einen kräftigen Schluck reine Gleichgültigkeit gegönnt hat, im selben Moment doch zu ihr eilt. Aber sie ist noch viel zu weit weg, um rechtzeitig zum Schulschluß dazusein.
Ganz in der Nähe nimmt es auch Etienne Vollard mit diesem Regen auf und folgt seiner eigenen Bahn. Die beiden Linien werden sich in einem einzigen tragischen Punkt kreuzen.
Allein, wie fast immer, sitzt er am Steuer seines kleinen grünen Lieferwagens voller Bücherkisten. Vollard ist so massig, so groß, so voluminös, daß sein Bauch, seine Beine und seine Schenkel nur gerade so zwischen die Lehne, die er so weit wie möglich nach hinten gestellt hat, und das Lenkrad passen. Sechshundert Kilo Blech, zweihundert Kilo Bücher, hundert Kilo Vollard, kurz, eine Tonne mechanischer, menschlicher und literarischer Masse auf dem vierspurigen Boulevard, der die Stadt von Norden nach Süden durchschneidet. Wie ein Schlafwandler fährt der Buchhändler, er redet mit sich selbst. … die Verzweiflung in ihren groben Zügen. Die Verzweiflung hat kein Herz, immer bleibt die Hand vor der Verzweiflung atemlos, vor der Verzweiflung, von der der vorgehaltene Spiegel einem nie sagt, ob sie tot ist.
Vollard fährt nicht gerne Auto, die Geschwindigkeit ist nichts für ihn, aber um die alten Bücher zu holen – gebrauchte Bücher, die zu kaufen er manchmal weit weg, in eine andere Stadt, fährt –, muß er wohl oder übel seinen Lieferwagen verwenden, sich in den Verkehr mischen, der sich immer zu schnell über die Boulevards wälzt.
Heute abend rutschige Straße, spritzendes Wasser, überdrehte Scheibenwischer. Eva rennt die Seitenallee entlang, die neben dem Boulevard verläuft. Sie stolpert, rempelt Passanten an, stößt sich mehrmals an Metall, an Beton, schlägt sich ein Knie auf.
Da beschließt sie, den unendlichen Boulevard zu überqueren, an dem sie seit einer ganzen Weile entlangläuft. Ein lärmender Strom. Ein rasender Strom. Außer Atem schlängelt sie sich zwischen den Stoßstangen der parkenden Autos hindurch, dann stürzt sie sich blindlings in die vorbeijagenden Wagen.
Den Bruchteil einer Sekunde zu spät sieht Etienne Vollard den winzigen Körper, der sich in diesem gelblichen, vom Regen streifigen Licht vor sein Fahrzeug wirft. Alles in ihm zieht sich zusammen, sackt vor Schreck nach unten. Das Bremspedal durchgetreten, das Lenkrad nach links herumgerissen, Vollard klammert sich fest und verkrampft sich, als könnte er noch mit eigenen Händen das blecherne Ungeheuer zurückhalten, das sich schon auf seine Beute stürzt. Zu spät … Endloses Schlittern. Vollard, das Lenkrad, der Wagen, alles ist nur noch eine einzige metallische Masse, die das Mädchen niedermäht, es vom Asphalt losreißt, hochwirft. Nach dem ersten dumpfen Aufprall kracht der Körper gegen die Windschutzscheibe, inmitten von quietschenden Bremsen, anderem Kreischen und anderen Stößen, und all das scheint kein Ende zu nehmen.
Vollard sieht nacheinander den kleinen roten Anorak, die Blässe, den plötzlichen Schrecken in zwei riesigen, überdimensionierten Augen, zwei ungläubigen Augen, die flüchtig in die seinen tauchen. Lange noch wird er der Überzeugung bleiben, dieses Gesicht durch die Windschutzscheibe deutlich erkannt zu haben, ein Kindergesicht, das von seinem eigenen alten Kopf nur durch die durchsichtige Wand getrennt war, an der es zerbrach.
Dann die Reglosigkeit, das Innehalten über dem Grauen. Vollard wie an seinem Sitz festgemauert, die Hände ans Lenkrad geschweißt. Unendlich schwer.
DER BUCHHÄNDLER IM SCHNEE
Es kostet ihn eine ungeheure Anstrengung, aber er schafft es, sich zu bewegen, die Tür zu öffnen, doch beim Aussteigen verheddert er sich mit den Füßen im Sicherheitsgurt, den er nie verwendet, sondern der neben dem Sitz hängt. Er fällt schwer auf die Knie, die Hände flach auf dem schmierigen Teer, und auf allen vieren kriecht er zu dem Körper, den er ein paar Meter weiter liegen sieht, im Lichtkegel der Scheinwerfer von all den Autos, die stehengeblieben sind. Alles scheint wie in unheimliches Schweigen gehüllt.
In dem Moment, in dem er bei dem Körper ankommt, ist ihm, als würden Tausende von Instrumenten eines unwirklichen Orchesters plötzlich eine riesige Kakophonie anstimmen, während er da, vor sich, das kleine, reglose Etwas liegen sieht, das er nicht anzufassen wagt, dieses Stückchen Kindheit, den Kopf seltsam verdreht, die Arme verrenkt, der rote Fuß ohne Schuh. Mit stockendem Atem beugt er sich über die halbgeschlossenen Augen, den Mund, der sich zu Grimassen verzieht und aus dem es blutet, die schrecklich weiße Haut, den Schlamm und das Blut. Die Hände flach auf dem Boden, sieht er das rote, zähflüssige Rinnsal auf dem abgeriebenen Gummi der schwarzen Reifen.
Das Orchester gerät außer Rand und Band. Schreie, Hornklänge, rastlose Blechbläser, und über sich, um sich herum, erahnt Vollard eine dunkle, brüllende Menge. Da sind Leute, die ihn packen, an ihm zerren. Man versucht, ihn mit Gewalt hochzuziehen, ihn aus seinem Bann zu reißen. Er möchte sagen: „Sie atmet noch, aber sie blutet …“, aber er hat keine Stimme mehr. Als wäre es ein Traum, spürt er nicht die Fußtritte, nicht die brutalen Schläge gegen seine Schenkel. Und Hände ziehen an seinen Haaren und klammern sich an seine Kleider, aber er ist so schwer! Schließlich greifen ihn mehrere Männer, schaffen es, ihn aufzurichten. Es sind Polizisten. Schon heult die Sirene des Krankenwagens, das Blaulicht huscht über Gespenstergesichter. Eine Dame bringt den Ranzen des Kindes, den kleinen Schuh. „Sie atmet noch …“, sagt er, aber mit tonloser Stimme, hauchend, ersterbend.
Im Polizeibus sitzt ihm ein sehr junger Beamter gegenüber, er sieht ihn an und stellt ruhig Fragen. Es riecht nach feuchtem Leder, nach altem, erkaltetem Schweiß, nach Tabak. Vollard kommt wieder zu sich. Er prüft, ob seine Brille noch da ist, wischt seine Hände an der Hose ab. Er sagt vor allem: „Sie hat sich vor mich geworfen, sie hat sich vor mich geworfen …“ und andere, noch undeutlichere Dinge. Er bläst, ohne zu protestieren, in das Plastikröhrchen, das man ihm hinhält, pustet lautstark auf, was man ihm aufzupusten gibt, unterschreibt, was man ihm zu unterschreiben gibt, holt die Papiere aus den Taschen, die man ihn herausholen heißt. Zeugen berichten das, was sie gesehen haben, einem anderen Polizisten, der genauso jung ist und genauso ruhig.
Die Polizisten und die Zeugen steigen wieder aus. Vollard bleibt allein im Bus. Er hat die Trage vorbeikommen sehen, er hat das Heulen der Krankenwagensirene gehört. Wenn sie die Kleine so schnell mitnehmen, dann ist sie nicht tot, dann wird sie nicht sterben … Durch die vergitterte Scheibe sieht er, wie Polizisten mit Taschenlampen seinen Lieferwagen inspizieren, wie sie all die umgestürzten, durcheinandergewirbelten Bücher entdekken. Der Verkehr ist teilweise unterbrochen; der Motorenlärm überdeckt die Stimmen.
Vollard denkt, man werde ihn mitnehmen; er kommt gar nicht auf den Gedanken, daß man ihn nicht mitnehmen könnte. Aber der Polizist steigt triefend vor Nässe wieder in den dunklen Bus, die Papiere mit einer Plastikhülle schützend:
„Sie können gehen“, sagt er zu Vollard. „Der Bericht ist fertig … Fahrzeug in gutem Zustand … Alkoholtest negativ … Sie hätten nicht viel machen können, den Zeugen zufolge war die Kleine völlig panisch … hat auf nichts geachtet … sich vor Ihre Räder geworfen … Sie bekommen dann eine Vorladung, Sie müssen vor Gericht aussagen. Aber jetzt können Sie erst mal gehen …“
„Und das Kind, wird es wieder auf die Beine kommen?“
„Wissen Sie, sie haben es so schnell wie möglich ins Krankenhaus gebracht, sie werden tun, was sie können … Leider sehen wir so was Tag für Tag …“
Vollard steigt aus dem Bus. Er schiebt seine Brille zurecht, von der schon der Regen trieft, als der Polizist ihm auf die Schulter tippt: „Hier, nehmen Sie Ihre Autoschlüssel!“ Er wird wohl fahren müssen.
Der Bus ist wieder angesprungen. Die Menge hat sich verlaufen. Das ist kein Regen, der da auf die Dinge fällt, sondern ätzende Einsamkeit. Zwischen Vollard und dem Rest der Welt hängt nagender Nebel. Seine Hände zittern, sie bringen den Schlüssel nicht ins Schloß.
Schließlich läuft der Motor. Unter dem Gewicht der Bücher setzt sich der Lieferwagen in Bewegung, genauso wie vorher, aber jetzt schleicht Vollard den Boulevard langsam hinunter, die Angst liegt ihm im Magen, ständig erwartet er einen neuen Aufprall. Hinter ihm hupt es. Er biegt unversehens ab. Eine Straße, dann eine andere. In seinen Ohren der dumpfe, schreckliche Klang eines Kinderkörpers, der gegen die Motorhaube, gegen die Windschutzscheibe kracht, aufschlägt. Der Klang von splitternden Knochen, quietschende Bremsen und dieses Gefühl, daß er schlittert, machtlos. Die Finger zermalmen das Lenkrad, verkrampfen sich vor dem Absurden, während alle Muskeln des Beines, des Schenkels, das Pedal niedertreten.
So fährt er, der Buchhändler Vollard, gefangen in diesem Todestraum, im Blinken, dann in der Dunkelheit der Uferstraßen, wo er nicht einmal die roten Ampeln beachtet.
Wieder hupt es hinter ihm, aber es herrscht immer weniger Verkehr, immer mehr Leere und Schwärze. Bald verläßt er die Stadt und biegt in eine Straße, die schon zwischen den letzten massigen, dicht aneinandergedrängten Häusern steil in die Berge aufsteigt.
In dieser Stadt ist das möglich: durch die Menschenmenge auf den Alleen zu flanieren, zwischen Wohnblöcken, Wolkenkratzern und Kaufhäusern, und ein paar Minuten später allein inmitten der Berge zu stehen, wo noch völlige Wildnis herrscht.
Da sind bereits die ersten Kurven, eine schon ziemlich starke Steigung, dann Windungen zwischen hohen Felswänden. Steine sind auf die Straße geschlagen. Und Vollard fährt, als bliebe er jeden Moment stehen, so langsam es nur geht, die erleuchtete Stadt zu seinen Füßen, mit dem gelblichen Streifen des Boulevards, auf dem er den Unfall hatte, den hellen Blöcken des großen Krankenhauses, in das sie wohl das Mädchen gebracht haben, den blauen Blinklichtern, den sich bewegenden Scheinwerfern, dem abwechselnden Rot und Grün der Ampeln überall unter den erdrückenden, dunklen Bergmassen, die das Stadtgebiet einzwängen.
Aber Vollard kann nicht mehr anhalten. Er fährt durch verlassene Dörfer, Wälder, Täler, Tannenwälder. Die Stadt ist plötzlich verschwunden, wie versunken in diesem Loch aus verblaßtem Licht. Die Stadt ist wie durch einen Zauber von der Macht der Berge ausgelöscht. Da wird der Regen zu schmelzendem Schnee und mit steigender Höhe zu Wirbeln weißer Flocken.
Die Straße wird immer steiler und vor allem immer enger, gerade einmal ein Spalt in der dichten Bewaldung. Man droht sich zu verlieren, sich aufzulösen. Der Lieferwagen kommt praktisch nicht mehr vorwärts. Es ist, als würde er einschlafen, als würde er zögern, noch einen Meter und noch einen weiterzufahren. Am Paß angelangt, hält er schließlich an und bleibt liegen, dort auf der Straße, wie ausgelaugt. Vollard öffnet die Tür, läßt die Flocken lautlos auf sich niederstürzen. Alles ist mit einer weißen Schicht bedeckt, ein Schneeschleier, der sich über die Äste breitet, Spitzendeckchen auf dem Gras am Straßenrand, silbriger Reif, der die Dunkelheit erhellt.
Am Rand dieser weiten, verlassenen Fläche ein völlig verrammeltes Hotel. Blinde Fenster im schwarzen Holz. Schneepflüge, die da gestrandet sind. Aufgeschichtete Baumstämme. Tote Riesen unter ihrem Leichentuch. Weiter hinten taucht die Straße wieder in die Tiefe des Waldes, auf ein anderes Tal zu.
Vollard windet seinen massigen Körper aus dem Wagen und richtet sich in der Nacht auf, hebt den Kopf zum Himmel und fängt an, durch diese Einsamkeit zu laufen. Er steckt die Fäuste in die Taschen. Die Kälte frißt an seinem Gesicht, den Schultern.
„Ein wunderbarer Text über die Einsamkeit, die Liebe zu Büchern und die scheiternde Liebe zwischen Menschen.“
„Dieses Buch ist eine Hommage an die Literatur und an den Buchhändler, diesen Kuppler, der eine wichtige Rolle im Dienst der Kultur, ja des Lebens selbst, einnimmt.“
„Für alle, die für die Literatur leben.“
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