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Die kleine Nähstube in der Normandie Die kleine Nähstube in der Normandie - eBook-Ausgabe

Melissa Jahn
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Roman

— Ein zauberhaftes Modeatelier in Frankreich
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Die kleine Nähstube in der Normandie — Inhalt

Eine Schneiderin, die mit ihren Kollektionen die Schönheit ihrer Kundinnen betont. Ein Makel, der alle Träume zunichtemachen droht. Für Leser:innen von Nicolas Barreau und Meike Werkmeister

In ihrer kleinen Nähstube in der Normandie fertigt Aurelie für jede Frau und jeden Anlass das passende Kleid. Trotz ihrer Begabung, die wahre Schönheit der Kundinnen zu erkennen, versteckt sich die Designerin nach einem schlimmen Unfall hinter ihrer Nähmaschine. Als der Pariser Unternehmer Luc in ihrem Atelier aufkreuzt, scheint sich das Schicksal zu wenden. Obwohl sie zunächst nur auf geschäftlicher Ebene kommunizieren, spürt Luc schnell eine Faszination für die junge Frau, die ihr Atelier voller Leidenschaft führt. Das Knistern zwischen den beiden nimmt immer mehr zu, aber auch Luc hat ein Geheimnis zu verbergen ...

„Wenn die Nähmaschine ihre Arbeit aufnahm und ihr gleichmäßiges Schnurren den Raum ausfüllte, spürte ich, wie schön meine Welt am Rivière Seulles war. Und mit jedem Stich waren wir dabei, sie noch schöner zu machen.“

Dieses Buch erschien bereits 2022 unter dem Titel „Aurélie und die Nähwerkstatt der Träume“ im Diana-Verlag.

€ 18,00 [D], € 18,50 [A]
Erschienen am 30.01.2025
380 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-50837-7
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€ 2,49 [D], € 2,49 [A]
Erschienen am 30.01.2025
400 Seiten
EAN 978-3-377-90200-9
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Leseprobe zu „Die kleine Nähstube in der Normandie“

PROLOG

Zuhause schmeckte nach Farben, nach hauchzarten Stoffen und knisternder Inspiration. Immer wenn das gleichmäßige Surren der Nähmaschine erklang, gab ich dem süßen Ruf nach, kauerte mich auf dem abgewetzten Sofa gleich unterhalb der Dachschräge zusammen und sah meinem Vater bei der Arbeit zu.

Erst vor wenigen Monaten waren wir aufs Land gezogen, hatten die Mansardenwohnung in der Stadt gegen das graue Haus am Rivière Seulles getauscht und die Räume mit Möbeln, Erinnerungen und neuer Hoffnung gefüllt. Das Gebäude war alt, die Mauern von Feuchtigkeit [...]

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PROLOG

Zuhause schmeckte nach Farben, nach hauchzarten Stoffen und knisternder Inspiration. Immer wenn das gleichmäßige Surren der Nähmaschine erklang, gab ich dem süßen Ruf nach, kauerte mich auf dem abgewetzten Sofa gleich unterhalb der Dachschräge zusammen und sah meinem Vater bei der Arbeit zu.

Erst vor wenigen Monaten waren wir aufs Land gezogen, hatten die Mansardenwohnung in der Stadt gegen das graue Haus am Rivière Seulles getauscht und die Räume mit Möbeln, Erinnerungen und neuer Hoffnung gefüllt. Das Gebäude war alt, die Mauern von Feuchtigkeit und dem Leben unbekannter Menschen gezeichnet. Doch mir gefielen die angrenzenden Obstplantagen mit ihren rotwangigen Äpfeln, die verheißungsvoll an den Zweigen leuchteten, der weite Blick bis zum Horizont, wo die Sonne einem orangefarbenen Ball gleich hinter Wiesen und Feldern versank. Und mein Zimmer, ein schmaler Raum mit schrägen Wänden und Stockflecken auf den Tapeten, in dem ich tun und lassen konnte, was ich wollte.

Vor allem aber liebte ich den Dachboden, diesen magischen Ort, wo mein Vater sich sein eigenes Reich geschaffen hatte. Hier heftete er, zeichnete und schnitt, bis auch ihn das Ergebnis überzeugen und er mit dem Nähen der kostbaren Stoffe beginnen konnte. Erst wenn seine Finger steif vor Kälte waren und das Kreuz gegen die gebückte Haltung protestierte, stieß er das Dachflächenfenster in den Nachthimmel auf und blickte zu den Sternen empor.

„Als ob wir nach ihnen greifen könnten“, sagte er dann, nahm mich auf den Arm und wirbelte mich herum, bis ich vor Freude und einer kribbelnden Angst leise aufschrie. „Irgendwann, ja irgendwann machen wir unser Wunder wahr, Elli. Dann erobern wir nicht nur Frankreich, sondern die ganze Welt. Kannst du dir das vorstellen, mon petit papillon?“

In diesen Momenten schlang ich die Arme nur noch fester um seinen Hals, drückte mich gegen seine Bartstoppeln, die an der Haut kratzten, und spürte seine beruhigende Wärme ganz nah bei mir. Ja, das konnte ich. Denn in meinen Augen war mein Papa ein Held. Ein Maître, der an seinem Holztisch die unterschiedlichsten Stoffe unter dem Nähfuß hindurchgleiten ließ und Lage um Lage zu einzigartigen Kreationen verband.

In seinen Nähpausen aber setzte er mich auf die Knie und zeigte mir seine Welt, die von Kellerfalten, Rüschen und gepaspelten Knopflöchern erfüllt war. Ein Ort voller Farben, Muster und Schönheit, dessen Geheimnisse in seiner Familie seit Generationen weitergegeben wurden.

„Jede Frau ist schön“, pflegte er zu sagen, wenn wir zusammen auf dem Hocker saßen und die Knöpfe betrachteten, die in die unzähligen Fächer einer hölzernen Schublade einsortiert waren. „Und unsere Aufgabe ist es, diese ungeschliffenen Edelsteine zum Glänzen zu bringen. Ist das nicht wunderbar?“

Es war mehr als das, und ich wusste, dass ich eines Tages in seine Fußstapfen treten würde. Wie mein Großvater und Urgroßvater es getan hatten, wollte auch ich diese besondere Tradition meiner Familie weiterführen. Ich war dafür bereit, Stunde um Stunde auf einem alten, zugigen Dachboden zu verbringen, mir wiederholt in den Finger zu stechen und Schnittmuster anzupassen. Wenn erst die Nähmaschine ihre Arbeit aufnahm und ihr gleichmäßiges Schnurren den Raum ausfüllte, spürte ich, wie schön meine Welt am Rivière Seulles war. Und dass wir dabei waren, sie mit jedem Maschinenstich noch schöner zu machen.


1 Aurélie

20 Jahre später

Endlich war es da! Etwa so groß wie ein Telefonbuch, eingewickelt in hellbraunes Packpapier, lag das Päckchen vor mir auf dem Küchentisch. Mein Name, Aurélie Laurent, stand in Großbuchstaben mittig auf der Vorderseite. Der Absender hatte die Adresse fahrig darunter gekritzelt, den Schriftzug der Stadt Bayeux an einer Stelle verwischt. Daneben leuchtete mir die rote Stempelfarbe mit der Aufschrift poste aérienne entgegen, ein Beweis dafür, dass die Warensendung weit gereist war.

Ein Hauch von Abenteuer haftete dem Papier an, und ich sog jedes Detail begierig in mich auf, als könnte ich das Päckchen mit den Augen durchdringen und somit das Geheimnis enthüllen, das sich darin verbarg. Mit jeder Minute wurde meine Unruhe größer, und in meiner Magengrube breitete sich ein Ziehen aus, einer Fahrt mit dem Riesenrad gleich, wenn sich die Gondel zwischen den Dächern erhob und abends die Sicht auf das darunterliegende Lichtermeer freigab.

Dabei schwebte ich an diesem Morgen nicht über den Häusern von Paris, sondern saß am Küchentisch, in einem Dreizimmer-Appartement, das ich mir zusammen mit meiner besten Freundin Zoé teilte. Zwei Räume und ein gemeinsames Wohnzimmer – mehr Platz bot die Altbauwohnung im Herzen der Kleinstadt Bayeux nicht, dafür aber eine riesige Küche, die vor allem Zoé mit Leidenschaft nutzte.

Mir hingegen waren bei der ersten Besichtigung sofort die Geschäftsräume im Untergeschoss aufgefallen, die durch eine Wendeltreppe mit der Wohnung verbunden waren. Ein kleiner, leerstehender Laden, der ebenfalls angemietet werden konnte und mir Möglichkeiten eröffnete, von denen ich zuvor nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Dieser Ort bot mir die besten Bedingungen, eine eigene Nähwerkstatt namens Mille Beautés zu eröffnen – eine Aufgabe, die ich sofort mit größtem Elan angegangen war.

Direkt nach dem Einzug und bevor die Schränke eingeräumt und die Betten aufgebaut waren, war Zoé mit ihrem zehn Jahre alten, schlammgrünen Peugeot, den sie liebevoll Crapaud, also Kröte, nannte, Richtung Caen gefahren. Sie hatte im Baumarkt Schleifpapier, Pinsel und einen Topf himmelblauer Farbe erstanden, damit die Küchenmöbel gestrichen und die Schränke mit allerhand Förmchen, Messbechern, Sahnetüllen und Rezeptbüchern gefüllt. Zusammen mit den karierten Vorhängen, die ich für die Hängeschränke oberhalb der Arbeitsfläche und einen Stauraum unter dem Spülbecken genäht hatte, war der Raum kaum wiederzuerkennen. Am Abend des Umzugstages hatten wir in unserer ersten eigenen Wohnung Tee aufgebrüht, und Zoé hatte noch ofenwarme Pains aux raisins beigesteuert, butterzarte Kuchenschnecken, gefüllt mit Pudding und Rosinen. Seither waren die allabendlichen Teegespräche zu einem festen Ritual geworden und der Küchentisch zu einem Treffpunkt, wo wir über die Fortschritte in der Nähwerkstatt plauderten und alles, was uns sonst gerade bewegte. Der vanillewarme Geschmack auf meiner Zunge aber gab mir das Gefühl, zum ersten Mal seit Langem am richtigen Ort angekommen zu sein.

Auch heute lag in der Küche ein Hauch von Karamell in der Luft, die zarte Note einer buttrig-süßen Creme, die Zoé nach einem neuen Rezept angerührt hatte. Nur von ihr war an diesem Morgen nichts zu sehen außer einem benutzten Teller, den sie wie immer auf dem Tisch hatte stehen lassen. Sonderlich ordentlich war Zoé nicht, dafür wunderte mich umso mehr, dass sie es heute so zeitig aus den Federn geschafft hatte. Für gewöhnlich brauchte sie mindestens einen double espresso, um zuverlässig wach zu werden. Und um auf Nummer sicherzugehen, ließ man sie am Vormittag besser in Ruhe.

Ich spülte den letzten Bissen Croissant hinunter und spähte erneut zum Päckchen hinüber. Obwohl ich es am liebsten auf der Stelle aufgerissen hätte, durfte ich mir heute keinerlei Nachlässigkeiten erlauben, weshalb ich mir im Bad den Fettfilm von den Fingern wusch, die Hände gründlich abtrocknete und einen winzigen Klecks Handcreme auftupfte, um die Haut geschmeidig zu machen. Erst als ich mich vergewissert hatte, dass die Nägel frisch geschnitten und die Kanten akribisch geglättet waren, gab ich mich damit zufrieden, zog den Reißverschluss der Strickjacke bis zum Kinn. Und dann war ich endlich fertig.

Wer den Verkaufsraum von Mille Beautés durch die mintfarbene Eingangstür von der Rue du Bienvenue aus betrat, richtete den Blick zuerst auf die auf Shabby Chic getrimmten Vitrinen. Daneben buhlte der Tresen, gefertigt aus dem Holz einer alten, wurmstichigen Kirchentür, um die Gunst unserer Kundinnen, ebenso der vergoldete Standspiegel im Rokokostil. Mein ganzer Stolz aber galt dem Ohrensessel, der unter einer ehemaligen Bahnhofsuhr seinen Standort gefunden hatte. Ein currygelbes Schmuckstück mit abgenutzter Sitzfläche, dass das Ensemble perfekt ergänzte.

Bereits als Kind hatte mich das Zusammenspiel von alt und neu fasziniert, und ich hatte mir abenteuerliche Geschichten vorgestellt, die die Möbel zu erzählen hatten. Jeder noch so unscheinbare Riss barg einen individuellen Charme, jeder Kratzer zeugte von einer Vergangenheit, die das Möbelstück überdauert hatte. Manchmal – und wenn ich sicher war, dass keine Kundinnen zugegen waren – ging ich in den Laden hinunter, legte eine Hand auf das kühle Holz und spürte, wie die Haut warm wurde und das Herz weit. Neben diesen alten Möbeln mit ihren Ecken und Kanten fühlte ich mich angenommen. Hier durfte ich sein. Mit all den Eigenarten und mit allen Narben, die das Leben auf Körper und Seele hinterlassen hatte.

Das Herzstück des Ladens aber bildeten die Kleiderstangen, die aus ehemaligen Wasserrohren gefertigt waren und wie geschaffen dafür, die Kreationen der Nähwerkstatt zu präsentieren. Einzelstücke, die nach Belieben an die Wünsche der Kundinnen angepasst werden konnten und die ganze Bandbreite meines Könnens zeigten.

Im Laden angekommen, schloss ich zuerst den bordeauxfarbenen Vorhang, ein schwerer Stoff, der den Verkaufsraum vom Hinterzimmer abgrenzte und neugierigen Kundinnen den Blick in die Werkstatt verwehrte. Vorsichtig, als handelte es sich um eine Schachtel zerbrechlicher Christbaumkugeln, legte ich das Paket auf dem massiven Eichentisch ab und machte mich daran, die Klebestreifen zu lösen, mit denen die Pappe verschlossen war. Es knisterte zuerst nur leise, doch schließlich gab das Papier nach und enthüllte die Sicht auf ein hauchzartes Gewebe, ein mitternachtsblauer Chiffon, der mit schimmernden Sternen bestickt war. Licht brach sich auf der Oberfläche des Garns, und als ich den Stoff entfaltet und um eine Schneiderpuppe drapierte, erfüllte ein Glitzern den Raum. Zufrieden betrachtete ich das Ergebnis und atmete bebend aus.

„Oh Papa. Das ist es“, murmelte ich und blinzelte gegen die Tränen an, die sich aus meinen Augenwinkeln zu stehlen versuchten. Doch jetzt war keine Zeit zu weinen. Viel zu lange hatte ich auf den Moment gewartet, und nun, da der Stoff angekommen war, wollte ich nicht eine Sekunde verschwenden, sondern endlich mit dem Nähen beginnen.

Mit Schwung zog ich meine Nähmaschine vor, ein gutes Stück, das mir in den vergangenen Monaten treue Dienste geleistet hatte, dazu den Unterstoff, der am Rand bereits versäubert war. Gerade, als ich den Stoff vor mir ausbreiten wollte, ging die Ladentür auf, und eilige Schritte kamen auf mich zu. Der Vorhang schwang zurück, und Zoé platzte hinein.

„Bonjour! Bin ich zu spät?“

„Meine Güte, hast du mich erschreckt!“ Ich starrte auf das schmale Röhrchen, das sie mir entgegenstreckte. Ihre Wangen waren vom Laufen gerötet, der Mund zu einem verzückten Grinsen verzogen, als ob sie Agustín Galiana persönlich begegnet wäre. Der attraktive Spanier, der zuletzt die Promitanzshow Danse avec les stars gewonnen und noch dazu einen feurigen Sommerhit herausgebracht hatte. Seither war Zoé ein wenig in ihn verschossen. Anders war nicht zu erklären, warum die Serie bei uns in Dauerschleife lief, in der der sympathische Alleskönner eine Hauptrolle innehatte. Dabei war er mindestens fünfzehn Jahre älter als sie, doch Zoé hatte schon immer einen eigenartigen Männergeschmack an den Tag gelegt und sich zuletzt mit einem Mann getroffen, der ohne Probleme ihr Vater hätte sein können. Erst als auch ihr klar war, dass er sich keinesfalls von Frau und Kind trennen würde, war sie unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückgekehrt.

Unmengen an Taschentüchern und literweise Eiscreme später schien die Phase der Trauer vorüber zu sein, und Zoé lachte wieder so vergnügt wie zuvor. Als berge ihre Hand ein Geheimnis, das es zu lüften galt, zog sie den schmalen Korken aus dem Röhrchen und hielt es mir unter die Nase. Sogleich strömte mir ein würzig aromatischer Duft entgegen, und ich schnupperte automatisch, bevor ich mit gerunzelter Stirn aufsah.

„Was hast du damit vor?“

„Vanille!“, sagte sie, als erklärte diese Tatsache bereits meine Frage. „Die echte aus Tahiti. Mit der kann ich die Millefeuilles nach dem Rezept meiner Grandmère backen. Zarter Blätterteig mit sahnigen Cremeschichten und Erdbeeren. Ein Traum!“ Sie leckte sich die Lippen und hüpfte so aufgeregt von einem Bein auf das andere, dass ihre blonden Locken wie Sprungfedern auf und ab zu wippen begannen.

Ein Lächeln zupfte an meinen Lippen, und ich betrachtete meine Freundin liebevoll, die ein wahrer Wirbelwind war. Wie ein Schwarm Vögel ließ sie sich vom Wind leiten, nur um mit der nächsten Böe urplötzlich abzudrehen und ungestüm neuen Ideen hinterherzujagen – ohne sich der Konsequenzen im Voraus bewusst zu sein.

Gerade das machte sie so liebenswert und unsere Freundschaft für mich unersetzlich. Während ich jeden Einfall im Kopf umherwälzte, bis sich die spannendste Idee zu einer zähen, grauen Masse verdichtet hatte, wirbelte Zoé wie ein frischer Sommerwind durch mein Leben und lieferte mir die nötige Prise Mut, um neue Aufgaben anzugehen. Wie auch die Eröffnung der Nähwerkstatt, die ich ohne sie bis heute nicht durchgezogen hätte.

„Und wo hast du die Vanille her?“

Sie strahlte. „Vom Großmarkt. Heute ist ein wunderbarer Tag! J’ai raison?“

Während ich den Vorhang an seinen Platz zurückzog, betrachtete ich ihr Outfit, einen dunkelblauen Rollkragenpullover, haselnussbraune Wildlederstiefel und einen farblich dazu passenden Rock. Sie trug eine Einkaufstasche in der Hand und ein Glitzern in den Augen, das mir von der ersten Sekunde an verdächtig vorgekommen war. Misstrauisch verschränkte ich die Arme vor der Brust.

„Zoé, was ist los? Du hast dich kaum zum Backen so hübsch gemacht. Hast du einen neuen Verehrer?“

„Ich hatte einfach Lust, mich ein wenig rauszuputzen. Darf ich das nicht?“ Eine Spur verlegen strich Zoé sich den Rocksaum glatt, legte die Tasche auf einen Stuhl und sah sich suchend um. „Und außerdem … Hast du’s vergessen? Du hast noch nicht einmal dein Headset an. Aurélie, was ist heute nur mit dir los?“

„Vergessen? Ich wollte jetzt mit dem Nähen beginnen.“

Mit leisem Vorwurf in der Miene, als könne sie kaum glauben, was hier vor sich ging, lief Zoé zum Schreibtisch hinüber, wo an der rückseitigen Wand unser gemeinsamer Terminplaner hing – ein ominös großes Plakat in allen Farben des Regenbogens. Ich hatte das System gleich zur Eröffnung des Ladens etabliert, um Ordnung in die vielseitigen Aufgaben zu bringen. Rot stand für Eilanfragen, die umgehend bearbeitet werden mussten. Rechnungen und weiterer Papierkram waren mit Blau markiert, private Termine mit Pink, während Grün eindeutig auf Kundenbesuche im Laden hinwies.

Sie deutete auf die entsprechende Zeile und sah mich auffordernd an. „Schau, hier steht es. Elf Uhr, Madame Pitu, du erinnerst dich?“

„O nein, malchance! Der Stoff ist heute angekommen und ich … Ach herrje, wie konnte mir das nur passieren?“

„Ach Süße, wir schaffen das schon! Keine Sorge! Dafür bin ich ja jetzt da.“ Sanft schob Zoé mich zur Seite, klappte den Laptop auf und klickte durch die verschiedenen Programme. „Ist das dort drüben dein Schätzchen?“ Beiläufig deutete sie mit dem Kopf zur Schneiderpuppe hinüber. „Sieht hervorragend aus, vor allem die Glitzersterne, Elli! Eine perfekte Wahl!“

„Bis eben war ich mir noch sicher. Aber jetzt …? Ich darf die Kundinnen nicht vernachlässigen. Bloß weil ich mich in einen Stoff verliebt habe!“

„Ma puce! Sieh mich an!“ Sie fuhr auf dem Drehstuhl zu mir herum und nahm meine Hände in ihre. „Niemand, absolut niemand ist zuverlässiger als du, liebe Elli. Du führst deinen Laden ganz wunderbar. Und der Termin heute … das kann jedem mal passieren! Ärgere dich nicht!“

„Aber das darf es nicht. Niemals! Ich sollte es als Zeichen sehen. Es war von Anfang an keine gute Idee.“

„Und ich sage dir, das Kleid wird genial. Stell dir vor, wie begeistert deine Kundinnen sein werden, wenn es erst im Schaufenster hängt. Lass es auf dich zukommen!“

Mit gerunzelter Stirn sah ich erneut zum Stoff. Als ich dabei Zoés Blick begegnete, der voller Zuneigung und unbekümmerter Zuversicht auf mir ruhte, wurden meine Gesichtszüge weich, und ich beugte mich vor, um ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken. „Unsere Kundinnen, Zoé. Denn ohne dich …“

„Wärst du genauso wunderbar!“, ergänzte Zoé, öffnete das letzte Programm und nickte zufrieden. „Also, was sagst du? Stellst du das Kleid aus?“

„Du kannst es nicht lassen, oder?“ Lachend schüttelte ich den Kopf. „Genug davon, du wundervoller, sturer Mensch. Madame Pitu wird gleich da sein.“ Ohne weiter auf das Thema einzugehen, zog ich den entsprechenden Ordner hervor, heftete den Auftrag aus und ging damit zu einem der Kleiderständer. „Sie probiert heute das Kostüm für die standesamtliche Trauung an, stimmt’s? Du könntest das Gespräch übernehmen und ich hier hinten weitermachen. Nur wenn du möchtest, natürlich.“

„Allein? Ich? Niemals!“

Ich schob einen Bügel nach dem anderen zur Seite und reichte das gesuchte Kleid an Zoé weiter. Als ich dabei ihr entsetztes Gesicht sah, musste ich lachen. „Ich dachte, du wärst so weit und freust dich über mehr Verantwortung.“

„Und wenn die Kundin Fragen zum Stoff oder der Verarbeitung hat? Ohne deine Anweisungen bin ich aufgeschmissen, das weißt du doch! Nein, wir machen es wie immer. Keine Diskussion!“

Ein schrilles Klingeln ließ uns zusammenfahren, und Zoé steckte sich ihren Bluetooth-Kopfhörer ins Ohr. Routiniert eilte sie zum Vorhang und reckte eine Hand in die Höhe, als leistete sie einen Schwur. „Nur wer nach oben schaut …“

„… kann die Sterne vom Himmel holen“, stimmte ich in das Motto des Nähstübchens ein, klatschte mit Zoé ab und sah ihr hinterher, wie sie mit breitem Lächeln im Nebenraum verschwand. Ich aber blieb allein hinter dem Vorhang zurück, setzte das Headset auf und richtete das Mikrofon aus.

Und dann beobachtete ich die Szene, die sich nur wenige Meter von mir entfernt in meinem eigenen Laden abspielte.

Eine halbe Stunde später verließ Madame Pitu mit ihrem neuen Schmuckstück über dem Arm und einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht die Nähwerkstatt.

Ich streckte mich ausgiebig. „Geschafft! Wir sind ein tolles Team.“

„Das Beste!“ Zoé, die zu mir zurückgekommen war, griff nach ihrer Tasche und wandte sich zum Gehen. „Bin oben, wenn du mich suchst.“

„Deine Mutter hat vorhin angerufen. Sie war außer sich vor Sorge, weil sie dich nicht erreichen konnte.“

Zoé drehte sich auf der untersten Treppenstufe um. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, und ich konnte sehen, wie leid sie das Thema war.

„Hättest du es lieber, dass sie gleich eine Suchmeldung rausgibt?“, versuchte ich sie aufzumuntern. „Nun hab dich nicht so. Sie will, dass es dir gut geht. Was ist daran so schlimm?“

„Ihre permanenten Ratschläge vielleicht? Sie spricht ausschließlich über dieses eine Thema. Dabei weiß sie genau, wie ich dazu stehe.“ Sie zog einen Flunsch, und ich kicherte leise.

„Du bist ihre einzige Tochter. Sei ein wenig nachsichtiger. Ich finde es toll, wie sehr sie sich um dich kümmert!“

„Und was, meinst du, passiert, wenn ich ihr erzähle, dass ich weiterhin bei dir arbeite, statt mir was Eigenes zu suchen?“, brummte Zoé. „Egal, was ich sage – spätestens am nächsten Morgen steht sie auf unserer Matte, um mich auf den rechten Weg zurückzubringen. Du hast gut reden, dich kontrolliert niemand.“

Bei den Worten zuckte ich zusammen. Dabei war mir Zoés angestrengtes Verhältnis zu ihrer Mutter durchaus bewusst. Eine Frau, die ihrer Tochter nur dann eine freie Berufswahl zugestand, solange sie mit einem Studium verbunden war. Doch während sich Zoé von ihrem Anspruchsdenken unter Druck gesetzt fühlte, hätte ich alles dafür gegeben, auf diese Weise umsorgt zu werden. Leise Wehmut nagte an mir, und ich beugte mich über die Nähmaschine, um das Gefühl zu vertreiben, bevor es sich in mir festsetzen konnte.

Zoé, der mein Stimmungsumschwung nicht entgangen war, drückte mir einen Kuss auf die Wange. „Hey, Süße! Nimm’s mir nicht übel. Ich meine das nicht so. Und außerdem – kümmere ich mich nicht genug um dich?“

„Natürlich tust du das. Trotzdem finde ich, dass du ihre Fürsorge nicht selbstverständlich nehmen solltest.“

„Ich rufe sie an. Gleich morgen, wenn ich mir diesen neuen Studienführer angeschaut habe, melde ich mich bei ihr. Versprochen!“

„Und was schwebt dir diesmal vor?“ Ich hob eine Braue. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass Zoé etwas angefangen und genauso zuverlässig abgebrochen hatte.

„Frag mich was Leichteres. Meinst, du ich bin ein hoffnungsloser Fall? Immerhin sind wir nicht erst seit gestern mit der Schule fertig. Und ich habe bis heute keinen Plan, was ich machen will.“

„Horch in dich hinein – dann fällt dir bestimmt was ein.“

„Und genau aus diesem Grund verschwinde ich jetzt in der Küche. Wenn irgendwas ist – du weißt, wo du mich findest.“ „Die nächsten zwei Stunden bin ich sowieso mit dem Zuschneiden der Stoffe beschäftigt und später …“

Ich kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn im gleichen Moment erklang die elektronische Ladenklingel, und erneut hallten Schritte durch den Verkaufsraum. Hektisch sah ich zum Vorhang, als könnte ich die Person mit purer Willenskraft dazu bringen, den Laden wieder zu verlassen. „Hast du nicht abgeschlossen?“

„Keine Sorge, ich übernehme das. Vielleicht hat Madame Pitu was vergessen. Schalte du den Laptop ein, falls sie Rückfragen hat.“

Auf Zehenspitzen lief ich zum Schreibtisch hinüber, griff nach Zettel und Papier und sah dabei auf die Überwachungskamera. Mir wurde geradezu übel bei dem Gedanken, nur knapp einer Katastrophe entronnen zu sein. Was, wenn Zoé bereits in der Wohnung gewesen wäre? Was, wenn die hochgewachsene Dame, die sich nun ungeniert im Laden umsah, mich im Hinterzimmer entdeckt hätte?

Den Kopf in die Hände gestützt, kauerte ich mich auf dem Schreibtischstuhl zusammen und versuchte, ruhig durchzuatmen. Nichts ist passiert. Wir haben die Situation unter Kontrolle, und ich werde dafür sorgen, dass es dabei bleibt.

Jeder in der Kleinstadt Bayeux wusste, dass bei Mille Beautés nichts ohne persönlichen Termin lief. Wie die besonderen Momente im Leben, für die die Kleider geschaffen waren, mussten auch die Besuche in der Nähwerkstatt sorgfältig geplant werden. Noch vor der Eröffnung hatte ich an der Tür ein Schild angebracht, darauf unmissverständlich und in geschwungenen Lettern die wichtigste Regel notiert: Sur rendezvous uniquement. Nur mit Termin.

Deutlicher ging es nicht, und bisher hatte das System wunderbar funktioniert, vor allem seit der Herbst mit seinen Regenschauern und eisigen Winden über der Normandie Einzug gehalten hatte. Für die Kleinstadt im Département Calvados, bekannt durch den gleichnamigen bernsteinfarbenen Apfelbranntwein, bedeuteten die Monate von Oktober bis März eine Verschnaufpause. Die Straßen waren von übermäßigem Verkehr befreit und die Fußgängerzonen von Fremden, die das Städtchen in den Sommermonaten regelrecht überfluteten.

Ich liebte diese Zeit der Ruhe, wenn die Tage kürzer und die Schatten länger wurden. Wenn ich meiner Arbeit nachgehen konnte, ohne permanente Angst, von unliebsamen Besuchern überrascht zu werden.

Umso unbegreiflicher erschien mir der Umstand, dass die Dame einfach so in meinen Laden geplatzt war, deren Schritte hart und zackig wie ein Marschbefehl zu mir ins Hinterzimmer tönten. Ich presste die Finger fest gegen die Schläfen und streifte dabei unabsichtlich meine linke Wange. Sogleich zuckte ich zurück. Ich war noch ein Kind gewesen, als sich das Unglück ereignet hatte, doch an die zerfurchte Haut unterhalb meines Wangenknochens, die sich in wulstigen Strängen bis zum Hals abwärts zog, hatte ich mich noch immer nicht gewöhnt. Auch wenn ich fortan damit würde leben müssen.

Ungeachtet meines Pulsschlags, der wie ein durchgegangenes Pferd durch meinen Körper galoppierte, schlug ich den Notizblock auf und zückte den Stift. Zoé hatte viel dazugelernt, wenn es um die passende Kleiderwahl ging. Sie hatte längst verstanden, welche Farben und Materialien harmonierten, war kommunikativ und konnte mit ihrem Lächeln Menschen in Sekunden für sich gewinnen. Doch obwohl ihre Fähigkeiten die Nähwerkstatt weit gebracht hatten, teilte sie längst nicht meine Leidenschaft für Mode, die Begeisterung für Stoffe, die mir seit frühester Kindheit ins Blut übergegangen war. Meine einfühlsame Beratung war der Grund, weshalb beinahe wöchentlich Dankesmails und liebevoll gestaltete Briefe im Laden eintrudelten. Und obwohl unsere Kundengespräche keinesfalls gewöhnlich abliefen, bestätigten uns die zahlreichen positiven Rückmeldungen, auf dem richtigen Weg zu sein.

Um die heutige Kundin zu analysieren – denn darauf kam es im ersten Schritt an –, wechselte ich die Einstellung der Überwachungskamera und zoomte näher an die Dame heran. Eine hagere Gestalt mittleren Alters mit endlos langen Beinen und tief hinuntergezogenen Mundwinkeln, die ihren Unmut wie auf einem Silbertablett vor sich hertrug. Mein Blick ging über ihre Kleidung – eine klassische Kombination aus HighWaist-Hose und Cashmere Pullover – bis zu den Pumps, die eindeutig aus dem Hause Christian Louboutin stammten. Ich erkannte die exklusiven Designerschuhe mit der roten Sohle sofort. Atemberaubend hohe Absätze waren meine Leidenschaft, und obwohl ihr stolzer Preis so manches Loch in meinen Geldbeutel gerissen hatte, füllte mittlerweile eine beachtliche Sammlung mein Schuhregal. Ich liebte es, meine Schätze hin und wieder herauszuholen, über ihr glattes Leder zu streichen und durch die Wohnung zu spazieren. Ihr Besitz machte mich einfach glücklich, verkörperten sie eine Prise Abenteuer und Mut, die ich bisher nur aus meinen Büchern kannte. Die Ahnung eines Lebens, von dem ich trotz allem nicht genug bekommen konnte. Auch wenn ich sie niemals auf der Straße anziehen würde.

Mir entfuhr ein tiefer Seufzer, und ich hielt erschreckt inne.

Doch die Kundin hatte zum Glück nichts bemerkt. Den Blick auf die Kollektion gerichtet, stakste sie mit starrer Miene über den Dielenboden. Eine düstere Schwere ging von ihr aus, eine Traurigkeit, die den Laden erfüllte, je länger sie sich in den Räumen aufhielt.

„Sie braucht etwas Weiches.“ Ich legte meine Hand an das Mikro, durch das ich mit Zoé verbunden war. „Einen Stoff, der ihr schmeichelt und ihre Weiblichkeit betont, zugleich aber ihre Verletzlichkeit verdeckt.“

Zoé nickte kaum merklich und eilte zum nächsten Ständer, dicht gefolgt von der Kundin, die wie beiläufig ein Kleid nach dem anderen hervorzog und es nahezu ungesehen wieder zurückschnalzen ließ.

„Sie wurden mir empfohlen“, sagte sie mit leisem Vorwurf in der Stimme. „Man hat mir gesagt, Sie seien die Beste. Ihr Beratungsservice ist der einzige Grund, weshalb ich den weiten Weg hergekommen bin. Ich brauche das perfekte Kleid für den Geburtstag meiner Schwiegermutter. Fünfundsiebzig Jahre alt und hält noch immer alle Welt auf Trab.“ Mit spitzen Fingern zog sie den nächsten Stoff heraus, als handelte es sich dabei um einen glitschigen Frosch, keinesfalls um den exklusiven Seidenstoff, der mich ein Vermögen gekostet hatte. „Wenn Antoine Camille d’Orléans zur Audienz ruft, ist kein Outfit gut genug“, fügte sie bissig hinzu. „Außer man möchte hinter dieser Frau zurückstecken, die ihr Regiment mit harter Hand führt.“ Dass sie dies nicht vorhatte, verdeutlichte eine steile Falte oberhalb ihrer Nasenwurzel, die sich minütlich tiefer in ihre Haut zu prägen schien.

Über die Überwachungskamera warf Zoé mir einen bettelnden Blick zu: Hilf mir. Ich brauche dringend einen Tipp.

„Probiere möglichst viel aus, Röcke oder Cocktailkleider ist egal!“, murmelte ich beschwörend ins Headset. „Und bitte rede mit ihr! Wir müssen mehr erfahren! Die Informationen reichen nicht, um daraus ein Bild zu zeichnen.“

Mit einem verzweifelten Lächeln hielt Zoé einen neuen Stoff hoch, verziert mit floralem Paillettenbesatz und Schneeflockenspitze. „Wir fertigen jedes Kleid nach Ihren Wünschen. Wenn Sie sich diesen Katalog anschauen möchten.

Unsere Auswahl ist vielfältig und …“

Unwillig schnalzte die Kundin mit der Zunge. „Diese Stücke hier … sie sind nicht … schwarz.“

„Es entspricht nicht dem, was Sie sich vorgestellt haben?“

„Exakt.“ Die Frau verzog den Mund. „Obwohl es zynisch klingen mag, in diesem Zusammenhang von persönlichem Willen zu sprechen. Aber das Leben denkt sich so manche absurde Prüfung für uns aus, meinen Sie nicht?“

Zoé, die mit der Aussage sichtlich nichts anfangen konnte, lächelte schmal. „Wir haben kaum schwarze Teile. Aber schöne Einzelstücke mit Akzenten in Silber oder Gold. Was haben Sie sich denn vorgestellt?“

„Das wollte ich von Ihnen wissen!“

Schnellen Schrittes streifte die Kundin durch die Reihen und schickte dabei ein Rascheln in den Raum. Wolken aus zartem Chiffon hingen an den Stangen, daneben Taftgewebe, gesponnen aus so weichem Lurexfaden, dass der Stoff problemlos auf nackter Haut getragen werden konnte. Krepp an Tüll, Organza über stabilem Futterstoff. Ein Reigen aus Apricot, Cappuccinobraun, Himbeerlila und Cremeweiß. Kostbare Ware, die ich bei Händlern aus allen Teilen der Welt ausgesucht und im Internet bestellt hatte. Elegante Kompositionen, gesponnen aus Träumen, um meinen Kundinnen eine Freude zu bereiten.

Die Dame beeindruckte das jedoch herzlich wenig. Präzise wie einen Laserstrahl ließ sie ihren Blick über die Kleiderständer gleiten und wirkte dabei immer unzufriedener. Um näher am Geschehen zu sein, verließ ich so leise wie möglich den Schreibtisch und näherte mich auf Zehenspitzen dem bordeauxroten Vorhang. Ein schmaler Spalt öffnete sich zum Verkaufsraum und zeigte mir einen Ausschnitt dessen, was in unmittelbarer Nähe vor sich ging. Der schwere Stoff erzitterte durch die Bewegung, genau in dem Moment, als die Kundin nur wenige Schritte entfernt an mir vorbeieilte. Ein Hauch von Vanille und Moschus wehte zu mir hinüber, und ich hielt erschrocken die Luft an.

Da rutschte eines der Kleider vom Bügel, und die Dame bückte sich, um es aufzuheben. Ein Streifen Haut entblößte sich oberhalb ihres Knöchels und ein winziges Tattoo kam zum Vorschein, eine Taube, die kurz davor war, sich in die Lüfte zu erheben. Das Bild schien frisch gestochen zu sein, die Haut darunter war noch gerötet. Ebenso der Schriftzug, der sofort wieder unter der Kleidung verschwand, sobald sie sich erhob. Le parfum de la liberté. Der Duft von Freiheit.

Es waren nur bruchstückhafte Informationen, die ich von ihr bekam. Doch sie genügten mir, um zu erahnen, was der Kundin gefallen könnte. Ein Prickeln huschte mir über den Nacken, wie immer, wenn ich kurz davor war, ein Geheimnis zu lüften, und eine pulsierende Vorfreude erfüllte mich bei dem Gedanken, es gleich geschafft zu haben.

Sorgfältig darauf bedacht, den Vorhang nicht erneut zu berühren, lehnte ich mich nach vorne und wisperte die entscheidenden Worte in das Headset. „Das Satinkleid!“, flüsterte ich Zoé eindringlich zu. „Probiere das dunkelblaue Satinkleid aus, zweite Stange von rechts. Es ist schlicht, aber sinnlich, ohne zu viel preiszugeben. Das wird ihr gefallen. Ich bin mir sicher, dass es das Richtige ist.“

Zoé verstand sofort. Sie dirigierte die Dame zu dem entsprechenden Kleiderständer, zog eines der Musterkleider hervor und hängte es über einen Ständer, wo es sich wie ein Wasserfall aus flüssiger Seide abwärts ergoss. Der Kundin stockte sichtlich der Atem. Vorsichtig, als könnte sie sich an dem Stoff verbrennen, streckte sie ihre Hand aus, ließ das glänzende Gewebe fast zaghaft durch ihre Finger gleiten und löste immer noch stumm das Kleid vom Bügel.

Wie gebannt verfolgte ich aus meinem Versteck, wie sie vor den bodentiefen ovalen Spiegel trat und sich, das Kleid wie einen Rettungsring vor die Brust gepresst, zuerst zur einen, und dann zur anderen Seite drehte, schließlich die Schultern straffte und mit einem Ausdruck tiefster Zufriedenheit vor ihrem Spiegelbild stehen blieb. „Wunderschön“, murmelte sie mit belegter Stimme. „Wie eine Umarmung, der Stoff, einfach wunderschön!“

Erleichterung durchflutete mich, gleichzeitig aber eine so überwältigende Freude, dass ich die Lippen aufeinanderpressen musste, um nicht laut aufzuschreien. Es waren diese Erlebnisse, die mich jeden Tag aufs Neue beflügelten. Kleine Erfolge, die mich schon am frühen Morgen aus dem Bett holten und mir bis spät in die Nacht Kraft verliehen, den Traum wahr werden zu lassen.

Es kam weniger auf die Verkäufe der Boutique Mille Beautés an, denn diese liefen gut, und ich hatte genug Geld, um die Miete begleichen und mir mitunter sogar kostbare Stoffe zu leisten.

Am wichtigsten aber war, was ich mit der Mode erreichen konnte. Ich wollte die Kundinnen mit jeder Kollektion noch schöner machen. Die Besonderheiten in ihnen wachrufen, derer sie sich nicht bewusst waren.

So wie mein Vater es mir beigebracht hatte, war auch ich davon überzeugt, dass in jeder Frau wahre Schönheit steckte. In jeder, außer in einer. Aber damit hatte ich mich längst abgefunden.

Melissa  Jahn

Über Melissa Jahn

Biografie

Die Leidenschaft fürs Schreiben begleitet Melissa Jahn, Jahrgang 1983, schon ein Leben lang. Mit ihrem Debüt-Roman „Rosa - Ein Sommer in Cornwall“ erfüllte sich die studierte Kulturwirtin und freie Journalistin ihren großen Traum. In „Die kleine Nähstübe in der Normandie“ werden ihre Leser:innen in...

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