Die Landkarte der Liebe - eBook-Ausgabe
Roman
„Spannend und mitreißend.“ - Wiener Zeitung
Die Landkarte der Liebe — Inhalt
Ein meerblaues Reisetagebuch. Das ist alles, was Katie von ihrer Schwester bleibt. Denn Mia ist tot. In Bali stürzte sie von einer Klippe. Katie hat nur eine Chance, das Geheimnis um den Tod ihrer unnahbaren Schwester zu lüften: Ihr Tagebuch zu lesen und den Stationen ihrer Reise zu folgen. Und so taucht Katie immer tiefer ein in das Leben ihrer Schwester und entziffert Stück für Stück Mias ganz persönliche Landkarte der Liebe …
Leseprobe zu „Die Landkarte der Liebe“
Kapitel 1
Katie
London, März
Katie hatte vom Meer geträumt. Das Telefon klingelte. Wildes Wasser und dunkle Ströme flossen rauschend davon, als sie sich aufsetzte. Sie blinzelte und rieb sich die Augen. Die Uhr neben dem Bett zeigte 2:14 an.
Mia. Sie erstarrte. Ihre Schwester hatte sich bestimmt bei dem Zeitunterschied verrechnet.
Katie schlug die Laken zurück und schlüpfte aus dem Bett, das Nachthemd hatte sie sich um ihre Taille gewickelt. Im Zimmer war es kühl, der Fußboden war eiskalt. Frierend tastete sich Katie vorwärts, die Finger wie Fühler [...]
Kapitel 1
Katie
London, März
Katie hatte vom Meer geträumt. Das Telefon klingelte. Wildes Wasser und dunkle Ströme flossen rauschend davon, als sie sich aufsetzte. Sie blinzelte und rieb sich die Augen. Die Uhr neben dem Bett zeigte 2:14 an.
Mia. Sie erstarrte. Ihre Schwester hatte sich bestimmt bei dem Zeitunterschied verrechnet.
Katie schlug die Laken zurück und schlüpfte aus dem Bett, das Nachthemd hatte sie sich um ihre Taille gewickelt. Im Zimmer war es kühl, der Fußboden war eiskalt. Frierend tastete sich Katie vorwärts, die Finger wie Fühler ausgestreckt. Als sie an die Tür stießen, drehte sie am Knauf. Die Scharniere wimmerten.
Im Flur wurde das Läuten schriller und hallte bedrohlich durch die stillen, schlaftrunkenen Stunden der Nacht. Wie spät war es in Australien? Gegen Mittag?
Katie fragte sich, was Mia auf dem Herzen hatte. Das Telefonat vom Vortag lag ihr noch im Magen. Sie hatten zum ersten Mal seit Monaten wieder miteinander gesprochen – aber es war hässlich geworden. Sie hatten sich gegenseitig mit scharfen Worten verletzt, Katie hatte ihre Mutter ins Spiel gebracht und ihrer Schwester einen Stich ins Herz versetzt. Hinterher hatte das schlechte Gewissen sie derart gequält, dass sie eine Stunde früher Feierabend machen musste. Sie hatte sich nicht mehr auf ihre Arbeit konzentrieren können. Aber nun würde sie mit Mia reden und sich bei ihr entschuldigen.
Sie war nur noch zwei Schritte vom Telefon entfernt, da merkte sie erst, dass es schwieg. Sie blieb stehen und fuhr sich über die Stirn. Hatte Mia aufgelegt? Oder hatte sie das bloß geträumt?
Da, es klingelte erneut. Doch diesmal war es nicht das Telefon, sondern ein eindringliches Läuten an der Tür.
Katie seufzte. Das waren bestimmt wieder nächtliche Besucher für die Dealer, die einige Etagen höher wohnten. Sie ging zur Sprechanlage. „Hallo?“
„Hier ist die Polizei.“
Katie fuhr zusammen. Ihre Schläfrigkeit löste sich wie morgendlicher Dunst über dem Meer auf.
„Wir müssen mit Katie Greene sprechen.“
Das Herz schlug ihr bis zum Hals. „Das bin ich.“
„Lassen Sie uns bitte rein?“
Sie öffnete die Haustür. Was will die Polizei von mir? Was ist passiert? Sie schaltete das Licht ein und blinzelte in den hellen Korridor. Schützend senkte sie den Kopf und kniff die Lider zusammen. Ihr Blick fiel auf ihre bloßen Füße, die rosa Zehennägel, den Saum ihres zerknitterten Nachthemds. Sie wollte rasch noch ihren Bademantel holen, doch da erklangen im Treppenhaus schon schwere Schritte.
Katie öffnete die Tür. Zwei uniformierte Polizisten, eine Frau und ein Mann, standen vor ihr.
„Miss Katie Greene?“, fragte die Beamtin und trat ein. Ihre Wangen waren gerötet, ihre blonden Haare zeigten das erste Grau. Ihr junger Kollege hätte ihr Sohn sein können. Er schaute betreten zu Boden.
„Ja.“
„Sind Sie allein?“
Sie nickte.
„Sie sind die Schwester von Mia Greene?“
Sie schlug sich die Hand vor den Mund. „Ja.“
„Wir müssen Ihnen leider eine schlechte Nachricht überbringen. Die Polizei auf Bali hat uns benachrichtigt –“
O Gott. O mein Gott …
„– dass Mia Greene tot aufgefunden wurde. Am Fuß einer Klippe in Umanuk. Die Polizei geht davon aus, dass sie gestürzt ist.“
„Nein! Nein!“ Katie wandte sich ab. Bitterer Magensaft stieg ihr in die Kehle. Das hier war ein Traum. Ein böser Traum.
„Miss Greene?“
Sie drehte sich nicht um. Ihr Blick fiel auf die ordentliche Pinnwand, an der Einladungen, ein Kalender und die Visitenkarte eines Caterers in Reih und Glied hingen – und ganz oben eine Weltkarte, die aus ihrem Filofax stammte. In der Woche, bevor Mia aufgebrochen war, hatte Katie sie noch gebeten, ihre Strecke darauf einzuzeichnen. Mias Lippen hatten sich zu einem Lächeln verzogen, dennoch hatte sie sich Katies Bedürfnis nach Plänen und Terminen gebeugt und eine ungefähre Route markiert, die an der Westküste der USA begann und über Australien, Neuseeland, Fidschi, Samoa, Vietnam und Kambodscha führte – ein endloser Sommer an endlosen Küsten. Katie hatte die Route anhand von Mias sporadischen Kontaktaufnahmen nachverfolgt. Im Moment steckte die Nadel in Westaustralien.
Sie schaute auf die Karte. Irgendetwas stimmte nicht. „Wo wurde sie gefunden?“
„In Umanuk“, sagte die Polizistin. „An der Südspitze von Bali.“
Bali. Bali lag nicht auf Mias Route. Das war ein Irrtum! Am liebsten hätte sie laut gelacht, die Erleichterung hemmungslos aus sich herausgelassen. „Mia ist nicht auf Bali. Sie ist in Australien!“
Die Polizisten tauschten einen vielsagenden Blick. Die Beamtin trat einen Schritt vor. Sie hatte blassblaue Augen, benutzte aber keine Wimperntusche. „Ich fürchte, der Ausweis Ihrer Schwester ist vor vier Wochen auf Bali abgestempelt worden.“ Ihre Stimme war sanft, und doch lag darin eine Gewissheit, die Katie frösteln ließ. „Miss Greene, wollen Sie sich nicht lieber setzen?“
Mia war nicht tot. Sie war vierundzwanzig Jahre alt. Ihre kleine Schwester. Alles verschwamm. In der Wohnung unter ihr summte der Wasserkasten. Irgendwo lief ein Fernseher. Draußen sang – sang! – ein nächtlicher Heimkehrer.
„Was ist mit Finn?“, fragte sie plötzlich.
„Finn?“
„Finn Tyler. Sie waren gemeinsam auf Reisen.“
Die Polizistin schlug ihr Notizbuch auf und blätterte eine Weile darin herum. Sie schüttelte den Kopf. „Zu ihm liegen mir aktuell keine Informationen vor. Aber die balinesische Polizei hat sich bestimmt bei ihm gemeldet.“
„Ich versteh das alles nicht“, flüsterte Katie. „Können Sie … Ich … Ich muss alles wissen. Sagen Sie mir, was passiert ist.“
Die Beamtin berichtete ihr genau, wo und wann man Mia gefunden hatte, dass die Sanitäter sehr schnell vor Ort gewesen seien, Mia aber bereits kurz nach ihrem Eintreffen für tot erklärt hätten. Mias Leiche sei momentan in der Gerichtsmedizin des Sanglah-Krankenhauses in Denpasar. Selbstverständlich werde es weitere Untersuchungen geben, die balinesische Polizei sei jedoch sicher, dass es sich um einen tragischen Unfall handelte.
Währenddessen saß Katie vollkommen reglos da.
„Möchten Sie, dass wir jemanden für Sie benachrichtigen?“
Ihre Mutter. Einen Moment lang erlaubte sich Katie die tröstliche Vorstellung, in ihren Armen zu liegen und den weichen Cashmerepullover an ihrer Wange zu spüren. „Nein“, sagte sie schließlich. „Ich wäre jetzt gern allein. Bitte.“
„Selbstverständlich. Morgen wird sich ein Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes mit dem letzten Stand aus Bali bei Ihnen melden. Ich selbst würde Sie auch gern noch einmal aufsuchen. Ich bin mit Ihrem Fall betraut worden und für Sie da, falls Sie weitere Fragen haben.“ Sie zog eine Visitenkarte aus der Tasche und legte sie neben das Telefon. Dann bekundeten beide Polizisten Katie ihr Beileid und verabschiedeten sich.
Als die Tür ins Schloss fiel, gaben Katies Beine nach. Sie sank auf den kalten Boden. Sie weinte nicht. Sie schlang die Arme um die Knie, damit sie nicht so furchtbar zitterte. Was hatte Mia auf Bali gemacht? Katie wusste nichts über die Region. Vor Jahren hatte es dort vor einem Nachtclub einen Bombenanschlag gegeben, aber sonst? Offenbar gab es auf Bali Klippen, aber die Einzigen, die Katie vor sich sah, waren die grasbewachsenen Klippen von Cornwall, an denen Mia als Kind herumgehüpft war, während ihr dunkles Haar hinter ihr her wehte.
Sie versuchte, sich auszumalen, wie Mia gestürzt war. Hatte sie auf einem Vorsprung gestanden, der auf einmal nachgegeben hatte? Hatte eine plötzliche Windböe sie erfasst? Hatte sie am Rand der Klippe gesessen und war von irgendetwas abgelenkt worden? Es schien so absurd, so fahrlässig, von einer Klippe zu stürzen. Die Informationen, die sie hatte, waren zu spärlich, sie ließen sich nicht zu etwas Sinnvollem ordnen. Aber sie sollte jetzt wohl jemanden anrufen. Ed. Sie sollte mit Ed sprechen.
Beim dritten Versuch wählte sie die richtige Nummer. Sie hörte das Rascheln einer Bettdecke, ein gemurmeltes „Hallo?“, dann lauschte er ihr schweigend. Als er wieder sprach, mit tonloser Stimme, sagte er bloß: „Ich bin schon unterwegs.“
Die Fahrt von seinem Apartment in Fulham zu ihr nach Putney hatte wohl nicht länger als zehn Minuten gedauert, aber später, im Rückblick, konnte sie sich an nichts erinnern. Sie hockte immer noch im Korridor, am ganzen Körper Gänsehaut, als es klingelte. Katie stand taumelnd auf. Die Rillen zwischen den Dielen zeichneten sich hinten auf ihren Oberschenkeln ab. Katie ließ Ed herein.
Im Treppenhaus hörte man Getrampel, Ed nahm zwei Stufen auf einmal, dann war er schon an ihrer Tür. Sie öffnete, er trat ein und schloss sie gleich in seine Arme. „Schatz!“, sagte er. „Mein armer Schatz.“
Katie drückte ihr Gesicht an sein Jackett. Der raue Wollstoff kratzte an ihrer Haut.
„Dir ist eiskalt. Komm, wir können hier nicht stehen bleiben.“
Er führte sie ins Wohnzimmer. Sie kauerte sich auf den Rand des cremefarbenen Ledersofas. Das ist, als würde man sich auf Vanillepudding setzen, hatte Mia an dem Morgen gescherzt, als es geliefert wurde.
Ed zog sein Jackett aus und legte es ihr um die Schultern, rieb ihr mit sanften, kreisenden Bewegungen über den Rücken. Dann ging er in die Küche. Katie hörte, wie er den Boilerschrank öffnete und die Heizung einschaltete, die sich rumpelnd in Betrieb setzte. Wasser rauschte, als er den Kessel füllte, danach wurden Schubladen, Schränke und der Kühlschrank geöffnet und wieder geschlossen.
Er kam mit einem Tee zu ihr zurück, aber Katie streckte ihre Hände nicht der Tasse entgegen. „Katie.“ Ed hockte sich vor sie, damit sie auf Augenhöhe waren. „Du stehst unter Schock. Versuche, etwas zu trinken. Das wird dir guttun.“
Er hielt ihr die Tasse an die Lippen, und sie nippte gehorsam. Als der süße milchige Geschmack auf ihre Zunge traf, musste sie würgen. Sie torkelte an Ed vorbei, die Hand auf den Mund gepresst. Seine Jacke glitt von ihren Schultern und fiel auf den Boden.
Katie beugte sich über das Waschbecken, erbrach sich auf die weiße Keramik.
Ed stand hinter ihr. „Tut mir leid …“
Sie ließ sich kaltes Wasser über die Hände laufen und spritzte es sich ins Gesicht.
„Schatz“, sagte er und reichte ihr ein blaues Handtuch, „was ist passiert?“
Sie verbarg ihr Gesicht darin und schüttelte nur immer wieder den Kopf. Sanft zog er das Handtuch fort, dann nahm er ihren Bademantel vom Haken und führte ihre Arme in die weiche Baumwolle. Er nahm ihre Hände in seine und rieb sie. „Na komm, erzähl es mir.“
Sie wiederholte, was sie von der Polizei erfahren hatte. Ihre Stimme klang schroff, und wenn sie einen Blick in den Spiegel werfen würde, würden ihr sicher feuchte Augen und ein Gesicht entgegenschauen, aus dem jegliche Farbe gewichen war.
Ed stellte dieselbe Frage, die Frage, auf die auch sie eine Antwort wollte: „Was hat deine Schwester auf Bali gemacht?“
„Ich hab keine Ahnung.“
„Hast du schon mit Finn gesprochen?“
„Noch nicht. Ich muss ihn unbedingt anrufen.“ Ihre Hände zitterten beim Wählen. Sie presste das Telefon ans Ohr und wartete. Es klingelte und klingelte. „Er geht nicht ran.“
„Was ist mit seinen Eltern. Hast du deren Nummer?“
Sie fand sie schließlich in Katies Adressbuch. Die Vorwahl von Cornwall scheuchte eine ferne Erinnerung auf, doch Katie war nicht bereit, ihr nachzueilen.
Finn war der Jüngste von vier Brüdern. Seine Mutter Sue, in jeder Lebenslage barsch und kurz angebunden, ging schläfrig ans Telefon. „Wer ist da?“
„Katie Greene.“
„Wer?“
„Katie Greene.“ Sie räusperte sich. „Mias ältere Schwester.“
„Mia?“, wiederholte sie. Dann sofort: „Finn?“
„Es hat einen Unfall gegeben –“
„Finn –“
„Mit ihm ist alles in Ordnung. Es ist Mia.“ Sie hielt inne und schaute zu Ed. Er nickte ihr aufmunternd zu. „Die Polizei war gerade bei mir. Angeblich war Mia auf Bali … irgendwo auf einer Klippe. Sie ist abgestürzt. Die Polizei sagt, sie sei tot.“
„Nein …“
Im Hintergrund war Finns Vater zu hören, ein gelassener Mann Mitte sechzig, der für die britische Forstwirtschaft gearbeitet hatte. Es folgten einige kurze Rufe, durch eine Hand über dem Hörer gedämpft, dann kam Sue an den Apparat zurück. „Weiß Finn das schon?“
„Das nehme ich doch an. Aber er geht nicht an sein Handy.“
„Er hat es vor ein paar Wochen verloren. Und noch kein neues. Wir haben uns seitdem gemailt. Ich kann dir die Adresse geben –“
„Was haben die beiden auf Bali gemacht?“, fiel Katie Sue ins Wort.
„Bali? Finn war nicht dort.“
„Aber dort hat man angeblich Mia gefunden. Ihr Reisepass soll da abgestempelt –“
„Mia ist nach Bali geflogen. Finn nicht.“
„Was?“ Katie umklammerte den Hörer.
„Die beiden hatten Streit. Tut mir leid, ich dachte, das weißt du.“
„Wann war das?“
„Vor ’nem Monat etwa. Finn hat Jack, meinem Ältesten, davon erzählt. Sie haben sich wohl getrennt – Gott weiß, wieso –, und Mia hat umgebucht.“
Katies Gedanken überschlugen sich. Die Freundschaft zwischen Mia und Finn war unerschütterlich. Sie sah sie als Kinder vor sich, Finn mit einer Perücke aus schillerndem Seetang, Mia, die sich vor Lachen biegt. Ihre Freundschaft war so einzigartig, so beständig, dass sich Katie absolut nicht vorstellen konnte, was die beiden entzweit haben sollte.
Zehn Tage später schien die Wintersonne in ihr Zimmer. Katie lag vollkommen reglos im Bett, die Arme an den Seiten, die Augen fest geschlossen. Etwas in ihr bereitete sich auf einen fernen, vagen Schrecken vor, den sie noch nicht greifen konnte. Sie blinzelte, doch bevor sie begriff, warum ihre Augenlider so schwer und verkrustet waren, fuhr der Kummer schon mit Macht durch sie hindurch.
Mia.
Sie rollte sich zusammen, zog die Knie an die Brust und drückte die Hände, zu Fäusten geballt, auf den Mund. Sie kniff die Augen ganz fest zu, doch die verstörenden Bilder sickerten in ihre Gedanken: Mia fällt lautlos wie ein Stein in die Tiefe, der Wind peitscht ihr das dunkle Haar aus dem Gesicht, ein gellender Schrei, dann schlägt ihr Schädel auf den Felsen auf.
Katies Finger tasteten nach Ed, doch sie fühlte nur die leere Stelle, wo er geschlafen hatte. Sie horchte nach ihm, und kurz darauf entspannte sie sich bei dem sanften Klappern einer Tastatur, das aus dem Wohnzimmer zu hören war: Wahrscheinlich mailte er seinem Büro. Darum beneidete sie ihn – seine Welt drehte sich weiter. Ihre hingegen war untergegangen.
Sie sollte duschen. Die Versuchung war groß, sich wieder unter der Bettdecke zu verkriechen und erst nach dem Mittagessen aufzustehen, vollkommen verschlafen und durcheinander. Sie holte tief Luft, dann zwang sie sich unter der Decke hervor.
Auf ihrem Weg zum Bad kam sie an Mias Zimmer vorbei und blieb unentschieden vor der Tür stehen. Katie hatte die Wohnung nach dem Tod ihrer Mutter gekauft, mit ihrem kleinen Erbe. In ihrem Umfeld hatten alle gestaunt, dass sie mit Mia zusammenziehen wollte, am meisten jedoch Katie selbst, die sich nach den bitteren Erfahrungen der Teenagerjahre geschworen hatte, niemals wieder mit Mia unter einem Dach zu leben. Doch sie hatte befürchtet, dass Mia das Geld wie Sand durch die Finger rinnen würde, wenn sie ihr Erbteil nicht in etwas Bleibendes, Vernünftiges investierte. Also hatte Katie daraufhin Besichtigungstermine vereinbart, sich mit Maklern und Notaren herumgeschlagen und war mit einem kaputten Schirm durch den Regen gerannt, damit sie die Papiere für die Hypothek noch rechtzeitig unterschreiben konnte.
Sie schloss die Finger vorsichtig um den Messingknauf, dann trat sie ins Zimmer. Ein Hauch von Jasmin hing in der kalten, abgestandenen Luft. Mia hatte ihr Bett unter das hohe Schiebefenster gestellt, damit sie beim Aufwachen in den Himmel schauen konnte. Auf dem Bett lagen Tüten mit den Kleidern ihrer Mutter. Der Ärmel eines Schaffellmantels hing heraus, der Mantel stammte aus den Siebzigern und hatte einen weiten, lockeren Kragen. Mia hatte sich den ganzen Winter lang wie ein verstörtes Blumenkind darin eingekuschelt.
Neben dem Bett bog sich Mias Kiefernschreibtisch unter Bergen von Krempel – einer alten Stereoanlage, die vor sich hin staubte, drei Kartons voller CDs, einem Paar Wanderschuhe ohne Schnürsenkel, einem Stapel zerlesener Taschenbücher und zwei Tassen mit Stiften. Die Wände waren nackt, es fehlten die Bilder und Fotos, mit denen Mia ihre Zimmer geschmückt hatte. Dieses hier hatte sie nicht dekoriert, und dadurch wirkte es wie eine Durchgangsstation.
Katie hatte Mia nach London gelockt, mit Formulierungen wie viel bessere Möglichkeiten und ganz andere berufliche Perspektiven, obwohl solche Begriffe für Mia Fremdwörter waren. Sie hatte die Tage auf ihre Weise verbracht, sie war durch die Parks spaziert, im Sommer hatte sie sich im Battersea Park in einem Ruderboot über den See treiben lassen, als wollte sie sich an einen anderen Ort träumen. In den letzten fünf Monaten hatte sie die gleiche Anzahl an Jobs gehabt. Sie hatte sich zwischendurch einfach immer wieder freigenommen, war spontan aufs Land gefahren, zum Wandern oder Zelten, hatte Katie einen Zettel unter der Tür hindurchgeschoben und ihren Arbeitgebern auf den Anrufbeantworter gesprochen. Katie hätte gern ihre beruflichen Kontakte für ihre Schwester genutzt, aber Mia auf etwas festzunageln, das war, als wollte man ein Fädchen an den Wind heften.
Katies Blick fiel auf ein Paar dreckiger Turnschuhe. Ihr kam der Abend in den Sinn, an dem Mia ihre Reisepläne verkündet hatte. Katie hatte Risotto kochen wollen. Sie hatte mit flinker Hand gekonnt Zwiebeln klein geschnitten und gerade in die Pfanne gegeben, als Mia in die Küche gekommen war, mit einem Paar weißer Ohrhörer über dem Kragen. Sie hatte sich am Wasserhahn eine Flasche gefüllt.
„Gehst du joggen?“, hatte Katie gefragt und mit dem Ärmel ihre tränenden Augen trocken gewischt.
„Ja.“
„Was macht der Kater?“ Als Katie morgens duschen wollte, hatte Mia im Badezimmer auf dem Fußboden gelegen und in einem von Katies Kleidern ihren Rausch ausgeschlafen.
„Besser“, erwiderte sie, den Rücken immer noch Katie zugewandt. Sie drehte das Wasser ab, wischte sich die Hände an ihrem T-Shirt ab und hinterließ silbern-feuchte Streifen.
„Was ist mit deinem Knöchel passiert?“
Mia sah an sich hinunter, auf die entzündliche Wunde, kurz über dem Bund ihrer Socken. „Mir ist bei der Arbeit ein Glas kaputtgegangen.“
„Ich hab Pflaster in meinem Zimmer, brauchst du eines?“
„Geht schon.“
Katie nickte und rührte mit einem Holzlöffel die Zwiebeln um, bis das beißende Weiß gelb und glasig wurde, dann stellte sie die Hitze höher.
Mia lehnte an der Spüle. Schließlich sagte sie: „Ich hab eben mit Finn gesprochen.“
Katie sah auf. Sein Name fiel selten in diesem Haus.
„Wir wollen ein bisschen um die Welt.“
Die Zwiebeln begannen zu zischen, aber Katie hatte den Löffel beiseitegelegt. „Ihr wollt ein bisschen um die Welt?“
„Ja.“
„Wie lange?“
Mia zuckte mit den Schultern. „’ne Weile. Ein Jahr oder so.“
„Ein Jahr!“
„Wir haben entsprechende Tickets.“
„Ihr habt schon gebucht?“
Sie nickte.
„Wann hast du das denn entschieden?“
„Heute.“
„Heute?“, wiederholte Katie fassungslos. „Das ist doch nicht durchdacht.“
Mia zog eine Augenbraue hoch. „Ach nein?“
„Und außerdem hast du doch kein Geld.“
„Ich komm schon klar.“
In der Pfanne zischte und spritzte das Öl. „Und Finn nimmt sich einfach frei? Ein Jahr lang? Die Kollegen beim Radio werden ja begeistert sein.“
„Er hat gekündigt.“
„Aber er hat diesen Job doch so geliebt …“
„Ist das so?“, sagte Mia und sah Katie an. In der Küche wurde die Luft knapp.
Dann nahm Mia ihre Wasserflasche, steckte sich die Hörer in die Ohren und verließ die Küche.
Die Pfanne qualmte, Katie schaltete rasch die Herdplatte aus. Eine heiße Wut durchfuhr sie, sie machte drei Schritte hinter Mia her, doch während Mias Turnschuhe durch den Flur quietschten, die Tür entriegelt und dann zugeschlagen wurde, begriff Katie, dass sie gar nicht so furchtbar wütend oder verletzt war. Nein, sie war erleichtert. Endlich konnte sie die Verantwortung für Mia abgeben: an Finn.
Es war schon Nachmittag, als das Telefon klingelte. Ed schaute von seinem Laptop auf, Katie schüttelte den Kopf. Sie wollte mit niemandem sprechen und überließ die Beileidsbekundungen dem Anrufbeantworter, auf den ihre Freunde mitfühlende Worte und hilflose Entschuldigungen stammelten, zwischen nervösen Pausen.
Der Anrufbeantworter klickte. „Hallo. Hier noch einmal Spire, vom Auswärtigen Amt in London.“
Ein Nerv in ihrem Augenlid zuckte. Ed griff, noch während Mr Spire seine Nachricht sprach, zum Telefon. „Hier ist Katies Verlobter.“ Er sah zu ihr. „Ja, sie ist bei mir.“ Er reichte ihr den Hörer und bedeutete ihr mit einem Nicken, ihn zu nehmen.
Katie hielt das Telefon auf Armeslänge von sich, als ob es eine Waffe wäre, die sie auf sich richten sollte. Mr Spire hatte sich zwei Mal seit Mias Tod gemeldet, beim ersten Mal hatte er Katies Zustimmung zu einer Autopsie benötigt, beim zweiten Mal musste er die Einzelheiten wegen der Überführung klären. Nach einer Weile presste Katie die Lippen zusammen und räusperte sich. Sie hielt den Hörer näher an den Mund und sagte sehr langsam: „Hier ist Katie.“
„Ich hoffe, dies ist eine günstige Zeit für ein Telefonat?“
„Ja, bestens.“ In ihrer Kehle kratzte die trockene, dumpfe Heizungswärme.
„Das Britische Konsulat auf Bali hat sich bei uns gemeldet. Es gibt weitere Neuigkeiten bezüglich des Todes Ihrer Schwester.“
Sie schloss die Augen. „Ich höre.“
„In derartigen Fällen wird im Rahmen einer Autopsie oft auch eine toxikologische Untersuchung verlangt. Mir liegt der Bericht nun vor, und darüber wollte ich mit Ihnen sprechen.“
„Verstehe.“
»Mia hat demnach zum Zeitpunkt ihres Todes unter Alkoholeinfluss gestanden. Ihr Blutwert hat 1,3 Promille betragen, was ihre Reflexe und ihr Reaktionsvermögen beeinträchtigt haben dürfte.« Er machte eine Pause. „Und da wäre noch etwas.“
Katie ging zur Tür und klammerte sich an den Rahmen, damit sie nicht fortgerissen wurde.
„Es gibt zwei Zeugen, die behaupten, Mia am Abend ihres Todes gesehen zu haben. Die balinesische Polizei hat sie natürlich befragt.“ Er zögerte, und Katie spürte, dass er mit etwas rang. „Sie haben ausgesagt, dass Mia gesprungen sei.“
Der Boden schien zu schwanken, Katie drehte sich der Magen um. Sie krümmte sich. Schritte kamen durchs Wohnzimmer, dann spürte sie Eds Hand auf ihrem Rücken. Katie schob sie weg und richtete sich wieder auf. „Sie meinen, sie …“ Ihre Stimme überschlug sich beinah. „Sie meinen, es war Selbstmord?“
„Ich fürchte, aufgrund der Zeugenaussagen und des Autopsieberichts gilt Selbstmord nun als die offizielle Todesursache.“
Sie griff sich mit der Hand an die Stirn.
„Ich kann verstehen, dass das sehr schwer –“
„Wer sind die Zeugen?“
„Ich habe Kopien von ihren Aussagen.“ Ein Stuhl knarrte. Katie sah im Geiste, wie sich Mr Spire über einen Schreibtisch beugte. „Ja, hier. Bei den Zeugen handelt es sich um ein Paar in den Flitterwochen, beide dreißig. In ihrer Aussage heißt es, sie hätten kurz vor Mitternacht am unteren Klippenweg in Umanuk einen Spaziergang gemacht, bis zum Aussichtspunkt. Eine junge Frau, auf die Mias Beschreibung zutrifft, sei an ihnen vorbeigerannt und habe dabei ausgesprochen verstört gewirkt. Die Zeugin will Mia gefragt haben, ob sie Hilfe benötige, aber sie habe Nein gesagt. Mia sei dann auf dem Weg zur Spitze, der wohl schon seit Jahren nicht mehr genutzt wird, verschwunden. Als die Zeugen etwa fünf oder acht Minuten später nach oben schauten, soll Mia sehr nahe am Klippenrand gestanden haben. Im Bericht heißt es dann weiter, die Zeugen hätten geglaubt, Mia sei in Gefahr, doch ehe sie in irgendeiner Form reagieren konnten, sei sie schon gesprungen.“
„Mein Gott.“ Katie zitterte am ganzen Leib.
Mr Spire wartete eine Weile, bevor er fortfuhr: „Aus dem Bericht des Pathologen geht hervor, dass Mia, den erlittenen Verletzungen nach zu schließen, wohl kopfüber von der Klippe gestürzt ist, was sich mit den Zeugenaussagen deckt.“ Er ließ sich noch über einige weitere Details aus, doch Katie hörte ihm schon nicht mehr zu. In Gedanken war sie bereits auf der Klippe.
Er irrt sich, Mia, oder? Du bist nicht gesprungen, das glaub ich nicht. Was ich zu dir gesagt hab – o Gott, bitte, mach, dass nicht das …
„Katie“, sagte Mr Spire in ihre Gedanken hinein. „Die Vorkehrungen sind nun so weit gediehen, dass Mia am kommenden Mittwoch nach Großbritannien überführt werden kann.“ Er fragte, für welches Beerdigungsinstitut sie sich entschieden habe, dann war der Anruf zu Ende.
Katie spürte einen stechenden Schmerz hinter den Augen und drückte mit Daumen und Zeigefinger auf den bogenförmigen Knochen unter den Brauen. In der Wohnung unter ihr weinte das Baby.
Ed drehte sie vorsichtig zu sich, damit sie ihn ansah.
„Es war kein Selbstmord“, sagte sie mit kläglicher, gepresster Stimme.
Er legte ihr die Hände auf die Schultern. „Du wirst auch damit fertig, Katie.“
Aber was wusste er schon? Sie hatte ihm doch nichts von dem entsetzlichen Streit mit Mia erzählt. Sie hatte ihm doch nichts von den hässlichen, schändlichen Worten gesagt, die aus ihrem Mund gekommen waren. Er wusste nichts von der Wut und den Wunden, die seit Monaten schwelten. Sie hatte Ed nichts von alledem erzählt, weil die Menschen, die nur an der Oberfläche ihrer Beziehung mit Mia trieben, besser gar nicht wussten, welche dunklen und mächtigen Ströme durch deren Tiefe zogen.
Sie wandte sich ab und schlich in ihr Zimmer. Sie legte sich mit geschlossenen Augen aufs Bett und versuchte, sich auf einen schönen Moment mit Mia zu konzentrieren. Ihre Gedanken wanderten zu jenem Tag, an dem sie Mia zum letzten Mal gesehen und sie sich zum Abschied am Flughafen umarmt hatten. Sie konnte Mias schlanken Körper, ihre Schulterknochen und die Muskeln an ihren Unterarmen immer noch spüren.
Sie hätte sie viel länger in ihren Armen gehalten und jede einzelne Sekunde ausgekostet, wenn sie geahnt hätte, dass dies das letzte Mal war.
„Ein emotionaler Roman voller unerwarteter Wendungen, den man nur schwer beiseite legen kann.“
„(...) Eine faszinierende Reise, die ungewöhnliche Antworten auf viele Fragen des Lebens liefert.“
„Einfühlsam erzählt Lucy Clarke eine Geschichte voller Familiengeheimnisse.“
„Spannend und mitreißend.“
„Ein gelungener, bis zur letzten Seite prickelnder und fesselnder Krimi um die Tragödie des Lebens und der Liebe.“
„Ein bis zur letzten Seite spannender Schmöker mit sympathischen Charakteren, anschaulichen Reisebeschreibungen und immer neuen verblüffenden Wendungen.“
„Ein fesselndes Debüt! Glauben Sie uns, Sie werden dieses Buch nicht beiseitelegen können.“
„Atmosphärisch und unterhaltsam!“
„Pflichtlektüre! Man möchte am liebsten seinen Job kündigen und selbst um die Welt reisen.“
„Ein spannender Pageturner mit überraschenden Wendungen!“
„Zutiefst bewegend!“
„Wunderschön geschrieben und nachdenklich stimmend. Lucy Clarke hat mit dieser herzzerreißenden Geschichte ihr schriftstellerisches Talent unter Beweis gestellt.“
„Lucy Clarke hat einen sehr klugen Roman geschrieben - großartiges Lesevergnügen!“
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