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Die lange Reise des Yong Sheng Die lange Reise des Yong Sheng Die lange Reise des Yong Sheng - eBook-Ausgabe

Dai Sijie
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Roman

— Der neue Roman des Autors von „Balzac und die kleine chinesische Schneiderin“

„Die dramaturgische Kunst des Erzählers zeigt sich nicht in den Wendungen des Geschehens, die sind vorgegeben, sondern in der Art und Weise, in der ihnen eine übers Biografische hinausgehende poetische Dimension erschlossen wird. Das gelingt in den verschiedenen Lebensphasen dieser sehr langen Reise unterschiedlich intensiv und blüht erzählerisch vor allem dann auf, wenn Dai Sijie Bilder findet, die seine beiden großen Themen sinnfällig werden lassen.“ - Deutschlandfunk Kultur „Lesart“

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Die lange Reise des Yong Sheng — Inhalt

Der neue Roman des Autors von „Balzac und die kleine chinesische Schneiderin“

Eine große Reise durch das China des letzten Jahrhunderts
Es ist das Jahr 1911. Zimmermann Yong, der die besten Taubenflöten im Bezirk Putian fertigt, wird ein Sohn geboren. Dem kleinen Yong steht ein außergewöhnliches Leben bevor. Mary, die Tochter des amerikanischen Pastors, in dessen Obhut er aufwächst, ermutigt ihn, der erste chinesische Pastor Putians zu werden.

Und so beginnt für Yong eine Reise durch das ganze Land. Er studiert Theologie, erlebt Familienglück und Verrat, den Ausruf der Volksrepublik und die Gräuel der Kulturrevolution. 

Die Lebensreise eines Mannes auf der Suche nach Duldsamkeit und Demut, Liebe und Gerechtigkeit.

Dai Sijie erzählt von seinem Großvater, der die großen Umbrüche im Reich der Mitte selbst miterlebte. Eine bewegende Geschichte von Liebe und Verrat, Demut und Glück, und davon, dem Leben mit Duldsamkeit zu begegnen. Der biografische Roman des Autors von „Balzac und die kleine chinesische Schneiderin“

„Mit zarter Poesie erzählt, aberwitzig, tröstlich und geheimnisvoll zugleich.“ Le Figaro Littéraire

€ 24,00 [D], € 24,70 [A]
Erschienen am 07.01.2022
Übersetzt von: Claudia Marquardt
432 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-492-07016-4
Download Cover
€ 14,00 [D], € 14,40 [A]
Erschienen am 27.04.2023
Übersetzt von: Claudia Marquardt
432 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31963-8
Download Cover
€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 03.01.2022
Übersetzt von: Claudia Marquardt
432 Seiten
EAN 978-3-492-99913-7
Download Cover
„Die dramaturgische Kunst des Erzählers zeigt sich nicht in den Wendungen des Geschehens, die sind vorgegeben, sondern in der Art und Weise, in der ihnen eine übers Biografische hinausgehende poetische Dimension erschlossen wird. Das gelingt in den verschiedenen Lebensphasen dieser sehr langen Reise unterschiedlich intensiv und blüht erzählerisch vor allem dann auf, wenn Dai Sijie Bilder findet, die seine beiden großen Themen sinnfällig werden lassen.“
Deutschlandfunk Kultur „Lesart“
„Daj Sijie öffnet wieder einmal die Tür in eine ferne Welt.“
Stern

Leseprobe zu „Die lange Reise des Yong Sheng“

Prolog

Man kam, um sich den Sohn des Zimmermanns anzusehen.

Wie eine lange hellgraue Schlange wand sich der Weg in Serpentinen den leuchtend grünen Hang eines Hügels von Jiangkou im Bezirk Putian hinauf. Aus der Luft betrachtet ähnelte er einem offenen Riss in diesem Relief aus Kalksteinfelsen und sandigem Boden, in dem sich das Licht der Dämmerung brach. Jeden Augenblick, so sah es aus, musste man damit rechnen, in diesen engen Spalt zu stürzen, in den Tiefen einer anderen Zeit zu versinken, aber dann, endlich, richtete das Reptil seinen Kopf auf, wurde [...]

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Prolog

Man kam, um sich den Sohn des Zimmermanns anzusehen.

Wie eine lange hellgraue Schlange wand sich der Weg in Serpentinen den leuchtend grünen Hang eines Hügels von Jiangkou im Bezirk Putian hinauf. Aus der Luft betrachtet ähnelte er einem offenen Riss in diesem Relief aus Kalksteinfelsen und sandigem Boden, in dem sich das Licht der Dämmerung brach. Jeden Augenblick, so sah es aus, musste man damit rechnen, in diesen engen Spalt zu stürzen, in den Tiefen einer anderen Zeit zu versinken, aber dann, endlich, richtete das Reptil seinen Kopf auf, wurde am Gipfel des Hügels zu Gestein, und in den Nebelschleiern zeichnete sich die Bleibe des Zimmermanns ab.

Unter einem Vordach, rechts des Hauses, das umgeben von Sägespänen war, fertigte Zimmermann Yong gerade eine seiner Taubenflöten, die die Züchter ihren Vögeln ins Gefieder banden. In einen kleinen Flaschenkürbis, den er zuvor ausgehöhlt hatte und der als Klangkörper diente, schob er ein feines, scharfes Rohrblatt aus Bambus, strich behutsam mit den Fingern über dessen Rand, der mit einem Beitel bearbeitet war und in den Strahlen der untergehenden Sonne blutrot schimmerte.

In diesem Moment trat die blinde alte Frau auf ihn zu, die mit fachkundiger Hand seinen zweijährigen Sohn untersuchen sollte. In der Mitte des Hofs hatte man einen Holztisch aufgestellt. Der kleine Junge tappte vorsichtig heran, er steckte in einem roten Seidenhöschen, das seine intimen Körperregionen bedeckte und ihm bis zur Brust reichte. Besorgt sah er nach rechts und nach links, hielt Ausschau wie ein Seefahrer, der unbekanntes Terrain betritt.

Die Blinde war winzig und trug einen langen grauen Rock, dazu ein scharlachrotes, trägerloses Oberteil, das mit violetten Blumen bestickt war, und einen roten Schal, den sie sich um den Hals geschlungen hatte. Oben auf ihrem Kopf saß ein strenger Haarknoten. Mit wiegendem Schritt, den ihre kleinen gebundenen Füße ihr vorgaben, näherte sie sich dem Tisch.

Mit ihrer knochigen Hand tippte sie auf eins der roten Filzschühchen des Kindes und kraulte mit den langen Nägeln der anderen, deren Finger so mager wie Vogelkrallen wirkten, seinen Schädel, der kahl rasiert war bis auf ein pfirsichgroßes Haarbüschel, das aussah wie eine dunkle Düne.

Dann nestelte sie am Unterleib des Kindes, hob schließlich den Kopf und rief:

„Es gibt ein Problem. Ihm fehlt ein Hoden. Der andere scheint aber, soweit ich es ertasten konnte, in Ordnung zu sein. Also ist einer genug.“

„Nur ein Hoden?“, erkundigte sich der Zimmermann entsetzt. „Wie soll er da jemals Kinder zeugen?“

„Einer reicht, um Ihre Nachfolge zu sichern.“

„Ach, wenn das so ist …“ Der Zimmermann entspannte sich ein wenig.

„Keine Sorge. Wenn ich hierhin fasse, spüre ich deutlich, dass sein Vögelchen putzmunter ist.“

Zimmermann Yong seufzte erleichtert. Er stellte ein langes Bambusrohr im Hof auf, spaltete es mit seinem Messer, kniff die Augen zusammen und besah sich das Mark. Im Schein der Abendsonne glänzte der Stock wie eine schmelzende Goldstange.

Er führte die Blinde zu einem Strauch vor dem Haus. Zwei Jahre zuvor, im Frühjahr 1911, als sein Sohn gerade geboren war, hatte der Zimmermann einem chinesischen Pilger aus Vietnam, der zur Insel Meizhou unterwegs war, um der Göttin Mazu zu huldigen, einen Platz an seinem Tisch angeboten. Bevor der Mann weiterzog, wollte er seinem Gastgeber etwas Geld dalassen, und als dieser höflich ablehnte, überließ er ihm zum Dank einen Beutel mit Samenkörnern. Der Zimmermann hatte daraufhin ein Loch vor seinem Haus gegraben, die Körner hineingestreut und es mit Schlick wieder aufgefüllt. Nach einer Woche war der Schlick zwar getrocknet, doch es zeigte sich nicht der kleinste Trieb an der Oberfläche. Noch erstaunlicher war, dass die im Jahr zuvor ringsum gesetzten Pflanzen und Blumen, die bereits Knospen trugen, plötzlich verdorrten. Die Iris warfen ihre Kelchblätter ab, und ihre kleinen gelben Blüten verwelkten, noch ehe sie richtig aufgingen. Dasselbe Schicksal ereilte die Minze, die zwar in die Höhe geschossen war, aber auf einmal bitter schmeckte, und auch der Fenchel kümmerte vor sich hin. Dann, endlich, am zehnten Tag, durchstieß ein frischer grüner Trieb die Erde, ein erster Spross des einzigen exotischen Baums im Garten, dem es vergönnt war, unter der chinesischen Sonne zu gedeihen.

„Sagen Sie“, fragte Zimmermann Yong die Blinde, „kennen Sie den Namen dieses Baums? Er hat alles, was um ihn herum wuchs, vernichtet.“

Der Strauch war bereits einen Meter hoch. Die Alte ging in die Hocke, strich mit ihren Fingerspitzen über die Blätter, riss dann mit den Zähnen ein Stück Rinde heraus. Das Mark war frisch und zart und verströmte einen angenehm blumigen Duft.

„Es ist ein Aguilar“, sagte sie mit Bestimmtheit. „Ein Weihrauchbaum. Erzählen Sie bloß niemandem davon, es würde nur Neid und Missgunst erregen.“

„Warum?“

„Weil dieser Baum, sobald er größer ist, einen wertvollen Saft produziert. Ihr Sohn mag nur einen Hoden haben, aber wenn man Ihnen am Tag seiner Geburt Samenkerne des Aguilars geschenkt hat, ist ihm ein außergewöhnliches Schicksal beschieden.“

 

Die Spezialisten stimmten darin überein, dass die bemerkenswertesten Taubenflöten die der Marke Yong aus Putian waren. Was zweifellos daran lag, dass sie die Arbeit eines Zimmermanns waren, der sowohl über die geeigneten Werkzeuge als auch über eine immense Könnerschaft verfügte, denn nicht nur in der Herstellung von Taubenflöten hatte er sich einen Namen gemacht, er genoss darüber hinaus einen hervorragenden Ruf als Bautischler. Das Krankenhaus von Putian, die erste Einrichtung in der Provinz Fujian, die von protestantischen Missionaren gegründet wurde, und vor allem die große Treppe des Hauptgebäudes, die noch heute existiert, zeugten von Yongs außergewöhnlichem Talent. Damals waren die Handwerker in Putian – wie auch die in den meisten anderen chinesischen Städten – noch nie mit abendländischer Architektur in Berührung gekommen. Die Tischler und Zimmermeister, die chinesische Häuser bauten, hatten keine Ahnung, wie man einen Parkettboden, eine Zimmerdecke oder Glasfenster anfertigte. Geschweige denn etwas so Kompliziertes wie eine Treppe.

Zimmermann Yong hatte viele Stunden über der Zeichnung einer Treppe gebrütet, die ihm ein Fremder überlassen hatte, und eines Tages war der Groschen gefallen, er wusste plötzlich, wie er es anstellen musste.

Die Einweihung der ersten christlichen Kirche von Putian, an deren Fertigstellung er mitgewirkt hatte, war ein Ereignis, das die ganze Stadt bewegte. Das Krankenhaus befand sich zu diesem Zeitpunkt noch im Bau, trotzdem brüllten und drängten sich die Leute davor, um einer erstaunlichen Szene beizuwohnen: Vor aller Augen schwankte die Mutter von Zimmermann Yong mit leicht angehobenem Rock auf ihren gebundenen Füßen die Stufen einer Treppe hinauf. In den Gesichtern der Schaulustigen waren Angst und Verwirrung zu lesen. Sie hatte es bis nach oben geschafft, aber nun musste sie wieder herunter. Würde sie dabei ihr Leben lassen?

Der Kleine Yong war ebenfalls dabei. Sein Vater stellte ihn am Fuß der Treppe ab, und das Kind kraxelte auf Knien Stufe um Stufe empor, hielt nur ab und zu inne, um ein Detail der Ausführung zu bewundern. Vielleicht war dieser Tag der glücklichste seiner Kindheit. Oben angekommen, setzte sein Vater ihn rittlings aufs Geländer, ließ dann seine Hand los, lief zum unteren Ende der Treppe, um ihn dort aufzufangen: „Komm, mein Sohn, rutsch runter!“, rief er mit ausgebreiteten Armen. Der Kleine schloss die Augen und glitt, ohne sich festzuhalten, nach unten, ihm war, als würde er durch den Himmel fliegen. Er fühlte sich wie der Herr über die Geschwindigkeit, der Wind blies ihm um die Ohren, und er hörte den Gesang der Taubenflöten. Ein langer feiner Ton, der sich wie ein magisches Band durch die Luft zog, sich ihm näherte, schnell wie ein Blitz, und dann, ganz allmählich, in der Ferne wieder verhallte.

 

Drei Jahre waren seit der Konsultation der blinden Alten vergangen. Der Kleine Yong war kaum fünf, konnte jedoch bereits unterscheiden, und zwar beim ersten Ton, ob eine Taubenflöte aus der Werkstatt seines Vaters stammte oder nicht.

Die Flöten aus Putian und den benachbarten Ortschaften hatten in der Regel einen Durchmesser von höchstens zwei oder drei Zentimetern und etwa den Umfang einer Nuss (die größten erreichten immerhin bis zu zehn Zentimeter Durchmesser und waren faustgroß). Ein feines Rohrblatt, das in der Mitte der Flöte angebracht war, teilte sie in zwei Klangkörper. Man befestigte das Instrument an den Steuerfedern der Vögel, und wenn sie losflogen, entstanden, je nachdem, in welchem Winkel der Wind hineinblies, zwei verschiedene Töne, ein hoher und ein tiefer. Um die Klangpalette zu erweitern, konnte man nach Belieben unterschiedlich lange Bambusrohre hinzufügen (manche bevorzugten auch Schilfrohr). Zeigte sich dann eine Schar Tauben am Himmel, war es, als zöge ein ganzes Orchester vorbei, das ein beeindruckendes Konzert zum Besten gab. Jedes Instrument ertönte in einer anderen Stimmlage, Bariton, Tenor, Alt und Sopran antworteten einander in feinem Echo, überboten sich in lyrischen Tremolos und romantischen Vibratos, zur Freude des Publikums, das der Sinfonie lauschte.

In diesem Augenblick war die Musik, die am Himmel spielte, das Werk der Tauben von Pastor Gu, einem amerikanischen Evangelikalen, der aus den Vereinigten Staaten ein Paar weißer Tauben mitgebracht hatte, deren Füße, im Unterschied zu den chinesischen Tauben, mit seidenweichem Gefieder bedeckt waren (sie steckten in einer Art Muff, wie die Frauen ihn im Winter trugen, um ihre Hände vor der Kälte zu schützen). Der Pastor hatte just an diesem Tag zwei Yong-Flöten erworben und sie, in einem Moment wohltuender Muße, den er so noch nicht erlebt hatte, seit er in China war, höchstpersönlich mit Nadel und Faden am Schwanz seiner Vögel befestigt. Er war extra auf das Dach des im Auftrag seiner Kirche neu errichteten Krankenhauses gestiegen, um seine Tauben fliegen zu lassen. Von dort hatte er beobachtet, wie sie ihre Runden zogen, zwei Quarzkristalle, leicht und rein, wie sie sich an ihrer zauberhaften Serenade erfreuten, immer höher stiegen, bis sie zwei weit entfernten Sternen glichen und schließlich mit dem Himmel verschmolzen.

Ein wenig verloren harrte er auf dem Dach aus, noch völlig versunken in den Klang der fernen Flöten. Plötzlich aber tauchten die Tauben lautlos wieder auf und fielen wie Meteoriten vom Himmel. Ehe sie landeten, streiften sie das Gesicht des Pastors, schwangen sich dann mit raschelndem Flügelschlag wieder auf, um ihr himmlisches Ballett fortzuführen. Die Sonne umgab ihr schneeweißes Gefieder mit einem goldenen Schein, die Flöten sangen, das Herz von Pastor Gu schlug heftig, Tränen des Glücks liefen ihm über die Wangen. Niemand kannte den Wert dieser beiden Flöten, man wusste lediglich, dass die Mutter des Zimmermanns höchstpersönlich mit dem Pastor in Verhandlungen getreten war und dafür gesorgt hatte, dass er ihren Enkel bis zum Abschluss der Grundschule bei sich aufnehmen würde (die Ehefrau des Pastors hatte eine Schule eröffnet).

„Wie heißt Ihr Enkel?“, hatte der Pastor gefragt.

„Wir nennen ihn den Kleinen Yong, er hat keinen Vornamen, dafür ist er noch zu jung. Hätte er einen, würden ihn die Dämonen holen.“

„Wenn er in meiner Schule unterrichtet werden soll, muss er einen Namen haben.“

Nach einigem Überlegen willigte die Großmutter des Kleinen Yong ein:

„Gut. Dann suchen Sie einen für ihn aus, Sie sind schließlich Pastor.“

„Er soll Yong Sheng heißen. Sheng steht für Ton. Es ist eine Hommage an das Handwerk seines Vaters.“


Erster Teil

Kapitel 1 – Mary

Es war zwei Uhr morgens, und es goss in Strömen.

Der Kleine Yong begriff nicht gleich, dass es regnete. Im ersten Augenblick glaubte er, das Geräusch der Holzsäge seines Vaters durch die Stille der Nacht zu hören, aber plötzlich erinnerte er sich, dass er ja gar nicht zu Hause in Jiangkou war, sondern in Hanjiang, bei der Frau von Pastor Gu, der Direktorin seiner Schule, oder genauer, er befand sich im Zimmer ihrer Tochter Mary, seiner Lehrerin, die ihm Rechnen, Schreiben, Lesen und Musik beibrachte.

Pastor Gu war verantwortlich für die amerikanischen Baptisten, die sich auf Mission in der Provinz Fujian aufhielten, und er hatte eine sehr tugendhafte Pastorentochter geheiratet (er selbst war Sohn eines Pastors, ein Amt, das die meisten Männer seiner Familie seit Generationen ausübten).

Da Yong Sheng der jüngste Zögling der Schule war, ließ Madame Gu ihn nicht mit den anderen Schülern im Schlafsaal übernachten, der im hintersten Trakt der Einrichtung lag. Anfangs wollte sie ihn bei sich unterbringen, dann aber fürchtete sie, dass seine Anwesenheit ihren Mann bei der Arbeit stören könnte, und so hatte sie ihn bei ihrer Tochter Mary einquartiert. Die Residenz des Pastors umfasste sieben Höfe, und Mary wohnte mit ihrer kleinen Tochter, die noch kein Jahr alt war, passenderweise im „Hof des kleinen Mädchens“. Ihre Wohnung bestand aus dem sogenannten Hauptzimmer (das im Westen als „Wohnzimmer“ bekannt war), in dem sich das Familienleben abspielte, außerdem einem Arbeitszimmer, in dem Mary ihre Unterrichtsstunden vorbereitete, und einem Schlafzimmer, in dem ihr Bett und, gleich daneben, die Wiege ihrer Tochter aufgebaut waren, sodass sie die Kleine nachts ohne großen Aufwand stillen konnte. Gegenüber von Marys Bett stand ein weiteres, kleineres Bett für Yong Sheng, und zwischen beiden hing als Trennwand ein weißes Laken.

Vom Prasseln des Regens geweckt, stand der Junge auf, um zur Toilette zu gehen, und stellte fest, dass das Baby zwar friedlich schlief, Marys Bett jedoch leer war. Wo war sie nur?

Früher waren die Fenster im ganzen Gebäude mit Papier verhängt, wie es in China üblich war, erst seit Pastor Gu die Residenz gekauft hatte, gab es zweiflügelige Glasfenster, die in zwölf Felder unterteilt waren. Yong Sheng durchquerte das Hauptzimmer, leise tappte er auf nackten Füßen über den mit purpurroten Rosen und grünen Flechten verzierten Teppich. Der Boden unter diesem Teppich war nicht aus gestampfter Erde wie sonst in den chinesischen Häusern, sondern mit Parkett ausgelegt. So wie auch im christlichen Krankenhaus von Putian.

Mary war weder im Hauptzimmer noch in ihrem Büro zu finden.

Sie musste die Wohnung verlassen haben, und offenbar hatte es da noch nicht geregnet, denn ihre alten schwarzen Gummistiefel mit den rosafarbenen Flicken standen am Fuß ihres Betts. Der Kleine verspürte plötzlich den dringenden Wunsch, sie ihr zu bringen, obwohl ihn draußen Nässe und Dunkelheit erwarteten. Mit den Stiefeln in der Hand stieg er die Stufen hinunter, die in den Hof führten. Der Regen peitschte ihm ins Gesicht, gleichzeitig durchströmte ihn ein angenehmes Gefühl von Frische. Unzählige Tropfen trommelten gegen seine Haut, sie kamen ihm vor wie winzige Kristallperlen, die vom Himmel fielen und wieder zurücksprangen, als hingen sie an einem elastischen Band; mit Wasser gefüllte Perlen, die nie platzten, sondern kaum dass sie ihn berührt hatten, zurückschnellten, um dann erneut auf ihn niederzuprasseln.

 

Er war noch keine sechs Jahre alt und konnte die Größe des Anwesens von Pastor Gu nicht genau fassen. Als er wenige Wochen zuvor hier angekommen war, hatten ihn das riesige Grundstück, die imposante, bei aller Gleichförmigkeit doch geheimnisvolle Architektur und die dicken, meterhohen Mauern, die das Gelände umgaben, schier überwältigt. Er hatte den Kopf in den Nacken legen müssen, um von unten die Unkrautbüschel zu entdecken, die sich auf der Kante der Ziegelmauer im Wind wiegten und an den Wolken festzuklammern schienen.

Zwei umlaufende Gänge, die östliche und die westliche Galerie, führten an den Mauern entlang und umschlossen das Anwesen mit seinen sieben Höfen wie zwei riesige Arme. Zu Beginn jeder neuen Stunde schlug der Nachtwächter auf ein Holzbrett und schritt dort oben auf und ab. Der erste, ziemlich große Hof, „Der Hof der Tauben“, gehörte den Vögeln des Pastors. Im zweiten, dem „Hof der Ahnen“, hatte der Hausherr eine Baptistenkirche errichten lassen. Es folgten „Der Hof der Gäste“, „Der Hof des Pastors“, „Der Hof des kleinen Mädchens“, „Der Hof der Küchen“ und schließlich der siebte und letzte Hof mit der von Madame Gu gegründeten Schule.

Einige Jahre später erstellte Yong Sheng eine genaue Skizze des Geländes: Mit Ausnahme des großen Eingangsportals, das im Verhältnis zur Hauptachse der Anlage leicht versetzt war (die Erbauer, ebenso naiv wie einfallsreich, glaubten, auf diese Weise den Dämonen Einhalt zu gebieten, schließlich war allgemein bekannt, dass diese sich nur in einer geraden Linie fortbewegten), hatte man die Zugänge der anderen sechs Höfe, ganz nach dem Vorbild der Kaiserstadt, parallel zueinander auf derselben Achse angeordnet. An den hohen christlichen Feiertagen befahl Pastor Gu seinen Bediensteten, sämtliche Pforten zu öffnen, damit die Gebete und Gesänge vom Hof der Ahnen ungehindert durch alle anderen Höfe hindurch bis zu dem Reisfeld hinter der Residenz dringen konnten. Im letzten Hof stand eine Steinmühle, an der sich ein kleiner Esel mit verbundenen Augen tagein, tagaus damit abmühte, Sojabohnen zu einer weißen Masse zu zermahlen, aus der man Tofu herstellte. An den Feiertagen jedoch nahm man dem Esel die Augenbinde ab und ließ ihn sich ausruhen. Und nur zu solchen Gelegenheiten konnte man die sieben Höfe auf einen Blick erfassen.

Auf nackten Sohlen lief Yong Sheng nun im strömenden Regen durch den Hof des kleinen Mädchens, er wollte über den Korridor des Nachtwächters zu den Unterrichtsräumen gelangen, aber er hatte kaum den Hof der Küchen erreicht, als er schon von Kopf bis Fuß durchnässt war. Wie ein begossenes kleines Huhn rannte er dennoch tapfer weiter bis in den Hof der Schule, wo Mary mehr Zeit verbrachte als in ihrer Wohnung.

Doch in dieser Nacht war sie nicht dort. Die Gebäudetrakte links und rechts der Pforte, in denen früher die Hausangestellten und inzwischen die Klassenzimmer untergebracht waren, lagen dunkel vor ihm. Auch in den ehemaligen Scheunen und Ställen, die heute als Schlafsäle dienten, waren alle Lichter gelöscht, das einzige Geräusch, das durch die Stille ging, war der Atem der Jungen, die dort schliefen.

Der Regen hämmerte gegen das Ausgangstor des letzten Hofs. Im Gegensatz zu dem großen Eingangsportal, dessen zwei Flügel in Angeln hingen und auf einem hohen Sockel saßen, hatte dieses Tor keine Schwelle. Es bestand aus mehreren grün gestrichenen großen Holzplanken, die wie Tischplatten übereinandergestapelt waren, und ließ sich, je nach Höhe der Karren, auf denen man die Lebensmittel für die Küche transportierte, entweder ganz oder nur teilweise öffnen. Yong Sheng drückte sein Gesicht gegen das Holz und sah durch einen Spalt auf das Reisfeld, wo er jedoch außer Wasserlachen nichts erkennen konnte.

Er machte kehrt, lief zum gegenüberliegenden Korridor, der sich wie eine Mondsichel an jedem Übergang zum nächsten Hof öffnete. Hof der Schule, Hof der Küchen, Hof des kleinen Mädchens, Hof des Pastors, Hof der Gäste … Yong Sheng rannte immer weiter, bis er das Tor zum Hof der Ahnen erreichte.

Die Pforte zu diesem Hof unterschied sich deutlich von den anderen, selbst das große Eingangsportal, so majestätisch es auch war, hatte nicht dieselbe erhabene Wirkung wie dieses, über dem sich ein zu den Seiten offener Wachturm erhob, der auf zwei dicken schwarzen Säulen ruhte. Der Regen rann in Sturzbächen über die breiten Dachziegel des Turms, die Blitze ließen seine Stützbalken wie helle Streifen aufleuchten, und in ihrem zuckenden Licht schienen die in Stein gehauenen Tierfiguren zum Leben zu erwachen.

Der Junge hielt einen Moment inne, trotz der dreckigen Pfützen, die sich unter seinen Füßen bildeten, und der lauwarmen Tropfen, die, so kam es ihm vor, sich durch seine dünne Haut bohren wollten.

An einem der breiten Stützbalken schaukelte eine Sturmlaterne, die im Regen zischte. Yong Sheng erschrak, denn er fürchtete, das Glas könne jeden Moment explodieren.

Die Schwelle des Tors war so hoch, dass der Junge darüber wie über eine Mauer klettern und sich auf die andere Seite fallen lassen musste. Danach hatte er keine Kraft mehr zu rennen, mit kleinen Schritten durchquerte er den Hof der Ahnen. Das Wasser ging ihm bis zu den Knöcheln, unter seinen Füßen spürte er die Ziegelsteine und die großen runden Kiesel, mit denen der Boden gepflastert war. Hier und da rutschte er auf dem Moos aus, das zwischen den Steinen wuchs, aber er achtete darauf, immer in einer geraden Linie zu laufen, um einer Katastrophe zu entgehen, denn er wusste, dass neben der Hauptachse ein befestigter Graben klaffte, der einen Meter breit, drei Meter lang und zwei Meter tief war, und dass das Wasser darin einem Erwachsenen bis an die Hüfte reichte.

Sonntags, nach dem Gottesdienst, stieg Pastor Gu ein Treppchen in dieses Becken hinab und begrüßte dort mit ein paar feierlichen Sätzen die neuen Mitglieder seiner Kirche, bevor er ihren Oberkörper ins Wasser tauchte. Der Kleine Yong hatte die Zeremonie schon ein paar Mal miterlebt, ohne zu wissen, dass es sich dabei um eine Taufe handelte, also einen symbolischen Akt, mit dem man sich von begangenen Sünden reinwusch. Immer wenn Pastor Gu einen Getauften wieder aus dem Wasser zog, hieß er ihn als neuen Menschen willkommen. Noch Jahre später erinnerte sich Yong Sheng an das strahlende Gesicht des Missionars am Ende dieses Rituals.

Vor der großen Halle im Hof der Ahnen leuchtete ein Licht, das den Schatten der verglasten Sprossentür auf den Steinboden des Innenraums warf. Das Schattenmuster dehnte sich zu den langen Holzbänken hin – um die jeden Sonntag die Kinder der versammelten Christen aus Putian herumtobten – und noch weiter, bis zu dem Rednerpult, von dem aus Pastor Gu seine Predigten hielt. Früher hatte an dieser Stelle ein großer Altar gestanden, an dem die ehemaligen Besitzer ihre Vorfahren verehrten. Jetzt wurde der Raum als Gebetsstätte genutzt, ein Vorhang teilte ihn in einen Bereich für Männer und einen für Frauen. Und wenn Pastor Gu von seinem Pult aus zu den Männern sprach, ragte er so weit über den Vorhang hinaus, dass die Frauen ihn nicht nur hören, sondern auch bis zu den Schultern sehen konnten.

Die Stiefel, die Yong Sheng immer noch in der Hand trug, hatten sich mit Regenwasser gefüllt, und als er den verlassenen Gebetsraum betrat, hallte ein plätscherndes Echo von den Wänden wider. Er hielt zu beiden Seiten des Vorhangs Ausschau nach Mary – nichts. Vom Dachgebälk tropfte es auf den Kopf des Jungen und auf die Bänke.

Plötzlich bemerkte er einen Lichtstrahl, der durch einen Riss in der Mauer fiel. Er trat näher und stieß unverhofft auf Marys geheime Kapelle.

 

Natürlich hatte er keine Ahnung, was eine Kapelle war. Selbst erwachsene, vor langer Zeit konvertierte Chinesen taten sich schwer mit der Unterscheidung von Protestantismus und Katholizismus, und sicher hätte niemand eine Antwort darauf gehabt, warum sich in einer Baptistenkirche eine katholische Kapelle verbarg. Jahrzehnte später brachte ein Freund Yong Sheng ein kleines Buch aus den USA mit, das die Frau von Pastor Gu 1928 unter dem Titel Meine Grundschule in Hanjiang veröffentlicht hatte und in dem der geheime Raum erwähnt wurde, den ausschließlich ihre Tochter nutzte, die zum Katholizismus übergetreten war. Mary war, bis sie nach Paris ging, um Kunstgeschichte an der Sorbonne zu studieren, eine glühende Protestantin gewesen, dort allerdings verliebte sie sich in einen ihrer Professoren, einen kultivierten jungen Mann, der aus einer erzkatholischen Familie stammte. Ihm zuliebe gab sie ihre eigene Konfession auf und nahm seine an, die Zeremonie fand in der Kirche seines Heimatdorfes statt. In ihrem Buch zitierte Madame Gu aus einem Roman der Schriftstellerin K. C. Carter, einer amerikanischen Freundin von Mary, die den Feierlichkeiten beigewohnt hatte:

Es war ein kleines französisches Dorf, das hauptsächlich von der Pflaumenverarbeitung lebte.
Wir folgten einem verschlungenen, von Kastanienbäumen gesäumten Weg. Weiter unten stand eine Kirche aus Stein, bescheiden, aber hübsch, auf deren Vorplatz dienstags und freitags Markt war. Abends tauchten Laternen sie in ein sanftes Licht.

 

In einem Brief an eine Freundin gab K. C. Carter zu, dass sie von der Zeremonie geradezu entzückt gewesen sei: „Eine blütenreine Spitzendecke bedeckte den Altar, auf dem Kelche und Ziborien aus glänzendem Silber standen. Und daneben, zu beiden Seiten, Chorkinder in weißen Hemdchen und violetten Röcken.“ Pastor Gu und seine Frau hingegen hatte das Ereignis in tiefe Verzweiflung gestürzt, so sehr, dass sie sich weigerten, nach Frankreich zu reisen, um der Hochzeit ihrer Tochter in ebendieser Dorfkirche beizuwohnen. Doch als in Europa der Erste Weltkrieg ausbrach und sein Schwiegersohn, den er nie kennengelernt hatte, an die Front geschickt wurde, besann Pastor Gu sich eines Besseren und lud seine einzige Tochter ein, mit ihrem Neugeborenen Zuflucht bei ihm in China zu suchen. „Gott beschert uns das Glück, Dich wieder bei uns zu haben“, schrieb er in seinem Brief.

 

In eine der Mauern des Gebetsraums war ein Alkoven aus behauenem Stein eingelassen, der von den Vorbesitzern der Residenz für einen dem Himmel und der Erde geweihten Altar gedacht war und den Pastor Gu in eine Kapelle für seine Tochter umgewandelt hatte. Die Öffnung hatte er mit einer Schiebetür versehen lassen, sodass, wenn sie geschlossen war, niemand die Existenz dieser Andachtsnische erahnte.

Vorsichtig bewegte Yong Sheng die Tür mit seiner kleinen Hand zur Seite, und sogleich fuhr ihm ein Schreck durch alle Glieder, denn im flackernden Schein einer Kerze tat sich vor seinen Augen die Gestalt eines fast vollständig entkleideten Mannes auf, der an ein Kreuz genagelt war und dem man eine Dornenkrone auf den Kopf gesetzt hatte. Der Mann hatte den Blick leicht abgewandt, aber seine Brauen und die Falten auf seiner Stirn drückten unendlichen Schmerz aus. Seine tief liegenden Augen und die Furche, die sich ihm vom Wangenknochen bis zum Kinn ins Gesicht gegraben hatte, gaben ihm etwas Strenges.

Verstört kniff Yong Sheng die Augen zu, und als er sie wieder öffnete, wurde ihm klar, dass das, was er für einen Menschen gehalten hatte, nur eine Holzfigur war, die irgendwann einmal mit einer Goldschicht verziert gewesen sein musste, ihren Glanz inzwischen aber eingebüßt hatte. Ihn beschlich das Gefühl, dass der Gekreuzigte den Blick auf ihn richtete, als wäre er gerade im Gespräch mit einer dritten Person unterbrochen worden. Außerdem schien er überrascht von der Tatsache, dass Yong Sheng Marys Stiefel in der Hand hielt, als handelte es sich nicht um alte, geflickte Gummistiefel, sondern um den Filzpantoffel von Aschenputtel – das Lieblingsmärchen seiner Lehrerin. Er rechnete fast damit, dass der Mann ihm befahl, vor Mitternacht zu Hause zu sein, wie man es auch Aschenputtel aufgetragen hatte, als sie vor der Kutsche stand (wobei er sich nicht mehr daran erinnerte, wer Aschenputtel den Befehl gegeben hatte). Mary behauptete, dass Aschenputtels Pantoffeln wie Diamanten glitzerten, so scharf seien wie Kristall und so zerbrechlich wie das Paradies, weshalb Yong Sheng nun fürchtete, dass der Mann am Kreuz wütend werden und sein kleines, ebenfalls sehr fragiles Paradies mit einem Schlag zunichtemachen könnte.

Und dann sah er Mary, sie stand versteckt im Halbschatten einer Mauer des feuchten Alkovens.

Ihr Hals war nackt, sie hatte den Blick gesenkt, die Lippen leicht geschürzt, sie schien wie in Trance. Als sie sich kurz regte, glitt ihr der violette Schal von den Schultern und entblößte eine üppige Brust, die im Kerzenlicht wirkte wie aus reinem Alabaster und von der eine sinnliche Wärme ausging.

Er beobachtete, wie Mary ihre Linke auf eine ihrer geschwollenen Brüste legte, sie andächtig massierte, bis ein Strahl Milch hervorspritzte. Yong Sheng verspürte plötzlich eine angenehme, duftende Wärme, die seinen aufgewühlten Körper wie eine zärtliche Berührung umfing.

Mit der freien Hand griff Mary nun nach einem silbernen Kelch, in den ihre Milch sich in einem cremigen Schwall ergoss, ein paar Spritzer perlten vom Rand des heiligen Gefäßes, so weiß, dass sie im Halbdunkel zu leuchten schienen. Mit halb geschlossenen Augen und leicht geöffnetem Mund, als träumte sie, saß Mary da und gab ein seltsames Geräusch von sich, es hörte sich an wie ein leises Stöhnen. Schließlich hob sie den Kelch (in dem die katholischen Priester normalerweise den Messwein weihen) und führte ihn an den Mund des Gekreuzigten. Milch floss über den Körper der Statue und drang durch die rissige Farbe tief in das Holz ein.

Der Mann hatte Yong Sheng nicht aus den Augen gelassen, der Junge meinte sogar, ein Zwinkern gesehen zu haben, während die Milch ihm über die hohlen Wangen lief.

Nachdem Mary verschwunden war, erfüllte der Duft ihrer Milch noch lange den Alkoven.

In dem Raum standen zwei Schränke, der auf der linken Seite hatte sieben Schubladen mit Kupfergriffen. Yong Sheng zog eine heraus, es war die, in der Mary den silbernen Kelch verstaut hatte. Sie hatte ihn zuvor gereinigt, vor seinen Augen, er glänzte unsagbar geheimnisvoll, als wollte er ihm ein Geheimnis offenbaren.

In dem Schrank rechts war die Holzfigur des Gekreuzigten aufbewahrt, sie schimmerte noch feucht. Aus der Nähe wirkte die Farbe weniger abgeblättert, das Holz glatter, und durch die Feuchtigkeit trat der goldbraune Ton kräftiger hervor, er glitzerte wie feines Gold auf dem Grund eines Flusses.

Ein elfenbeinfarbener Tropfen hing an der Dornenkrone wie eine reife Litschi an einem Ast, ein Tropfen Milch, der von seinem eigenen Gewicht in die Tiefe gezogen wurde. Für einen kurzen Augenblick sah es so aus, als zöge er sich zusammen, doch gleich darauf schwoll er wieder dick an. Yong Sheng öffnete seinen Mund und streckte die Zunge heraus.

Warm und feucht fiel der Tropfen herunter, und der Junge sog ihn in sich auf wie trockene Erde das lang ersehnte Wasser.

 

Nach dieser ersten seltsamen Begegnung mit dem Gekreuzigten verließ der Sohn des Zimmermanns die Gebetsstätte, lief über den Hof der Ahnen und fiel, aus Unachtsamkeit, in den Graben.

 

Der Regen hatte nachgelassen, und trotzdem, ich weiß nicht, wie es dazu kam, war ich plötzlich unter Wasser. Ich hatte den Grund noch nicht berührt, aber mir war klar, dass ich mich in dem Becken befand, in dem der Pastor die Taufe vollzog.

Nach dem Wolkenbruch stand das Wasser höher als sonst und war seltsam lau. Als ich endlich Boden unter meinen nackten Füßen hatte, spürte ich den Schlamm, auch der war nicht kalt.

Ich wusste, dass ich sterben würde. Schon bald würde mir die Luft ausgehen. Doch auf einmal drang ein Lichtstrahl von der Oberfläche zu mir. War es Mary, meine Lehrerin, die mich suchte, mit einer Taschenlampe, deren wunderbares Licht Himmel und Erde erleuchtete? Dieser Gedanke verlieh mir Kraft, und mit einiger Anstrengung schaffte ich es, wieder aufzutauchen. Aber als ich versuchte, am Rand des Beckens Halt zu finden, zog es mich erneut in die Tiefe.

Mein Gott!, dachte ich. Ich verstand nun endlich, warum Pastor Gu ausgerechnet hier seine Zaubereien veranstaltete, denn der Grund dieses Grabens übte eine übernatürliche Anziehungskraft aus.

Während ich also ertrank, nahm ich das Geräusch einer Holzsäge wahr, sah ihre Zähne vor meinem geistigen Auge, wie sie sich unablässig durch die Wasseroberfläche arbeiteten, auf der kleine Blitze tanzten.

Das Geräusch der Säge war mir vertraut, überraschend war nur, dass nicht mein Vater sie in der Hand hielt!

Es gab übrigens immer zwei Sägewerker, einen, der oben, und einen, der unten stand. Der hier unten, auf dem Grund, das war ich. Den anderen konnte ich nicht genau erkennen. Ein bisschen ähnelte er der Figur des Gekreuzigten, aber ich war mir nicht sicher. Ich fragte ihn nach seinem Namen, und er antwortete: „Warum willst du meinen Namen wissen?“ Dann wandte er sich mit den Worten „die Morgenröte ist aufgestiegen“ zum Gehen. Ich umklammerte mit beiden Händen sein Bein, um ihn zurückzuhalten. „Wenn Sie mir Ihren Namen nicht verraten, werde ich Sie nicht gehen lassen.“ Er wehrte sich nicht und sprach: „Ich bin der Vater des Gekreuzigten.“ Im selben Augenblick erschien eine Leiter, die er mich hinaufklettern ließ, und während ich glaubte, nun in den Himmel zu gelangen, stieg ich zu meinem großen Erstaunen bloß aus dem Wasser.

 

Es war Mary, die ihn rettete. Als sie das Bett des Jungen bei ihrer Rückkehr leer vorgefunden hatte, war sie voller Sorge wieder zurückgelaufen, um ihn zu suchen. Im Hof der Ahnen waren ihr sofort die Stiefel aufgefallen, die auf dem Wasser des Taufbeckens trieben, und daneben eine kleine schwarze Kugel – der Kopf ihres Schützlings. Zunächst glaubte sie allerdings, dass er sich einen Spaß daraus machte, in dem Becken herumzuplanschen.

 

Im Hof des kleinen Mädchens zündete Mary ein Licht an und legte Yong Sheng auf ihrem großen Holzbett ab.

Der Junge öffnete die Augen und schloss sie sogleich wieder. In seinen Ohren dröhnte es, als ginge die Sintflut über die Erde. Nach und nach aber wandelte sich das Rauschen gewaltiger Wasserstürze in das Gurgeln eines Gebirgsbachs, das immer leiser wurde, bis nur mehr zu hören war, wie ein feiner Strahl Milch auf einen silbernen Kelch traf. Als auch dieser letzte Ton allmählich verklang, drang Marys Stimme zu ihm durch, sie las ihm aus Robinson Crusoe vor. Er liebte es, wenn sie ihm vorlas, und mit einem Mal erinnerte er sich daran, dass ihm der Mann aus dem Graben schon in einer ihrer Bibelgeschichten begegnet war. Er drückte seine Nase in das Kopfkissen, in der Hoffnung, etwas vom Duft der Milch wiederzufinden.

Mary war gerade bei der Liste der Dinge angelangt, die Robinson aus dem Wrack eines untergegangenen Schiffs geborgen hatte – Dinge, die er den Klauen des Meeres entrissen, Dinge, die ihm der Himmel geschickt hatte – und die er auf seine einsame Insel mitnehmen wollte. Die Namen der Gegenstände waren wie heilige Worte in Yong Shengs Ohren: Kohleneimer zum Beispiel. Mary las ihm die Wörter nicht einfach nur vor, sie sang sie wie das schönste aller Lieder, und gehüllt in den Duft ihrer Milch prägten sie sich für immer in sein Gedächtnis ein. Er lag auf einem fadenscheinigen Baumwolllaken, auf dessen blauem Grund zwei ausgeblichene Kindergestalten zu erkennen waren. Das größere Kind hatte ein Lotusblatt voll Wasser in der Hand, mit dem es den Kopf des kleineren begoss. Der Künstler hatte das tropfende Wasser mit kleinen weißen Strichen dargestellt, die unter Yong Shengs Blick zu Spritzern aus Marys Brust wurden, die den Mund des Gekreuzigten trafen. Der Junge erinnerte sich, wie frisch und rosig die dunklen Brustwarzen seiner Lehrerin ausgesehen hatten, als die Milch versiegte.

Sie erklärte ihm, dass die Figur, die er in der Kapelle entdeckt hatte, Jesus Christus zeigte. Vor wenigen Monaten war das Schiff, auf dem sich ihr Mann befand, von einem deutschen U-Boot bombardiert worden. Niemand hatte überlebt, zwischen den Wrackteilen aber hatten französische Soldaten diese Statue gefunden, die Mary mit Genehmigung der Admiralität behalten durfte.

„Denk immer daran: Was man nach einer Katastrophe aus den Trümmern rettet, wird zum größten Schatz der Welt.“

Dai Sijie

Über Dai Sijie

Biografie

Dai Sijie, geboren 1954 in der Provinz Fujian in China, wurde von 1971 bis 1974 im Zuge der kulturellen Umerziehung in ein Bergdorf geschickt. Nach Maos Tod studierte er Kunstgeschichte und emigrierte 1984 nach Paris. „Balzac und die kleine chinesische Schneiderin“, sein erster Roman, wurde ein...

Interview mit dem Autor mit Dai Sijie

Ihr neuer Roman spielt zu einem großen Teil im Dörfchen Jiangkou in der Nähe der Stadt Putian, wo Sie geboren sind. Und Ihr Großvater diente Ihnen als Vorbild für die Hauptfigur Yong Sheng …

Putian ist eine Küstenstadt in der südchinesischen Provinz Fujian. Wie alle Küstenregionen ist Fujian besonders offen für fremde Einflüsse, denn Neues kommt häufig übers Meer. Auch Glaubensrichtungen und Religionen. Auf diese Weise ist mein Großvater zum ersten chinesischen Pastor geworden. Und wie unser Protagonist Yong Sheng hat er all die großen Umwälzungen Chinas im vergangenen Jahrhundert miterlebt … Er hatte ein sehr bewegtes Leben.

Das alte China erscheint in Ihrem Buch dagegen sehr arm, aber durchaus lebensfroh?

Ja, sogar in sehr harten Zeiten bleibt das chinesische Volk lebensfroh – zumindest die Chinesen aus dem Süden des Landes. Über die Nordchinesen heißt es, sie seien ein bisschen steifer. Man sagt allen Chinesen allerdings eine gewisse Nostalgie in Hinblick auf die vorrevolutionäre Zeit nach. Das aktuelle Streben nach wirtschaftlicher Effizienz um jeden Preis ist auf gewisse Weise sogar noch brutaler, alles Zwischenmenschliche wird auf Geld reduziert. Vor der Revolution war vieles noch ein bisschen menschlicher, es gab diese zarte Schönheit und das Glück

Es gibt einige Szenen in Ihrem Roman, in denen wir in einen magischen Realismus eintauchen.

Manchmal sogar in eine geradezu burleske Magie. Der magische Realismus verträgt sich sehr gut mit dem chinesischen Wesen. Ich wollte schon immer einmal über meinen Großvater schreiben, aber erst an dem Tag, an dem mir die Szene mit dem Aguilar, dem Weihrauchbaum, eingefallen ist, dessen Duft die Teilnehmer einer politischen Versammlung in ein kollektives Delirium versetzt, hat die Arbeit an meinem Roman richtig Fahrt aufgenommen.

Pressestimmen
Deutschlandfunk Kultur „Lesart“

„Die dramaturgische Kunst des Erzählers zeigt sich nicht in den Wendungen des Geschehens, die sind vorgegeben, sondern in der Art und Weise, in der ihnen eine übers Biografische hinausgehende poetische Dimension erschlossen wird. Das gelingt in den verschiedenen Lebensphasen dieser sehr langen Reise unterschiedlich intensiv und blüht erzählerisch vor allem dann auf, wenn Dai Sijie Bilder findet, die seine beiden großen Themen sinnfällig werden lassen.“

Stern

„Daj Sijie öffnet wieder einmal die Tür in eine ferne Welt.“

buecheratlas.com

„All das ist lebendig und beeindruckend. Einen Schuss Poesie gibt es obendrein. So durchzieht das ganze Buch das Pfeifen der Taubenflöten.“

Gala

„Wieder gelingt es Sijie, der harten Realität Magie einzuhauchen.“

Münchner Kirchenradio

„Ein gewagtes und lesenswertes Unterfangen“

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