Die Legenden der Albae (Die Legenden der Albae 0) Die Legenden der Albae (Die Legenden der Albae 0) - eBook-Ausgabe
Die Vergessenen Schriften
„Abwechslung ist für Kenner von Heitz' Fantasy-Universum garantiert.“ - Saarbrücker Zeitung
Die Legenden der Albae (Die Legenden der Albae 0) — Inhalt
SPIEGEL-Bestseller-Autor Markus Heitz führt alle Fans der Albae in fantastische Abenteuer und enthüllt die Geschichten, die in den Romanen noch nicht beleuchtet wurden. Diese Erzählungen künden von den Eroberungen der Dorón Ashont, Horgàtas Kampf gegen die Elbinnen, den Zeitaltern der Niederlagen und Siege. In „Die Vergessenen Schriften“ werden Geheimnisse gelüftet, Schicksale geklärt und von legendären, vergessenen Taten der dunklen Geschöpfe berichtet.
Leseprobe zu „Die Legenden der Albae (Die Legenden der Albae 0)“
Dies sind die Vergessenen Schriften.
Sie erzählen von den bekannten und unbekannten Helden meines Volkes.
Von den größten Geschichtenwebern, den herausragendsten Künstlern.
Aber auch von den schrecklichsten Feinden und den innigsten Freunden.
Legenden, Geschichten, Märchen, Gedichte, Lieder
– sie wurden von mir gesammelt, dem Untergang entrissen und bewahrt, damit sie nicht gänzlich verloren gehen.
Wir Albae mögen unsterblich sein, und doch können wir vergessen werden.
Du, der diese Werke liest, schließe sie in dein Herz und halte sie. Halte sie sicher, trage [...]
Dies sind die Vergessenen Schriften.
Sie erzählen von den bekannten und unbekannten Helden meines Volkes.
Von den größten Geschichtenwebern, den herausragendsten Künstlern.
Aber auch von den schrecklichsten Feinden und den innigsten Freunden.
Legenden, Geschichten, Märchen, Gedichte, Lieder
– sie wurden von mir gesammelt, dem Untergang entrissen und bewahrt, damit sie nicht gänzlich verloren gehen.
Wir Albae mögen unsterblich sein, und doch können wir vergessen werden.
Du, der diese Werke liest, schließe sie in dein Herz und halte sie. Halte sie sicher, trage sie weiter.
Verkünde sie und lasse sie erklingen.
DAS ist wahre Unsterblichkeit !
Die Vergessenen Schriften,
gesammelt und aufgezeichnet von
Carmondai
dem Meister in Bildnis und Wort
Inhalt
Das Meisterstück
Die Klinge Tadellos
Die Inagsàri
Von den Dorón Ashont und wie sie uns schlugen
Das einmalige Werk
Die Aufgabe
Von Horgàta und Narósil und was ihnen widerfuhr
Der Nachtmahr
Das Bild der Dunkelheit
Von Arviû und was ihm alles gelang
Wie Arviû seine Helfer fand und band
Wie Arviû zur wahrhaften Legende zu Lebzeiten wurde
und den Grundstein für eine trügerische Allianz legte,
die einst zum Tragen kommen sollte
Die Stimme der vier Winde
Von den Zhadár und wie sie entstanden
Die Ode an die Zehn
Die drei Pfeilspitzen
Von Elben, Botoikern und einem Ghaist
Der Knochenbaum
Über die Barbaren
Die Unverstandene
Die Laute mit den acht Saiten
Leben und nicht leben lassen
Was Liebe bewirken und anzurichten vermag …
Über den Sinn der Kunst
Von Elben, Botoikern und einem Ghaist
Glossar
Es gibt kein Leben,
ohne den Tod,
es gibt keine Sonne,
ohne den Mond.
Es gibt keine Nacht,
ohne die Sterne,
es gibt kein Nah,
ohne die Ferne.
Es gibt keine Wahrheit,
ohne die Lüge,
und falls doch,
heißt dies nur
dass ich
betrüge.
Das Meisterstück
Es gab im alten Dsôn einst eine geheime Organisation aus den Jungen unseres Volkes, die sich Tyvoi nannte.
Sie war mit ein Grund, weswegen die Unauslöschlichen eine Garde auf die Straßen schickte, bei Sonne und bei Mond, obwohl es keine Feinde im Albaereich zu fürchten gab.
Ich erfuhr nur sehr wenig über die Tyvoi, die sich bei ihren Treffen maskiert einfanden und niemals ihre wahren Züge preisgaben. So vermochte niemand einen oder eine andere zu verraten.
Es mag tausende Geschichten über sie zu erzählen geben, aber nur diese eine Anekdote erreichte mich, ohne dass ich weiß, wann sie sich zutrug …
Ishím Voróo ( Jenseitiges Land ), Albaereich Dsôn Faïmon, Dsôn, Sommer
Cothóra eilte die enge, tiefnächtliche Gasse entlang, ihr dunkelgrau, schwarz und dunkelblau gemusterter Umhang wehte leicht hinter ihr her. Vor dem Hintergrund der meisten Gebäude in der Hauptstadt verschmolz sie aufgrund des Mantels mit den Mauern, ohne dass sie auf die albische Kunst der Schatten zurückgreifen musste. Es erleichterte vieles, wenn man nicht ständig Dunkelheit um sich aufrechterhalten musste.
Ich siege. Oh, Samusin, ich werde sie alle verblüffen ! Die junge Albin kicherte, während sie die schwarze Maske aus Samt anlegte, welche um die Augen, über der Stirn und an den Wangen hinab bis zum Kinn lag. Als Erkennungszeichen trug sie einen Smaragd oberhalb des rechten Auges auf der Außenseite der Larve. Er gab ihr auch ihren Namen innerhalb der Tyvoi: Maràkata, die alte Bezeichnung für Smaragd.
Cothóra blieb stehen, als sie ein leises Geräusch hörte. Die Garde. Jetzt schon ?
Weil sie es nicht mehr zurück zum Ausgang des Sträßchens schaffen würde, ehe die Soldaten in die Gasse traten, sprang sie nach rechts, anderthalb Schritte in die Höhe gegen die Wand, nutzte eine Fuge zum Abdrücken, katapultierte sich nach links und weiter an der Mauer empor, stieß sich erneut ab und erreichte mit einem beherzten Sprung die untere Dachkante.
Cothóras behandschuhte Finger schlossen sich um die Abwasserrinne, und mit einer schwungvollen Pendelbewegung gelangte sie auf die Schindeln. Hier bin ich in Sicherheit.
Gleichzeitig marschierte die Garde in die Gasse: fünf Krieger unter Führung eines Gardanten; die Bewaffnung bestand aus Kurzstöcken, Unterarmschilden und Dolchen. Diese kleine Einheit kam überwiegend in den engen Straßen der Stadt zum Einsatz.
Cothóra sah ihnen grinsend dabei zu, wie sie ahnungslos unter ihren dunkelbraunen Augen vorbeiliefen. Dabei suchen sie uns bestimmt.
Die Tyvoi existierten nicht in den Gedanken der herkömmlichen Albae. Und das musste auch so bleiben.
Die Unauslöschlichen wussten von den dreisten, jungen Dieben und Diebinnen; auch mancher Gardant kannte sie, nachdem er einen oder eine von ihnen durch Dsôn gejagt hatte.
Wurde ein Tyvoi gefasst und als solcher erkannt, galt er als besonders aufmüpfiger und gefährlicher Dieb.
Er kam mit einer zunächst harmlosen Strafarbeit davon, was das Fegen von öffentlichen Plätzen, das Ausmisten von Gardeställen oder die Arbeit auf einer Inselfestung zur Folge hatte.
Jedoch erwartete ihn Züchtigung an jedem Moment der Unendlichkeit, solange er seine Strafarbeit verrichtete.
Cothóra hatte von Tyvoi gehört, denen die Haut in Streifen sowie das rohe Fleisch vom Rücken hing. Selbst nach Teilen ihrer Unendlichkeit litten sie Schmerzen wegen der Prügel in ihrer Jugend.
Die Albin war sich der Gefahr bewusst, in der sie schwebte, solange sie der Organisation angehörte, in der die Aufsässigen zusammenfanden und im steten Wettstreit zueinander standen. Es ging nicht um das Erlangen von Reichtum, sondern einzig um Einfallsreichtum, Wagnis und Dreistigkeit.
Doch sie konnte nicht anders. Es kribbelte in Cothóra, auf die Jagd zu gehen und mit ihrer Ausbeute jeden anderen Tyvoi auszustechen, um die Trophäe zu erlangen. In diesem Zehnt würde es ihr gelingen, sie spürte es.
Einer der Gardisten stieß einen Pfiff aus und blieb stehen, die Einheit kam zum Halten.
Er bückte sich und hob etwas auf, das er zwischen den weißen Knochenperlchen gefunden hatten. Der Gardant eilte zu ihm und bekam den handtellergroßen Gegenstand überreicht, der im Schimmern der Gestirne rötlich aufleuchtete.
Das ist mein Medaillon. Cothóra überlief ein kalter Schauder. In den Händen der Garde wäre ihre Beute nutzlos und sie dem Spott der Tyvoi ausgeliefert.
Der Gardant drehte und wendete das Schmuckstück aus Gold mit Runen aus Rubinsplittern, das noch vorhin in einer Panzertruhe mit acht Schlössern im Tempel von Samusin aufbewahrt worden war. Die Verblüffung stand dem Befehlshaber ins Antlitz geschrieben.
Dabei lief es bislang so gut. Cothóra seufzte. Sie war keine Kämpferin und nicht auf eine Auseinandersetzung mit den Kriegern vorbereitet. Ihr blieb einzig die Überraschung und ihre Wendigkeit. Samusin scheint mich besonders auf die Probe stellen zu wollen.
Cothóra richtete sich auf, pirschte auf dem Dach entlang, bis sie sich genau über der Garde befand, und kniete sich hin. Ich werde die Trophäe zurückbekommen.
Mit diesem Gedanken glitt sie in die Tiefe, die Füße voran, auf die Schultern des Gardanten zielend.
Der Alb unter ihren Sohlen wurde gestaucht, sodass er mit einem leisen Schrei zusammenbrach und das Medaillon fallen ließ; leise raschelnd sank es in die Perlen, aus denen es geborgen worden war.
Die Wachen brauchten keinen halben Herzschlag, um sich von ihrer Überraschung zu erholen – als hätten sie das Auftauchen einer Tyvoi erwartet.
Sie zückten die Kurzstöcke und drangen auf die Albin ein, wobei die Gasse nur zwei Angreifer gleichzeitig nebeneinander erlaubte, ohne dass sie sich gegenseitig bei ihren Hieben trafen und verletzten.
Cothóra trug keine Waffen mit sich, was ein wichtiger Punkt im Kodex der Vereinigung war. Das Messer diente ihr als Werkzeug und nicht, um damit Albae zu töten.
Den heranschießenden Stock fing sie mit einem Mantelwirbeln ab, das Holz wickelte sich in eine Falte und saß fest; dem zweiten wich sie aus und versetzte dem Angreifer aus Verzweiflung einen Schlag mit dem Handballen gegen die Stirn.
Sein Helm fing viel von der Wucht ab, doch es reichte aus, um den überrumpelten Soldaten auf die Knochenperlchen zu schicken.
Cothóra trat dem ersten Gardisten gegen die Rüstung und trieb ihn rückwärts gegen die verbliebenen drei, sodass ihr die Zeit blieb, das Medaillon aus den weißen Kügelchen zu wühlen. Da ist es ! Erleichtert schnappte sie nach der Scheibe. Wie konnte ich es nur verlieren ?
Die Gardisten griffen erneut an.
Wieder nutzte Cothóra ihre schnell geschwungenen Mantelschöße zur Abwehr der Stöcke, dann trieb sie einen Ellbogen mit Härte gegen das Kinn des Vorderen, drehte sich unter der Attacke seines Nebenmannes weg und rammte ihm das Knie in den Schritt.
Dafür bekam Cothóra einen Kurzstock gegen die linke Schulter, die sogleich wie Feuer brannte und sich taub anfühlte. Das abgerundete Ende bohrte sich schmerzhaft in die Magengrube, was neue Pein hervorrief.
Sie sackte leise ächzend in die Knie, womit sie dem nachfolgenden Schlag gegen ihren Kopf durch Zufall entkam.
Nur weg ! Mit einer geistesgegenwärtigen Rolle vorwärts entging sie den zugreifenden Fingern eines Gardisten, warf sich nach links und hörte das Zischen einer weiteren Stockattacke.
Cothóra sprang auf die Beine, hetzte taumelnd die Gasse entlang und bog nach rechts ab, während sie hinter sich die Alarm-Pfiffe der Wache hörte, die nach Verstärkung rief. Sie wussten, dass sie die ungepanzerte, schnellere Tyvoi nicht mehr einholen würden.
Die Albin hatte das Gefühl, an der Schulter von einer Klinge getroffen zu sein, doch es quoll kein Blut hervor. Die Nerven spielten ihr einen Streich; ihre rechte Hand umklammerte das Medaillon, weil die linke sich als Auswirkung des Hiebs kaum bewegen ließ.
Das Ziehen im Magen, wo das Stockende sie getroffen hatte, wurde übermächtig. Gurgelnd schoss ihr das Essen die Kehle hinauf.
Cothóra hielt mitten im Laufen inne und übergab sich, stützte sich an der Mauer ab und rang mit dem Schwindel. Und doch musste sie grinsen, spuckte aus und rückte die Maske zurecht. Ich habe meine Beute wieder. Das war es wert.
Sie rannte weiter und tauchte tiefer in den Bereich von Dsôn, in dem die Gassen noch enger und verwinkelter waren.
Cothóra wusste, dass sie die Versammlung erreichen würde. Kein Gardist bekam eine geschickte Tyvoi wie sie in diesem Wirrwarr zu fassen.
Cothóra erreichte die Stelle mit dem geheimen Durchgang unter der Blutbrücke.
Sie sah sich hastig um, dann zog sie den Schlüssel, der in die zweite Fuge von unten geschoben werden musste, wo sich das Schloss verbarg.
Mit ein wenig Stochern gelang es ihr, den Mechanismus zu entsperren und sie drückte den Durchgang auf, hinter dem ein langer Gang wartete, in dem Öllampen an den Wänden brannten.
Cothóra huschte hinein, die Mauer schloss von selbst hinter ihr.
Um den Korridor unbeschadet passieren zu können, durfte sie beim Gehen nur auf bestimmte Bodenplatten treten, sonst wurden Fallen ausgelöst.
Bislang hatte es die junge Tyvoi stets geschafft, nicht Opfer des Abwehrmechanismus zu werden, aber sie hatte gehört, dass sich Fallgruben öffneten, Wasser hereinflutete oder man an Schlingen in die Höhe gezogen wurde.
Das wäre mir zu viel Spott. Cothóra gelangte an das Ende des Ganges und zog den Schlüssel erneut, um dieses Mal das Schloss in der zweiten Fuge von oben zu entriegeln, dann trat sie in die Versammlungshalle.
Mit einem Blick erfasste sie, dass sie als Letzte eintraf.
Die mehr als dreißig Tyvoi, die es in Dsôn gab, standen und saßen in dem runden Raum, der mit einem Durchmesser von zwanzig Schritte und seiner Kuppelform an einen Tempel erinnerte. Die maskierten Albae unterhielten sich, es wurde gelacht und gescherzt.
Einige sahen auf und wandten sich um, nickten oder prosteten ihr mit den Bechern zu. Keine Maske sah aus wie die andere, dazu kamen die besonderen Merkmale wie Edelsteine, Muster oder Markierungen. Niemand kannte die wahren Namen dahinter.
Auf aufwendige Kleidung verzichteten die Tyvoi; man trug schlichte Gewänder, die bequem und praktisch waren. Die Diebe versammelten sich nicht, um mit kostbaren Stoffen anzugeben.
Gepolsterte Stühle, Sessel und Bänke luden zum Verweilen ein. Im großen Kamin brannte ein Feuer, um die Kühle zu vertreiben, die trotz des Sommers herrschte. Im Mittelpunkt des Kuppelraumes stand eine große Tafel, an der sämtliche Tyvoi zum Beratschlagen und Feiern Platz fanden.
Cothóra erwiderte den Gruß, anschließend hob sie den Kopf und lächelte in das warme Licht, das sie von allen Seiten umschmeichelte.
In den mit poliertem Blattgold verkleideten Wänden befanden sich rundum kleine Nischen, in die Tafeln mit den Namen der Besten eingelassen waren. Der gewaltige Leuchter, in dem zehn Ölfackeln steckten, schwebte in der Mitte etwa sieben Schritte über dem Boden, die Feuer brannten rauchlos und verbreiteten den schwachen Geruch von Kräutern.
Cothóras Blick wanderte hinüber zur diamantverzierten Trophäe in Form einer Maske, die dem oder der Tyvoi gebührte, die den wertvollsten Fang mit in die Versammlungshalle brachte. Oh, ja. Leuchte und glitzere. Bald darf ich dich für mich beanspruchen.
Zwei laute Schläge erklangen, die mit einem metallischen Klirren einhergingen.
Cothóra sah hinüber zu Nâgal, dem Alb mit dem Zeremonienstab, der aus Schwarzholz gemacht war und bis an die Schulter reichte; Intarsien aus weißem Gebein und eine silberne Spitze verliehen ihm etwas sehr Edles, ein Ring aus schwarzen Onyxen bildete den oberen Abschluss.
Die Gespräche verstummten abrupt.
„ Da nun Maràkata ebenfalls zu uns gestoßen ist “, rief der älteste Alb im Saal deutlich, „ kann die Bewertung der Beutestücke beginnen. Tretet vor “, die Spitze deutete auf die lange Tafel, „ und zeigt, was ihr genommen habt. Berichtet, wem ihr es nahmt und wie sich das Ganze zutrug. Ich werde bewerten, welches das Wertvollste ist. “ Nâgal begab sich an den langen Tisch und setzte sich.
Diamàs, eine Albin mit kurzen, grauen Haaren und einer in dunkelrot gehaltenen Maske mit schwarzem Emblem, machte den Anfang und zog eine vergoldete Speerspitze aus dem Beutel.
Cothóra zog die Augenbrauen hoch, was natürlich keiner sehen konnte, und doch war sie sich sehr sicher, dass andere Tyvoi ihr Gefühl der Überraschung teilten. Ist das … die Speerspitze des Tion-Standbildes ?
Der Platz, an dem sich die elf Schritte hohe Statue des finsteren Gottes erhob, war bei Tag und Nacht belebt, hierher kamen die unbekannten Dichter, die ihre schönen Worte und Verse unentgeltlich an die Einwohner vortrugen, weil sie hofften, von der Masse entdeckt zu werden. Es gab sogar Künstler, die ihre Gedichte nur bei Dunkelheit rezitierten, weil sie die größte Wirkung entfalteten. Wie gelang ihr das ? Es ist unmöglich, nicht von der Garde bemerkt zu werden.
Diamàs legte die Speerspitze vor Nâgal ab, dann stieg sie auf einen Sessel, damit sie besser gesehen und gehört wurde. „ So vernehmt meine Geschichte, geschätzte Tyvoi ! “, sprach sie und konnte ihre Siegessicherheit in der Stimme kaum verbergen.
Cothóra hörte der Albin kaum zu. Das Medaillon hatte sie aus dem stark besuchten Samusin-Tempel entwendet, und es war ihr sehr leicht gefallen. Sie hatte eine Pause zwischen den Gebeten abgewartet, in der die Gläubigen zum Essen und Trinken das Gebäude verließen. Das Tor, aus dem Wächter zu Sicherung kamen, hatte sie zuvor sorgfältig verkeilt. Für die Truhe mit den acht Schlössern hatte sie nicht lange gebraucht.
Das darf ich so nicht erzählen. Sie legte sich eine neue Geschichte zurecht, wie sie an das Medaillon gekommen war, und schmückte das Ganze gedanklich aus, um mehr Eindruck zu machen. Bei aller Meisterlichkeit der Kunst des Stehlens, war die Darbietung der Geschichte vor der Versammlung ein wichtiger Bestandteil. Nâgal würde genau hinhören und am Ende vielleicht nachfragen. Eine gute Lüge durfte keine Schwächen offenbaren.
„ … gelang es mir, Tions Speerspitze zu stehlen “, schloss Diamàs und sprang auf den Steinboden zurück.
Applaus brandete auf, der recht ordentlich ausfiel, aber nicht überschwänglich. Die Tyvoi nahmen es ihr übel, dass sie sich bereits als Trägerin der Trophäe präsentierte.
Als nächstes ging Moìgok zur Tafel und nahm beinahe verschämt eine schwarze Haarnadel aus Tionium hervor, an der Diamantsplitter glitzerten. „ Dies bringe ich “, hob er an und berichtete stehend und stockend mehr an Nâgal denn zur Versammlung gewandt, wie er einer bekannten Sängerin ihren Glücksbringer entwendet hatte. Moìgok war mit seiner Erzählung viel zu schnell am Ende, um Eindruck zu machen, so bekam er mitleidigen Höflichkeitsbeifall.
Zwei Tyvoi zogen sich ganz zurück und verzichteten darauf, ihre Beute zu weisen. Sie wussten, dass es gegen Diamàs nicht ausreichte, und bevor sie sich wie Moìgok blamierten, ließen sie es ganz sein.
Cothóras Hände wurden kalt und schweißnass. Ihre Aufregung stieg.
Sie spürte den Blick des ältesten Albs auf sich, was eine Aufforderung war, an den Tisch zu treten. Die Schmerzen im Magen und an der linken Schulter brannten nach wie vor.
„ Maràkata, was brachtest du uns ? “, wandte sich Nâgal an sie und zeigte mit der Silberspitze des Stabes auf sie. „ Nur nicht schüchtern. “
Cothóra räusperte sich und legte das Schmuckstück neben Tions Speerspitze, was ein Raunen auslöste. Somit traten zwei Götter in Wettstreit miteinander. Gott des Windes und des Ausgleichs, leite meine Zunge und meine Worte recht.
„ Geschätzte Tyvoi “, rief sie und sprang ebenfalls auf den Sessel, wie es Diamàs getan hatte. „ Ich bringe euch das Medaillon von Samusin, das er in der Schlacht von Ushónai dem Scheusal Tros’hkál entriss, das als Tions bester Krieger galt “, rief sie und reckte sich. „ Vernehmt die Geschichte, wie es mir gelang, die Heerscharen von Gläubigen zu übertölpeln, die Priester zu täuschen und die Wächter abzuschütteln, die mir auf den Fersen waren. “ Sie zog ihr Gewand an der Schulter nach unten und wies auf den dunkelblauen Fleck. „ Um ein Haar hätte ich meine Unendlichkeit verloren. “
Nun richteten sich alle Augenpaare auf sie. Die Feindseligkeit, die Diamàs verströmte, lag regelrecht als ätzender Duft in der Hallenluft.
Cothóra redete und redete, dachte sich immer neue Wendungen aus, bis sie nicht mehr weiter wusste. Sie hatte kein Gefühl, wie lange sie sprach, doch es erschien ihr endlos. Als sie auf den Boden zurücksprang, klatschten die Tyvoi begeistert und ein bisschen mehr als bei Diamàs.
Nâgal nickte ihr zu und schrieb mit seiner Feder auf das Blatt vor sich. „ Der nächste möge vortreten. “
Cothóra zog sich von der Tafel zurück, Acátor reichte ihr einen Becher mit Wein, den sie gierig hinabstürzte und den er mit einem leisen Lachen auffüllte.
„ Du könntest die Trophäe erringen “, raunte er ihr zu und berührte sie an der unverletzten Schulter. „ Eine Meisterin der Lüge und des Stehlens. “
Sie lächelte ihm dankbar zu und freute sich über seinen Zuspruch. Schweiß rann ihr den Rücken hinab. Das war anstrengender gewesen als die Flucht vor der Garde.
Ôpailos trat nach vorne und ging bereits theatralisch wie ein Mime. Sein wiegender Schritt, das Biegen des Oberkörpers nach rechts und links sorgte für leise Belustigung. Dann riss er vor der Tafel die rechte Hand ruckartig in die Höhe und hielt etwas zwischen Daumen und Zeigefinger, das er mit großer Geste vor Nâgal auf dem Tisch ablegte.
Cothóra konnte nicht erkennen, was das sein sollte. Entweder es ist unsichtbar oder meine Augen sind unsagbar schlecht. Da aber auch der Älteste ein verdutztes Gesicht machte, schien sie nicht die Einzige zu sein, die sich wunderte.
Das Raunen wurde lauter.
„ Verehrte Tyvoi “, rief er, sprang auf den Sessel und von dort auf die Tafel. „ Ich präsentierte euch: ein Haar von Nagsar Inàste ! “ Nun riefen alle durcheinander. Nur das laute Klopfen mit dem Zeremonienstab konnte die Ruhe in die Halle zurückzwingen.
„ Glaube mir, Ôpailos “, sagte Nâgal, „ ich bin sehr neugierig auf deine Geschichte. “
„ Oh, das darfst du. Es ist ein Diebesstück der besten Sorte, mit allem, was es braucht, um legendär zu sein. “ Der Alb breitete die Arme aus und drehte sich aufmerksamkeitsheischend um die eigene Achse. „ Ihr werdet mir danach die Trophäe aufzwingen. Ich verwette darauf sogar meine Unendlichkeit. “ Dann begann Ôpailos mit glühendem Eifer zu berichten: von der Beobachtung des Beinturms, von seinem Eindringen, von den unzähligen Fallen, von den blinden Wächtern, die ihn hetzten, von der Schönheit Nagsar Inàstes, die er in einem Spiegel sehen durfte, von der Einrichtung ihres Schlafgemachs, von seiner Flucht und seinem Sturz am Turm hinab und der Jagd quer durch Dsôn.
Cothóra hing an seinen Lippen. Das ist ein wahrer Meistererzähler, dachte sie kurz und tauchte sofort wieder in die Geschichte ein, die Ôpailos zum Besten gab.
Niemand sprach, alle lauschten und tranken, stießen sich gegenseitig an, wenn es sich doch zu ungeheuerlich anhörte. Aber keiner unterbrach den Tyvoi, der sich mehr und mehr steigerte, um zum Abschluss seiner Schilderung zu kommen.
„ So eilte ich zu euch. Lebendig. An einem Stück. “ Ôpailos lachte und stampfte mit dem Fuß auf den Tisch, sodass Speer und Medaillon klirrend hopsten. Seine Miene nahm einen schelmischen Ausdruck an, während er seine Kumpanen betrachtete. „ Und soeben gelang es mir, den größten, den besten, den einmaligsten Diebstahl zu begehen. Vor euer aller Augen “, setzte er hinzu. „ Denn nach nichts anderem trachtete ich. “ Wieder drehte er sich um sich selbst. „ Ich bestahl euch ! Jeden Einzelnen und jede Einzelne. “
Mich auch ? Sofort tastete Cothóra an sich herum. „ Bei mir versagtest du “, rief sie sofort. „ Mir fehlt nichts. “
„ Mir auch nicht “, stimmte Acátor ein; nach und nach gesellten sich die zweifelnden Stimmen der anderen hinzu.
Nâgal blickte zu dem Tyvoi hinauf. „ Ich verstehe, dass du uns zum Narren halten wolltest, aber noch sehe ich nicht, worauf es hinausläuft. “
„ Nun, da ich euch nicht das Haar von Nagsar Inàste bringen konnte … “, setzte er an und wurde unverzüglich von Diamàs wütend unterbrochen.
„ Damit bist du nicht nur aus dem Wettstreit um die Trophäe “, rief sie, „ sondern wirst auch aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. “ Sie starrte zu Nâgal. „ Sag es ihm ! Auch wenn die Geschichten von der Erbeutung ausgeschmückt werden dürfen, ein Tyvoi muss stets seine Eroberung vorweisen. “ Diamàs reckte das Kinn.
Schade. Aber sie ist im Recht. Cothóra bedauerte die Wende. Doch was meinte er damit, als er davon sprach, dass er uns bestahl ?
Dass Ôpailos schallend lachte, verwunderte die Albae. Es schien ihn nicht zu kümmern, dass ihm die Mitgliedschaft entzogen wurde. „ Oh, ich behauptete niemals, dass ich das Haar hatte. “
„ Doch “, keifte Diamàs und eilte auf ihn zu. „ Steig vom Tisch herab, damit ich … “
Der Alb ging lässig in die Hocke und sah die Aufgebrachte erheitert an. „ Ich sagte ich präsentierte euch, und das war ganz bewusst die Möglichkeitsform. Anschließend unterhielt ich euch mit meiner Fassung, wie der Diebstahl wohl verlaufen wäre, hätte ich ihn tatsächlich begangen. “ Er legte einen Finger gegen das Kinn und tippte dagegen. „ Und damit bestahl ich dich, Cothóra und Acátor sowie alle Tyvoi in dieser Halle. “ Er wandte sich an Nâgal. „ Sogar dich. “ Er zwinkerte. „ Außerdem kann ich gar nicht ausschließen, dass es kein Haar der Unauslöschlichen ist. Ich fand es in der Nähe des Turms. Mag sein, dass Samusin es mir sandte. “
Wieder wurde es laut in der Halle. Die Tyvoi rätselten über den merkwürdigen Auftritt.
Cothóra tastete sich erneut ab. Nein, es fehlt nichts, befand sie – und stutzte. Ihr Götter ! Aber natürlich. Sie prustete und klatschte langsam Beifall, wurde immer schneller und lachte laut, sodass sich alle zu ihr umwandten.
„ Mir scheint, bei einer hatte er Glück “, kommentierte Diamàs schneidend. „ Er entwand Maràkatas Verstand. “
Cothóra beruhigte sich allmählich und stellte den Applaus ein, während Ôpailos und auch Nâgal neugierig zu ihr blickten. „ Ich fand die Lösung “, verkündete sie und zeigte auf den Tyvoi. „ Ich sah mich heimlich bereits mit der Trophäe nach Hause gehen, doch nun kann ich nicht anders als zu fordern: Lasst sie ihm. “ Sie senkte den Arm, danach andeutungsweise ihr Haupt. „ Ôpailos stahl uns allen: Zeit. “
Der Tyvoi grinste sie an. „ Du bist eine gute Tyvoi, Cothóra, und dazu noch klug. Genau das tat ich, und ich muss gestehen, dass ich niemals zuvor aufgeregter war als vor diesem Diebeszug. Denn wie kann man die Meister des Stehlens hintergehen, ohne dass sie es bemerken ? “ Er erhob sich und verneigte sich in alle Richtungen, dann sprang er vom Tisch und landete genau vor Diamàs, die ihn fassungslos anstierte. „ Es war mir ein großes Vergnügen. “
Die schweigenden Tyvoi betrachteten Ôpailos, als sei er ein hässliches Scheusal, das wie aus dem Nichts in Dsôn aufgetaucht war und ihnen gerade erklärt hatte, dass man verwandt sei.
Der metallische Schlag, der unvermutet erklang, ließ Cothóra vor Schreck zusammenzucken, weitere folgten: Nâgal stieß den Stab rhythmisch auf die Steinplatten, steigerte von Mal zu Mal die Geschwindigkeit.
Nach und nach fielen die Albae mit Applaus ein, dann flogen erste Hochrufe zur Hallendecke hinauf.
So ein gerissener Kerl. Cothóra klatschte sich die Finger wund. Ich gönne ihm den Titel von ganzem Herzen.
Und als Nâgal die Maske aus der Nische nahm und sie feierlich an Ôpailos überreichte, der sie nun mit glücklichem, aber weniger hochmütigem Lächeln in Empfang nahm, konnte sogar Diamàs nicht anders, als Beifall zu spenden.
Cothóra atmete die Enttäuschung, dass sie leer ausgegangen war, mit einem Seufzen aus. Acátor schenkte ihr wieder Wein nach. „ Ich denke “, sagte sie und prostete über die Köpfe der Tyvoi hinweg dem Sieger zu, „ ich werde das nächste Mal bei Ôpailos einsteigen. Oder noch besser “, sie sah Acátor an, und ihre Augen verengten sich, „ ich stehle ihm die Trophäe. Dann kann ich sie gleich behalten. “
Acátor nickte. „ Da wirst du dich mit Diamàs vor seinem Haus treffen und darum prügeln müssen, als Erste hinein zu dürfen “, schätzte er.
Cothóra lachte und genoss den Wein. Es war keine einfache Sache, eine Tyvoi zu sein. Doch es ist die beste.
… ob es die Überlebenden nach dem Untergang des Sternenreichs bis nach Dsôn Balsur schafften, ob ihr Kodex nach dem Stern der Prüfung erhalten geblieben war, ob einige Tyvoi in Dsôn Sòmran überlebten und mit den Drillingen nach Tark Draan einfielen – ich weiß es nicht.
Doch nach allem, was ich vage hörte, würde es mich nicht wundern.
Schreite,
wenn du die Zeit genießt.
Laufe,
wenn du erwartet wirst …
Renne,
wenn dein Geliebter ruft.
Verharre,
wenn der Angriff naht.
Sei des Gegners Tod,
sei deren Endlichkeit.
So mag es sein,
dass du danach
über das Schlachtfeld
schreitest.
„Markus Heitz' Schreibstil ist wunderbar flüssig zu lesen und trumpft damit auf, dass er trotzdem spannend und metaphorisch schreibt. Ein weiterer gelungener Heitz-Roman, der den Albae-Fans endlich wieder Futter gibt.“
„Abwechslung ist für Kenner von Heitz' Fantasy-Universum garantiert.“
„Unzählige alte Bekannte laufen einem über den Weg und viele im Verborgenen liegende Geschehnisse werden geklärt. Eine nette Dreingabe zu den Bücherreihen über die Zwerge und Albae, die das Warten etwas verkürzt.“
„Eine rundum gelungene Kurzgeschichte, so muss Fantasy sein.“
„Ich kann den zweiten Teil der vergessenen Schriften nahezu uneingeschränkt empfehlen, da er die hervorragende Albae-Reihe mit interessanten Informationen erweitert und somit zu einer Pflichtlektüre von Markus Heitz Zwerge- und Albae-Reihe wird!“
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