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Die letzten Bisons

Die letzten Bisons - eBook-Ausgabe

Michael Punke
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Ein Mann und sein Kampf für den amerikanischen Westen

„Ein spannender Blick auf ein Stück amerikanische Geschichte, das bisher eher aus der einseitigen Perspektive von Siedlern und Abenteurern erzählt wurde.“ - Nürnberger Zeitung

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Die letzten Bisons — Inhalt

Er ist mit der Prärie und Kultur der Indianer verbunden wie kaum ein anderes Tier: der Bison. Doch im ausgehenden 19. Jahrhundert ist von den einst 30 Millionen Exemplaren nur noch ein Dutzend übrig. Denn das Land im Westen gilt als Wunderkammer, reich an Bodenschätzen und kostbaren Tieren, die von weißen Abenteurern und Jägern auf der Suche nach ihrem Stück vom Glück rücksichtslos ausgebeutet wird. Als schließlich der Naturwissenschaftler und Journalist George Bird Grinnell auf einer Zugreise mit einer Büffelherde kollidiert, steht für ihn fest, dass er die Ausrottung der stolzen Riesen verhindern muss … Ein leidenschaftlicher Kampf beginnt, der auch erstmals ins öffentliche Bewusstsein rückt, wie schutzbedürftig Amerikas einzigartige Landschaft ist. Eine packende Geschichte, die aktueller ist denn je und mitten hineinführt in den Wilden Westen.

€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 03.04.2017
Übersetzt von: Jürgen Neubauer
336 Seiten
EAN 978-3-492-97598-8
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Leseprobe zu „Die letzten Bisons“

Prolog
Der Schießstand


Nachdem ich fünfzehn Kugeln dort gesetzt hatte, wo ich sie brauchte, stand die Herde still, und die Büffel achteten gar nicht mehr auf die weiteren Schüsse.
Victor Grant Smith


 Der Jäger hob den Kopf über einen Fels und blickte hinunter in das Tal des Redwater River, wo einige Hundert Büffel standen. Der Winter 1881 in Montana war eisig, und Vic Smith fror umso mehr, als er auf dem Bauch im Schnee lag. Auf einer Decke neben ihm lagen zwei Büffelgewehre und einige Patronengurte. Smith achtete darauf, sich den Büffeln gegen den Wind zu [...]

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Prolog
Der Schießstand


Nachdem ich fünfzehn Kugeln dort gesetzt hatte, wo ich sie brauchte, stand die Herde still, und die Büffel achteten gar nicht mehr auf die weiteren Schüsse.
Victor Grant Smith


 Der Jäger hob den Kopf über einen Fels und blickte hinunter in das Tal des Redwater River, wo einige Hundert Büffel standen. Der Winter 1881 in Montana war eisig, und Vic Smith fror umso mehr, als er auf dem Bauch im Schnee lag. Auf einer Decke neben ihm lagen zwei Büffelgewehre und einige Patronengurte. Smith achtete darauf, sich den Büffeln gegen den Wind zu nähern, und hüllte sich in ein weißes Tuch, damit ihn die gut dreihundert Schritt entfernten Tiere nicht bemerkten. Eine ganze Weile lang beobachtete er sie nur. Mit erfahrenem Blick machte er die Leittiere aus, kalkulierte die Bewegungen der Herde und plante sorgfältig seinen ersten Schuss. Es war der perfekte Schießstand.
Schließlich griff Smith nach einem seiner Gewehre, öffnete den Verschluss und legte eine vier Zoll lange Messingpatrone ein. Den kräftigen Lauf über den Arm gelegt, visierte er eine alte Büffelkuh an, die er als eines der Leittiere ausgemacht hatte. Er zielte auf eine Stelle knapp vor der Hüfte, dann drückte er ab.
Der Donner des schweren Gewehrs hallte über die Prärie, und eine Wolke aus beißendem Rauch verdeckte einen Moment lang den Blick auf die Herde. Aber Smith schaute gar nicht, ob er sein Ziel getroffen hatte, er wusste es ganz einfach. Stattdessen legte er die rauchende Büchse auf die Decke neben sich, griff zur zweiten, schob eine Patrone ein und legte an. Nach jedem Schuss wechselte er das Gewehr, damit der Lauf nicht zu heiß wurde und sich verzog. Er hatte gehört, dass die Büffeljäger in Texas manchmal auf ihre Gewehre pinkelten, um sie abzukühlen, aber in Montana übernahm das der Winter.
Mit der zweiten Büchse im Anschlag blickte Smith auf und sah das erwartete Bild. Der erste Schuss hatte die Büffelkuh direkt vor der Hüfte getroffen. Damit konnte sie nicht weglaufen und stand einfach nur da, „vor Schmerz gekrümmt“, wie er später schrieb. Wie beabsichtigt, drängten sich jetzt verwirrt andere Tiere der Herde – „die Kinder, Enkel, Cousins und Tanten der Alten“ – heran, und einige beschnüffelten das Blut, das aus der Wunde troff.
Nun nahm Smith eine alte Kuh auf der anderen Seite der Herde ins Visier und richtete den Lauf auf dieselbe Stelle vor der Hüfte. Dann schoss er wieder.
Smith ging wohlüberlegt und ohne jede Hast vor. Alle dreißig Sekunden feuerte er einen Schuss ab. Jede Kugel setzte er ganz gezielt. Zunächst schoss er vor allem auf alte Büffelkühe, nur hin und wieder nahm er sich einen nervösen Bullen vor, der aussah, als wolle er die Flucht ergreifen. „Nachdem ich fünfzehn Kugeln dort gesetzt hatte, wo ich sie brauchte, stand die Herde still, und die Büffel achteten gar nicht mehr auf die weiteren Schüsse“, schrieb er in seinen Erinnerungen. Erfahrene Jäger wie Smith nannten das eine Herde „ruhigstellen“ oder „hypnotisieren“.
Eine Stunde später war das Werk vollbracht. Im Tal des Redwater River zu Füßen von Vic Smith lagen 107 tote Büffel. Im Jahr 1881 sollte er rund 4500 Tiere töten.1

Die Rettung der Büffel ist eines der großen Dramen des alten Westens. In einem tieferen Sinn markiert sie auch die Geburt des neuen Westens – eine Geburt, deren Nachwehen bis heute zu spüren sind. Im Mittelpunkt dieser Geschichte steht ein Mann, den heute kaum noch jemand kennt: George Bird Grinnell, Forscher und Journalist, Jäger und Naturschützer. Grinnell war ein Mann mit einer außergewöhnlichen Biografie, der die Abenteuer des alten Westens erlebte und den Boden für den neuen Westen bereitete.


1  Im Wilden Westen


Die Gesellschaft brach Ende Juni in New Haven auf, ihr Ziel: ein Westen, der damals noch wahrhaft wild war.
George Bird Grinnell, Memories


 Das Abenteuer, das George Bird Grinnells Leben eine Wende geben sollte, begann mit einer Eisenbahn, und die Gleise, auf denen diese Eisenbahn im Sommer 1870 über die Prärie fuhr, wurden von Büffeln versperrt.
Die neue transkontinentale Eisenbahn hielt sich, genau wie die Planwagen-Trails vor ihr, an die Täler. Die Prärielandschaft, durch die sie führte, ist alles andere als „eigenschaftslos“, wie sie so oft genannt wird. Im Gegenteil, sie hat eine alles beherrschende Eigenschaft: eine Weite, so endlos, dass sie mit nichts vergleichbar ist, was der Neuankömmling je zuvor gesehen hat. Wer wie Grinnell von der Ostküste mit ihren eingeklemmten Horizonten und grünen Parklandschaften kommt, erlebt die Prärie als Schock und völlig fremden Ort. Hinzu kam, dass der Westen im Sommer 1870 tatsächlich noch wild war.
Während die Eisenbahn über die Schienen rollte, hörte Grinnell plötzlich das Kreischen der Bremsen und aufgeregte Rufe. Er blickte aus dem Fenster und sah eine Büffelherde. Nach einem kurzen Halt trottete die Herde weiter, und der Zug setzte seine Fahrt fort. Es dauerte jedoch nicht lange, und die Lokomotive wurde von einer zweiten Herde aufgehalten. „Wir nahmen an, dass die Tiere bald vorübergezogen sein würden“, schrieb Grinnell später. „Doch es kamen immer mehr. Es waren so viele, dass wir sie nicht zählen konnten.“ Die Herde benötigte drei Stunden, um die Gleise zu überqueren. In den Anfangstagen der Eisenbahn war das Problem mit Büffeln auf den Schienen so verbreitet, dass einige Lokomotiven mit einer Dampfdüse ausgerüstet wurden, mit der sie die Tiere vertreiben konnten.
Für einen Reisenden des 19. Jahrhunderts gab es kein besseres Symbol für die Ankunft im Westen als die Büffel. Grinnell, der zwei Monate später 21 Jahre alt werden sollte, war in seinem Kindheitstraum angekommen. Es verrät viel über seine Motivation, wenn er später schrieb: „Vom Leiter unserer Expedition einmal abgesehen, hatte keiner einen anderen Grund für die Reise als die Hoffnung auf Abenteuer mit wilden Tieren oder wilden Indianern.“
Grinnell und seine jungen Begleiter erweckten zumindest den Anschein, als hätten sie sich auf Abenteuer eingestellt. Jeder der jungen Männer trug ein nagelneues Henry-Repetiergewehr, eine Pistole, mehrere Patronengürtel und ein Bowie-Messer. Außer Grinnell hatte allerdings kaum einer Erfahrung mit diesen Waffen. In Omaha waren die Männer eigens in die Prärie gegangen, „um unsere Gewehre abzufeuern“. Doch Grinnell machte sich nichts vor: „Die Mitglieder der Gesellschaft wussten rein gar nichts über den Westen und setzten alle Hoffnung auf Professor Mash.“

Die Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts hatten zwar keine Könige, aber eine Aristokratie hatten sie sehr wohl, und dank seiner Herkunft zählte George Bird Grinnell fast schon zur obersten Schicht. Der junge George konnte den Stammbaum seiner Familie bis zu den ersten englischen Siedlern und damit bis zur Mayflower zurückverfolgen. Zu seinen Ahnen gehörte Betty Alden, die erste auf amerikanischem Boden geborene Tochter der Puritaner. Während der Kolonialzeit hatten Grinnells Vorfahren zu den Stützen der Gesellschaft gezählt, aus der Familie stammten ganze fünf Gouverneure. Sein Großvater George Grinnell hatte vierzig Jahre lang als Abgeordneter im Kongress der Vereinigten Staaten gesessen.
George Bird Grinnell kam am 20. September 1849 in Brooklyn zur Welt. Er war das erste von fünf Kindern von Helen A. Lansing und George Blake Grinnell. Sein Vater hatte seine berufliche Laufbahn als erfolgreicher Kurzwarenhändler begonnen und endete als prominenter Handelsbankier – „der wichtigste Wall-Street-Händler von Commodore Cornelius Vanderbilt“.
Wenn der junge George in die Zukunft blickte, schien eine Karriere als Bankier in einer von seiner Klasse beherrschten Welt vorgezeichnet. In diese Richtung drängten ihn zumindest seine Eltern. Stattdessen sollte Grinnell eines Tages genau die Annahmen infrage stellen, auf denen diese Welt ruhte.
Die Ereignisse, die Grinnells Leben in eine andere Richtung lenken sollten, nahmen am Neujahrstag des Jahres 1857 ihren Anfang. Der Junge war gerade sieben Jahre alt geworden, als die Familie aufs Land zog. Zunächst mietete der Vater ein Anwesen, dann baute er eine Villa auf einem Landgut im Norden von Manhattan, das bis heute als Audubon Park bekannt ist. Einst war der berühmte Ornithologe und Künstler John James Audubon Besitzer des Guts gewesen. Später wurde es von New York City verschlungen und liegt heute zwischen der West 158th und der West 155th Street im Norden und Süden und zwischen dem Hudson River und der Amsterdam Avenue im Osten und Westen. Damals war die Stadt jedoch weit weg – mit dem Zug der Hudson River Railroad oder der Kutsche brauchte man anderthalb Stunden bis zur Wall Street.
Als die Grinnells nach Audubon Park zogen, war John James Audubon zwar schon seit sechs Jahren tot, doch die Familie des Künstlers lebte noch dort. Seine beiden erwachsenen Söhne Gifford und Woodhouse führten die Druckerei des Vaters weiter, und jeder lebte mit seiner Familie in einem eigenen Haus auf dem Gelände. Lucy Audubon, die Witwe des Künstlers und inzwischen eine alte Dame, wohnte bei Gifford.
Für einen Jungen war Audubon Park ein idyllischer Abenteuerspielplatz wie aus einem Druck von Currier & Ives. „In unseren ersten Tagen in Audubon Park war noch nichts von dem zu sehen, was man später als ›Fortschritt‹ bezeichnen würde“, erinnerte sich Grinnell später. „Die Felder und Wälder waren im Naturzustand.“ In großen Hainen wuchsen Tannen, Kastanien und Eichen. Aus frischen Quellen sprudelte das Wasser und lief in kleinen Bächen zum Hudson hinunter. Es gab Pferdeställe, eingezäunte Weiden für Kühe und Schweine, und Hühner, Gänse und Enten liefen frei herum. Auf dem weitgehend unberührten Land waren Rehe, Sing- und Raubvögel heimisch, und Grinnell erinnerte sich, wie sich einmal auf dem Rasen vor dem Haus drei Adler um einen Fisch balgten.
Die Kinder der Grinnells, Audubons und der wenigen anderen Familien auf dem Gut streunten frei durch Audubon Park. Grinnells Kindheitserinnerungen, die er für seine Nichten und Neffen aufzeichnete, lesen sich wie Geschichten aus Tom Sawyer – es war eine beinahe mythische Kindheit von Abenteuern und unschuldigen Streichen, unberührt von der Erwachsenenwelt. Mit Pfeil und Bogen machten sich die Kinder auf Vogeljagd, bei Ebbe sammelten sie Muscheln im Schlick des Hudson, und manchmal stahlen sie ein Huhn, „das wir heimlich über einem Feuer im Wald brieten“. Sie schwammen in Teichen und im Fluss. Bootsstege boten verlockende Sprungbretter, was dazu führte, dass sich die Fahrgäste der Eisenbahn über nackte Kinder beschwerten, die „auf Erdhügeln tanzten und sich vor aller Welt entblößten“. Grinnell und seine Freunde scherten sich nicht darum, bis ein Polizist sie in Gewahrsam nahm. „In den ein oder zwei Stunden im Gefängnis hatten wir reichlich Gelegenheit, über die Ungerechtigkeiten des Lebens nachzudenken.“ Ein Richter schickte die Kinder schließlich nach Hause.
Grinnells Fantasie versorgte ihn schon reichlich mit Ideen für Spiele mit seinen Kameraden, doch daneben fand er zusätzliche Anregung in Abenteuerromanen. Einer der beliebtesten Schriftsteller der Zeit war Thomas Mayne Reid, der heute fast vergessen ist. Reid war in den 1840er-Jahren auf der Suche nach Abenteuern aus Irland in die Vereinigten Staaten gekommen und war fündig geworden. Während des Kriegs mit Mexiko meldete er sich zur Armee, nahm an den Schlachten von Veracruz und Chapultepec teil und wurde verwundet. Nach dem Krieg begann er, Romane zu schreiben, die vor allem auf seiner Zeit im Südwesten der Vereinigten Staaten basierten. Als „Captain“ Mayne Reid schrieb er Romane wie The Scalp Hunters oder The War Trail, für die sich vor allem Jungen begeisterten – so auch der junge Grinnell. „Seine Geschichten regten meine Fantasie an“, erinnerte er sich später. Tatsächlich waren viele von Reids Helden Jungen, etwa in dem Roman The Boy Hunters: Adventures in Search of a White Buffalo.
In Audubon Park gab es zwar weder braune noch weiße Büffel, doch Grinnell fand reichlich Gelegenheit, Szenen aus Reids Büchern nachzuspielen. „Mit elf oder zwölf ging ich zum ersten Mal mit dem Gewehr auf die Jagd.“ Weil er wusste, dass seine Eltern etwas dagegen haben würden, liehen er und ein Freund sich heimlich die alte Armeemuskete des Dorfschneiders aus. Das Gewehr war größer als die beiden Jungen und so schwer, „dass keiner von uns es auf die Schulter nehmen konnte“. Sie schossen, indem sie die Flinte abwechselnd auf der Schulter des einen auflegten, während der andere abdrückte. Kein Tier war vor ihnen sicher. „Wir jagten vor allem kleine Vögel – Lärchen, Rotkehlchen, Spechte und hin und wieder eine Wildtaube.“ Später gab einer von Grinnells Onkeln diesen Unternehmungen den offiziellen Segen, indem er dem Jungen ein kleines Gewehr schenkte.
Kein Thema nimmt in Grinnells Kindheitserinnerungen so breiten Raum ein wie die Jagd. Sie war sein erster Kontakt zur Wildnis, hier lernte er, die Natur genau zu beobachten. Über die Jagd kam er auch den Audubons näher. Mit seinem Freund Jack Audubon, einem Enkel des Malers, entstand eine enge Verbindung. Jack „war privilegiert“, so Grinnell, weil er das Gewehr seines Großvaters benutzen durfte – dasselbe Gewehr, das John James Audubon bei seinen legendären Abenteuern westlich des Mississippi dabeigehabt hatte.
In Audubon Park kam George Bird Grinnell auch mit anderen Ikonen des Westens in Berührung, „einer Gegend, die in diesen Tagen unendlich fern und romantisch schien mit ihren Geschichten von Trappern, Handelsposten und Indianern“. Die Häuser der beiden Audubon-Söhne waren Museen, an den Wände hingen Hirsch- und Elchgeweihe, Pulverhörner und Kugeltaschen. Zwischen Audubons Gemälden starrte ein Porträt des Künstlers in Rehleder von der Wand herunter. In der Scheune, in der die Jungen oft spielten, lagen „riesige Stapel seiner alten, in rotes Leder gebundenen Ornithological Biography und Kisten mit präparierten Vögeln, die der Naturforscher wer weiß wo gesammelt hatte“. Weil seine Söhne die Arbeit des berühmten Mannes fortsetzten, korrespondierten sie mit Naturwissenschaftlern in aller Welt, und „oft kamen Kisten mit neuen Exemplaren“. Grinnell erinnerte sich, wie er und seine Freunde sich um die neuen Lieferungen drängten und atemlos darauf warteten, dass die Kisten geöffnet wurden, um dann ehrfürchtig die „wunderbaren Tiere, die zutage kamen“, zu bestaunen.
Doch keiner der Audubons sollte größeren Einfluss auf den jungen Grinnell ausüben als Lucy, die über siebzigjährige Witwe des Künstlers. Grinnell beschrieb sie als „schöne, weißhaarige Dame von außergewöhnlicher Haltung und Würde: freundlich, geduldig und liebevoll, aber auch eine gestrenge Lehrerin, vor der wir Kinder großen Respekt hatten“. In ihrem Schlafzimmer hatte sie eine Schule für die Kinder der Nachbarschaft eingerichtet. Einige davon waren tatsächlich ihre Enkel, aber alle nannten sie „Oma Audubon“.
Lucy Audubon muss eine dieser seltenen Lehrerinnen gewesen sein, die das Leben ihrer Schüler prägen. Sie verstand ihre Schützlinge und hatte ein Gespür für diese flüchtigen Momente, in denen Lehrer die Chance haben, einen bleibenden Eindruck in den jungen Köpfen zu hinterlassen. „Wenn ich ein Kind dazu bringen kann, fünf Minuten lang bei einer Sache zu bleiben, dann wird es das Gelernte nie wieder vergessen“, sagte sie. Zumindest George Bird Grinnell sollte sich ein Leben lang daran erinnern.
Natürlich unterrichtete sie Rechnen, Lesen und Schreiben. Aber daneben konnte sie den Kindern Dinge zeigen, die sie nirgendwo sonst lernten. Lucy Audubon hatte ihren Mann bei der Arbeit an seinen Büchern unterstützt, darunter bei seinem Großwerk Ornithological Biography. Dabei war sie selbst zur Naturkundlerin geworden, und dieses Wissen gab sie an ihre Schüler weiter. Grinnells besondere Beziehung zu seiner Lehrerin wird in einer Anekdote über einen Vogel deutlich, den er gefangen hatte. Grinnell erinnerte sich später: „Ich lief ins Haus und hinauf zu Omas Zimmer, um ihr meinen Schatz zu zeigen. Sie sagte mir, dass es sich um einen roten Kreuzschnabel handelte, und zwar einen Jungvogel. Dann zeigte sie mir die Besonderheiten des Schnabels, erzählte mir ein wenig über das Verhalten dieser Art, und schließlich zeigte sie mir eine Zeichnung von einem Kreuzschnabel. Nach unserem Gespräch gingen wir nach draußen, wo die Vögel immer noch fraßen. Dort entließen wir den Vogel wieder in die Freiheit.“
Manche der Lektionen, die Grinnell von Lucy Audubon lernte, sollten erst viele Jahre später Früchte tragen, und eine sollte schließlich zu seinem Glaubenssatz werden. Bis dahin – im Grunde seine gesamte Schul- und Universitätszeit hindurch – wirkt er dagegen sonderbar gelangweilt und desinteressiert.
Seine wohlhabenden Eltern schickten ihn auf die besten Schulen des Landes. Im Alter von zwölf Jahren kam er auf das French Institute von Manhattan. Mit vierzehn wechselte er auf die angesehene Churchill Military School von Sing Sing. Hier herrschte zwar eine gewisse militärische Disziplin, doch es war alles andere als ein spartanisches Ausbildungslager. Vor Beginn des Schuljahrs erhielten die neuen Schüler ein Schreiben, in dem sie angewiesen wurden, unter anderem „Serviettenring, Bademantel und Hausschuhe, Regenmantel und Schirm, Schwamm und Nagelfeile“ mitzubringen. Folgsam durchlief Grinnell die dreijährige Ausbildung und stieg sogar zu einem der Schulkommandanten auf, doch seine schulischen Leistungen waren bestenfalls mittelmäßig. Im Rückblick machte er sich nichts vor: „Mir war klar, dass die Schule reine Zeitverschwendung gewesen war.“
Grinnell besaß keine Vorstellung davon, was er mit seinem Leben anfangen sollte, und wirkte eher wie ein passiver Zuschauer. „Es war ausgemachte Sache, dass ich nach meinem Schulabschluss an der Universität Yale studieren sollte, wo mein Großvater 1804 seinen Abschluss gemacht hatte und wohin viele meiner Vorfahren Verbindungen unterhielten.“ Trotz dieser familiären Beziehungen ließen seine Noten Zweifel aufkommen, ob er einen Studienplatz bekommen würde. Die Lehrer hatten ihn gewarnt, dass seine Leistungen nicht ausreichen würden, um die strengen Aufnahmeprüfungen von Yale zu bestehen. „Aber meine Eltern hatten ihren Entschluss gefasst, und ich hatte nicht die Angewohnheit, den Entscheidungen meines Vaters zu widersprechen.“ So paukte Grinnell den ganzen Sommer 1866 hindurch. Im September reiste er nach New Haven und bestand die Aufnahmeprüfungen ganz knapp, wenngleich er einräumt: „In Griechisch und Geometrie nur unter Auflagen.“
Nachdem er erfolgreich die Nase in die Bücher gesteckt und die Aufnahme geschafft hatte, verfiel er an der Universität rasch wieder in den alten Schlendrian. „Nichts Interessantes passiert“, war seine Zusammenfassung des ersten Studienjahrs. Das zweite Jahr verlief allerdings etwas abwechslungsreicher, vor allem „weil ich mir dauernd Ärger eingehandelt habe“. Der Lausejunge in ihm schlug wieder durch, als er den Blitzableiter des Glockenturms der Universität hinaufkletterte, um ganz oben seinen Jahrgang in die Wand zu ritzen. Bei allen Streichen mit den Kommilitonen war Grinnell ganz vorn dabei. Noch im Herbst wurde er bei einem erniedrigenden Initiationsritual eines Neulings erwischt. „Ich wurde für ein Jahr suspendiert.“
Zusammen mit einigen anderen Übeltätern wurde Grinnell nach Farmington in Connecticut geschickt. Dort unterstanden die jungen Männer der Aufsicht eines Geistlichen namens L. R. Payne, der sie auf den rechten Weg zurückführen sollte. Aber von Reue war bei Grinnell und seinen Kumpanen wenig zu spüren. „Wir hatten eine Menge Spaß in Farmington. Wir haben wenig gelernt und waren die meiste Zeit in der Natur unterwegs.“ Man hätte meinen können, er sei wieder zurück in Audubon Park. „Wir unternahmen lange Wanderungen, ruderten auf dem Farmington River, und in den mondhellen Winternächten zogen wir über die Felder.“ Am Ende des Jahres gab Yale Grinnell und den anderen Flegeln die Möglichkeit, die Prüfungen seines Jahrgangs abzulegen, doch „aufgrund meiner Faulheit in Farmington fiel ich durch“.
Vermutlich auf Intervention seiner Eltern wechselte er im folgenden Herbst nach Stamford zu einem neuen Tutor, einem Arzt namens Dr. Hurlburt, der „nicht nur ein ausgezeichneter Lehrer war, sondern auch gut mit Jungen umgehen konnte“. Hurlburt hatte seine eigenen Methoden für widerspenstige Jungen: Er weckte Grinnell früh und nahm ihn zu seinen Hausbesuchen mit. Auf der Fahrt fragte er ihn seine Lektionen ab, und während er seine Patienten besuchte, saß der Junge in der Kutsche und lernte. Ein Jahr später kehrte Grinnell an die Universität zurück, und diesmal bestand er seine Prüfungen „mit Bravour“.
Wieder an der Universität, zeigte sich Grinnell allerdings einmal mehr desinteressiert. Er blieb lernfaul, und seine Trägheit schien auf das mittelmäßige Leben eines reichen Ostküsten-Snobs hinzuführen. Im Sommer vor seinem Abschlussjahr unternahm er mit seiner Mutter und zwei Brüdern eine dreimonatige Reise durch Europa. Aber auch die Alte Welt machte kaum Eindruck auf ihn – in seinen Erinnerungen stellt er eine Liste der besuchten Länder zusammen und verliert ansonsten kein Wort über die Reise. Nach seiner Rückkehr an die Universität wurde er in den Geheimbund „Scroll and Key“ aufgenommen, wie es sich für einen ordentlichen Studenten gehörte. Er hatte keine Ahnung, was er nach dem Studium anfangen wollte, er war lediglich ein wenig in Sorge, „dass ich aufgrund meiner mäßigen Leistungen meinen Abschluss nicht bekommen könnte“. Darüber hinaus hatte er wenig über sein letztes Jahr an der Universität zu sagen: „Ich wohnte in einem Zimmer im Old South College mit Blick auf den Rasen.“
Doch schon bald sollte sich ihm eine Tür öffnen und einen Horizont freigeben, der weit über den College-Rasen hinausreichte.

Michael Punke

Über Michael Punke

Biografie

Michael Punke ist Anwalt für internationales Handelsrecht und derzeit US-Botschafter bei der Welthandelsorganisation (WTO) in Genf. Er ist Autor historischer Sachbücher und hat außerdem einen Lehrauftrag an der University of Montana. Der internationale Durchbruch gelang ihm mit dem Band »Der...

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