

Die Lotosschuhe Die Lotosschuhe - eBook-Ausgabe
Roman
— Eine Geschichte von Mut und Verrat, von Hoffnung und der Suche nach dem eigenen Weg | Der große Roman aus dem China des 19. JahrhundertsDie Lotosschuhe — Inhalt
Fesselnd, faszinierend und herzzerreißend – zwei Mädchen zwischen Tradition und Träumen im China des ausgehenden 19. Jahrhunderts
China, Ende des 19. Jahrhunderts: Als Kleine Blume als Dienstmädchen an Linjing, Tochter einer angesehenen Familie, verkauft wird, klammert sie sich an die Hoffnung, dass ihre gebundenen Füße, ein tradiertes Schönheitsmerkmal, und ihr außergewöhnliches Sticktalent sie eines Tages aus der Sklaverei führen werden. Doch die eifersüchtige Linjing tut alles, um das zu verhindern. Im Laufe der Jahre müssen die Mädchen lernen, zusammenzuarbeiten, mal als erbitterte Rivalinnen, mal als zaghafte Freundinnen. Bis Linjing nach einem Skandal in Ungnade fällt. Ist dies die Chance auf Glück für Kleine Blume? Lassen sich ihre verflochtenen Schicksale wirklich trennen?
Mit „Die Lotosschuhe“ hat Jane Yang einen mitreißenden historischen Roman über zwei vom Schicksal verbundener junger Frauen geschrieben, die auf der Suche nach ihrem Platz im Leben sind. In einer Zeit in China, in der Tradition und Aufbruchswille miteinander ringen.
Die perfekte Lektüre für Leserinnen und Leser von Jung Changs „Wilde Schwäne“, Arthur Goldens „Die Geisha“ und Isabel Allendes „Violeta“.
Inspiriert von der Familiengeschichte der Autorin.
„Brillant geschrieben, meisterhaft erzählt und schwer aus der Hand zu legen. Diese Geschichte wird mich noch sehr, sehr lange beschäftigen.“ Heather Morris, SPIEGEL-Bestsellerautorin von „Der Tätowierer von Auschwitz“
„Das Herzstück des Romans ist die gefühlsbetonte Beziehung zwischen Linjing und Kleiner Blume, die sich über ein ganzes Leben und durch mehrere Schicksalsschläge entwickelt.“ Melissa Fu
„›Die Lotosschuhe‹ handelt von der Notlage der Frauen im China des 19. Jahrhunderts und, was noch wichtiger ist, von ihrem Geist, ihrem Mut, für sich selbst und füreinander einzustehen in einer Welt, in der Sklaverei, gebundene Füße und das Patriarchat versuchen, sie zu unterdrücken.“ Natasha Lester
Leseprobe zu „Die Lotosschuhe“
1
Kleine Blume
Fröstelnd saß ich auf einem niedrigen Hocker in der Küche unseres Bauernhauses. Die eisige Luft brannte auf meinen Wangen und schmerzte in meinen Fingern und Zehen. Um mich aufzuwärmen, rieb ich mir die Arme. Zwar schneite es in Chinas Süden nie, doch dieser Winter im sechsten Herrschaftsjahr des Kaisers Guangxu war bitterlich kalt. Normalerweise hätte ich mich noch unter unsere oft geflickte Decke gekuschelt, aber meine aa noeng hatte mich im ersten Morgengrauen geweckt.
„Wir unternehmen heute ein Abenteuer“, verkündete sie und drehte sich [...]
1
Kleine Blume
Fröstelnd saß ich auf einem niedrigen Hocker in der Küche unseres Bauernhauses. Die eisige Luft brannte auf meinen Wangen und schmerzte in meinen Fingern und Zehen. Um mich aufzuwärmen, rieb ich mir die Arme. Zwar schneite es in Chinas Süden nie, doch dieser Winter im sechsten Herrschaftsjahr des Kaisers Guangxu war bitterlich kalt. Normalerweise hätte ich mich noch unter unsere oft geflickte Decke gekuschelt, aber meine aa noeng hatte mich im ersten Morgengrauen geweckt.
„Wir unternehmen heute ein Abenteuer“, verkündete sie und drehte sich mit einer Schüssel kochendem Wasser zu mir um. Zum ersten Mal seit Monaten verzog sie das dünne, blasse Gesicht zu einem Lächeln. Es war jedoch nicht das richtige, strahlende Lächeln von früher, bevor mein aa de gestorben war; dieses wirkte steif, und aa noengs Augen blieben matt.
„Wir fahren nach Kanton“, fuhr sie fort. „Bauer Tang nimmt uns auf seinem Karren mit.“ Sie goss etwas kaltes Wasser in die Schüssel.
Ich klatschte vor Freude in die Hände. Zwar war ich noch nie in der Stadt gewesen, aber ich hatte von reisenden Geschichtenerzählern viel darüber gehört. Händler streiften durch die Straßen und verkauften kandierte Pflaumen, süße Brötchen und geröstete Kastanien. Bei dem Gedanken knurrte mir der Magen und erinnerte mich daran, dass ich seit meiner Schale wässrigen Reisbreis am Vortag nichts mehr gegessen hatte. Den Berichten zufolge sollte es in Kanton sogar Wanderakrobaten geben, Marionettentheater und Männer, die lebendige Schlangen verschluckten.
„Kommt Kleiner Bruder auch mit?“, fragte ich.
„Nein, ich lasse ihn heute bei der Nachbarin. Das ist ein Ausflug nur für Mutter und Tochter.“
„Was machen wir dort?“
„Kleine Mädchen sollten keine Fragen stellen“, schalt sie mich. „Brave Mädchen halten den Mund, befolgen Vorschriften und gehorchen Erwachsenen.“ Ihr Tonfall war mild, ihre Miene allerdings war von Kummer erfüllt und erschreckte mich so, dass ich verstummte.
Sie kniete sich vor mich und umschloss meine goldenen Lilien mit den Händen.
„Weißt du noch, warum ich dir schon, seit du vier bist, die Füße binde?“, fragte sie.
„Weil … weil …“ Ich schüttelte den Kopf.
Mit einem tiefen Seufzen erklärte sie. „In unserem Dorf fängst man sonst erst mit sechs Jahren damit an. Manche Bauernfamilien warten, wenn sie unbedingt eine zusätzliche Arbeitskraft im Haus brauchen, vielleicht sogar, bis ihre Tochter sieben oder acht ist. Aber das ist riskant. Weißt du, warum?“
Erneut schüttelte ich den Kopf.
„Die Knochen könnten schon zu hart sein, um sie umzuformen. Ich liebe dich so sehr, dass ich dir schon seit zwei Jahren die Füße binde, als wärst du eine kleine Dame, damit du später auch wirklich vollkommene goldene Lilien hast, wie Yao Niang. Erinnerst du dich an sie?“
„Ja, ja!“ Eifrig sagte ich die Gutenachtgeschichte auf, die sie mir oft erzählt hatte. „Vor langer, langer Zeit, bevor die Mandschuren in China einfielen und das Land zu einem Flickenteppich von vielen kleinen Königreichen aufteilten, lebte ein Kaiser namens Li Yu. Er liebte es, Neues zu erleben. Eines Tages forderte er seine vielen, vielen Gemahlinnen auf, ihn mit einem neuen Tanz zu überraschen. Alle probierten es, aber niemand war gut genug, nur Yao Niang. Sie band sich die Füße zu einer Sichelform und tanzte auf den Zehenspitzen!“
„Was noch?“, fragte sie nach.
Ich legte die Stirn in Falten.
„Der Kaiser war so beeindruckt, dass er sie in den Rang der Edlen Kaiserlichen Gemahlin erhob …“
„Ach, genau!“ Ich hüpfte kurz hoch und beendete den Satz. „Sodass niemand Yao Niang herumk-kommandieren konnte, außer der Kaiserin. Alle Hofdamen machten es ihr nach, und bald folgten auch reiche Mädchen aus dem gesamten Land ihrem Beispiel. Jetzt haben alle ehrbaren Mädchen gebundene Füße. Und die liebevollsten Mütter sorgen dafür, dass ihre Töchter die p-perfekten, zehn Zentimeter langen goldenen Lilien haben.“
Ich rechnete mit Lob für meine flüssige Antwort, zumal ich nur bei zwei schwierigen Wörtern ins Stocken geraten war, doch aa noengs Lippen bebten. Als ich sie umarmen wollte, drückte sie nur kopfschüttelnd den Rücken durch und strich sich ihre ausgewaschene Bluse, ihre ou, glatt.
„Noch der ärmste Junge darf hoffen, die kaiserliche Beamtenprüfung zu bestehen und ein Mandarin zu werden, wenn er klug und fleißig ist“, sagte sie. „Aber für ein Mädchen besteht die einzige Chance auf ein besseres Leben in goldenen Lilien. Das ist mein unbezahlbares Geschenk an dich. Was auch passiert, vergiss nie, wie sehr ich dich liebe. Du bist meine kostbare Perle. Verstehst du?“
„Ich hab dich auch sooo lieb!“ Ich streckte die Arme hinter dem Rücken aus, bis sich die Handflächen berührten. Doch sie erwiderte mein Lächeln nicht.
„Warum ist es wichtig, perfekte goldene Lilien zu haben?“, fragte sie.
„Um gut verheiratet zu werden“, sagte ich mit meinem hohen Stimmchen. „Ehestifterinnen und Schwiegermütter mögen winzige Füße. Goldene Lilien sind der Beweis für die Tugendhaftigkeit eines Mädchens.“
„Genau. Nur größte Ausdauer und Disziplin führen zu vollkommenen Lotosfüßen. Das wünschen sich Schwiegermütter für ihre Söhne.“ Sie drückte meine Hand und fragte: „Möchtest du in eine nette Familie einheiraten, wenn du groß bist?“
„Ja.“
„Und wie bekommst du goldene Lilien von zehn Zentimetern?“
„Ich muss ganz still sitzen, wenn du mir die Füße wäschst und die Bandagen wechselst.“
„Was noch?“
„Ich darf mich nicht beklagen, wenn du die Binden festziehst.“
„Das stimmt“, erwiderte sie langsam. „Aber …“ Nach einer langen Pause sagte sie: „Du bist jetzt ein großes Mädchen. Es wird Zeit, dass du lernst, dich selbst um deine Füße zu kümmern.“
„Ich bin doch noch klein!“, widersprach ich, erschrocken von ihrem ernsten Tonfall.
„Pass gut auf.“ Sie wickelte die Bandagen ab und stellte meinen linken Fuß in die Schüssel mit dem warmen Wasser. Dann rieb sie sanft an der Sohle und zwischen den Zehen die abgestorbene Haut ab. Schließlich schnitt sie mir die Nägel, legte ein Handtuch um den Fuß und streute Alaun darauf.
„Am Alaun darfst du nicht sparen“, sagte sie. „Er hilft gegen Schweiß und Juckreiz.“
Sie wickelte einen Streifen saubere dunkelblaue Baumwolle wieder und wieder um meinen Fuß. Mit jeder Lage verstärkte sich der Druck, bis die Zehen pochten und meine Augen vor unvergossenen Tränen brannten. Ich musste all meine Willenskraft aufbringen, um nicht aufzustöhnen. Immer fester zog sie die Bandage, fester als sonst. Ich versuchte, den Fuß wegzuziehen. Sie ließ ihn nicht los. „Stillhalten“, befahl sie.
„Aa noeng“, rief ich. „Es tut zu weh.“
„Sei ruhig. Eines Tages werden dir diese goldenen Lilien zu einer guten Ehe verhelfen. Du wirst Seide tragen und in einem Haus mit gefliestem Fußboden wohnen. Und vor allem wirst du nie wieder Hunger haben.“
Mein Wimmern verebbte, als sie weiter von dem schmackhaften Essen sprach, mit dem ich mir den Bauch füllen konnte, wenn ich erst in eine wohlhabende Familie eingeheiratet hatte. Endlich setzte sie meinen Fuß in mein bestes Paar indigofarbener Baumwollschuhe. Sie schob die Wasserschüssel an mich heran.
„Und jetzt musst du es genauso mit dem rechten machen“, sagte sie.
Der Weg von unserem Dorf nach Kanton dauerte zu Fuß einen Tag. Da aa noeng und ich diese Strecke mit unseren gebundenen Füßen nicht hätten laufen können, nahm Bauer Tang uns auf seinem Karren mit. Unter den Rädern spritzten Eisstückchen und Matsch auf. Bitterkalte Windstöße peitschten unsere Gesichter, und obwohl aa noeng mich dicht an sich presste, zitterte ich. Gegen Mittag machten wir Rast, und der Bauer teilte sein Essen mit uns. Das mit Schweinefleisch gefüllte Klößchen brannte auf meinen aufgesprungenen Lippen, ergötzte aber meinen Magen. Erst, als ich meines aufgegessen hatte, bemerkte ich, dass aa noeng ihres kaum angerührt hatte, obwohl wir seit dem Tod meines Vaters kein Fleisch mehr bekommen hatten. Der Bauer drängte sie, doch mehr zu essen, Mitgefühl im Blick. Aus Höflichkeit schluckte sie ein paar Krümel hinunter, aber sie wirkte verhärmt, genau wie in den Tagen, nachdem aa de gestorben war. Nach ihrem seltsamen Verhalten schon am Morgen verwandelte diese Miene das Klößchen in meinem Bauch zu Stein.
Als wir in Kanton ankamen, hatte sich der graue Nachmittagshimmel noch weiter verdunkelt. Ich war unterwegs immer wieder eingeschlafen. Mit meinen vor Kälte klappernden Zähnen konnte ich mich nicht auf die fremde Umgebung konzentrieren.
Seit der Rast hatte meine Mutter geschwiegen, jetzt aber richtete sie sich auf und sprach mit eindringlicher Stimme zu mir. „Du bist ein braves Mädchen. Ich habe keine andere Wahl, ich kann nicht anders.“
Der Bauer räusperte sich. „Musst du es ihr jetzt sagen?“
„Ja“, erwiderte aa noeng entschlossen. „Sie muss es erfahren.“ An mich gewandt sagte sie: „Von nun an wirst du bei den Fongs in einem schönen Backsteinhaus wohnen. Das ist eine nette, reiche Familie.“
Ich begriff nicht, was das bedeutete. „Wann darf ich wieder nach Hause? Morgen?“
„Ich habe dich an die Familie Fong verkauft, als muizai“, sagte sie bekümmert. „Die Haushälterin hat mir versprochen, dass du keine gewöhnliche Sklavin sein wirst. Frau Fong möchte dich als Zofe für ihre Tochter, so wie Kleines Grün, die der Frau und den Töchtern unseres Dorfvorstehers dient. Du wirst keine schweren Arbeiten verrichten müssen.“
Ich zog ihr Gesicht zu mir hinunter, um ihr in die Augen zu sehen, aber sie kniff ihre zu. „Kleines Grün ist Waise“, sagte ich. „Du kommst mich doch besuchen, oder?“
Sie öffnete die Augen und schüttelte langsam den Kopf.
„Wann darf ich nach Hause?“, fragte ich noch einmal, doch meine Stimme versagte, und ich brach in Schluchzen aus.
„Nie wieder. Eine muizai ist etwas anderes als eine angestellte Dienstbotin. Du gehörst jetzt deiner Herrin, so wie Kleines Grün – selbst wenn ihre Eltern noch leben würden, könnte sie nicht gehen. Und du auch nicht.“ Sie stieß ein Seufzen aus, dann noch eines, als steckte etwas in ihrer Brust fest und sie wollte es herauslösen. „Ich kann nicht anders. Wir müssen bald unser Haus räumen, und wir brauchen Geld für die Zimmererlehre deines kleinen Bruders. Nur so hat er eine Chance auf ein würdiges Leben.“
Es war für mich unfassbar, meine Heimat nie wiederzusehen, meine Mutter oder meinen Bruder nie wiederzusehen. Das Wörtchen „nie“ war so groß, dass es meine Vorstellungskraft überstieg. „Aber ich kann nicht bei Fremden wohnen, ich gehöre doch zu euch.“
Sie sprach weiter, als wollte sie sich genauso sehr überzeugen wie mich. „Ohne das Geld verhungern wir. Und wer führt dann den Namen Yung weiter? Ich muss an die Geister deines Vaters und unserer Ahnen denken. Du verstehst doch, was mit unserer Familie geschehen ist, oder?“
Ich schüttelte den Kopf. Was hatte aa des Tod mit diesen Fongs zu tun? Das leuchtete mir nicht ein. Doch natürlich erinnerte ich mich an das, was fünf Monate zuvor passiert war. Aa de war von seinen Fischteichen zurückgekommen und hatte sich mit Bauchkrämpfen ins Bett gelegt. Auf nichts hatte er Appetit, und das bisschen Reisbrei, das er aß, kam sofort wieder hoch. Er verwandelte sich von einem Mann mit der Kraft und Ausdauer eines Wasserbüffels in einen hageren Invaliden. Der daai fu unseres Dorfs verschrieb Kräuter, die meine Mutter zu einem bitteren Tee aufgoss und aa de löffelweise verabreichte, aber nicht einmal den konnte er bei sich behalten. Er hatte brennendes Fieber und Schüttelfrost. So ging das vierzehn Tage lang, bis er starb. Aa noeng gab unsere Ersparnisse für eine anständige Beerdigung aus.
Seitdem war unser Leben zerbröckelt wie ein alter Keks. Meine Mutter konnte den Bauernhof nicht allein bewirtschaften. Wir gerieten mit der Miete in Rückstand, die Fischteiche wurden nicht mehr gepflegt, und niemand erntete die Maulbeerblätter, sodass unsere Seidenraupen verhungerten. Auch wir litten Hunger, obwohl aa noeng unseren Reisbrei immer noch dünner kochte.
„Das ist eine Chance für dich“, sagte sie jetzt. „Du wirst eine Sklavin sein, aber genug zu essen und ein Dach über dem Kopf haben. Du wirst besser leben als wir.“ Ihre Lippen bebten, als glaubte sie selbst nicht ganz daran. „Sei brav, dankbar und geduldig“, sagte sie. „Gehorche und vergiss nie, wo du hingehörst. Eine muizai ist der Schatten ihrer Herrin, du hast zu tun, was sie befiehlt. Du darfst nie widersprechen oder ungehorsam sein. Für den, der Bitterkeit hinunterschlucken und sich in sein Schicksal fügen kann, ist das Leben einfacher.“
„Ich bin ein ganz braves Mädchen“, wehrte ich mich. „Schick mich nicht fort!“
Sie zog mich an sich und drückte mich fest. „Können wir jetzt nach Hause fahren?“, fragte ich hoffnungsvoll. Doch sie antwortete nicht, hielt mich nur weiter im Arm, bis wir an einem großen Haus vorbeirollten, dem größten, das ich je gesehen hatte. Eine riesige schwarze Tafel mit zwei goldenen Schriftzeichen hing über dem Eingang, einem roten Flügeltor, höher als zwei Erwachsene, zu beiden Seiten von Drachenköpfen bewacht. Sie starrten mich mit ihren roten Augen durchdringend an und wirkten, als wollten sie jeden Besucher anfallen, der es wagte, am Tor zu klopfen.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Karren um das Haus herumgefahren war und Bauer Tang die Pferde vor einer normal großen Tür zügelte, ähnlich denen bei uns im Dorf, deren Sturz ich berühren konnte, wenn ich auf aa des Schultern saß. Bauer Tang half aa noeng beim Absteigen, hob mich herunter und stellte mich neben sie. Als sie klopfte, klammerte ich mich an ihrem Ärmel fest. Eine Dame in einem edlen wattierten Mantel begrüßte aa noeng und schob uns in einen Innenhof mit einem Steintisch.
„Ich heiße Cerise und bin Frau Fongs Haushälterin und Zofe“, erklärte die Dame, die ein dickes Muttermal auf dem Kinn hatte. „Tauch den Daumen leicht in die Tinte, und drück ihn hier drauf.“ Sie deutete auf ein rotes Papier.
„Moment!“, sagte aa noeng. „Was steht da?“
„Das sind nur die üblichen Bedingungen eines Kaufvertrags.“
„Bitte lesen Sie es mir vor.“
Tief aufseufzend sagte Cerise: „Hier steht, dass du dich einverstanden erklärst, deine Tochter an Frau Laifung Fong, Erste Fong taai taai, zu verkaufen. Deine Tochter wird Fräulein Linjing dienen, außer Frau Fong teilt sie jemand anderem zu. Außerdem hat Frau Fong das Recht, deine Tochter an einen anderen Haushalt weiterzuverkaufen.“
„Steht da auch, ob ich die Freiheit meiner Tochter zurückkaufen kann?“
„Ich weiß nicht, warum du das fragst“, nörgelte Cerise. „Ich arbeite schon sehr, sehr lange hier, und niemand hat je seine Tochter wieder abgeholt. Das hier ist kein Pfandhaus.“
„Bitte“, flehte aa noeng. „Ich will es nur wissen.“
„Hier heißt es, dass du ihre Freiheit zurückkaufen kannst, für den Verkaufspreis plus zwanzig Prozent Zinsen für jedes Jahr, das die Fongs sie haben ernähren und kleiden müssen. Also, bist du jetzt bereit für deinen Daumenabdruck?“
Erwartungsvoll sah ich aa noeng an, in der Hoffnung, sie hätte es sich anders überlegt. Doch ihre Gesichtszüge sanken herab. Durch ihre Wimpern quollen Tränen, die sie hastig mit dem Ärmel abwischte. Ich umklammerte ihren Arm fester.
Cerises Tonfall wurde sanfter. „Frau Fong ist gütig und gerecht. Deiner Tochter wird es gut gehen.“
„Aber eines Tages darf sie doch heiraten?“, fragte meine Mutter mit drängendem, aber zweifelndem Tonfall.
„Wenn eine muizai das Glück hätte, ein Heiratsangebot zu bekommen, dann könnte sie aus der Sklaverei entlassen werden. Ich wage vorherzusagen, dass Frau Fong einen guten Ehemann für sie finden wird, wenn sie achtzehn ist, falls sie fleißig und gehorsam ist. Wobei viele muizai aus freien Stücken lieber bleiben, als einen schmutzigen Fäkaliensammler oder einen Krüppel zu heiraten. Aber mit gebundenen Füßen darf deine Tochter auf einen anständigen Bauern hoffen.“
„Ist eine Ehe garantiert?“, ließ aa noeng nicht locker.
„Nichts im Leben ist sicher. Aber Frau Fong ist ehrenhaft und gütig. Und jetzt unterzeichne schon.“
Die zitternde Hand meiner Mutter schwebte lange über dem Vertrag, bevor sie endlich den Daumen in die Tinte tauchte und unter den Text drückte. Zwei Tränen tropften auf das Papier, verschmierten die dicken schwarzen Zeichen. Doch sobald die Vereinbarung besiegelt war, trocknete sie sich das Gesicht ab und kniete sich mit entschlossener Miene vor mich hin.
„Denk an meine Worte. Sei geduldig und gehorche. Es könnte alles viel schlimmer sein.“
Da ich sie nie wiedersehen sollte, wusste ich nicht, was noch schlimmer kommen konnte. Ich schlang ihr die Arme um den Hals und rief: „Lass mich nicht als Sklavin hier!“
Meine Mutter löste meine Arme und hielt mich an den Schultern von sich fort. Ich wand mich, versuchte, mich an sie zu klammern, aber sie ließ mich nicht.
„Hör mir gut zu“, sagte sie schmeichelnd. „Um mich wiederzusehen, musst du ganz besonders brav sein. Und vor allem musst du dich um deine goldenen Lilien kümmern, damit du eines Tages heiraten kannst. Versprichst du mir das?“ Ihr gezwungenes Lächeln sah aus wie ein schiefer Krakel.
„Bitte, aa noeng, ich hab Angst.“
„Wenn du deine Füße verdirbst, siehst du mich nie wieder. Hast du das verstanden?“
„Ich muss dich noch mal drücken“, weinte ich und taumelte mit ausgestreckten Armen vorwärts. „Nur noch ein Mal …“
Aa noeng wandte mir den Rücken zu und ging schneller weg, als ich sie jemals hatte laufen sehen.
Am Tor warf sie mir einen letzten Blick zu, straffte die Schultern und verschwand in die Gasse. Als ich ihr nachrennen wollte, hielt Cerise mich mit eisernem Griff fest. „Lass deine Mutter gehen. Du gehörst jetzt den Fongs. Sei brav, dann siehst du sie vielleicht wieder.“
Ich biss sie in den Arm. Erschrocken schrie sie auf und ließ mich los. Ich rannte weg, verlor aber auf meinen gebundenen Füßen das Gleichgewicht und fiel der Länge nach hin. Mein Sturz war weit weniger schmerzhaft als Cerises Ohrfeige.
„Mach nicht so ein freches Gesicht“, sagte sie streng. „Du bist jetzt eine muizai.“
2
Linjing
Aa noeng hatte mir erklärt, dass Kleine Blume ihr Geschenk an mich sei. Sie hoffte, wir würden einmal werden wie sie und Cerise, die als muizai bei ihr lebte, seit sie beide sechs Jahre alt waren. Dass ich eine Zofe mit gebundenen Füßen hatte, machte Tante Gouming und Cousine Ngaalai sehr neidisch; selbst die gutmütige Zweite aa noeng sah mich eifersüchtig an. Dennoch ärgerte mich sehr, dass Mutter so einen Narren an Kleiner Blume gefressen hatte und mich mit ihr verglich, einer Sklavin!
„Linjing“, rief aa noeng. „Sieh dir die Plattstiche von Kleiner Blume an. Die Schattierung aus Karminrot und Purpur ist fabelhaft. Ich wäre froh, wenn deine Stickereien nur halb so gut wären.“
Obwohl Mutter mit mir sprach, wandte sie sich dabei meiner muizai zu und hielt den Kopf ganz dicht an ihren, während sie die gleichmäßigen Stiche bewunderte, die unter der Nadel von Kleiner Blume das Blütenmotiv mit unterschiedlich dunklen Grüntönen umrandeten. Ich konnte nicht nachvollziehen, was aa noeng mit Rottönen meinte, denn für mich war alles nur eine Mischung aus Gelb, Blau, Mattgrün oder Grau, aber das zu sagen, traute ich mich nicht. Ich stach die Nadel durch die Seide und zerrte sie auf der anderen Seite wieder heraus. Der Stoff bauschte sich, weil der Faden die anderen mitzog. Wütend knallte ich meinen Stickring auf den polierten runden Holztisch, um aa noeng auf mich aufmerksam zu machen. Kleine Blume hob zuerst den Kopf, und unsere Blicke trafen sich kurz, dann senkte sie ihren wieder auf ihre Arbeit. Ich krümmte die Finger zu Krallen.
„Linjing, benimm dich nicht wie eine Wilde“, schalt aa noeng. „Was für ein Beispiel gibst du für deine muizai ab?“
„Sie ist doch die Wilde!“, widersprach ich.
Die hohe, eindrucksvolle Stirn meiner Mutter furchte sich. Ich sprang auf und hob nur mit Daumen und Zeigefinger, um die verkrusteten Flecke nicht zu berühren, den Ärmel meiner muizai hoch. Aa noeng sah mich mit steinerner Miene an. Offenbar hatte sie nicht verstanden, also erklärte ich: „Kleine Blume wischt sich die Nase an der Bluse ab.“
Mit dunkelroten Wangen zog Kleine Blume ihren Arm weg. Sie versteckte beide Hände unter dem Tisch und hielt den Kopf so tief, dass er fast ihre Stickarbeit berührte. Anstatt sie zu schimpfen, sagte Mutter: „Linjing, das ist nicht nett von dir. Es ist erst einen Mond her, dass Kleine Blume ihre Familie verlassen hat. Hab Geduld mit ihr, sie muss sich noch ihre Dorfmanieren abgewöhnen.“
„Sie gähnt auch, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten. Und einmal hat sie mein caa siu bao vom Boden aufgehoben und verschlungen, wie ein Hund. Ihre Familie muss gelebt haben wie die Schweine.“
Dicke Tränen kullerten Kleiner Blume über die Wangen auf die gestickten Blüten hinunter. Ihre Nase tropfte, und sie hatte den Arm schon halb ans Gesicht gehoben, stockte dann und verbarg ihn wieder unter dem Tisch. Ich empfand eine leichte Reue und griff nach meinem Taschentuch, doch aa noeng war schneller und tätschelte Kleiner Blume den Rücken, während sie ihr das Gesicht mit einem sauberen Seidentuch abputzte. Mit großen Augen sah Kleine Blume zwischen dem Lächeln meiner Mutter und meiner finsteren Miene hin und her. Am liebsten hätte ich sie geohrfeigt, weil sie mir aa noengs Aufmerksamkeit stahl, aber ich wagte nicht, meine Mutter noch mehr zu verärgern.
„Eine grausame Herrin züchtet Treulosigkeit heran“, warnte aa noeng mich. „Kleine Blume ist gehorsam und geduldig, Eigenschaften, die du nachahmen solltest, wenn du dich im Sticken hervortun willst. Es ist wirklich schade, dass so ein Mädchen in eine Bauernfamilie geboren wurde. Wenn du dir mit deiner Handarbeit und deinem Verhalten nicht mehr Mühe gibst, hält man vielleicht dich für die muizai.“
„Möchtest du etwa sie statt mir als Tochter?“, fragte ich mit Tränen in den Augen.
„Unsinn“, erwiderte meine Mutter mit einer abfälligen Geste, als wäre meine Frage eine summende Mücke.
„Ehrlich nicht?“ Ich stampfte mit dem Fuß auf, meine Kehle brannte. Ich wollte, dass aa noeng mich in den Arm nahm, auf ihrem Schoß sitzen ließ, mir sagte, dass sie mich liebte. So machte es Zweite aa noeng mit meinen Halbschwestern, wenn sie bedrückt waren. Sie strich ihnen sogar über die Haare und wiegte sie, bis es ihnen wieder besser ging.
„Linjing“, sagte meine Mutter mit eisigem Tonfall. „Du wirst nie so geschickt wie deine muizai werden, wenn du dich nicht genauso anstrengst wie sie. Setz dich wieder auf deinen Platz, und stick weiter.“
„Nein!“, brüllte ich und beugte mich mit zu Fäusten geballten Händen über den Tisch.
„Lass das“, sagte sie. Ihre Lippen verzogen sich zu einem dünnen Strich, ihre Augen waren schmal und hart, ihr ovales Gesicht blass. Häufig fragte ich mich, ob meine echte Mutter in dieser frostigen Hülle verborgen war und ich, wenn ich sie aufbräche, vielleicht eine warme Seele fände wie meine Zweite aa noeng.
„Das ist deine letzte Warnung“, sagte sie. „Benimm dich wie eine Dame.“
Sobald ich meiner Mutter entfliehen konnte, rannte ich in aa des Schreibstube. Stirnrunzelnd sah er von seinen Papieren auf, aber als er mich bemerkte, lächelte er und winkte mich zu sich. Ich kletterte auf seinen Schoß.
„Wie geht es meinem kleinen Frechdachs?“, fragte er neckend und kniff mir in die Nase.
„Aa noeng hat mich geschimpft, nur weil ich gesagt habe, dass meine Sklavin Dorfmanieren hat. Sie ist an allem schuld. Ich will eine andere Zofe, eine mit riesigen Füßen, sodass sie überhaupt nicht sticken kann.“
„Wenn du nicht zufrieden mit deiner Zofe bist, sag deiner Mutter, sie soll dir eine andere besorgen.“
„Auf mich hört sie nicht. Bitte, aa de, kannst du sie nicht dazu bringen, Kleine Blume wegzuschicken?“
„In Frauenangelegenheiten habe ich mich nicht einzumischen.“
Ich verschränkte die Arme und zog einen Schmollmund. Er piekte mich in die Rippen, bis ich zu zappeln begann, dann fragte er: „Wann ist deine Fußbinde-Zeremonie?“
„Nächsten Monat.“
„Das ist bald“, sagte er. „Möchtest du deine natürlichen Füße behalten?“
Um mich zu vergewissern, dass er nicht scherzte, hüpfte ich von seinem Schoß und musterte ihn. Seiner erwartungsvollen Miene nach wollte er ganz offenbar, dass meine Antwort Ja lautete. Sein Grinsen war so breit, dass ich den goldenen Backenzahn sehen konnte, und seine Augen leuchteten gespannt. Er nestelte an seinem Daumenring aus Jade, drehte ihn hin und her. Ich wollte es ihm recht machen, konnte aber nicht lügen.
„Nur Sklavinnen haben große Füße. So möchte ich nicht sein, ich möchte wie meine Mütter sein.“
„Spielst du gern Himmel und Hölle?“
Ich nickte.
„Und du kletterst auch gern auf Bäume und kannst schnell rennen, oder?“
„Ja!“
„Nichts davon könntest du noch, wenn deine Füße gebunden wären. Willst du das alles aufgeben?“
„Nein“, antwortete ich hastig. „Aber ich will auch goldene Lilien.“ Ich verdrehte meine Hände ineinander. Bisher hatte ich die Fußbinde-Zeremonie als großes Fest betrachtet, bei dem ich mit Geschenken von meinen Tanten und Cousinen überschüttet würde. Meine Mutter hatte mir versprochen, es würde einer der schönsten Tage meines Lebens werden, nur übertroffen von meiner Hochzeit und der Geburt meines ersten Sohnes. Da ich gar nicht auf die Idee gekommen war, dass ich danach meine Lieblingsspiele nicht mehr spielen könnte, hatte ich ungeduldig auf diesen Tag gewartet. Jetzt war ich mir nicht mehr so sicher. Dennoch, große Füße zu haben, war undenkbar, denn jede Dame hatte Lotosfüße. Man würde glauben, ich wäre die Sklavin und Kleine Blume die Dame. Das ging natürlich nicht.
Fragend sah ich aa de an.
„Wir leben in modernen Zeiten“, erklärte er. „Manche vornehmen Familien gehen dazu über, ihre Töchter natürliche Füße behalten zu lassen.“
„Aber aa noeng und maa maa sagen, große Füße sind ordinär.“
Er klappte ein Lederschächtelchen auf, in dem ein Foto lag. Darauf war ein Mädchen zu sehen, etwas älter als ich, das auf einer Schaukel saß und aus dessen üppig besticktem Hosensaum große Füße herausragten. Statt sich zu schämen, lächelte das Mädchen.
„Diese junge Dame ist die Tochter eines wohlhabenden Händlers. Ihre Eltern sind Christen, die ihren Töchtern nicht mehr die Füße binden. Eines Tages werden alle Mädchen natürliche Füße haben. Möchtest du ein modernes Mädchen sein, so wie sie?“
„Ich will nicht wie eine Sklavin aussehen.“
„Sprechen wir mit deiner Mutter darüber.“ Er tätschelte mir den Kopf. „Ich habe sie gebeten, sich in maa maas Empfangszimmer mit mir zu treffen. Ich habe etwas Wichtiges zu verkünden.“
Ich befürchtete Schlimmes: Ein Besuch in maa maas Gemächern bedeutete immer Ärger für aa noeng und mich. Seit dem Tod meines Großvaters vier Jahre zuvor war maa maa in einen abgelegenen Trakt gezogen, wo sie jeden Nachmittag für seine Seele betete. Obwohl sie die Schlüssel-Chatelaine und die meisten häuslichen Pflichten an meine Mutter übergeben hatte, hatte sie in der Frauenwelt immer noch das Sagen.
Als wir im maa maas Empfangszimmer eintrafen, war meine Mutter bereits da. Mit gesenktem Kopf und auf dem Schoß gefalteten Händen saß sie auf einem niedrigen Hocker, obwohl an allen Wänden Stühle standen.
Vater begrüßte maa maa mit einer tiefen Verbeugung. Sie deutete mit dem Kopf auf den Stuhl neben sich. Mich beachtete sie gar nicht, als ich mich eilig neben meine Mutter stellte. Wegen des erdrückenden Sandelholzgeruchs einer riesigen Räucherspirale hätte ich mir am liebsten die Nase zugehalten, aber maa maas durchdringender Blick hielt mich davon ab.
Sobald die muizai meiner Großmutter den Erwachsenen Tee eingegossen hatte, räusperte mein Vater sich.
„Ehrenwerte Mutter, was ich gleich vorschlagen werde, klingt möglicherweise radikal. Aber bitte hören Sie mich erst einmal an.“
Maa maa zog eine Augenbraue hoch und sah ihn streng an. Trotz der Kälte war sein Gesicht gerötet, und er zerrte an seinem Kragen.
„Sprich“, wies sie ihn an.
„Linjings Fußbinde-Zeremonie sollte nicht stattfinden.“
Maa maa und aa noeng starrten ihn verblüfft an.
„Die Praxis wird von allen westlichen Ländern als grausam und barbarisch verurteilt“, fuhr er fort. „Sie lässt China primitiv wirken. Ich beschwöre Sie, Linjing zu gestatten, ihre natürlichen Füße zu behalten.“
Meine Großmutter knallte ihre Teetasse so heftig auf den Tisch, dass sie einen Sprung bekam. Sie funkelte ihren Sohn an. Ich hatte gar nicht gewusst, dass ihre ewig zusammengekniffenen Augen so rund werden konnten. Mutter und ich wechselten einen besorgten Blick. Die muizai, die lautlos den Tee aufwischte, musterte aa de mit offenem Mund.
„Möchtest du Schande über unsere Ahnen bringen?“
„Ehrenwerte Mutter, lassen Sie mich bitte …“
„Kein Sohn würde so etwas fordern.“
„Das hat nichts mit den Pflichten eines Sohnes zu tun.“
„Lieber Ehemann“, sagte aa noeng. „Linjing muss die Füße gebunden bekommen, sonst ist sie nicht heiratsfähig. Wir haben bereits zu lange gewartet.“
„Laifung hat recht“, sagte maa maa. „An den goldenen Lilien erkennt man ein wohlerzogenes Mädchen. Keine vornehme Schwiegermutter wird eine Braut mit großen Füßen akzeptieren. Möchtest du, dass sie eine alte Jungfer bleibt und unserer Familie Schande macht?“
„Die Zeiten ändern sich“, hielt er dagegen. „In den nächsten Jahrzehnten werden die meisten Familien das Füßebinden aufgeben. Außerdem habe ich eine Verlobung für Linjing vereinbart.“
Mir klappte die Kinnlade hinunter.
„Was stimmt mit dem Bräutigam nicht?“, wollte aa noeng wissen.
„Ist er verkrüppelt oder beschränkt?“, fragte maa maa.
„Ist er böse?“, flüsterte ich.
Aa de bedachte mich mit einem aufmunternden Lächeln. „Er ist ein schmucker kleiner Herr, nur wenig älter als du. Mir wurde gesagt, er sei ebenfalls sportlich. Ihr werdet viele Gemeinsamkeiten haben.“ An maa maa und Mutter gewandt sagte er: „Junghon Li ist der erste Sohn von Fürst Li, dem Vizekönig von Tianjin.“
„Warum sollte eine Familie von solchem Rang eine großfüßige Braut wollen?“, fragte maa maa. „Und warum Linjing?“
„Ehrenwerte Mutter, bitte, lassen Sie mich ausreden, bevor Sie Ihre Entscheidung treffen.“ Widerwillig nickte sie. „Fürst Li gehört zu Chinas einflussreichsten Staatsmännern und ist einer von Kaiser Guangxus getreuesten Gesandten und Unterhändlern. Ein Ehebündnis mit ihm wäre wichtig für meine berufliche Laufbahn. Er hat mir den Posten des stellvertretenden Gouverneurs von Shanxi versprochen, sobald wir Linjings Verlobung offiziell machen. Fürst Li glaubt, das Überleben der Qing-Dynastie hängt von einer Modernisierung ab, China muss nicht nur seine Armee und Marine mit zeitgemäßer Artillerie und Dampfschiffen ausbauen, sondern das chinesische Volk muss auch neue Ideen annehmen. Unter anderem natürliche Füße.“
Er sieht eine Zukunft, in der Ehefrauen von Mandarinen Umgang mit Abendländerinnen pflegen müssen, und es ist unmöglich für unsere Frauen, als ebenbürtig behandelt zu werden, wenn sie noch verkrüppelte Füße haben. Deshalb hat Fürst Li gelobt, eine Schwiegertochter mit gesunden Füßen zu suchen, aber er hat Mühe, eine aus geeigneter Familie zu finden. Auch wenn einige einflussreiche Männer entschlossen sind, ihren Söhnen das Heiraten eines Mädchens mit Lotosfüßen zu verbieten, können sie ihre Mütter und Ehefrauen nicht davon überzeugen, sich mit natürlichen Füßen anzufreunden. Für mich ist das eine einzigartige Gelegenheit.
„Lass ihn weitersuchen“, sagte Mutter. „Unsere Tochter hat mit seinem absurden Gelöbnis nichts zu schaffen. Die Bewegung gegen gebundene Füße ist zum Scheitern verurteilt. Nimm doch Linjings neue muizai als Beispiel. Selbst ein armes, des Lesens und Schreibens unkundiges Bauernkind begreift die Bedeutung von Lilienfüßen. So eine Familie muss beträchtliche Opfer gebracht haben, um ihrer Tochter schon mit vier Jahren die Füße zu binden. Was für eine Mutter wäre ich, wenn ich es nicht bei Linjing ebenso machte?“
„Laifung, diese Vorstellungen sind überholt“, versetzte er. „Das sind Fesseln, die China vom Fortschritt abhalten.“
„Dem Westen liegt nicht Chinas Wohl am Herzen“, wandte Mutter ein. „Die Abendländer wissen, dass Opium schädlich ist, und doch überschwemmen sie das Land damit, machen Ehemänner abhängig, zerstören Familien.“
„Moral spielt keine Rolle“, sagte Vater. „Der Westen ist reich und mächtig. Wir müssen uns gut mit ihm stellen, von ihm lernen, zumindest bis wir ihm ökonomisch und militärisch ebenbürtig sind.“
„Hör auf, mit aa noeng zu streiten“, rief ich. „Ich will keine großen Füße.“
„Laifung“, tadelte maa maa. „Halte deine Tochter im Zaum. Ein Mädchen sollte nur sprechen, wenn es gefragt wird.“
Als Warnung kniff Aa noeng mich in den Arm. „Unsere Schatullen sind gut mit Silber gefüllt und unsere Pächter zuverlässig“, sagte sie. „Wir brauchen dein Gehalt nicht.“
„Ich habe seit fast vier Jahren keine Stellung. Mein ehemaliger Gehilfe wurde bereits zweimal befördert und steht jetzt im Rang über mir. Das ist erniedrigend.“
„Während der dreijährigen Trauer um Schwiegervater durftest du doch nicht arbeiten. Bestimmt sagt dir niemand etwas Schlechtes nach, weil du dich an die Gesetze gehalten hast.“
„Laifung, du hast von Männerangelegenheiten keine Ahnung, also mach dich nicht mit solch dümmlichen Bemerkungen lächerlich. Unser Land befindet sich im Aufruhr, ständig belagert von Rebellen und angegriffen von fremden Mächten. Westliche Nationen haben sich Hongkong, Shanghai und Amoy einverleibt. Viele meiner Kollegen haben Mühe, ihre Posten zu behalten, ganz zu schweigen davon, neue zu finden. Ich wäre ein Narr, mir eine solche Chance entgehen zu lassen.“
Maa maa griff nach ihrer Gebetskette und murmelte ein Sutra. „Ich unterstütze meinen Sohn“, verkündete sie. „Seine berufliche Laufbahn hat Vorrang. Wenn wir eine Tochter opfern müssen, dann von mir aus Linjing.“ Mit einem bösen Blick auf aa noeng fuhr sie fort: „In jedem Fall hast du, Laifung, zu lange damit gewartet, ihr die Füße zu binden. Große Füße fördern bei Mädchen Ungehorsam, Frechheit und schlechtes Benehmen.“
„Maa maa“, mischte ich mich ein. „Das war doch nicht aa noengs Schuld, der Geomant hat uns zum Warten geraten.“
„Still, Linjing!“, blaffte meine Mutter. „Widersprich maa maa gefälligst nicht.“
„Aber es stimmt doch. Der Geomant hat gesagt …“
Mit einer brennenden Ohrfeige schnitt aa noeng mir das Wort ab. Hilfe suchend sah ich meinen Vater an, damit er maa maa bestätigte, dass ich die Wahrheit sagte, denn wie wir alle wussten, hatte der Geomant mir einen frühen Tod prophezeit, falls meine Füße vor meinem siebten Geburtstag gebunden würden. Doch aa de wandte sich von uns ab und starrte die Wandbehänge an.
Maa maa sah meine Mutter und mich an wie einen Haufen Unrat, als sie weitersprach. „Die Sünde einer Tochter ist die Bürde einer Mutter, genau wie die Sünde einer Mutter die Last einer Tochter ist. Linjing ist eigensinnig und ungehorsam. Ihre Handarbeiten sind ein Grauen. Unordentliche Stiche zeugen von einem schlampigen und fahrigen Charakter. Sie ist viel zu temperamentvoll, und das ist deine Schuld. Wenn du sie nicht bändigen kannst, nehme ich dir deine Chatelaine weg und gebe sie deiner Schwestergemahlin.“
Aa noeng fiel auf die Knie, kroch zu maa maa und drückte ihre Stirn an die goldenen Lilien meiner Großmutter. „Verehrte Mutter, ich flehe Sie an, es noch einmal zu überdenken. Bitte haben Sie Erbarmen. Mit dem Füßebinden werden wir sie bändigen.“
Maa maa trat mit solcher Kraft nach aa noengs Kopf, dass ihr der goldene Phönixkamm beinah aus den Haaren flog. Ich zischte sie an, aber aa noengs Blick bat mich inständig, mich zu benehmen. Wieder sah ich aa de Hilfe suchend an, doch seine Augen waren hart und ungeduldig.
„Laifung, lass dich nicht so gehen“, sagte er. „Junghon Li ist eine hervorragende Partie. Linjing wird es an nichts mangeln, und sie wird eine der jungen Damen werden, die dabei helfen, China zu einem modernen Land zu machen. Es ist eine aufregende Zukunft!“
Obwohl ich mir immer noch wünschte, er würde aa noeng verteidigen, konnte ich nicht länger böse auf ihn sein, wenn er nur das Beste für mich wollte, oder? Aber konnte ich auch ohne goldene Lilien wirklich eine vornehme Dame sein?
„Was, wenn Junghon Li etwas zustößt?“, fragte Mutter. „Zwischen einer Verlobung und einer Heirat liegen viele Jahre. Wenn Junghon Li stirbt, wird kein anderer ein Mädchen mit großen Füßen haben wollen.“
„Das ist sehr unwahrscheinlich“, meinte aa de.
„Das Leben ist voller Krankheit und Unglücksfälle. Eine andere angemessene Ehe für Linjing zu arrangieren, wäre unmöglich.“
„Um der beruflichen Laufbahn meines Sohnes willen“, erklärte maa maa, „bin ich bereit, dieses Risiko einzugehen. Mein Entschluss steht fest.“
Trotz aa des heiteren Tonfalls und aufregenden Versprechungen nagten Zweifel an mir. Große Füße waren hässlich und vulgär. Aa de behauptete, ich wäre seine Lieblingstochter, aber maa maa sagte, ich solle „geopfert“ werden. Wenn er mich so liebte, warum opferte er nicht eine meiner Halbschwestern?
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