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Die Märchentante, der Sultan, mein Harem und ich

Die Märchentante, der Sultan, mein Harem und ich

Helge Timmerberg
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„Nach ein paar Seiten kann man sich dem schnoddrigen Charme nicht mehr entziehen. Der lässige Erzählton ist einfach entwaffnend.“ - Märkische Allgemeine

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Die Märchentante, der Sultan, mein Harem und ich — Inhalt

Lose Seiten eines Märchens, genannt „Die Perlenkarawane“: Seit einer Berliner Winternacht vor über dreißig Jahren ist Helge Timmerberg davon fasziniert - und von der Frau, die es aufschrieb: Elsa Sophia von Kamphoevener. Als Mann verkleidet hatte sie an türkischen Lagerfeuern Erzählungen gesammelt. Mit großer Wucht und Sinn für Komik schildert Timmerberg, wie die Märchenbaronin ihm Türen, Herzen und Geldbörsen öffnete. Die Suche nach der Kunst des Geschichtenerzählens führt ihn auf eine jahrzehntelange Reise; nach Kairo, Istanbul, Ägypten und Marrakesch, in die Basare, Kaffeehäuser und in seinen ganz eigenen Harem.

€ 14,99 [D], € 15,50 [A]
Erschienen am 19.10.2015
256 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-40582-9
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Leseprobe zu „Die Märchentante, der Sultan, mein Harem und ich“

Kein Mausoleum, kein Denkmal, keine Tafel mit den Eckdaten ihrer Abenteuer. Am Grab von Lawrence von Arabien ist mit Sicherheit mehr los. Aber Lawrence machte Geschichte, und Elsa erzählte nur welche. Ihr Ruhm überdauerte ihr Leben nicht. Das ist ungerecht, und wir beschlossen, das zu ändern. Drei Brüder, ein dicker, ein dünner und ein noch dünnerer, ließen deshalb in der letzten Nacht des Jahres 1981 drei Raketen über das Grab der Baronin in den Winterhimmel zischen und verabredeten bei schneegekühltem Champagner, das Drehbuch in den nächsten zwei [...]

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Kein Mausoleum, kein Denkmal, keine Tafel mit den Eckdaten ihrer Abenteuer. Am Grab von Lawrence von Arabien ist mit Sicherheit mehr los. Aber Lawrence machte Geschichte, und Elsa erzählte nur welche. Ihr Ruhm überdauerte ihr Leben nicht. Das ist ungerecht, und wir beschlossen, das zu ändern. Drei Brüder, ein dicker, ein dünner und ein noch dünnerer, ließen deshalb in der letzten Nacht des Jahres 1981 drei Raketen über das Grab der Baronin in den Winterhimmel zischen und verabredeten bei schneegekühltem Champagner, das Drehbuch in den nächsten zwei Wochen gemeinsam zu schreiben. Der Zeitrahmen kam vom dünnsten, denn Chris war unter uns der einzige aus der Branche. Er drehte Dokumentarfilme, solche Leute schreiben Drehbücher auch in einer Woche, außerdem arbeiteten wir bei ihm, also in dem Haus, in dem unsere Heldin die letzten zwanzig Jahre ihres Lebens verbracht hatte, was sollte da schiefgehen? Wir konnten es sogar in drei Tagen schaffen, oder noch schneller. Die Kamphoevener hätte für die Geschichte ihres Lebens auch nur eine Nacht gebraucht. Das war kein Größenwahn, das war der Zeitgeist. Wir standen am Rande eines legendären Jahrzehnts, und die Achtzigerjahre lagen wie eine Goldgrube vor uns.

Zurück in Chris’ Küche, legte er die Schwarz-Weiß-Fotos aus den Schubladen der Märchenerzählerin auf den Tisch, und wir begannen mit der Arbeit. Wer spielte wen? Bei ihrem Vater war es einfach. Er wurde von Kaiser Wilhelm II. nach Istanbul geschickt, um dem Sultan bei dessen Kampf gegen den Rest der Welt als Militärberater beizustehen. Der deutsche Kaiser war der einzige Freund, den der Sultan noch hatte, und der Vater der Märchenerzählerin war ein Teil des Freundschaftsvertrags.

Sein Foto zeigte einen orientalisierten preußischen Offizier in der Paradeuniform eines Marschalls der osmanischen Armee. Den Bart gezwirbelt nach wilhelminischer Art, auf dem Kopf den Türkenhut, einen Teppich voller Orden an der Brust und zwei Seelen innen drin, die okzidentale und die orientalische, die sich aber prächtig miteinander verstanden, weil der Marschall Louis von Kamphoevener Pascha sich von jeder Welt das Beste nahm, und dafür kam natürlich nur Sean Connery infrage.

Für Sultan Abdülhamid II. aber brauchten wir mehr als einen charismatischen Weltstar im richtigen Alter, für den musste ein schauspielerisches Kaliber aus der Shakespeare-Liga her, denn wir sahen auf seiner Fotografie das verblichene Antlitz eines Mannes, von dem man nicht auf Anhieb weiß, wie er drauf ist. Seine Gesichtszüge wirken grausam, aber in seinen Augen liegt eine Schwermut, die man mögen kann. Elsa Sophia sprach zwar immer gut von ihm, aber das würden die 300 000 während seiner Regentschaft massakrierten Armenier so nicht unterschreiben. Die englische Regierung auch nicht. Sie hatte ihn „den fürchterlichen Türken“ genannt, doch das konnte auch britische Propaganda gewesen sein. Vielleicht hatte der Sultan, wie er selbst verlauten ließ, mit den Pogromen wirklich nichts zu tun, aber er hätte sie verhindern können. Oder nicht? Wenn seine Wesire und Generäle ohne sein Wissen, aber in seinem Namen ein Volk abgeschlachtet hätten, dann würde man seinen schwermütigen Blick verstehen.

Außerdem war er der Letzte seiner Art, und er wusste es. Das letzte Glied einer Herrscherkette, die 600 Jahre lang nicht gerissen war, sah das größte Weltreich des Orients untergehen. Der Krieg mit dem Zaren hatte das Schwarze Meer und die östlichen Provinzen gekostet, die Engländer nahmen Ägypten, die Franzosen Marokko und den Libanon, und dass die Europäer und Russen nicht gleich das ganze Reich unter sich aufteilten, hatte Abdülhamid ausschließlich seinem diplomatischen Talent zu verdanken, mit dem er seine Feinde gegeneinander ausspielte, um Zeit zu gewinnen. Aber auch die Balkanvölker standen auf und wollten Freiheit, die Griechen sowieso, das Imperium der Sultane brannte an allen Ecken und Enden, und Abdülhamid II. wusste, dass er es sein würde, der das Licht ausmacht, und als ob das alles noch nicht reichen würde, um seinen Gesichtsausdruck zu verstehen, war der Sultan privat und persönlich auch noch ein bisschen paranoid. Er traute keiner Frau und keinem Diener. Er fürchtete, alle wollten ihn vergiften. Wer konnte so einen Typen spielen? Und wer hatte eine so große Hakennase? Und wer war als Grieche wie auch als Türke vorstellbar? Natürlich nur Anthony Quinn.

Nun zu den Problemfällen. Wer spielte Fehim Bey? Wer war Fehim Bey? Und wie sah Fehim Bey aus? Es gab keine Fotos von ihm. Auch keine Zeichnung. Der Mann, von dem unsere Heldin an den Feuern der Karawansereien das Erzählen lernte und der ihr all seine Märchen schenkte, als er in Rente ging, blieb im Großen und Ganzen unserer Phantasie überlassen.

Endi Effendi nutzte die Chance, um endlich sein Wissen über die zentralasiatischen Schamanen auszupacken, denn ohne die Wurzeln von Fehim Beys Erzählkunst zu kennen, könnten wir uns unmöglich ein vollständiges Bild von ihm machen. Folgendes kam bei Endi Effendis Vortrag heraus:

Die frühen Turkstämme lebten im heutigen Staatsgebiet der Mongolei. Ihre Religion war der Schamanismus, ihre Priester waren die Schamanen. Im Gegensatz zu den Gottesmännern anderer Religionen ging es ihnen nicht so sehr darum, die Gläubigen auf das Jenseits vorzubereiten, sondern sie im Diesseits gesund und munter zu halten. Ihre spirituelle Mission war das Heilen, ihre Methode die Zauberei. Sie rieten, zum Beispiel, einem chronisch Kranken dazu, andere Kleidung zu tragen. Andere Farben, andere Muster. Grün statt Blau und Karos statt Streifen, und ein paar Wochen später war er gesund. Oder sie schnappten sich sein Herz mit Trommeln. Schlugen sie zunächst, wie sein Herz schlug, und wenn Herz und Trommeln eins geworden waren, veränderten sie langsam, ganz langsam den Rhythmus. Damit brachten sie die hyperaktiven Zentralorgane runter, die phlegmatischen hoch und die stockenden in Fluss. Und eine dritte Lieblingsmedizin der zentralasiatischen Schamanen waren Geschichten, deren Zauberei darin bestand, den Kranken auf andere Gedanken zu bringen oder gewohnte Gedanken auf andere Bahnen. Ganze Gedankenkarawanen wurden umgeleitet und zu neuen Ufern gebracht.

Erkenntnis befreit, und Befreiung heilt. Und wer Endi Effendi kannte, weiß, dass er jetzt nicht mehr so einfach zu stoppen war, denn mit der Völkerwanderung der Turkstämme wanderten auch die schamanischen Geschichten von Zentral- nach Vorderasien, wo sich die Mystiker des Islam ihrer annahmen. Sie nannten sich Sufis, und die Schamanen hießen jetzt Derwische, und weil viele von ihnen hauptberuflich auch Märchenerzähler waren, schien Endi Effendi der Gedanke nicht abwegig, dass es sich auch bei Fehim Bey nicht um einen verlausten Märchenonkel handelte, sondern um einen Heiler, der seine Geschichten wie Gedankenschrittmacher in die Gehirnwindungen seiner Zuhörer einpflanzte, oder sollte man sagen, wie Traumschrittmacher? Darüber hinaus erfüllte er natürlich auch alle anderen Aufgaben, die der Beruf eines türkischen Geschichtenerzählers verlangte:

1. wachhalten

2. unterhalten

3. unterrichten

4. berichten

Zu 1.: Die Wächter der Karawanen durften nicht einschlafen. Für diese Klientel gab es extralange Geschichten, zum Beispiel die „Perlenkarawane“.

Zu 2.: Erklärt sich eigentlich aus 1.

Zu 3.: Kinder wie Erwachsene bedurften hin und wieder des Unterrichts in der Schule des Lebens. Religionsunterricht, Sozialkunde, Eheberatung, Orientknigge – die Märchen deckten alles ab.

Zu 4.: Die Märchen der Osmanen stammten aus allen Teilen ihres Reichs, und das war zwar nicht ganz so groß wie die Welt, aber seine Grenzen verliefen immerhin durch drei Kontinente. So erfuhr das Publikum im Kaukasus und in Kleinasien, wie es in Nordafrika aussah, und an den milden Gestaden der Levante hörte man Geschichten aus Südosteuropa.

Man könne all das auch kürzer sagen, meinte ausgerechnet Endi Effendi: Die alten türkischen Märchen waren das Kino der Nomaden, und aufgeführt wurde es jeden Abend in den Karawansereien. Die Herbergen des osmanischen Fernverkehrs hatten Mauern wie Burgen und hohe Tore für die Kamele, und drinnen fand der müde Nomade alles, was er begehrte: Ställe für die Tiere, Schlafräume, Gastronomie. Es gab Schuster, Ärzte und Barbiere, und es gab keinen Streit. Das war Punkt 1 der Hausordnung: Feinde müssen nicht Freunde werden, aber sie dürfen nicht aufeinander losgehen, solange sie den Schutz der Karawanserei genießen, und tun sie es doch, fliegen beide raus.

Die Märchenerzähler hatten in den Karawansereien ihre eigenen Feuer und eigenen Gesetze, aber ihre Strafen fielen ähnlich aus. Wer die Geschichten eines anderen erzählte, machte sich des Märchendiebstahls schuldig. Das führte zum Ausschluss aus der Gilde und beinhaltete das Erzählverbot in der Karawanserei. De facto kam das einem Berufsverbot gleich, denn die Karawansereien waren nun mal ihr traditioneller Arbeitsplatz. Außerdem war es verboten, die Geschichten aufzuschreiben, und ein drittes Gesetz der alttürkischen Märchenerzählergilde lautete, dass Anfang, Mitte und Ende der Geschichten niemals verändert werden durften, aber dazwischen konnte jeder so viel spinnen, wie er wollte.

Die ersten beiden Gesetze schützten die Rechte und das Überleben der Erzähler, das dritte schützte die Märchen, und nun müsse man, frohlockte Endi Effendi, doch noch mal auf das erste Gebot zurückkommen. Jeder erzählte nur seine Geschichten, und dass es seine waren, bewies ein Ring, der den Träger für sein Repertoire autorisierte. In der Regel wurde er von Vater zu Sohn weitergegeben. Aber Fehim Bey hatte keine Söhne, darum gab er den Ring an seinen besten Schüler weiter, der eine als Mann verkleidete deutsche Baronin war, aber wenn ihr mich fragt, so Endi Effendi, hat er ihre Verkleidung durchschaut. Sie begleitete Fehim Bey jahrelang, und große Erzähler sind große Menschenkenner.

Wollte Endi Effendi damit andeuten, dass die beiden gepoppt haben? Natürlich nicht. Wir saßen in Chris’ Küche, und das war die Küche, in der auch unsere Märchenerzählerin lange Jahre gesessen hatte, deshalb behandelte der Vortragende das Thema weiter mit Respekt. Endi Effendi vermutete eher eine versteckte platonische Liebesgeschichte, denn Fehim Bey war zwar in dem richtigen Alter für junge Mädchen, aber nicht in der richtigen gesellschaftlichen Position. Ihm wurde die Verkleidete als Spross einer mächtigen Familie aus Istanbul vorgestellt, und davon lässt man die Finger, im Märchen wie in der Realität, und was Elsas Potenzial für romantische Gefühle zu älteren Herren anging, wies Endi Effendi darauf hin, dass ein Altersunterschied von schätzungsweise dreißig Jahren keine Rolle für eine unter Zwanzigjährige spielt, wenn der Mann gut erzählen kann.

Endi Effendi schlug deshalb vor, dass Omar Sharif die Rolle von Fehim Bey kriegte, und wir nickten das ab, denn Omar Sharif machte an allen Feuern eine gute Figur, und Omar Sharif würde auch wissen, wie man mit einem Blick und einem Lächeln von der unerfüllten Liebe zu einer verkleideten Frau erzählen konnte.

Mira

Wann immer es ein Mensch geschafft,
dass er in Mädchen Wahrheit sah,
wurde Wahrheit für ihn mädchenhaft,
und Mädchen wurden wahr.

Eigentlich ist das Gedicht von mir. Endi Effendi hatte es nur um ein Wort verändert. Bei mir ging es um einen Menschen, der in „Märchen“ die Wahrheit sah, er machte „Mädchen“ daraus. Er verarschte mich. Oder hielt mir den Spiegel vor, denn ich verarschte mich selbst. Wir alle verarschten uns selbst. Dabei wäre es so einfach gewesen. Mit meinem Anfang fing der Film an, mit Endi Effendis Anfang ging er weiter, und mit Chris’ Anfang hörte er auf. Aber keiner ließ von seinem Anfang los. Damit endete der erste Tag unserer Zusammenarbeit, und damit begann auch der zweite, und am dritten Tag verschoben wir die Fertigstellung des Drehbuchs auf Ostern. Das größte Fest der Christenheit brachte uns jedoch auch nicht voran, der Film rutschte auf die lange Bank.

Für meine journalistische Karriere erwies sich das durchaus als vorteilhaft. Wer weit zielt, verkrampft sich nicht im Nahbereich, und ohne Angst gewinnst du immer. Der Glückspilz, der ich war, hatte keine Angst, sondern einen Traum, und ich bezog meinen Mut und mein Selbstbewusstsein aus der Gewissheit, dass er sich erfüllen würde. Irgendwann und zur rechten Zeit würde die Karawane kommen, und ein Mann, der an seinen Traum glaubt, wird leicht verwechselt mit einem, der an sich selbst glaubt. Solche Leute kommen überall rein und können es sich aussuchen. Ich schrieb für den „Playboy“, weil er so gut wie „Geo“ zahlte, aber mir seine Themen besser lagen. Geh in den Puff, amüsier dich und schreib, wie es war. 5000 Mark. Geh nach Goa und kiff dir die Birne weg. 6000 Mark. Verlieb dich auf Kreta. 5000 Mark. Besser geht’s nicht. Meine Zukunft war ein Märchen, meine Gegenwart entwickelte sich märchenhaft, und das Märchen selbst gab es ja auch noch. Ich meine nicht den Film über die Märchenerzählerin, der machte auch weiterhin auf der langen Bank keinen Mucks. Ich meine das Märchen an und für sich, die Geschichte, die ich in der Berliner Winternacht zum ersten Mal gelesen hatte. Sie hüpfte immer mal wieder aus mir heraus und übernahm den Raum, und jede Frau, die mir zuhörte, verliebte sich in mich.

Das war die gute Nachricht. Die schlechte: Es lag nicht in meiner Macht. Es war nicht zu planen oder zu fokussieren. Ich konnte nicht sagen, ich erzähle jetzt mal ein Märchen, und du gehörst mir. So funktionierte das nicht. Auch nicht mit Kerzen, Räucherstäbchen und fetten Joints. Das Setting spielte keine Rolle, der Mond spielte keine Rolle, mein Wille spielte keine Rolle. Nur das Märchen entschied, wann es sich erzählen ließ. Versuchte ich, es zu zwingen, verweigerte mir die Geschichte ihre Magie. Es ging dabei nicht um Worte, Bilder, Rhythmus, Sound und die Farben der Stimme. Das konnte man alles perfekt und synchron vortragen, aber ohne die Magie kam es nicht rüber. Es kam nicht mal raus. Es war eine leere Geschichtenhülle, ein Schlauch ohne Wein. Frustrierend für den Zuhörer, und für den Erzähler zerstörerisch. Dieses Märchen hatte nicht nur ein Eigenleben, sondern auch einen eigenen Willen, aber immerhin teilten wir denselben Frauengeschmack.

Mira hatte eine weiße Haut auf einem schwarzen Körper. Deshalb meinte Endi Effendi, ihre Figur sei nicht von Gott, sondern von einem schwulen nubischen Bildhauer geschaffen. Sie brauchte nur in Jeans und T-Shirt über die Straße zu gehen, und die halbe Stadt wollte mit ihr ficken. Selbst die Hochhäuser bogen sich zu ihr hinunter. Sie hatte Katzenaugen und einen Kleopatra-Mund, und wenn sie Lippenstift auftrug, war da sofort mal die Hölle los.

Wir trafen uns zum ersten Date in einem Eissalon, und ich hatte keine schlechten Karten. Draußen stand mein neuer Wagen, delfingrau, schnell wie die Sau, orchestrierte Stereoanlage, und für das Gespräch zu Tisch hatte ich die Märchen. Ich erzählte ihr die „Karawane“ bei Erdbeereis mit Sahne, danach bat ich sie in meinen Jaguar für Arme und machte mit ihr eine Spritztour durch den Freihafen. Mit „Purple Rain“ von Prince und solchen Sachen schnurrten wir an den Docks entlang, bis wir auf der Köhlbrandbrücke waren und die Schiffe und schlafenden Kräne unter uns sahen. Es gibt kein besseres Panoramaerlebnis von Hamburg als eine Fahrt über die Köhlbrandbrücke während einer sternenklaren Nacht, und als wir aus dem Hafen wieder raus waren, ging es erst schnurgerade über den Straßenstrich und die Reeperbahn zu einem kurzen Champagnerumtrunk in eine Bar namens „Schwarze Wiege“ und dann in meine Wohnung, in der ich den Orgasmus hinauszögerte, indem ich die Zehen streckte, mich aufs dritte Auge konzentrierte und bis tief in die Hoden atmete sowie die Neunmal-kurz-und-einmal-lang-Stoßtechnik der Chinesen praktizierte, die in der Vagina ein explosives Vakuum erzeugt, und als wir damit fertig waren und kiffend in den Laken lagen, sagte sie, dass ich mir das alles hätte sparen können, denn verliebt habe sie sich bereits bei dem Märchen.

Ihr Vater war Schriftsteller und das Klappern der Schreibmaschine die Musik ihrer Kindheit. Wenn ich schrieb, hielt sie die Klappe und fühlte sich zu Haus. Und in den Pausen machte sie, was ich wollte. Was will ein Schreiber mehr?

Endi Effendi warnte mich.

„Du glaubst doch nicht, dass du so viel Sex haben kannst, wie du willst, ohne irgendwann dafür bezahlen zu müssen.“

Ich hielt das für Neid und hatte recht damit, aber sein Neid machte die Wahrheit nicht weniger wahr. Mira war gefährlich für mich. Und ich war eine Gefahr für sie. Es war die klassische Schicksalsglockenbeziehung, und sie läuteten nicht nur im Bett. Wir gingen auch ins Kino und tanzen und fuhren mit dem Auto von Miami nach L.A. auf der Südroute durch Florida, Alabama, Georgia, Texas, Arizona und Nevada sowie mit dem Bus durch Mexiko und mit dem Zug durch Thailand und Malaysia, und „Tempo“ finanzierte diesen Ritt auf der Wurzel-Chakra-Energie.

Ich warf mit Reisegeschichten und Porträts quasi um mich. Es war kinderleicht. Mit Mira bekam ich jeden Interviewpartner. Selbst Leute, die sonst Journalisten verprügeln oder auf sie schießen, knickten vor ihr ein. Wir bekamen nicht nur Hunter S. Thompson und Mickey Rourke, wir wurden auch beide fast nicht wieder los. Dasselbe galt für die Interviewpartnerinnen. Mira kitzelte deren lesbisches Potenzial heraus, ohne dafür irgendetwas zu tun. Ihre Präsenz reichte, und für den Rest der Welt reichte unsere Traumpaarkonstellation. Die Königsklasse des Yin und Yang wird selten mit Neid befleckt, weil jeder weiß, dass sie ein Wunder ist und maximal einmal im Leben vorkommt. Die Strahlkraft unseres Glücks strahlte von allen Tankwarten, Nachtportiers, Polizisten und Dealern unserer Roadmovies auf uns zurück, sowie von allen Nachbarn, Bäckern und Eisverkäuferinnen zu Hause, und als 1988 nach zwei großen Jahren, drei großen Reisen und einem großen Fehler der Tag anbrach, den Endi Effendi vorausgesehen hatte, war halt der Ofen aus. Der Fehler war groß genug für die Trennung, und mehr mag ich darüber nicht schreiben, weil er a) noch immer für mich unbeschreibbar ist, und b) ist er hier auch nicht das Thema. Männer verlieren Frauen hin und wieder, so what. Und Männer verlieren auch Frauen, die sie verlieren wollten, weil ihnen ihre Freiheit wichtiger ist. Außerdem verlieren Männer Frauen, weil der Teufel sie ritt. Unterm Strich geht ihnen der Arsch auf Grundeis.

Und wieder schien mich das Märchen zu retten. Es hüpfte in einem Restaurant aus mir heraus, in dem ich mit Endi Effendi und dem Manager einer privaten Handelsschule zu Tisch saß. Wir hatten für seine PR-Seminare eine Broschüre erstellt und wollten das feiern, aber leider musste ich immer weinen, weil mir Mira so fehlte. Der Manager akzeptierte das, weil er zu den Leuten gehörte, die jeden überhöhen, der sich für die Liebe und gegen den Kommerz entschieden hat, aber plötzlich hörte ich auf zu weinen und sagte: „Wissen Sie was, ich erzähle Ihnen jetzt mal eine Geschichte von geradezu märchenhaftem Kommerz“, und rums, kam die Karawane daher. Auch Endi Effendi, der grundsätzlich eifersüchtig reagierte, wenn ich die Geschichte vortrug, kam irgendwann damit klar, dass ich der bessere Erzähler war, und als ich das Märchen beendet hatte, schob ich den Lebenslauf der Kamphoevener hinterher, plus meinen Anfang für den Film, und noch bevor Endi Effendi seinen Anfang erzählen konnte, schenkte uns der Manager 9000 Mark. Dafür wollte er das Drehbuch sehen.

Ich hatte darauf nicht spekuliert. Es war nicht mein Plan. Das ist einfach so passiert, aber Endi Effendi sah mich trotzdem komisch an, und als wir wieder unter uns waren, stellte er klar, wie es diesmal laufen würde. Wir machten es zu zweit, wir machten es richtig, und wir machten es in Kairo. Das war eine gute Idee. Sonne, Shisha, Turbane und kein Bett, in dem sie unsichtbar noch immer auf ihrer Seite lag, kein Kissen, das man statt ihrer streicheln mochte, weil ihr Duft noch an ihm klebte. Darum nahm ich Endi Effendis Vorschlag sofort begeistert an, obwohl mir seine Beweggründe nicht ganz koscher vorkamen. Um Derwischgeschichten zu erzählen, sollte man erst mal Derwische verstehen, und um sie zu verstehen, müsse man nach Kairo, wo heutzutage die stärksten Derwische seien. In der Türkei habe sich seit Atatürk nicht nur der Islam, sondern auch der mystische Islam zurückentwickelt, am Nil aber stehe er in seiner Blüte. Weil Endi Effendi ein paar Tage brauchte, um reisefähig zu werden, und ich mich wie eine durchgeknallte Hornisse fühlte, flog ich vor. Das war keine gute Idee.

Liebeskummer macht schwach, und selbst in einer Stadt mit der weltweit höchsten Derwischdichte gibt es noch ein paar Millionen Nichtderwische, und dann kommst du als Fremder und gehst als Feind, weil du den hungrigen Raubtieren die Schuld daran gibst, dass du dich ihnen zum Fraß vorgeworfen hast. Lässt du dich am Flughafen wie ein welkes Blatt ins Taxi fallen, ist es egal, ob du bereits ein Hotel reserviert hast oder nicht. Der Fahrer bringt dich auf jeden Fall in die Absteige seiner Wahl, weil er nur dort eine Provision kassiert. Du erträgst das Zimmer kaum und gehst auf die Straße, um dich wie ein Stück Treibholz dem Menschenfluss zu übergeben, und wenn du irgendwo strandest und das Stehen bleiben nennst, nützt dir auch das so viel wie ein Vogelschiss, es ist einfach erbärmlich, wenn da kein anderer Wille mehr in dir ist als der, auf der Stelle tot umzufallen.

Ein netter junger Ägypter legte seine Hand auf meine Schulter und wollte wissen, warum ich Tränen vergoss, und ich sagte es ihm. Bei Liebeskummer ist drüber reden die einzige mildernde Medizin. Jussuf brachte mich in eines der ganz wenigen Lokale, in denen es Alkohol gab. Er war wie ein Bruder zu mir, er verstand und war bis in die Haarspitzen mit Mitgefühl erfüllt, er nannte mich verrückt, aber er sagte es mit dem Respekt, den jeder Märtyrer der Liebe verdient. Und erst nach Stunden gab er sich als Leidensgenosse zu erkennen. Es fing in seinen Augen an. Sie begannen meinen zu ähneln. Keine Tränen, nur ein tränenfeuchter Vorhang zog sich über sie. Es ging um eine Maria, und sie war Italienerin.

Jussuf liebte sie, und sie liebte ihn, aber sie konnten nicht zusammenkommen, weil Maria mit einem reichen Ägypter verheiratet war, der sie im Übrigen schlug. Jussuf wollte sie gern entführen, aber er wohnte bei seinen Eltern und hatte kein Geld. Er konnte sich ja nicht mal ein Hotelzimmer leisten. Die Solidarität unter Liebeskranken führte dazu, dass ich für ihn in meiner Absteige ein Zimmer anmietete. Maria kam ein paar Stunden später, lange Haare, große Augen, schlank und schön, aber auch ein bisschen, wie soll man sagen, vom Drama verlebt. So sehen Frauen aus, die geschlagen werden oder Drogen nehmen. Jussuf verschwand mit ihr im Zimmer und kam später allein wieder raus. Maria blieb. Sie wollte nicht zurück zu ihrem Mann, was ja wohl jeder versteht. Ich sagte ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, ich würde das Zimmer gern auch ’ne Woche lang zahlen, dafür hörte sie sich gerne meine Mira-Geschichte an, bis ein Freund von Jussuf kam, um ihr Gesellschaft zu leisten. Später kam einer ihrer Freunde, und so ging es auch den nächsten Tag, der Freundeskreis der beiden kümmerte sich rührend um sie, und Endi Effendi fiel aus allen Wolken, als er vier Tage später in Kairo eintraf.

„Wieso bezahlst du eigentlich von unserem gemeinsamen Drehbuchvorschuss einem ägyptischen Zuhälter das Zimmer, in dem seine Hure anschaffen geht?“

Keine Antwort.

„Und wieso weißt du nicht, dass Jussuf der arabische Name für Josef ist? Du erzählst ihnen deinen Herzschmerzscheiß, und sie heißen plötzlich wie das bekannteste Liebespaar der Christenheit.“

Auf der Stelle war Schluss mit der Kostenübernahme für Maria und Josef in unserem Hotel und Schluss mit dem täglichen Taschengeld, das ich dem Zuhälter zugesteckt hatte, damit er mit seiner italienischen Hure was essen gehen konnte, und es dauerte dann auch nur noch einen Tag länger, bis mit Kairo ebenfalls Schluss war. Endi Effendi hatte die Stadt als Drehbuchherstellungsort wegen der Derwische und der Wärme gewählt, darüber hinaus gehörte sie mal zum Osmanischen Reich, war also thematisch nicht verfehlt, aber Anfang Januar ist es selbst in Nordafrika draußen zwar nicht so kalt wie in Nordeuropa, aber doch recht kühl, und drinnen ist es kälter als bei uns, weil die Heizungen nicht funktionieren oder, wenn sie doch funktionieren, dann zu schwach. In Südägypten war es wärmer, und Derwische gab es da auch, ja, wenn er es recht bedenke, sagte Endi Effendi, seien die Mystiker des Islam an der Grenze zum Sudan sogar geeigneter für unsere Zwecke, denn sie seien magischer eingestimmt als ihre Kollegen in Kairo, außerdem sei dort jeden Freitag der größte Kamelmarkt Ägyptens. Tausend Karawanen kämen pro Jahr aus dem Sudan. KARAWANEN! Mit dem Wort war es gesagt und getan. Wir nahmen den Nachtzug nach Assuan.

Helge Timmerberg

Über Helge Timmerberg

Biografie

Helge Timmerberg, geboren 1952 im hessischen Dorfitter, trampte mit siebzehn nach Indien und beschloss, Journalist zu werden. Er zählt zu den innovativsten Journalisten und Reiseschriftstellern Deutschlands und veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung, der Zeit, Stern, Spiegel, Playboy u. a....

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Pressestimmen
Märkische Allgemeine

„Nach ein paar Seiten kann man sich dem schnoddrigen Charme nicht mehr entziehen. Der lässige Erzählton ist einfach entwaffnend.“

rampstyle

„So gesehen ist diese Geschichte eine Apotheke. Deren Inhalt ohne unliebsame Nebenwirkungen daherkommt, aber dafür mit viel Humor.“

Neue Westfälische

„Das Buch ist ein bizarrer, verschlungener Trip, bei dem die Märchenerzählerin nur so gerade eben als roter Faden durchgeht. Unterhaltsam.“

Applaus Kultur-Magazin

„Mit seinem erfrischend humorvollen, manchmal schnoddrigen und mit einer Prise Selbstironie gewürzten Grundton, der den Reisereporter so unverwechselbar macht, erzählt er von seinen zahlreichen Drehbuchversuchen mit diesem Stoff.“

Zuhause Wohnen

„Mitreißend und komisch.“

VorSicht - Das Rhein-Nahe-Journal

„Eine humorvolle und dennoch tiefgründige Geschichte über Wünsche, Ziele und Möglichkeiten das Leben zu meistern.“

Kommentare zum Buch
Tausendundeine durchzechte Nacht
Alexandra_Luchs / LovelyBooks am 30.10.2015

5 von 5 Sternen für dieses wunderbare Buch, dass vom echten Leben und Tausendundeiner Nacht in einem Atemzug erzählt. Dieses Fazit ist ursprünglich auf www.lovelybooks.de erschienen.

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